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Einführung Historismus

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apl. Prof. Dr. Wolfgang Brönner, Architektur des Historismus in Mainz.
Thema lautet „Architektur des Historismus“.
grob gesagt, um die Architektur des 19. Jahrhunderts, zumindest um die Architektur, die
überwiegend das 19. Jahrhundert bestimmt.
Apollinariskirche in Remagen. Sie steht gewissermaßen am Anfang der historistischen
Kirchenbaukunst. Sie ist, romantisch auf einer Anhöhe im Angesicht des Drachenfelsens gelegen,
1839-43 entstanden und vor allem wegen seines Architekten, des Kölner Dombaumeisters Ernst
Friedrich Zwirner und wegen der Ausmalung durch die Nazarener der Düsseldorfer Malerschule
berühmt geworden. Bemerkenswert ist hier nach den Wandmalereien vor allem die totale Buntheit
der Kirche, wie sie vorher in Deutschland an keinem Bau zu beobachten war.
Fast gleichzeitig entstand das Schloss Stolzenfels 1836-42, ebenso romantische gelegen auf eine
Höhe gegenüber Lahnmündung bei Koblenz. Der Preußische Kronprinz und spätere König Friedrich
Wilhelm IV. hat sich hier die Ruine einer Kurtierischen Burg zu einem schlossartigen Sommersitz
ausbauen lassen und mit ihr durch Schinkel und Stüler eine noch ganz vom romantischen Geist
umwehte, aber mit ihrer graziösen, feenhaft genannten Gesamterscheinung ein Frühwerk
historistischen Schlossbaukunst schaffen lassen.
Das Schloss Neuschwanstein, ab 1871 (bis 1886) romantisch und er Gesamtwirkung wie Stolzenfels,
ist in der exponierten Lage gesteigert monumental, lebendiger gruppiert und steiler getürmt, eine
zusammengedrängte und nach oben strebende Baugruppe. Sie gehört erkennbar einer entwickelten
Phase des Historismus an.
Alle diese drei Bauten haben mittelalterlicher Architektur zum Ausgangspunkt ihrer Gestaltung
gewählt. Ich sage bewusst: zum Ausgangspunkt gewählt, da man es schwer haben wird, direkte
Vorbilder auszumachen.
Das Kunsthistorische Museum in Wien gehört zum großen Stadterweiterungskonzept von Wien, ist
Teil der mit der berühmten Ringstraßenanlage zusammenhängenden Stadtplanung. Gottfried Semper
und Karl von Hasenauer sind die Architekten. 1872-91 entstanden, gibt der Bau dem Kundigen zu
erkennen, dass hier barocke Schlossarchitektur wie auch die Renaissance als Stilanregung wirkten.
Die Semperoper in Dresden, 1871-78, ist wohl das reinste und berühmteste Werk nicht nur des
Architekten Gottfried Semper, sondern dieser Richtung überhaupt anzusehen. Ihre Ausgangsform
geht auf Ideen der französischen Revolutionsarchitektur zurück, doch ist der Bau ganz ein Abbild von
Sempers in seinem architekturtheoretischen Werk „Der Stil“ niedergelegten Theorie und der
bewussten Fortführung der italienischen Hochrenaissance als entwicklungsfähigstem Stil.
Ich schiebe, nur um die europäische Dimension des Themas im bewußtsein zu halten, zwei englische
Beispiele ein, die Royal Albert Hall des Ingenieurs Henry Y. D. Scott von 1867-71 und das Albert
Memorial am Hydepark von Gilbert Scott 1863-76, Bauwerke, die Neurenaissance in Semper sehr
verwandter Form und die Neugotik in England repräsentieren sollen.
Hier noch ein kurzer Ausflug nach Frankreich: Als der berühmteste Bau dieser Epoche in Frankreich,
in dem sich Renaissance und Barock sich in eigenwilliger Weise verbinden, sei die 1860-74 erbaute
Oper von Charles Garnier genannt.
