Prof. Dr. Otto Gerhard Oexle Forschungsschwerpunkte (Gegenstände und Fragestellungen) I. Soziale Gruppen in der mittelalterlichen Gesellschaft, bes. im Hinblick auf die Formen der Vergesellschaftung und Vergemeinschaftung, in Verbindung der Frage nach ihrer Selbstdeutung mit der nach den spezifischen Formen des Handelns, der Institutionenbildung und der kulturellen Produktivität: – Adelsgeschlechter (Karolinger, Welfen, Fugger); – Verwandtschaft; – das 'Haus'; – monastische und geistliche Kommunitäten; – die Formen der 'Conjuratio' (geschworenen Einung): die Gilde, die Zunft, die Universität, die bäuerlichen und städtischen Kommunen. II. Denkformen und Mentalitäten in der mittelalterlichen Gesellschaft, bes. die Deutungen ständischer Gesellschaften im Hinblick auf Sozialmetaphern und Deutungsschemata der sozialen Wirklichkeit; das Verhältnis von 'Wirklichkeit' und 'sozialem Wissen'; Studien zu einzelnen Schemata (die 'Funktionale Dreiteilung'; 'Tria genera hominum'); Versuch einer Gesamtdarstellung des Stände-Denkens der Antike und des Mittelalters. Hierher gehören außerdem Arbeiten über soziale Leitvorstellungen im Blick auf das Verhältnis von 'Mentalität' und 'Realität'; über 'Arbeit', 'Frieden' und den Begriff des 'Utopischen'. III. Untersuchungen über einzelne Stände und Schichten der Gesellschaft: – Adel; – die Armen (Armut, Armutsbegriff, Armenfürsorge); – Gelehrte und Studierte; 2 – die Toten (hier geht es um den rechtlichen und sozialen Status, der den Toten in allen vormodernen Gesellschaften, von der Antike bis zum 18. Jh., zugeschrieben wird. IV. Die Frage nach den Toten als Rechtssubjekten ist ein Teil der Forschungen über Memoria als ein umfassendes 'kulturelles' (also Denkformen, soziales Handeln und Rituale bzw. Institutionen integrierendes), als ein 'totales' soziales Phänomen in seinen verschiedenen Dimensionen (Liturgie, Geschichtsschreibung, Konstituierung von Gruppen durch Memoria) und Ausdrucksformen, unter besonderer Berücksichtigung der künstlerischen in Malerei ('Memorialbilder', die sich vor allem auf Gruppen beziehen), Skulptur und Architektur. V. Viele dieser sozialgeschichtlichen Studien sind als diachronische Längsschnitte angelegt, die das Mittelalter mit Antike und Früher Neuzeit sowie mit der Moderne (seit '1800') verbinden, um damit langfristige Kontinuität wie Formen des Wandels zu erkennen: – Am Beispiel der 'Conjuratio' wurde vom Frühmittelalter aus rückschreitend die Anknüpfung an die 'Coniurationes' der römischen Antike gefunden; ähnlich der Gesamtüberblick über die Deutungen ständischer Gesellschaften, über Begriff und Phänomen des 'Hauses', über die Wandlungen des Armutsbegriffs, über Memoria und die 'Gegenwart der Toten'. In einer weiter ausgreifenden Perspektive versucht ein Essai über 'Mittelalterliche Grundlagen des modernen Europa' die vormodernen Bedingungen der Modernisierung zu benennen. – Andererseits ging es mir darum, die grundsätzlichen Veränderungen zu erfassen, welche die Moderne seit 1800 (die Jahreszahl als symbolische Repräsentation verstanden) vom vormodernen Okzident trennen. Damit soll zugleich deutlich gemacht werden, welche Schwierigkeiten bei der Wahrnehmung vormoderner Gesellschaften sich dem Historiker (wie auch Vertretern anderer Kulturwissenschaften) entgegenstellen, sobald man den (theoretisch längst überwundenen, forschungspraktisch aber offenbar 3 unüberwindlichen Glauben) an die Realexistenz von Epochengrenzen wirklich preisgibt. Problemstellungen dieser Art wurden weitergeführt im Blick auf wissenschaftsgeschichtliche Themen (VI), die Reflexion über 'Mittelalter und Moderne' im 19. und 20. Jh. (VII), das Problem des Historismus als konstitutives Problem der Moderne (VIII), Fragen einer historisch begründeten Theorie der historischen Erkenntnis (IX) und das Verhältnis von Kulturwissenschaft