apl. Prof. Dr. Wolfgang Brönner, Architektur des Historismus in Mainz. Thema lautet „Architektur des Historismus“. grob gesagt, um die Architektur des 19. Jahrhunderts, zumindest um die Architektur, die überwiegend das 19. Jahrhundert bestimmt. Apollinariskirche in Remagen. Sie steht gewissermaßen am Anfang der historistischen Kirchenbaukunst. Sie ist, romantisch auf einer Anhöhe im Angesicht des Drachenfelsens gelegen, 1839-43 entstanden und vor allem wegen seines Architekten, des Kölner Dombaumeisters Ernst Friedrich Zwirner und wegen der Ausmalung durch die Nazarener der Düsseldorfer Malerschule berühmt geworden. Bemerkenswert ist hier nach den Wandmalereien vor allem die totale Buntheit der Kirche, wie sie vorher in Deutschland an keinem Bau zu beobachten war. Fast gleichzeitig entstand das Schloss Stolzenfels 1836-42, ebenso romantische gelegen auf eine Höhe gegenüber Lahnmündung bei Koblenz. Der Preußische Kronprinz und spätere König Friedrich Wilhelm IV. hat sich hier die Ruine einer Kurtierischen Burg zu einem schlossartigen Sommersitz ausbauen lassen und mit ihr durch Schinkel und Stüler eine noch ganz vom romantischen Geist umwehte, aber mit ihrer graziösen, feenhaft genannten Gesamterscheinung ein Frühwerk historistischen Schlossbaukunst schaffen lassen. Das Schloss Neuschwanstein, ab 1871 (bis 1886) romantisch und er Gesamtwirkung wie Stolzenfels, ist in der exponierten Lage gesteigert monumental, lebendiger gruppiert und steiler getürmt, eine zusammengedrängte und nach oben strebende Baugruppe. Sie gehört erkennbar einer entwickelten Phase des Historismus an. Alle diese drei Bauten haben mittelalterlicher Architektur zum Ausgangspunkt ihrer Gestaltung gewählt. Ich sage bewusst: zum Ausgangspunkt gewählt, da man es schwer haben wird, direkte Vorbilder auszumachen. Das Kunsthistorische Museum in Wien gehört zum großen Stadterweiterungskonzept von Wien, ist Teil der mit der berühmten Ringstraßenanlage zusammenhängenden Stadtplanung. Gottfried Semper und Karl von Hasenauer sind die Architekten. 1872-91 entstanden, gibt der Bau dem Kundigen zu erkennen, dass hier barocke Schlossarchitektur wie auch die Renaissance als Stilanregung wirkten. Die Semperoper in Dresden, 1871-78, ist wohl das reinste und berühmteste Werk nicht nur des Architekten Gottfried Semper, sondern dieser Richtung überhaupt anzusehen. Ihre Ausgangsform geht auf Ideen der französischen Revolutionsarchitektur zurück, doch ist der Bau ganz ein Abbild von Sempers in seinem architekturtheoretischen Werk „Der Stil“ niedergelegten Theorie und der bewussten Fortführung der italienischen Hochrenaissance als entwicklungsfähigstem Stil. Ich schiebe, nur um die europäische Dimension des Themas im bewußtsein zu halten, zwei englische Beispiele ein, die Royal Albert Hall des Ingenieurs Henry Y. D. Scott von 1867-71 und das Albert Memorial am Hydepark von Gilbert Scott 1863-76, Bauwerke, die Neurenaissance in Semper sehr verwandter Form und die Neugotik in England repräsentieren sollen. Hier noch ein kurzer Ausflug nach Frankreich: Als der berühmteste Bau dieser Epoche in Frankreich, in dem sich Renaissance und Barock sich in eigenwilliger Weise verbinden, sei die 1860-74 erbaute Oper von Charles Garnier genannt. Die Stadt Paris wird überragt von der Kirche Sacré Coeur in Paris von Paul Abadi auf dem Montmartre. Erbaut von 1875 bis 1914, steht sie für eine halbes Jahrhundert Kirchenbau in Frankreich, in dem weithin sichtbar am Ende die byzantinisch geprägte Neuromantik über die Neugotik siegt. Hamburger Rathaus ab 1880 Berlin, Ein weiterer spektakulärer Fall ist das von Martin Haller ab 1880 erbaute Hamburger Rathaus. Mit seinem hohen Turm den gewählten Formen deutscher Renaissance darf es als herausragendes