Propädeutikum Geschichte: Die Geschichte der Geschichtswissenschaft Die Geschichte der Geschichtswissenschaft seit dem 19. Jahrhundert (Grundlagen) Auch die historische Wissenschaft selbst hat eine Geschichte; Gegenstand und Methoden des Erkenntnisprozesses wandeln sich je nach Gegenwart und weltanschaulichem Standpunkt der forschenden Subjekte. Der folgende Text kann lediglich eine kurze Einführung bieten. Die knappe Auswahl mag etwas willkürlich wirken - der Schwerpunkt liegt auf Strömungen der historischen Forschung, die auch heute noch Gewicht haben. I. Der klassische Historismus Im frühen 19. Jahrhundert wird aus der Geschichtsschreibung – die seit der Antike (z. B.: Herodot ca. 484 bis 424; Thukydides ca. 460 bis ca. 396) bemüht ist, die Wahrheit über die Vergangenheit in literarischer Form zu vermitteln – langsam eine wissenschaftliche Fachdisziplin. Wegweisend wirkt die Universitätskonzeption der preußischen Reformära um 1810 – hier werden die ersten professionellen modernen Historiker berufen. Das methodisch abgesicherte, kritische Studium von Quellen wird zur unhintergehbaren Bedingung jeder wissenschaftlichen Geschichtsdarstellung. Dabei dominiert als gemeinsame Geisteshaltung der sog. <Historismus> die neue Berufsgruppe. Diese Vorstellung – sowohl Weltanschauung wie auch Wissenschaftskonzeption – betont, daß die Gegenwart nur aus ihrer Vergangenheit heraus verstanden werden kann und deshalb jede wissenschaftliche Erkenntnisbemühung bezüglich des Menschen im weitesten Sinne historisch fundiert sein muß. Wichtigster Vertreter des Historismus ist Leopold von Ranke (1795-1886). Kernforderung von Rankes Methode ist die <Objektivität>: Der Historiker hat zu zeigen, „wie es eigentlich gewesen“ (Ranke, Sämtliche Werke, Bd. 33/34, S. VII) sei, er hat strikt unparteiisch zu sein. Eng mit diesem Objektivitätspostulat verbunden ist Rankes zweiter Methodengrundsatz: Jedes historische Phänomen ist einzeln und aus sich selbst heraus zu betrachten. Den Historiker interessiert der konkrete Einzelfall, nicht eine abstrakte metaphysische Theorie oder ein übergeordnetes sozialwissenschaftliches Gesetz. Die historische Tatsache soll für sich sprechen und muß aus ihrer jeweiligen Gegenwart heraus erklärt und verstanden werden. So kann Ranke sagen, er wünschte sein subjektives „Selbst gleichsam auszulöschen, und nur die Dinge reden, die mächtigen Kräfte erscheinen lassen“ (Ranke, Sämtliche Werke, Bd. 15, S. 103). Beachtenswert ist der Irrealis, den Ranke hier ganz bewußt verwendet: Denn natürlich kann sich der erkennende Mensch nicht vollständig aus dem Forschungsprozeß ausklinken, es bleibt trotz aller Mühe immer eine Restsubjektivität. Dies zeigt sich gerade auch an den objektivitäts-optimistischen Historisten: Alimentiert vom Obrigkeitsstaat und sozial rekrutiert aus dem Bildungsbürgertum schreiben Ranke und - vor allem - seine Schüler Geschichte als Rechtfertigung von autoritärem Staat und besitzbürgerlicher Gesellschaft. Der historische Prozeß hat ein Ziel, das – zumindest für das Bildungsbürgertum - im deutschen Nationalsaat von 1871 realisiert scheint. Aufgrund dieser – selbst weitgehend unreflektierten – Grundlage seines Erkenntnisinteresses liegen die Forschungsschwerpunkte des klassischen Historismus vor allem auf der politischen Geschichte, dem <Konzert der großen Mächte> und den Entscheidungen und Taten des herausgehobenen Individuums. 