Hintergrundinformation zu Modul 10 Geschichte der europäischen Integration Ideen zur europäischen Einigung vor 1914 Zum „Europa“-Begriff Die Schwierigkeiten einer Begriffsbestimmung beginnen bei dem Versuch der ethnischen und geographischen Umschreibung von „Europa“. Die meisten „Europäer“ stammen ihrer Herkunft nach aus dem Bereich der germanisch-romanischen und slawischen Völker, die alle der indo-europäischen Völkerfamilie angehören. Jedoch schwanken die geographischen Umrisse der Europazugehörigkeit einzelner Völker; wichtiger war ihre politische Zugehörigkeit: Kleinasien und – vor der Islamisierung – Syrien gehörten zu Europa, dagegen Spanien in seiner arabischen Zeit und Skandinavien vor der späteren Christianisierung nicht. Andererseits rechnete man teilweise die Väter der abendländisch-christlichen Philosophie und Theologie – Augustinus (354 – 430, Bischof von Hippo in Nordafrika), Tertullian (ca. 160 – 220, aus Karthago), Origines (ca. 185 – 254, aus Alexandrien) sowie die drei großen Kappadokier Basilius d. Gr. (ca. 330 – 379), Gregor von Nyssa (ca. 335 – 394) und Gregor von Nazianz (330 – 390) – dem europäischen Kulturkreis zu. Heute wird die Zugehörigkeit zu Europa formal durch Ländergrenzen bestimmt und der auf „Europa“ begrenzte Beitritt zur EU (vgl. Art. 49 EUV) wird politisch definiert. Die Vorphase europäischer Einheit Das frühe Mittelalter bis zur karolingischen Großreichbildung gehört noch zur Vorphase Europas. Europa entstand aus dem Auseinanderbrechen des Römischen Reiches, aus dem allmählichen Auseinanderleben der griechischen und römischen Kirche (Schisma 1054), der germanischen Völkerwanderung und der Auflösung des weströmischen Reiches, der Abschließung der Südküste des Mittelmeeres durch die muslimischen Araber, deren Vorstoß nach Spanien und dessen Abfangen durch Karl Martell (732). Das Reich Karls d. Gr. (um 800) umfasste das damalige Europa. Die fränkischen Nachfolgestaaten konnten diese Einheit nicht aufrecht erhalten. Europa wurde als Einheit der germanisch-romanischen Völker zum ersten Male gewissermaßen empfunden anlässlich des Vordringens der Türken auf Wien um 1500. Durch den Fall Konstantinopels 1483 wurde Europa seines ältesten geistigen Zentrums, der wissenschaftlichen Schulen von Byzanz, beraubt. Sie hatten bis dahin die lebendige Brücke 2 zur griechischen Überlieferung gebildet. Damit ging ein europäischer Kulturkreis verloren. Schon zwei Jahrhunderte vorher war Russland, von Byzanz aus christianisiert und kulturell geprägt, dem Mongolensturm erlegen und blieb vom europäischen Mittelalter ausgeschlossen. Westeuropa und ein Teil von Osteuropa haben seit der Zeit des frühen Mittelalters in einer bewussten oder unbewussten Weise als eine Einheit gelebt, die zwar anders als die heutige strukturiert war, die aber gegenüber der byzantinischen, ostslawischen und islamischen Welt deutlich zutage trat. Griechisch-römisches Rechts- und Staatsdenken sowie die universale Katholische Kirche waren die einenden Bande, zu denen zeitweise die politische Einheit in Gestalt des König- und Kaisertums hinzutrat. Staat und Kirche im Mittelalter: Beiträge zur Einheit Die während des Mittelalters bestehende Einheit der christlichen Religion hat gleichzeitig den Legitimationsrahmen für den Staat (das Reich) abgegeben. Papst und Kaiser waren aufeinander angewiesen. Das Reich Karls d. Gr. verstand sich als „Europa“ und nannte sich so: Okzident (Westteil). Aber schon seit Otto d. Gr. (936 –973) entzogen sich Spanien, Frankreich, England und Schottland der Herrschaft des deutschen Kaisers. Der übernationale Legitimationsanspruch des Kaisers beruhte auf der gesamt-europäischen Anerkennung der christlichen Religion; die Internationalität der Kirche wurde wiederum durch das übernationale Kaisertum gestützt. Das Hl. Römische Reich Deutscher Nation war seit dem Hochmittelalter bis zur Neuzeit eine Art nationale Klammer, die Klein- und Mittelstaaten zusammenhielt. Die staatliche Zugehörigkeit der Menschen wurde auch in diesem Zeitpunkt primär durch das politische Gewicht der Fürstentümer und Kleinkönigreiche bestimmt, kaum durch die stets schwache kaiserliche Zentralgewalt, deren Macht sich seit dem 13. Jahrhundert ohnehin auf Österreich beschränkte. Der Kaiser hat kein Richteramt (potestas) über fremde Nationen ausgeübt; lediglich seine (moralische) auctoritas wurde anerkannt und die Herrschaft der Könige von ihm abgeleitet. Das universale Kaisertum stand ohne wirkliches Machtzentrum (Hauptstadt) – der Kaiser, ein Reisender von Pfalz zu Pfalz, ohne zentrale Regierungsgewalt, ohne stehendes Heer, auf die Vasallität sich stützend – einem uneinheitlichen, territorial zersplitterten und in häufige (Bruder-)Kriege verstrickten Reich mit einer geographisch immobilen Bevölkerung von vorwiegend Analphabeten gegenüber. Kultur war in den Klosterschulen und später in den kleinen Zirkeln der Humanisten und Aufklärer präsent. Dagegen war der Kaiser einer Fronde von absoluten Territorialherren konfrontiert, einem Reich als aristokratischer Personenverband, ohne durchgehend anerkannte Reichsidee und ohne territoriale Einheit. So ist das „Reich“ eher verstehbar anhand seiner 3 jeweiligen Konfliktformationen als durch eine vermeintliche Einheitsidee, die den mittelalterlichen Ordo-Gedanken wieder aufnahm. Der einzig gelungene und überzeugende Versuch einer europäischen Einheit besteht in der jahrhundertealten Omnipräsenz der (universalen) Katholischen Kirche in allen europäischen Ländern. Ihre zentrale Leitung, die hierarchische Gliederung ihrer straffen Verwaltungsstruktur, ihre einheitliche Lehre, ihr kulturelles und soziales Engagement (Klosterschulen, Spitäler) versetzten sie in die Lage, bis in die religiösen Gewohnheiten und Glaubensformen, die Baustile der Dome und Kirchen hinein ein imponierendes europaweites Gebäude – ein Sacrum Imperium – von seltener Einheitlichkeit zu erreichen und zu bewahren. Es scheint notwendig, diesen Strang europäischer Einheit im Hinblick auf seine politischsozialen Auswirkungen näher zu erforschen. Dabei geht es um die Frage: Inwieweit hat die Kirche – auch politisch und gesellschaftlich – darauf eingewirkt, dass ursprünglich getrennte Völkerschaften sich verbanden und Staaten gebildet haben? Einigungstendenzen in der Übergangsphase vom Mittelalter zur frühen Neuzeit Dante forderte in seiner Schrift „De monarchia“ (1306) eine europäische Universalmonarchie unter einem römisch-deutschen Kaiser (universal-konstitutionalistische Theorie). Dem Mittelalter fehlte der bewusste Begriff vom souveränen Einzelstaat. Neben Dantes Vorschlag kennt die europäische Geistesgeschichte seit dem 14./15. Jahrhundert eine Fülle von Einigungsplänen, u. a. des französischen Rechtsgelehrten Pierre Dubois (ca. 1255–1321). Alle nahmen