Beispiel unter vielen anderen gelten. Es steht für Bürgerstolz und nationalprotestantisches Selbstbewusstsein nach der Reichsgründung 1871. Sie haben schon längst gemerkt, dass sich mit dem Historismus die Bewältigung neuer monumentaler, weil öffentlicher Bauaufgaben verbindet, die hier oft zum ersten Mal, oder zum ersten Mal in dieser Größe und Häufigkeit zu bewältigen waren. Der von Franz Schwechten 1871-80 in Berlin erbaute Anhalter Bahnhof ist ein gutes Beispiel dafür. Die im Backstein italienische und heimische Traditionen verbindende Renaissancearchitektur bildet das Entree für eine der imponierendsten, ganz funktionalistischen Bahnsteinhallen aus Glas und Stahl, ein Gegensatz von Material und Form, der nicht als störend, sondern als positiv empfunden wurde. Wir bleiben in Berlin, der Stadt, in der wie heute die größten Bauaufgaben in großer Zahl anstanden. Der Reichstag in Berlin, 1884-94 von Paul Wallot erbaut, steht mit seinem der Schlossarchitektur entlehnten, insgesamt Barock wirkenden Baukörper an der Wende zur letzten Phase des Historismus, in der alle Tendenzen sich noch einmal verdichten. Die blockhafte Wucht, die nicht nur den Baukörper, sondern auch alle Einzelheiten bestimmt, wurde von manchen Zeitgenossen als ein Aufbruch in ein neues Zeitalter architektonischer Gestaltung empfunden. Seit Schinkels Entwürfen für einen Denkmaldom für die Befreiungskriege, war es für jene Zeit typisch, Kirchenbauten über ihre eigentliche Funktion als Gotteshäuser hinaus Denkmalcharakter zu geben, wie bei der 1893-94 von Flügge und Nordmann aus Essen erbauten Gedächtniskirche der Protestation in Speyer, oder der 1890-1904 wieder von Franz Schwechten erbauten Kaiser-WilhelmGedächtniskirche in Berlin, die ich hier zeige, um auch ein Beispiel der späten, von Wilhelm II. besonders favorisierten Neuromanik zu bringen. Interessant ist bei letzterer wieder, wie schon beim Schloss Neuschwanstein, die zusammengedrängte und nach oben strebende Baugruppe, eine Tendenz, die die der rheinischen Romanik entlehnten Formen mit einer neuen Aussage belebt. Auch Städtebauliches gehört zu den großen Leistungen dieser Epoche, wie die schon angesprochene Wiener Ringstrasse 1858-65, oder die hier gezeigte Kölner Ringstraße ab 1881, ebenfalls eine der bedeutenden Stadterweiterungen, letztlich von Haussmann unter Napoleon III. durchgeführten Boulevards inspirierte Maßnahmen. Diese hier wurde von dem damaligen Papst der Stadtplanung Josef Stübben konzipiert. Der Straßenquerschnitt mit seinen breiten, in Fahrbahnen und parkartig gestaltete Partien ist typisch für alle diese Prachtstraßen. Schließlich zeige ich noch einige kleiner Bauten, luxuriöse Wohnbauten des Adels, wie hier das Schloss Miramare des späteren unglücklichen Kaisers Maximilian von Mexiko bei Triest am Meer, erbaut ab 1854 ähnlich Stolzenfels in englischer Gotik, auch im inneren englisch mit seinem offen einsehbaren Hammerbeamroof, und in Potsdam, die bürgerlichen Villen an der Gregor-Mendelstraße 1894 des ausklingenden Historismus gegen 1900. Das Makart-Atelier in Wien, ca. 1870, mag als extremes, aber überaus wirkungsvolles Vorbild für die Wohnkultur der Zeit eines Bildes gewürdigt werden. Die Villa Vaissier, 1892, in Lille steht schließlich für das ungeheure Spektrum an Formen, aus dem der Historismus schöpfte, aber auch für die zuweilen ausufernde, übermütige Blüten treibende Phantasie von Bauherrn und Architekten. Hier hat der Bauherr sich nicht nur ein Mogulschloss in die Industriestadt bauen lassen, sondern mit Hilfe moderner Technik – die Kuppel ist aus Stahl und farbigem Glas und wurde nachts beleuchtet – einen völlig neuen theatralischen Effekt hinzugefügt. EINFÜHRUNG Die Zahl der Bauwerke, die in dieser Zeit