Die Stadt Paris wird überragt von der Kirche Sacré Coeur in Paris von Paul Abadi auf dem
Montmartre. Erbaut von 1875 bis 1914, steht sie für eine halbes Jahrhundert Kirchenbau in
Frankreich, in dem weithin sichtbar am Ende die byzantinisch geprägte Neuromantik über die
Neugotik siegt.
Hamburger Rathaus ab 1880 Berlin,
Ein weiterer spektakulärer Fall ist das von Martin Haller ab 1880 erbaute Hamburger Rathaus. Mit
seinem hohen Turm den gewählten Formen deutscher Renaissance darf es als herausragendes
Beispiel unter vielen anderen gelten. Es steht für Bürgerstolz und nationalprotestantisches
Selbstbewusstsein nach der Reichsgründung 1871.
Sie haben schon längst gemerkt, dass sich mit dem Historismus die Bewältigung neuer
monumentaler, weil öffentlicher Bauaufgaben verbindet, die hier oft zum ersten Mal, oder zum
ersten Mal in dieser Größe und Häufigkeit zu bewältigen waren.
Der von Franz Schwechten 1871-80 in Berlin erbaute Anhalter Bahnhof ist ein gutes Beispiel dafür.
Die im Backstein italienische und heimische Traditionen verbindende Renaissancearchitektur bildet
das Entree für eine der imponierendsten, ganz funktionalistischen Bahnsteinhallen aus Glas und
Stahl, ein Gegensatz von Material und Form, der nicht als störend, sondern als positiv empfunden
wurde.
Wir bleiben in Berlin, der Stadt, in der wie heute die größten Bauaufgaben in großer Zahl anstanden.
Der Reichstag in Berlin, 1884-94 von Paul Wallot erbaut, steht mit seinem der Schlossarchitektur
entlehnten, insgesamt Barock wirkenden Baukörper an der Wende zur letzten Phase des Historismus,
in der alle Tendenzen sich noch einmal verdichten. Die blockhafte Wucht, die nicht nur den
Baukörper, sondern auch alle Einzelheiten bestimmt, wurde von manchen Zeitgenossen als ein
Aufbruch in ein neues Zeitalter architektonischer Gestaltung empfunden.
Seit Schinkels Entwürfen für einen Denkmaldom für die Befreiungskriege,
war es für jene Zeit typisch, Kirchenbauten über ihre eigentliche Funktion als Gotteshäuser hinaus
Denkmalcharakter zu geben,
wie bei der 1893-94 von Flügge und Nordmann aus Essen erbauten Gedächtniskirche der
Protestation in Speyer, oder der 1890-1904 wieder von Franz Schwechten erbauten Kaiser-WilhelmGedächtniskirche in Berlin, die ich hier zeige,
um auch ein Beispiel der späten, von Wilhelm II. besonders favorisierten Neuromanik zu bringen.
Interessant ist bei letzterer wieder, wie schon beim Schloss Neuschwanstein, die
zusammengedrängte und nach oben strebende Baugruppe, eine Tendenz, die die der rheinischen
Romanik entlehnten Formen mit einer neuen Aussage belebt.
Auch Städtebauliches gehört zu den großen Leistungen dieser Epoche, wie die schon angesprochene
Wiener Ringstrasse 1858-65, oder die hier gezeigte Kölner Ringstraße ab 1881, ebenfalls eine der
bedeutenden Stadterweiterungen, letztlich von Haussmann unter Napoleon III. durchgeführten
Boulevards inspirierte Maßnahmen. Diese hier wurde von dem damaligen Papst der Stadtplanung
Josef Stübben konzipiert. Der Straßenquerschnitt mit seinen breiten, in Fahrbahnen und parkartig
gestaltete Partien ist typisch für alle diese Prachtstraßen.