1 Propädeutikum Geschichte: Die Geschichte der Geschichtswissenschaft II. Geschichte als Sozialwissenschaft Der Lamprechtstreit Diese Einseitigkeiten machen den Historismus immer wieder zum Ziel von Angriffen alternativer Forschungsansätze. In Deutschland stellt Karl Lamprecht (1856-1915) mit seiner im weitesten Sinne sozialgeschichtlichen <Deutschen Geschichte> die bisherige Dominanz von staats- und personenbezogenen Darstellungen in Frage. Die Ablehnung der etablierten Fachkollegen, die ihm – zu Unrecht – materialistische oder marxistische Ideen vorwerfen, ist nahezu einhellig, da Lamprecht durch die Relativierung des Staates in seiner Arbeit scheinbar den Konsens von besitzendem Bürgertum und autoritärer Obrigkeit in Frage stellt. Die klassische deutsche Geschichtswissenschaft bleibt so bis in die 1960er Jahre weitgehend politik- und akteurszentriert. Im angelsächsischen Raum dagegen, wo der eigene Nationalstaat emotional deutlich weniger stark besetzt ist, konnten sich sozialwissenschaftliche Ansätze ab 1900 verstärkt durchsetzen. Historischer Materialismus und marxistische Geschichtswissenschaft Einer der wichtigsten Impulsgeber für eine Geschichtswissenschaft, die auch soziale oder ökonomische Aspekte der menschlichen Existenz berücksichtigt, ist Karl Marx (1818-1883). Für Marx ist – im Unterschied zum klassischen Historismus – weder der Staat die zentrale Kategorie der Geschichte noch das große Individuum das entscheidende Movens. Statt dessen determiniert die jeweils vorherrschende Wirtschaftsweise das gesamte menschliche Dasein: Bestimmte Produktivkräfte (d. h. alle Produktionstechniken, die Produktionsorganisation und die angewandte Wissenschaft einer gesellschaftlichen Entwicklungsstufe) ziehen durch ihnen immanente Anforderungen eine bestimmte gesellschaftliche Organisationsform nach sich. Vereinfacht gesagt: Der Handmühle entspricht die antike <Sklavenhaltergesellschaft>, der Wassermühle die mittelalterliche Feudalgesellschaft und der Dampfmühle die bürgerliche Gesellschaft des 19. Jahrhunderts. So gibt es in Marx´ Augen ein festgelegtes Abfolgeschema von unterschiedlichen Gesellschaftstypen, das im historischen Prozeß durchlaufen werden muß. Zum Übergang von einer Gesellschaftsform zur nächsten kommt es, wenn sich die Produktivkräfte so weiterentwickelt haben, daß sie von den bestehenden Eigentumsverhältnissen behindert werden. Dann verändert der ökonomisch progressivste Teil der Bevölkerung die alte Ordnung in einer Revolution, um die Gesellschaft den veränderten Produktivkräften anzupassen. In dieser krisenhaften Zuspitzung stehen sich Vertreter der alten wie der neuen Ordnung unvermeidlich als feindliche <Klassen> gegenüber. So ist nach Marx die „Geschichte aller bisherigen Gesellschaft […] die Geschichte von Klassenkämpfen“ (Marx, <Manifest der Kommunistischen Partei>, in: MEW, Bd. IV, S. 559-593, hier: S. 562). Damit ist die treibende Kraft und <Basis> der Geschichte enttarnt, es handelt sich um die rein materielle Dialektik von Produktivkräften und Eigentumsverhältnissen. Alle weiteren historischen Erscheinungen wie Staat, Religion, politische Ideen usw. sind nur ein <Überbau> der das aktuelle Gleichgewicht zwischen Produktivkräften und Eigentumsverhältnissen stützen soll. Damit ist nicht gesagt, daß diese Potenzen faktisch unwirksam wären, sondern es wird lediglich ihre Erklärungskraft als Letztbegründung menschlichen Handelns negiert. Das marxsche Geschichtsmodell beansprucht für sich allein strengste Wissenschaftlichkeit, d. h. es schließt alternative Erklärungsansätze kategorisch aus und gibt vor, präzise Prognosen für die Zukunft liefern zu können. Spätestes hier zeigt sich die Problematik dieser Theorie. 