entstanden, ist im Vergleich zu den voraufgehenden Epochen sehr groß, desgleichen die Zahl der unterschiedlichen Richtungen, Schulen, bedeutenden Architektenpersönlichkeiten. Hinzu kommt, dass das, was wir mit „Historismus“ in der Kunst- und insbesondere in der Architekturgeschichte bezeichnen, bislang keineswegs so bündig und sicher definiert ist, wie man es von anderen Kunstepochen kennt. Ich werde also notwendigerweise sehr exemplarisch vorgehen müssen, mich auf Deutschland konzentrieren und dabei auf die Vorstellung manches allbekannten, bedeutenden Werkes zugunsten einer didaktischen Linie verzichten müssen. BEGRIFF DES HISTORISMUS Man muss einmal eine halbe Stunde investieren und im Internet unter den Stichworten „Historismus“ und „Begriff“ surfen. Was man mitnimmt, ist, dass es sich um eine Epoche handelt, der der Bezug zur Geschichte in jeder Form wichtig war, dass sie Schwierigkeiten mit der eigenen Formerfindung hatte, dass sie sie nach rückwärts blickte, um Anregungen oder gar Richtlinien für das eigene Gestalten zu erhalten und dass ihr deshalb der Mangel an Schöpferkraft vorgehalten wird. Da und dort wird über das Schöpferische im Historismus nachgedacht, ohne dass in der offenbar noch fließenden Diskussion sicherer Grund erreicht wäre. Ich will nicht den Tenor des Vortrags abändern, doch ohne ein paar einleitende Worte zum Thema „Historismus“ werden wir nicht auskommen, in denen ich Ihnen eine Orientierung über die genannten Aspekte hinaus zu geben versuche. Ich möchte bei dem Beginnen, was wir als Schöpfung des Historismus bezeichnen können. Es gibt keine Epoche, die unser Bild von der Geschichte im wörtlichen Sinn so lange bestimmt hat, wie diese. Beispiele: Kaulbach, Zerstörung Jerusalems,1846 Piloty,Thusnelda,1870 Kaulbach,Zerstörung Jerusalems,1846, Piloty,Thusnelda,1870 Die Epochen, auf die sich das Interesse richtete, waren die Antike, das Mittelalter und die Renaissance. Das 18. Jahrhundert mit Barock, Rokoko und Klassizismus erfuhr bis in die späten Jahre des 19. Jahrhunderts fast ausschließlich nur Ablehnung. H. Plüddemann, Heinrich IV. in Canossa, Carolsfeld, Bibel in Bildern, ab 1851 Carolsfeld/Hübner/Bendemann, Das . . . Nibelungenlied. 1840 H. Plüddemann, Heinrich IV. in Canossa, Bildersaal deutscher Geschichte 1890 Die älteren unter uns sind alle noch mit der Bilderbibel von von Carolsfeld, den Bilden zum Nibelungenlied von von Carolsfeld, Hübner und Bendemann und den Geschichtsbildern aus dem Bildersaal deutscher Geschichte aufgewachsen. Als mein Vater mir eine Burg baute, sah sie eher aus wie Neuschwanstein, als die Marksburg oder Burg Elz. Die Künstler des Historismus hatten sich die Aufgabe gesetzt, ein Bild von der Vergangenheit zu schaffen, in dem sie sich mit ihrem Suchen nach dem bewundernswerten Vorbild wiederfinden konnten. Es versteht sich von selbst, dass ein solches Geschichtsbild nicht hinter den Erkenntnissen und Fähigkeiten der neuesten Zeit zurückbleiben durfte, um befriedigen zu können. Das heißt, dass die gesamten Kunst- und auch Literaturerfahrungen einschließlich des geschmähten 18. Jahrhunderts in die neue Kunst eingingen und sie zwangläufig das Bild der verehrten Kulturepochen mit bestimmten, ja sogar in Gegensatz traten. Ich bringe dazu gerne die Restaurierung der Ausmalung der Marburger Schlosskapelle durch Carl Schäfer. 