Schließlich zeige ich noch einige kleiner Bauten, luxuriöse Wohnbauten des Adels, wie hier das
Schloss Miramare des späteren unglücklichen Kaisers Maximilian von Mexiko bei Triest am Meer,
erbaut ab 1854 ähnlich Stolzenfels in englischer Gotik, auch im inneren englisch mit seinem offen
einsehbaren Hammerbeamroof, und in Potsdam, die bürgerlichen Villen an der Gregor-Mendelstraße
1894 des ausklingenden Historismus gegen 1900.
Das Makart-Atelier in Wien, ca. 1870, mag als extremes, aber überaus wirkungsvolles Vorbild für die
Wohnkultur der Zeit eines Bildes gewürdigt werden.
Die Villa Vaissier, 1892, in Lille steht schließlich für das ungeheure Spektrum an Formen, aus dem der
Historismus schöpfte, aber auch für die zuweilen ausufernde, übermütige Blüten treibende Phantasie
von Bauherrn und Architekten. Hier hat der Bauherr sich nicht nur ein Mogulschloss in die
Industriestadt bauen lassen, sondern mit Hilfe moderner Technik – die Kuppel ist aus Stahl und
farbigem Glas und wurde nachts beleuchtet – einen völlig neuen theatralischen Effekt hinzugefügt.
EINFÜHRUNG
Die Zahl der Bauwerke, die in dieser Zeit entstanden, ist im Vergleich zu den voraufgehenden
Epochen sehr groß, desgleichen die Zahl der unterschiedlichen Richtungen, Schulen, bedeutenden
Architektenpersönlichkeiten.
Hinzu kommt, dass das, was wir mit „Historismus“ in der Kunst- und insbesondere in der
Architekturgeschichte bezeichnen, bislang keineswegs so bündig und sicher definiert ist, wie man es
von anderen Kunstepochen kennt.
Ich werde also notwendigerweise sehr exemplarisch vorgehen müssen, mich auf Deutschland
konzentrieren und dabei auf die Vorstellung manches allbekannten, bedeutenden Werkes zugunsten
einer didaktischen Linie verzichten müssen.
BEGRIFF DES HISTORISMUS
Man muss einmal eine halbe Stunde investieren und im Internet unter den Stichworten
„Historismus“ und „Begriff“ surfen. Was man mitnimmt, ist, dass es sich um eine Epoche handelt, der
der Bezug zur Geschichte in jeder Form wichtig war, dass sie Schwierigkeiten mit der eigenen
Formerfindung hatte, dass sie sie nach rückwärts blickte, um Anregungen oder gar Richtlinien für das
eigene Gestalten zu erhalten und dass ihr deshalb der Mangel an Schöpferkraft vorgehalten wird. Da
und dort wird über das Schöpferische im Historismus nachgedacht, ohne dass in der offenbar noch
fließenden Diskussion sicherer Grund erreicht wäre. Ich will nicht den Tenor des Vortrags abändern,
doch ohne ein paar einleitende Worte zum Thema „Historismus“ werden wir nicht auskommen, in
denen ich Ihnen eine Orientierung über die genannten Aspekte hinaus zu geben versuche.
Ich möchte bei dem Beginnen, was wir als Schöpfung des Historismus bezeichnen können. Es gibt
keine Epoche, die unser Bild von der Geschichte im wörtlichen Sinn so lange bestimmt hat, wie diese.
Beispiele:
Kaulbach, Zerstörung Jerusalems,1846
Piloty,Thusnelda,1870
Kaulbach,Zerstörung Jerusalems,1846, Piloty,Thusnelda,1870
Die Epochen, auf die sich das Interesse richtete, waren die Antike, das Mittelalter und die
Renaissance. Das 18. Jahrhundert mit Barock, Rokoko und Klassizismus erfuhr bis in die späten Jahre
des 19. Jahrhunderts fast ausschließlich nur Ablehnung.