sie die Souveränität und Vielfalt der Staaten als gegeben hin. Nie wurde ein europäischer Einheitsstaat mit einer Zentralregierung empfohlen, sondern immer eine Generalversammlung, ein Parlament, ein Senat oder dgl., wo die Staatsoberhäupter oder ihre Vertreter die internationalen Streitfragen regeln sollten. Als wichtige Zeugnisse gelten des französischen Abbé de Saint-Pierre „Traktat zum Ewigen Frieden“ (1713), in dem er einen europäischen Völkerbund vorschlug und unabhängige Schiedsgerichte über Streitfragen entscheiden sollten (föderalistische Theorie, Konzept einer staatenbündisch organisierten Weltregierung), ferner der Philosoph Leibniz (1646–1716), der Herzog von Sully (1559– 1641, Kanzler des französischen Königs Heinrich IV.) und Kants Schrift „Zum Ewigen Frieden“ (1795), schließlich der „Essay über den gegenwärtigen und zukünftigen Frieden in Europa“ (1718) von William Penn. Die rechtliche Einheit Europas beruhte in der Vergangenheit auf der gemeinsamen Anerkennung des Naturrechts und später auf der Übernahme des Römischen Rechts. Die 4 universalen Ämter von Sacerdotium und Imperium, Papst und Kaiser, waren die Mächte, die das Bewusstsein übernationaler Zugehörigkeit in den Menschen hervorriefen. Man denke an die entsprechenden Bemühungen Karls d. Gr. (des pater Europae), Innozenz’ III. und anderer. Adel und Geistlichkeit waren international verbunden, die Kreuzzüge, die Ostkolonisation und die Abwehr der Mongolen und des Islam (vgl. die Schlachten auf den Katalaunischen Feldern 451, bei Tours und Poitiers 732, auf dem Lechfeld 955, bei Liegnitz 1241, vor Granada 1592, vor Wien 1683 usw.) waren gesamteuropäische Veranstaltungen. Dieses europäische Gemeinschaftsgefühl schloss nationale Rivalitäten nicht aus. Im ausgehenden Mittelalter bildete sich, anknüpfend an die griechisch-römische Antike, die europäische Gelehrtenrepublik des Humanismus – Humanisten wie Enea Silvio Piccolomini (1405–1464) und Machiavelli (1469–1527) verwandten „Europa“ als geistigen und politischen Begriff im Sinne der Moderne: bezogen auf die Völker auf dem Kontinent desselben Namens und gemeinsamer Geschichte und Kultur – und der Renaissance, die die Voraussetzung für die spezifisch europäische Idee der Persönlichkeit, der bürgerlichen Freiheit und des aufgeklärten Denkens schuf. Im 17. und 18. Jahrhundert schlossen sich das internationale Ideal des „gentil et galant homme“ sowie die Vereinigung der internationalen Kaufmannschaft seit dem Aufblühen des Handels im Zusammenhang mit der Ausweitung der Geldwirtschaft an. Die Gemeinsamkeit lag weniger in der Organisation, als vielmehr in der Struktur der Lebensverhältnisse. Überall in Europa gab es die gleiche Schichtung in Stände und Klassen mit gesonderten Rechten und Pflichten. So haben die Denk-, Kunst- und Lebensstile der europäischen Völker eine gemeinsame Tradition. Die europäische Gemeinsamkeit des Standes, der gleichen geistigen Aspirationen und der Anerkennung allgemein verbindlicher Werte, änderte sich mit dem Entstehen von Religionsparteien quer durch die Staaten hindurch. Danach führte der fürstliche Absolutismus die einzelnen Staaten in die Isolierung. Wegweisend dafür wurde des Franzosen Jean Bodins Lehre von der Souveränität des Herrschers (Les six livres de la République, 1576), der nicht mehr wie im Mittelalter auf Privilegien seiner Standesgenossen Rücksicht zu nehmen