1874 und 1883. In einer ersten Version hatte der Architekt Carl Schäfer die Wand- und Deckenbemalung dicht an dem von ihm erhobenen Befund ausgeführt. Auffällig waren dabei die im Gewölbe aufgemalten Backsteine. Kein zehn Jahr später wurde an deren Stelle ein Sternenhimmel aufgemalt, der offenbar besser zur zeitgenössischen Vorstellung vom Mittelalter passte. Marburg, Schlosskapelle 1874 und 1883 Dies mag genügen, um zu zeigen, worauf ich hinauswill. Wenn wir es bei der Architektur des Historismus mit Stilwiederaufnahmen zu tun haben, handelt es sich keineswegs um Ratlosigkeit, sondern um absichtsvolles Vorgehen, das sich zu beginn des 19. Jahrhunderts vor allem gegen das 18. Jahrhundert in allem wendet, was es charakterisiert hat. Ich gebe hier eine Reihe von Stichworten, die die unterschiedlichen Motive für eine Rückwendung zur Vergangenheit angeben und die in den unterschiedlichsten Kombinationen auftreten: Idealisiertes Nürnberg: Paul Ritter 1893 Die Sehnsucht nach der idealen Vergangenheit, dem einheitlichen, starken Deutschland, die sich mit der Stadt Nürnberg als Symbol verbindet. Hans Sachs und Dürer sind die Lichtgestalten, die uns durch das Jahrhundert begleiten werden. Wir spüren schon, dass es, trotz aller bedeutenden Adelsbauten, ein bürgerliches Jahrhundert werden wird. Je nach religiöser und weltanschaulicher Überzeugung werden auch andere Vorbilder gesucht. Heinrich Hübsch in Karlsruhe (Polytechnische Schule 1835) Der Wunsch nach Wahrhaftigkeit in der Baukunst, die ihren Ursprung in der Aufklärung und er französischen Revolution hat. Hieraus entstehen sich Bemühungen, aus der Betrachtung der Geschichte eine neue Baukunst entwickeln zu können. Schinkels Lehrbuchentwürfe, die Rundbogenarchitektur von Heinrich Hübsch in Karlruhe (Polytechnische Schule 1835) und die als dogmatische Neugotik bezeichnete Richtung, zu den Augustus Welby Northmore Pugin in England und EugViollet-le-Duc entscheidend beigetragen haben. Ihre Zentren sind bei uns in Deutschland die Hannoversche Architekturschule und die Kölner Architektur im Umkreis des Dombaus. Ihnen allen ging es um Wahrhaftigkeit in Material und Konstruktion. Viollet-le-Duc, Dachkonstruktion 1858 Hase, Dorfkirche Aspe 1857 Durand, Entwürfe für Villen, 1809 Viollet-le-Duc, Emporen mit Stahlstützen für . einen Konzertsaal Klasen, Grundrisse für Wohnhäuser Eisgrubschule 1886-88 in Mainz Das Bedürfnis nach Ausdruck in der Architektur. Architektur soll nicht allein schmückende Fassade oder bergender Raum sein, sondern auch Funktion und Struktur des Gebäudes vermitteln. Die Beschäftigung mit dem Grundriss nahm einen besonderen Rang ein. Es gibt ganze Bücher, ja Buchreihen, wie die von Ludwig Klasen (Grundriss-Vorbilder, Leipzig, ab 1884), die fast nur Grundrisse vorführen. Dazu gehört auch der Skulpturen und sonstige Bildschmuck an den Fassaden und im Inneren. Aber auch Stimmungen sollen vermittelt werden, z. B. Ernst und Würde bei Gebäuden der Religion und des Staates, Geborgenheit, Heiterkeit und Lebensgenuss bei Privatbauten. Schließlich sollte allem der Stempel der Geschichtlichkeit aufgedrückt sein. Ob es nun das ideale Mittelalter, die ideale Kultur der italienischen oder der deutschen Renaissance oder die bloße Anmutung von Geschichte durch Verwendung von als historisch empfundenen Zierformen, Baukörpergruppierungen, Dachformen zu malerischen Gebilden, denen zuweilen auch historische Originalteile eingefügt wurden, wie hier dem Hause Oppler in Erlangen 1870, dessen Dach mit historischen Ziegeln gedeckt wurde, um die richtige Patina gleich zu Anfang zu erhalten. Haus Oppler in Erlangen, 1870 Wir haben schon in der einführend gezeigten Reihe von bedeutenden Bauten gesehen, dass es innerhalb des Historismus signifikante Unterschiede gibt, die nicht nur verschiedene gleichzeitige Varianten, sondern auch Entwicklungslinien deutlich erkennen lassen. Der Weg dahin war weit. Die Nachwirkungen des Klassizismus waren zunächst allenthalben zu spüren. Die ersten historistischen Bauten, etwa in dem Zeitraum von 1800 bis 1850, wirken im Vergleich zu den Produkten am Ende der Epoche einfach und fast nüchtern. Es ist