H. Plüddemann, Heinrich IV. in Canossa,
Carolsfeld, Bibel in Bildern, ab 1851
Carolsfeld/Hübner/Bendemann, Das . . . Nibelungenlied. 1840
H. Plüddemann, Heinrich IV. in Canossa, Bildersaal deutscher Geschichte 1890
Die älteren unter uns sind alle noch mit der Bilderbibel von von Carolsfeld, den Bilden zum
Nibelungenlied von von Carolsfeld, Hübner und Bendemann und den Geschichtsbildern aus dem
Bildersaal deutscher Geschichte aufgewachsen. Als mein Vater mir eine Burg baute, sah sie eher aus
wie Neuschwanstein, als die Marksburg oder Burg Elz. Die Künstler des Historismus hatten sich die
Aufgabe gesetzt, ein Bild von der Vergangenheit zu schaffen, in dem sie sich mit ihrem Suchen nach
dem bewundernswerten Vorbild wiederfinden konnten. Es versteht sich von selbst, dass ein solches
Geschichtsbild nicht hinter den Erkenntnissen und Fähigkeiten der neuesten Zeit zurückbleiben
durfte, um befriedigen zu können. Das heißt, dass die gesamten Kunst- und auch
Literaturerfahrungen einschließlich des geschmähten 18. Jahrhunderts in die neue Kunst eingingen
und sie zwangläufig das Bild der verehrten Kulturepochen mit bestimmten, ja sogar in Gegensatz
traten. Ich bringe dazu gerne die Restaurierung der Ausmalung der Marburger Schlosskapelle durch
Carl Schäfer. 1874 und 1883. In einer ersten Version hatte der Architekt Carl Schäfer die Wand- und
Deckenbemalung dicht an dem von ihm erhobenen Befund ausgeführt. Auffällig waren dabei die im
Gewölbe aufgemalten Backsteine. Kein zehn Jahr später wurde an deren Stelle ein Sternenhimmel
aufgemalt, der offenbar besser zur zeitgenössischen Vorstellung vom Mittelalter passte.
Marburg, Schlosskapelle 1874 und 1883
Dies mag genügen, um zu zeigen, worauf ich hinauswill. Wenn wir es bei der Architektur des
Historismus mit Stilwiederaufnahmen zu tun haben, handelt es sich keineswegs um Ratlosigkeit,
sondern um absichtsvolles Vorgehen, das sich zu beginn des 19. Jahrhunderts vor allem gegen das
18. Jahrhundert in allem wendet, was es charakterisiert hat.
Ich gebe hier eine Reihe von Stichworten, die die unterschiedlichen Motive für eine Rückwendung
zur Vergangenheit angeben und die in den unterschiedlichsten Kombinationen auftreten:
Idealisiertes Nürnberg: Paul Ritter 1893
Die Sehnsucht nach der idealen Vergangenheit, dem einheitlichen, starken Deutschland, die sich mit
der Stadt Nürnberg als Symbol verbindet. Hans Sachs und Dürer sind die Lichtgestalten, die uns durch
das Jahrhundert begleiten werden. Wir spüren schon, dass es, trotz aller bedeutenden Adelsbauten,
ein bürgerliches Jahrhundert werden wird.
Je nach religiöser und weltanschaulicher Überzeugung werden auch andere Vorbilder gesucht.
Heinrich Hübsch in Karlsruhe (Polytechnische Schule 1835)
Der Wunsch nach Wahrhaftigkeit in der Baukunst, die ihren Ursprung in der Aufklärung und er
französischen Revolution hat. Hieraus entstehen sich Bemühungen, aus der Betrachtung der
Geschichte eine neue Baukunst entwickeln zu können. Schinkels Lehrbuchentwürfe, die
Rundbogenarchitektur von Heinrich Hübsch in Karlruhe (Polytechnische Schule 1835) und die als
dogmatische Neugotik bezeichnete Richtung, zu den Augustus Welby Northmore Pugin in England
und EugViollet-le-Duc entscheidend beigetragen haben. Ihre Zentren sind bei uns in Deutschland die
Hannoversche Architekturschule und die Kölner Architektur im Umkreis des Dombaus. Ihnen allen
ging es um Wahrhaftigkeit in Material und Konstruktion.