brauchte, sondern die unabhängige, höchste Macht für sich in Anspruch nehmen konnte. Diese Entwicklung erreichte ihren Höhepunkt in der Entstehung der Nationalstaaten am Ende des 18. und 19. Jahrhunderts. Napoleon wollte die französische Herrschaft über ganz Europa 5 ausbreiten. Der Heiligen Allianz von 1815 und der Großen Allianz, beides monarchische Formen einer religiös-moralischen und einer politisch-praktischen europäischen Einigung, stellte der Genuese Mazzini 1834 seine Bewegung „Junges Europa“ gegenüber mit dem Ziel eines einigen Europa auf demokratischer und nationaler Grundlage, als Zusammenfassung aller revolutionären Bewegungen im Dienste dieses Zieles. Schließlich fanden 1848, 1849 und 1850 „Europäische Friedenskongresse“ in Brüssel, Paris und Frankfurt/Main (Paulskirche) statt. 1849 präsidierte der französische Dichter Victor Hugo, der in seiner Eröffnungsansprache die Zuversicht ausdrückte, Europa möge durch fortschreitende Vereinigung das Zeitalter der Kriege beenden. Seine Rede war von prophetischer Qualität: „Ein Tag wird kommen, wo die Waffen auch Euch aus den Händen fallen werden! Ein Tag wird kommen, wo ein Krieg zwischen Paris und London, zwischen Petersburg und Berlin, zwischen Wien und Turin ebenso absurd erscheinen und unmöglich sein wird, wie er heute absurd schiene zwischen Rouen und Amiens, zwischen Boston und Philadelphia. Ein Tag wird kommen, wo Ihr, Frankreich, Russland, Ihr, Italien, England, Deutschland, all Ihr Nationen des Kontinents, ohne die besonderen Eigenheiten Eurer ruhmreichen Individualität einzubüßen, Euch eng zu einer höheren Gemeinschaft zusammenschließen und die große europäische Bruderschaft begründen werdet, genauso wie die Normandie, die Bretagne, Burgund, Lothringen, Elsass und alle unsere Provinzen sich zu Frankreich verschmolzen haben. Ein Tag wird kommen, wo es keine anderen Schlachtfelder mehr geben wird als die Märkte, die sich dem Handel öffnen, und die Geister, die für die Ideen geöffnet sind. Ein Tag wird kommen, wo die Kugeln und Granaten von dem Stimmrecht ersetzt werden, von der allgemeinen Abstimmung der Völker, von dem ehrwürdigen Schiedsgericht eines großen souveränen Senats, der für Europa das sein wird, was das Parlament für England, was die Nationalversammlung für Deutschland, was die Gesetzgebende Versammlung für Frankreich ist.“ Der letzte russische Zar, Nikolaus II. (1869 – 1918), regte durch ein Manifest die beiden Haager Friedenskonferenzen von 1899 und 1907 an, die jedoch wirkungslos blieben. Wirtschaftliche und politische Beiträge zur europäischen Einigung in der Neuzeit Aus der Wirtschaftsgeschichte ist ein Blick auf den Versuch einer regionalen wirtschaftlichen Integration aufschlussreich. Auf Betreiben Preußens wurde der Zollverein eingerichtet (1834 –1867). Er gewährte freien Handel im Innern und verlangte einen gemeinsamen Außenzoll unter der Kontrolle eines Zoll-Kongresses, in dem jeder Staat eine Stimme hatte und dessen 6 Beschlüsse einstimmig gefasst werden mussten. Der Markt breitete sich aus, der Lebensstandard hob sich, und die Liberalisierung des Warenaustausches hatte eine Spezialisierung zur Folge. Entscheidend für die Gründung des Zollvereins war der politische Wille. Friedrich List, der bedeutende Nationalökonom und Förderer des Zollvereins, sagte einmal: „Handelseinigung und politische Einigung sind Zwillingsschwestern; die eine kann nicht zur Geburt kommen, ohne dass die andere folgt.