2 Propädeutikum Geschichte: Die Geschichte der Geschichtswissenschaft Trotzdem ist die langfristige Sensibilisierung der klassischen Geschichte für ökonomische Zusammenhänge eine nicht zu unterschätzende Leistung der marxistischen Geschichtsdeutung. Die <Annales> in Frankreich Ein Ansatz der auch – aber bei weitem nicht ausschließlich - von Marx inspiriert wurde, ist der der französischen Annales-Tradition. Auch im Frankreich der 1920er Jahre dominiert zunächst eine dezidiert konservative, politikund institutionenzentrierte Geschichtswissenschaft - durchaus orientiert am Vorbild des deutschen Historismus. Gegen diese Engführung der Geschichte beginnt sich Widerstand zu regen; die beiden Historiker Marc Bloch (1886-1944) und Lucien Febvre (1878-1956) gründen als Veröffentlichungsplattform 1929 die Zeitschrift <Annales d´histoire économique et sociale>. Schon der Titel des neuen Periodikums unterstreicht die wirtschafts- und sozialgeschichtlichen Ambitionen der Gründer, dabei ist der methodische Anspruch der Annales noch viel umfassender: Erstens soll statt deskriptiver Ereignisgeschichte problemorientierte, analytische Geschichte geschrieben werden. Dabei ist zweitens das menschliche Leben in seiner ganzen Bandbreite und in allen Schattierungen zu untersuchen – also nicht mehr nur klassische Politikgeschichte. Um dieses Ziel drittens zu erreichen, muß der Historiker auch die Erkenntnisse der Nachbardisziplinen rezipieren und für seine Fragestellungen fruchtbar machen. Der ideale Geschichtsforscher muß also fortan auch Geograph, Jurist, Soziologe, Wirtschaftswissenschaftler, Linguist, Psychologe und Ethnologe sein. Dieses anspruchsvolle Programm versucht die Zeitschrift in den Folgejahren mit unterschiedlichen Schwerpunkten umzusetzen. Bloch verliert als Mitglied der Résistance 1944 sein Leben. Er wird damit endgültig zur Übergestalt der französischen Historikerschaft: Die Etablierung der Annales im Wissenschaftsbetrieb der Nachkriegszeit wird durch die Mythisierung eines ihrer Gründerväter sicherlich erleichtert. Febvre gründet und leitet nach dem Krieg die Sixième Section an der École Pratique des Hautes Études, dieses elitäre Institut ist von da an das Herz der Annales. Das vielleicht bekannteste Beispiel für die Annales-Geschichtsschreibung liefert der Nachfolger Febvres an der École Pratique Fernand Braudel (1902-1985). Es handelt sich um das dreibändige Werk <Das Mittelmeer und die mediterrane Welt in der Epoche Philipps II.>. Berühmt geworden sind vor allem Braudels drei Zeitebenen: Einer quasi unbewegten Geschichte der Geographie und der Naturräume des Mittelmeerraumes (Band 1) korrespondieren einerseits langsame ökonomische Konjunkturen (Band 2) und andererseits kurzlebige politische Ereignisse (Band 3). Diese Einbettung – und damit Relativierung - der militärisch-politischen Konfrontation des Osmanischen Reich mit Spanien in eine Geschichte der Strukturen und der <longue durée> ist typisch für die angestrebte histoire totale der Annales. Zur Analyse solcher langen Zeiträume werden ab den 1960er Jahren verstärkt quantitative Methoden eingesetzt: Über serielle Datensätze (z. B.: Getreidepreise, österliche Kommunikanten, Geburtenziffern usw.), die