Viollet-le-Duc, Dachkonstruktion 1858
Hase, Dorfkirche Aspe 1857
Durand, Entwürfe für Villen, 1809
Viollet-le-Duc, Emporen mit Stahlstützen für . einen Konzertsaal
Klasen, Grundrisse für Wohnhäuser
Eisgrubschule 1886-88 in Mainz
Das Bedürfnis nach Ausdruck in der Architektur. Architektur soll nicht allein schmückende Fassade
oder bergender Raum sein, sondern auch Funktion und Struktur des Gebäudes vermitteln. Die
Beschäftigung mit dem Grundriss nahm einen besonderen Rang ein. Es gibt ganze Bücher, ja
Buchreihen, wie die von Ludwig Klasen (Grundriss-Vorbilder, Leipzig, ab 1884), die fast nur
Grundrisse vorführen. Dazu gehört auch der Skulpturen und sonstige Bildschmuck an den Fassaden
und im Inneren. Aber auch Stimmungen sollen vermittelt werden, z. B. Ernst und Würde bei
Gebäuden der Religion und des Staates, Geborgenheit, Heiterkeit und Lebensgenuss bei
Privatbauten.
Schließlich sollte allem der Stempel der Geschichtlichkeit aufgedrückt sein. Ob es nun das ideale
Mittelalter, die ideale Kultur der italienischen oder der deutschen Renaissance oder die bloße
Anmutung von Geschichte durch Verwendung von als historisch empfundenen Zierformen,
Baukörpergruppierungen, Dachformen zu malerischen Gebilden, denen zuweilen auch historische
Originalteile eingefügt wurden, wie hier dem Hause Oppler in Erlangen 1870, dessen Dach mit
historischen Ziegeln gedeckt wurde, um die richtige Patina gleich zu Anfang zu erhalten.
Haus Oppler in Erlangen, 1870
Wir haben schon in der einführend gezeigten Reihe von bedeutenden Bauten gesehen, dass es
innerhalb des Historismus signifikante Unterschiede gibt, die nicht nur verschiedene gleichzeitige
Varianten, sondern auch Entwicklungslinien deutlich erkennen lassen. Der Weg dahin war weit. Die
Nachwirkungen des Klassizismus waren zunächst allenthalben zu spüren. Die ersten historistischen
Bauten, etwa in dem Zeitraum von 1800 bis 1850, wirken im Vergleich zu den Produkten am Ende
der Epoche einfach und fast nüchtern. Es ist die Zeit, die gerne auch als Spätklassizismus bezeichnet
wird.
Potsdam-Babelsberg, Neuendorfer (1852) und Bethlehem-Kirche (1899)
Ich bringe hier als Beispiele dafür, welchen weiten Weg der Historismus im Lauf des Jahrhunderts
zurückgelegt hat, die beiden zu unterschiedlichen Zeiten nebeneinander in Potsdam-Babelsberg
erbauten ev. Kirchen, die Alte Neuendorfer Kirche und die Bethlehem-Kirche. Auch wenn man sich
bei diesem ersten, 1853 auf Wunsch Friedrich Wilhelms IV. von Ferdinand Hesse (Ausführung
Christian Heinrich Ziller) errichteten Bau auf das rheinische St. Gereon bezog und damit das Vorbild
besonders prägend ist, so gibt er doch deutlich seine Zeitstellung zu erkennen. Der Formenreichtum
und die asymmetrische Gruppierung der 1899 entstandenen Bethlehem-Kirche (1898-99,
Regierungsbaurat Ludwig von Tiedemann) haben einen so deutlich anderen Charakter, und können
uns sowohl die Unterschiedlichkeit, wie auch den Entwicklungsgeschichtlichen Wandel innerhalb des
Historismus deutlich vor Augen führen. Gleichzeitig haben wir aber auch etwas von der
historistischen Methode kennen gelernt, die zunächst noch unsicher tastend nur zu häufig ihre
Vorbilder direkt zitiert, wird später spürbar freier unselbständiger.