die Zeit, die gerne auch als Spätklassizismus bezeichnet wird. Potsdam-Babelsberg, Neuendorfer (1852) und Bethlehem-Kirche (1899) Ich bringe hier als Beispiele dafür, welchen weiten Weg der Historismus im Lauf des Jahrhunderts zurückgelegt hat, die beiden zu unterschiedlichen Zeiten nebeneinander in Potsdam-Babelsberg erbauten ev. Kirchen, die Alte Neuendorfer Kirche und die Bethlehem-Kirche. Auch wenn man sich bei diesem ersten, 1853 auf Wunsch Friedrich Wilhelms IV. von Ferdinand Hesse (Ausführung Christian Heinrich Ziller) errichteten Bau auf das rheinische St. Gereon bezog und damit das Vorbild besonders prägend ist, so gibt er doch deutlich seine Zeitstellung zu erkennen. Der Formenreichtum und die asymmetrische Gruppierung der 1899 entstandenen Bethlehem-Kirche (1898-99, Regierungsbaurat Ludwig von Tiedemann) haben einen so deutlich anderen Charakter, und können uns sowohl die Unterschiedlichkeit, wie auch den Entwicklungsgeschichtlichen Wandel innerhalb des Historismus deutlich vor Augen führen. Gleichzeitig haben wir aber auch etwas von der historistischen Methode kennen gelernt, die zunächst noch unsicher tastend nur zu häufig ihre Vorbilder direkt zitiert, wird später spürbar freier unselbständiger. DIE ENTWICKLUNG DER MODI Ein augenfälliger Aspekt historistischer Architektur ist, dass unterschiedliche Formen und Stile gleichzeitig und nebeneinander auftreten. Man kann stark vergröbert sagen, dass diese Gleichzeitigkeiten überwiegend ihren Grund darin haben, dass man bestimmte Baustile, man kann das auch architektonische Modi nennen, bevorzugt bestimmten Bauaufgaben zugewiesen hat. Eingängig ist, dass die Gotik bevorzugt der Kirchenbaustil dieses Jahrhunderts war, durch die Mariahilf-Kirche in München-Au, den Fortbau des Kölner Doms und die Nikolai-Kirche in Hamburg, (München-Au, Maria-Hilf-Kirche, Daniel Ohlmüller 1839 Hamburg, Nikolaikirche George Gilbert Scott, 1846-74 Schloss Schwerin 1843-57 Wiesbaden, Rathaus 1887) desgleichen italienische Renaissance und später Barock für Bauten der Kultur, aber auch für andere repräsentative Aufgaben, die deutsche Renaissance für Rathäuser und andere Bauten des bürgerlichen Gemeinwesens. Aber auch der Adel schloss sich dieser Richtung gerne an. Das Schloss Schwerin 1843-57 von Georg Adolf Demmler, bei dessen Ausbau von Adolf Demmler schon Semper beteiligt war, ist eine frühes Beispiel dafür. Hannover Schiffgraben, 1872 Bonn-Plitterdorf, Villa Cahn, 1872 Für Privathäuser aller Art, insbesondere für Villen war mit Fortschreiten der Epoche das ganze Spektrum von der antikisierenden Portikusvilla, hier: Hannover, Villa de Haen, Heinrich Köhler 1872 bis zum extrem malerisch gruppierten Bau mit Turm. Hier i: Bonn-Plittersdorf, Villa Cahn von Edwin Oppler, 1872 Doch muss man bedenken, dass es auch Präferenzen einzelner Architekturschulen gab. So bevorzugten die Berliner bis in die achtziger Jahre Klassische Formen wie sie die Villa de Haen des aus Berlin stammenden Heinrich Köhler zeigt, die Hannoveraner verschrieben sich lange ausschließlich der Gotik und die pragmatischen Münchener sorgten dafür, dass ab 1876 die deutsche Renaissance im ganzen Reich Verbreitung fand. Lorenz Gedon, Entwurf Schackgalerie in München 1871 Hier: Lorenz Gedon, Schackgalerie 1871 Die Bauherren waren ebenso pragmatisch und nahmen, was ihnen gefiel, wodurch ein buntes, abwechslungsreiches Gesamtbild der Villenviertel entstand, das durchaus gewollt und geschätzt war und, wenn ich recht sehe, auch heute noch geschätzt wird. GESTALT HISTORISTISCHER ARCHITEKTUR AM ENDE DES JAHRHUNDERTS Das sind also im Groben die Komponenten, aus denen sich die Architektur des Historismus zusammensetzt, alles in allem ein disparates Bild für den Unkundigen; das will