jetzt computergestützt ausgewertet werden können, sind Rückschlüsse auf längerfristige Makrotrends in der Vergangenheit möglich. Auch wenn die Annales nur in Frankreich zur dominierenden Richtung der Geschichtswissenschaft werden, strahlen ihre Konzepte und Forschungsansätze doch auf viele wichtige europäische und amerikanische Forscher aus. 3 Propädeutikum Geschichte: Die Geschichte der Geschichtswissenschaft Die Historische Sozialwissenschaft in Deutschland In der Bundesrepublik dagegen wird erst in den 1960er Jahren der Primat der bis dahin dominierenden politischen Geschichte gebrochen. Federführend sind dabei junge Historiker wie Hans-Ulrich Wehler (*1931), die erst nach dem Krieg ihre akademische Ausbildung absolvierten. Im Gegensatz zu den französischen Annales konzentrieren sich die deutschen Neuerer nicht auf die relativ stabilen vormodernen Gesellschaften, sondern auf das sich rapide industrialisierende Deutschland. Durch diese Verschiebung des Epochenschwerpunkts greifen bereits einige der von den Annaleshistorikern entwickelten Konzepte nicht mehr: So ist die Vorstellung einer <longue durée>, gewonnen an den statischen Gesellschaften der Frühen Neuzeit, nur schwer auf das dynamische 19. oder 20. Jahrhundert übertragbar. Deshalb werden eigene hermeneutische und – in geringerem Umfang – auch quantitative Analysemethoden entwickelt. Bestimmend sind dabei die intensive Max-Weber-Rezeption und die enge Anlehnung der neuen Gesellschaftsgeschichte an die systematischen Sozialwissenschaften. Historische Prozesse werden jetzt in erster Linie als Ergebnisse innergesellschaftlicher Spannungen und Resultate sozialer wie ökonomischer Konflikte verstanden. Zur Analyse dieser Phänomene werden nun gezielt Theoriebildungen aus der Politik- oder Wirtschaftswissenschaft und der Soziologie herangezogen. So entstehen beispielsweise Erklärungsmodelle für die Genesis der Industriearbeiterschaft oder die Rolle des Bürgertums im 19. Jahrhundert. Erkenntnisbestimmendes Interesse der deutschen Gesellschaftsgeschichte ist die Frage nach einem <Sonderweg>, der – immer gemessen am der Norm der europäischen Nachbarn Deutschland in die Katastrophen des 20. Jahrhunderts geführt hätte. Dieser durchaus kritische Ansatz die eigene nationalstaatliche Vergangenheit zu lesen – Wehler selbst beruft sich immer wieder auf Max Horkheimer oder Jürgen Habermas – impliziert den demokratischen, sozialen Rechtsstaat als Korrektiv und Maßstab der eigenen wissenschaftlichen Bemühungen. Eben deshalb – in der westlichen Welt haben sich ab ´45 ja entsprechende Regime durchgesetzt - ist die Sozialgeschichte grundsätzlich fortschrittsoptimistisch. III. Neue Zweifel – Geschichtswissenschaft an der Wende zum 21. Jahrhundert Mikrohistorie, Historische Anthropologie und Alltagsgeschichte Während sich die Sozialgeschichte in der Bundesrepublik um 1970 durchsetzt, werden ihre Grundlagen international bereits wieder in Zweifel gezogen: Eine zunehmend zivilisationsund fortschrittskritische Historikergeneration beginnt, unter dem Eindruck von atomarer Bedrohung, Energiekrise und ökologischen Problemen, verstärkt nach den gesellschaftlichen <Kosten> der Modernisierungsprozesse zu fragen. Dadurch rücken in der Geschichte beinahe automatisch die <Verlierer> der historischen Prozesse in den Fokus des Interesses - also die Personenverbände, die diese Kosten in erster Linie zu tragen hatten: Dissentierende religiöse