DIE ENTWICKLUNG DER MODI
Ein augenfälliger Aspekt historistischer Architektur ist, dass unterschiedliche Formen und Stile
gleichzeitig und nebeneinander auftreten. Man kann stark vergröbert sagen, dass diese
Gleichzeitigkeiten überwiegend ihren Grund darin haben, dass man bestimmte Baustile, man kann
das auch architektonische Modi nennen, bevorzugt bestimmten Bauaufgaben zugewiesen hat.
Eingängig ist, dass die Gotik bevorzugt der Kirchenbaustil dieses Jahrhunderts war, durch die
Mariahilf-Kirche in München-Au, den Fortbau des Kölner Doms und die Nikolai-Kirche in Hamburg,
(München-Au, Maria-Hilf-Kirche, Daniel Ohlmüller 1839
Hamburg, Nikolaikirche George Gilbert Scott, 1846-74
Schloss Schwerin 1843-57
Wiesbaden, Rathaus 1887)
desgleichen italienische Renaissance und später Barock für Bauten der Kultur, aber auch für andere
repräsentative Aufgaben, die deutsche Renaissance für Rathäuser und andere Bauten des
bürgerlichen Gemeinwesens. Aber auch der Adel schloss sich dieser Richtung gerne an. Das Schloss
Schwerin 1843-57 von Georg Adolf Demmler, bei dessen Ausbau von Adolf Demmler schon Semper
beteiligt war, ist eine frühes Beispiel dafür.
Hannover Schiffgraben, 1872
Bonn-Plitterdorf, Villa Cahn, 1872
Für Privathäuser aller Art, insbesondere für Villen war mit Fortschreiten der Epoche das ganze
Spektrum von der antikisierenden Portikusvilla, hier: Hannover, Villa de Haen, Heinrich Köhler 1872
bis zum extrem malerisch gruppierten Bau mit Turm. Hier i: Bonn-Plittersdorf, Villa Cahn von Edwin
Oppler, 1872
Doch muss man bedenken, dass es auch Präferenzen einzelner Architekturschulen gab. So
bevorzugten die Berliner bis in die achtziger Jahre Klassische Formen wie sie die Villa de Haen des aus
Berlin stammenden Heinrich Köhler zeigt, die Hannoveraner verschrieben sich lange ausschließlich
der Gotik und die pragmatischen Münchener sorgten dafür, dass ab 1876 die deutsche Renaissance
im ganzen Reich Verbreitung fand.
Lorenz Gedon, Entwurf Schackgalerie in München 1871
Hier: Lorenz Gedon, Schackgalerie 1871
Die Bauherren waren ebenso pragmatisch und nahmen, was ihnen gefiel, wodurch ein buntes,
abwechslungsreiches Gesamtbild der Villenviertel entstand, das durchaus gewollt und geschätzt war
und, wenn ich recht sehe, auch heute noch geschätzt wird.
GESTALT HISTORISTISCHER ARCHITEKTUR AM ENDE DES JAHRHUNDERTS
Das sind also im Groben die Komponenten, aus denen sich die Architektur des Historismus
zusammensetzt, alles in allem ein disparates Bild für den Unkundigen; das will ich gerne zugeben.
Was bedeutet das konkret für dass Aussehen der Gebäude? Gibt es so etwas wie eine
Gemeinsamkeit, die die einzelnen Architekturen über alle Stilunterschiede hinweg miteinander
verbindet?
Machen wir uns heute die Sache etwas einfacher und konzentrieren wir uns auf das, was uns heute,
am meisten vor Augen steht, nämlich der Architektur der letzten dreißig Jahre des neunzehnten
Jahrhunderts, in denen die große masse der Architektur entstanden ist und in denen wir quasi das
Ergebnis, die Summa einer Entwicklung vor uns haben. Danach ergeben sich folgende
Charakteristika, für die ich als Beispiel einen wirklich signifikanten, aber auch etwas extremen Bau
gewählt habe: die Villa, die der Architekt Sutter am Feldbergplatz Mainz: (Leider nicht erhalten).