und Naturwissenschaft (X). VI. Wissenschaftsgeschichte: Am Beispiel einer Problemgeschichte des Phänomens 'Zunft' wurde gezeigt, wie die mediävistische Forschung über Zünfte gesteuert wurde von der Entfaltung des politisch-sozialen Problems der 'Assoziation' seit der Mitte des 18. Jh. und von den dabei erörterten politisch-sozialen Grundfragen (Vereinigungsfreiheit, Gewerbefreiheit, 'Gemeinschaft und Gesellschaft' usw.). Einzelne Arbeiten behandelten das Œuvre bedeutender Historiker des 19. und frühen 20. Jh. (Otto von Gierke; Georg von Below; Marc Bloch; Otto Brunner) sowie der Gegenwart (Georges Duby; Jacques Le Goff). Ins Zentrum der Aufmerksamkeit geriet dann mehr und mehr der Aufbruch einer Historischen Kulturwissenschaft am Beginn des 20. Jahrhunderts ('Kultur' als Reflexionsbegriff und als Gegenstandsbegriff), auch mit einzelnen Arbeiten vor allem über Max Weber, aber auch über Georg Simmel, Adolf von Harnack und Ernst Troeltsch. VII. Die Problematik des Verhältnisses von ' Mittelalter und Moderne' ist ein lebensweltliches und wissenschaftliches Grundproblem der Moderne, nämlich ein Modus, über die Frage des Fortschritts zu reflektieren, wobei das Mittelalter stets in mehreren Erscheinungsformen gegenwärtig ist: als das durch den Fortschritt endlich Überwundene; oder als das unglücklicherweise Verlorene, das den Fortschritt verurteilt; als das erhoffte "Neue Mittelalter", das eine anti-moderne Moderne bedeutet; als das eigentliche Modernität konstituierende Moment). Solche Dispositionen steuern die Hervorbringungen in Kunst, Literatur, Film etc., aber auch in der Wissenschaft, nicht nur bei Historikern, sondern auch bei Philosophen, 4 Theologen, Soziologen, Rechtswissenschaftlern, Kunsthistorikern. Die 1933 von zahlreichen und prominenten Vertretern der Geisteswissenschaften getroffene Entscheidung für den NS war wesentlich dadurch konstituiert, daß der NS für sie ein 'Neues Mittelalter' bedeutete. Am Beispiel Luhmanns wurde gezeigt, wie die soziologische Theorie der Modernisierung in der Frühen Neuzeit bedingt wird von (unreflektierten) Annahmen über das Mittelalter. VIII. Das Problem des Historismus, d.h. der Erkenntnis der universalen Historisierung alles dessen was ist, gehört mitsamt seinen Folgelasten (Positivismus, Relativismus) zu den konstitutiven Momenten der Moderne. Die Reflexion darüber ist – im Gegensatz zu den anderen Kulturwissenschaften (u.a. Philosophie, Literaturwissenschaft, Kunstgeschichte) den Historikern nach 1945 weitgehend abhanden gekommen. Es geht darum, diese seit der ersten Hälfte des 19. Jh. alle Lebensbereiche durchdringende und seit Friedrich Nietzsche, Max Weber und Ernst Troeltsch unterschiedlich, aber immer grundsätzlich erörterte Frage wiederzugewinnen. Dazu bisher ein neuer Ansatz einer Phänomen- und Begriffsgeschichte von 'Historismus' sowie eine Aufarbeitung der älteren Grundpositionen bis Meinecke. Auch diese Problematik hat bei der Entscheidung für den NS 1933 und danach eine erhebliche Rolle gespielt: Beendigung des "Relativismus" und der "Auflösung" von "Natur" und "Geschichte" (Gottfried Benn); neue Sicherheit der Erkenntnis im "konkretenOrdnungsdenken" (Carl Schmitt; Otto Brunner). IX. Dies ist verbunden mit Standortbestimmungen der Geschichtswissenschaft im Zeichen des Historismus und der Erörterung von Grundfragen einer Theorie der historischen Erkenntnis: 'Wissenschaft und Leben', 'Der Teil und das Ganze', das Verhältnis von Wertproblem und Objektivitätsforderung. Als Orientierung dient dabei immer wieder das Œuvre von Max Weber, dessen Erträge ich für noch längst nicht ausgeschöpft halte. 5 X. Reflexion über Kulturwissenschaft bedarf der g leichzeitigen Reflexion über Naturwissenschaft in historischer (dazu Nr. 129 und 135 der Bibliographie) wie in systematischer Perspektive (dazu Nr. 226).