Gemeinschaften, ökonomisch absteigende Bevölkerungsschichten und Gewerbe oder gesellschaftlich marginalisierte Randgruppen werden zu bevorzugten Forschungsobjekten. Gleichzeitig steigt auch das Interesse an den hinhaltenden Obstruktions- und Widerstandstaktiken dieser sozialen Gruppen. Diese Phänomene geraten durch einen Perspektivwechsel in den Blick, sie werden meistens „von unten“ her untersucht: Der Forscher versucht ein Bild des täglichen Lebens seiner Protagonisten zu entwickeln. Eine solche Alltags- und Mikrogeschichte der Unterschichten stellt eigene methodische Anforderungen an die Bearbeiter, da Selbstzeugnisse der zu erforschenden Individuen weitgehend fehlen. 4 Propädeutikum Geschichte: Die Geschichte der Geschichtswissenschaft Einerseits werden Verfahren angewendet, die - über die klassische Hermeneutik hinausgehend – die Grenze zwischen Fiktion und Faktizität durchlässiger machen (Natalie Zemon Davis spricht in ihrer <Die wahrhaftige Geschichte von der Wiederkehr des Martin Guerre> ausdrücklich von „Invention“ [S. 20]). Andererseits werden auch anthropologischethnologische Forschungsansätze (wie z. B. Clifford Geertz´ <Dichte Beschreibung>) fruchtbar gemacht, um der für uns radikalen Fremdheit des Lebens von Unterschichten in der Vormoderne beizukommen. Durch dieses gesamte, modernisierungskritische Paradigma wird die Geschichte gleichsam dezentriert, man kann sie nicht mehr wie früher von einem Zentrum (z. B. Staat, Arbeiterklasse usw.) her schreiben, sondern man muß gleichsam das Vorhandensein einer Vielzahl von verschiedenen, peripheren Geschichten akzeptieren. Postmoderne Fundamentalkritik Noch radikaler als Mikrohistorie und Alltagsgeschichte kritisieren einige Theoretiker im Gefolge des <linguistic turns> die traditionelle Geschichtsschreibung. Weder die Wahl des zu erforschenden Objekts, noch die Orientierung der Geschichte auf einen normativen Fixpunkt hin werden allein zur Disposition gestellt, sondern das Funktionieren des historischen Erkenntnisprozesses überhaupt: Die Textualität aller historischen Arbeit wird betont und es werden z. T. sehr drastische Konsequenzen aus dieser umfassenden Textbasiertheit der historischen Methode gezogen. Quellen vermitteln in dieser Perspektive keinen direkten Zugang zu Tatsachen mehr, sondern sind nur noch Elemente vergangener Kommunikation. In der Praxis führt dieser Ansatz zu einer starken Betonung von sprachlichen Kodierungen und semiotischen Systemen. Diese Zeichensätze der Zeitgenossen sind genauso geschichtsmächtig wie <harte> Fakten im landläufigen Sinne und müssen deshalb bei der Rekonstruktion der Vergangenheit mitberücksichtigt werden: In den Quellen können überhaupt nur Sinnzusammenhänge auftauchen, die auch in den semiotischen Systemen der untersuchten Vergangenheit kodierbar waren. So legt Michel Foucault (1926-1984), ein französischer Philosoph, in seinen Untersuchungen des klassischen Zeitalters in Frankreich keinen Wert auf einzelne Tatsachen, sondern auf <Schwärme> von Aussagen innerhalb eines Diskurses. Verändern sich solche Aussagefelder qualitativ oder quantitativ, verschiebt sich auch der Inhalt Ihres gesamten Diskurses. Und hier liegt der Clou der Sache: Erst der gewandelte sprachliche Diskurs eröffnet neue praktische Handlungsoptionen für die Individuen. Der Diskurs formiert also die Praktiken, er ist die bestimmende Basis aller gesellschaftlichen Aktivität. Der Kern der Geschichte ist also nicht ein politisches Ereignis (wie im Historismus) oder eine ökonomische Struktur (wie im Marxismus) sondern ein Kommunikationszusammenhang, faßbar nur in Texten. 