ich gerne zugeben. Was bedeutet das konkret für dass Aussehen der Gebäude? Gibt es so etwas wie eine Gemeinsamkeit, die die einzelnen Architekturen über alle Stilunterschiede hinweg miteinander verbindet? Machen wir uns heute die Sache etwas einfacher und konzentrieren wir uns auf das, was uns heute, am meisten vor Augen steht, nämlich der Architektur der letzten dreißig Jahre des neunzehnten Jahrhunderts, in denen die große masse der Architektur entstanden ist und in denen wir quasi das Ergebnis, die Summa einer Entwicklung vor uns haben. Danach ergeben sich folgende Charakteristika, für die ich als Beispiel einen wirklich signifikanten, aber auch etwas extremen Bau gewählt habe: die Villa, die der Architekt Sutter am Feldbergplatz Mainz: (Leider nicht erhalten). Mainz, Villa Wittekind, Conrad Sutter, 1894 Wir sehen hier die Tendenz zur starken Baukörpergliederung, zur Asymmetrie, Renaissance des Daches, das zur Definition der Baukörpergruppierung beiträgt, zur Silhouette und Sprechende Fassadengliederung. Über die Farbigkeit (Polychromie) dieser Villa haben wir keine Information. Dafür gebe ich einige andere gut erhaltene Beispiele: Berlin, Postfuhramt von Carl Schwatlo, 1881 Speyer, Gedächtniskirche der Ref., 1893-1904 Wiesbaden, Kaiser-Friedrich-Bad, 1910-13 HANDWERK UND BAUINDUSTRIE In Deutschland war man auf die hohen Handwerklichen Anforderungen des erstarkenden Bürgertums und seiner Architekten nicht vorbereitet. Alles, was auf sich hielt, wandte sich nach Frankreich oder England, vor allem aber Paris und immer wieder Paris, weil nur dort eine Kunstindustrie existierte, die qualitativ hochwertig war. Die Weltausstellungen zeigten den Deutschen bis in die sechziger Jahre immer wieder ihre Unterlegenheit Das alles führte natürlich zu verstärkten Anstrengungen, diesem Übelstand abzuhelfen. Sie Begannen mit Schinkel und Beuth in Berlin und fanden in der Gründung von Kunst- und Gewerbeschulen sowie Museen, in Architekturschulen für Bauhandwerker, Baugewerksschulen ihre Fortsetzung. Es handelt sich um Anstalten, deren Nachfolgeeinrichtungen wir noch heute benutzen. Erst dieser Aufschwung an Aus- und Fortbildung und damit besserer Produktion für einen bis dahin nahezu unbekannten Zweig, die Bauindustrie im weitesten Sinne schuf die Voraussetzung für dem Bauboom jener Jahre. Er schuf aber nicht nur die quantitativen Voraussetzungen, sondern auch die ästhetischen. Denn das Erscheinungsbild dieser Bauten ist von den Produkten der Bauindustrie, von der ich gesprochen habe, wesentlich geprägt. So z. B. von der neuen Backsteinproduktion, von den Eisengusstreppen und Säulen den Zierelementen, wie den Mettlacher Platten, von den Zinkornamenten auf den Dächern, den Ziegeln der Fa. Ludowici und anderen, , den Beschlägen von Fenstern und Türen und vieles andere mehr. Eisenguss Schloss Arenfels, 1849-55, Treppe Remagen, Türme der Apollinaris-Kirche Backsteinproduktion Ingelheim, Bahnhofstraße Zinkarbeiten Sporer, München Kadow & Riese, Berlin Zierformen Firma Ernst March, Berlin, Katalog 1875 Innenausstattung Mettlachen Platten und Mosaik von Villeroy & Boch: Villa Scheld in Kassel Deutsches Malerjournal 1877 Dieses ungeheure Arsenal ist nicht an einem Tag entstanden, sondern ein Entwicklungsprodukt. Es waren kleine Unternehmen, die sich zunächst in kleinem Umfang mit Abformungen in Ton und Gips befassten und sich bald zu großen Firmen für dekorative Fassaden- und Ausstattungselemente entwickelten, wie Dankberg, Czarnikow und March in Berlin, Brüggemann in Bremerhaven und Boschen in Oldenburg, um nur einige zu nennen. Auch die Firma Villeroy & Boch beteiligte sich bald mit ihrem Werk in Merzig an der Saar an diesem Geschäft. Ein Blick in das Warenlager der Firma Dankberg, 1866