Mainz, Villa Wittekind, Conrad Sutter, 1894
Wir sehen hier die Tendenz zur starken Baukörpergliederung, zur Asymmetrie, Renaissance des
Daches, das zur Definition der Baukörpergruppierung beiträgt, zur Silhouette und Sprechende
Fassadengliederung. Über die Farbigkeit (Polychromie) dieser Villa haben wir keine Information.
Dafür gebe ich einige andere gut erhaltene Beispiele:
Berlin, Postfuhramt von Carl Schwatlo, 1881
Speyer, Gedächtniskirche der Ref., 1893-1904
Wiesbaden, Kaiser-Friedrich-Bad, 1910-13
HANDWERK UND BAUINDUSTRIE
In Deutschland war man auf die hohen Handwerklichen Anforderungen des erstarkenden
Bürgertums und seiner Architekten nicht vorbereitet. Alles, was auf sich hielt, wandte sich nach
Frankreich oder England, vor allem aber Paris und immer wieder Paris, weil nur dort eine
Kunstindustrie existierte, die qualitativ hochwertig war. Die Weltausstellungen zeigten den
Deutschen bis in die sechziger Jahre immer wieder ihre Unterlegenheit Das alles führte natürlich zu
verstärkten Anstrengungen, diesem Übelstand abzuhelfen. Sie Begannen mit Schinkel und Beuth in
Berlin und fanden in der Gründung von Kunst- und Gewerbeschulen sowie Museen, in
Architekturschulen für Bauhandwerker, Baugewerksschulen ihre Fortsetzung. Es handelt sich um
Anstalten, deren Nachfolgeeinrichtungen wir noch heute benutzen.
Erst dieser Aufschwung an Aus- und Fortbildung und damit besserer Produktion für einen bis dahin
nahezu unbekannten Zweig, die Bauindustrie im weitesten Sinne schuf die Voraussetzung für dem
Bauboom jener Jahre. Er schuf aber nicht nur die quantitativen Voraussetzungen, sondern auch die
ästhetischen. Denn das Erscheinungsbild dieser Bauten ist von den Produkten der Bauindustrie, von
der ich gesprochen habe, wesentlich geprägt. So z. B. von der neuen Backsteinproduktion, von den
Eisengusstreppen und Säulen den Zierelementen, wie den Mettlacher Platten, von den
Zinkornamenten auf den Dächern, den Ziegeln der Fa. Ludowici und anderen, , den Beschlägen von
Fenstern und Türen und vieles andere mehr.
Eisenguss
Schloss Arenfels, 1849-55, Treppe
Remagen, Türme der Apollinaris-Kirche
Backsteinproduktion
Ingelheim, Bahnhofstraße Zinkarbeiten
Sporer, München
Kadow & Riese, Berlin
Zierformen Firma Ernst March, Berlin, Katalog 1875
Innenausstattung
Mettlachen Platten und Mosaik von Villeroy & Boch: Villa Scheld in Kassel
Deutsches Malerjournal 1877
Dieses ungeheure Arsenal ist nicht an einem Tag entstanden, sondern ein Entwicklungsprodukt. Es
waren kleine Unternehmen, die sich zunächst in kleinem Umfang mit Abformungen in Ton und Gips
befassten und sich bald zu großen Firmen für dekorative Fassaden- und Ausstattungselemente
entwickelten, wie Dankberg, Czarnikow und March in Berlin, Brüggemann in Bremerhaven und
Boschen in Oldenburg, um nur einige zu nennen. Auch die Firma Villeroy & Boch beteiligte sich bald
mit ihrem Werk in Merzig an der Saar an diesem Geschäft.
Ein Blick in das Warenlager der Firma Dankberg, 1866
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