5 Propädeutikum Geschichte: Die Geschichte der Geschichtswissenschaft Ebenfalls aus einer linguistischen Tradition heraus, doch mit gänzlich anderen Konsequenzen, greift auch Hayden White (*1928), US-amerikanischer Historiker und Literaturwissenschaftler, die traditionelle Geschichte an. Auch für White sind Texte der zentrale Ansatzpunkt seiner Kritik, allerdings weniger die Quellen, als vielmehr die vom Forscher verfaßten Darstellungen: In dem Moment, in dem der Historiker zu arbeiten beginnt, wählt er zwangsläufig für den zu behandelnden Sachzusammenhang eine <Plotstruktur> aus. Er muß entscheiden, ob er seiner Darstellung die Form einer Tragödie, Komödie, Romanze oder Satire gibt. Durch diese unumgängliche Auswahl gehen massiv außer- und vorwissenschaftliche Entscheidungen in die Forschungsarbeit ein. Letztendlich verliert die Historie bei White so ihren Charakter als Wissenschaft, den sie seit Ranke beansprucht, und wird wieder zur subjektiven Kunst. Solche extremen postmodernen Positionen werden in der konventionellen Geschichtswissenschaft als interessante Diskussionsgrundlage zur Kenntnis genommen, finden aber kaum – wohl auch aufgrund mangelnder Praktikabilität – Niederschlag in der breiteren, konkreten Forschungspraxis. Schon diese kurze Zusammenschau zeigt, daß sich – trotz aller Objektivitätsbeteuerungen kein geschichtswissenschaftliches Paradigma unabhängig von weltanschaulichen, politischen, sprachlichen oder sozialen Kontexten entwickeln und durchsetzen kann. Immer spielen vorund außerwissenschaftliche Gesichtspunkte eine große Rolle. Deshalb konstituieren wissenschaftliche Objektivität einerseits und Reflexion vor- und außerwissenschaftlicher Einflußfaktoren andererseits das Leitbild wissenschaftlichen Arbeitens. Die Anerkennung der Standortgebundenheit jedes Individuums – und damit freilich auch des Historikers – impliziert und legitimiert jedoch nicht eine rein persönlichsubjektive Herangehensweise an wissenschaftliche Problemfelder und Untersuchungsgebiete. Wohl aber zwingt sie zu der Einsicht, daß Forschungsergebnisse nie apodiktisch als letzte Wahrheiten zu verstehen sind, sondern vielmehr stets an die Möglichkeit ihrer diskursiven Relativierung rückgebunden bleiben. Lit.: BABEROWSKI, Jörg: Der Sinn der Geschichte. Geschichtstheorien von Hegel bis Foucault. München 2005. BURKE, Peter: Die Geschichte der >Annales<. Die Entstehung der neuen Geschichtsschreibung. Berlin 2004. GROßE KRACHT, Klaus: Die zankende Zunft. Historische Kontroversen in Deutschland nach 1945. Göttingen 2005. IGGERS, Georg G.: Geschichtswissenschaft im 20. Jahrhundert. Ein kritischer Überblick im internationalen Zusammenhang. Göttingen 2007. KROLL, Thomas: Sozialgeschichte, in: Cornelißen, Christoph (Hrsg.): Geschichtswissenschaften. Eine Einführung. Frankfurt/Main 32004, S. 149-161. RAPHAEL, Lutz: Geschichtswissenschaft im Zeitalter der Extreme. Theorien, Methoden, Tendenzen von 1900 bis zur Gegenwart. München 2003. Ders. (Hrsg.): Klassiker der Geschichtswissenschaft, Bd. 1+2, München 2006. ROHBECK, Johannes: Geschichtsphilosophie zur Einführung. (Zur Einführung, 302) Hamburg 22008. VOGEL, Jakob: Historische Anthropologie, in: Cornelißen, Christoph (Hrsg.): Geschichtswissenschaften. Eine Einführung. Frankfurt/Main 32004, S. 295-306. 6