“ Übergreifende Institutionen wie der Zollverein sind demnach nicht allein vom wirtschaftlichen Standpunkt her zu sehen. Neben dem Zollverein erscheinen in Deutschland der Rheinbund von 1806, der Deutsche Bund von 1815, der Norddeutsche Bund von 1866 und schließlich die Gründung des Deutschen Reiches 1871. Ferner sind die liberale Bewegung des Vormärz und die Verfassungskämpfe während dieser Zeit unter europäischem Aspekt zu sehen, die Arbeiterbewegung und die Soziale Frage sind europäische Phänomene, die Geschichte der Parteien im 19. Jahrhundert ein europäisches Faktum. Das Ende des Ersten Weltkrieges verursachte durch die Neu- und Wiedergründung einiger Staaten in Osteuropa eine politische Desintegration in Europa, die durch die Einrichtung des Völkerbundes nicht wettgemacht werden konnte. Internationale Konventionen und Verträge/Bündnisse, z. B. das Rote Kreuz, der Kellogg-Pakt, der Völkerbund konnten ebenfalls kein Gefühl europäischer oder weltweiter Solidarität erwecken. Die Europäische Einheit: eine ideelle Kategorie Vom historischen Standpunkt aus fällt es schwer, die Konstruktion einer geistigen Einheit – und damit eines vermeintlichen europäischen Einheitsbewusstseins – von der Antike bis zur Gegenwart nachzuvollziehen oder gar eine politische, wirtschaftliche oder soziale Einheit Europas in der Vergangenheit zu konstatieren. Bei einem solchen Versuch werden geschichtliche Ereignisse und Epochen in einer Weise großzügig aneinandergereiht und miteinander verbunden, wie sie kaum mit der Wirklichkeit übereingestimmt haben (können). Grenzüberschreitende Einheit setzt das Bewusstsein von Zusammengehörigkeit voraus, wie sie vielleicht politisch als großartige Leistung des sich von Rom nach Germanien, Gallien, Spanien und England sowie nach dem Nahen Osten erstreckenden Imperium Romanum, sozial-ideell bei der internationalen Ritterschaft als übernationale Adelsgemeinschaft zeitweise vorhanden war. Begriffe wie Freiheit, Rechtlichkeit, Rationalität, naturwissenschaftliches Denken können zwar auf die Rezeption der gemeinsamen griechischrömischen, islamischen und jüdischen Wurzeln durch die Scholastik, den Nominalismus, den Humanismus, die Aufklärung zurückgeführt, müssen aber regional unter je unterschiedlichen 7 Bedingungen betrachtet werden. Erst recht gilt die kulturelle Ungleichzeitigkeit für die vielen Ethnien in Europa bis heute, die zwar die Vorzüge einer (politischen) Vereinigung (mit)genießen (wollen), jedoch auf ihrer Sonderentwicklung beharren, so die innerstaatlichseparatistischen Autonomiebestrebungen von Flamen und Wallonen in Belgien, von Basken und Katalanen in Spanien, von Walisern und Schotten in Großbritannien, von Sizilianern in Italien. Dabei handelt es sich um ethnische Großgruppen in einem geeinten Staat, die jedoch – historisch begründbar – kein ausgeprägtes Einheits(staats)bewusstsein verbindet. Der Begriff „Europa“ – so eine Bilanz – ist nicht zu verwechseln mit dem kulturellen Begriff „Abendland“. Dieser meint den geistigen Universalismus des Mittelalters im lateinischchristlichen, vorwiegend romanisch-germanischen Völkerkreis, d. h. nur die Westhälfte Europas (Okzident). Er wurde von der deutschen Romantik (Herder, Novalis: „Die Christenheit oder Europa“) und in der Neuzeit von T. S. Eliot (1888–1965; Essay „Culture and European Unity“) aufgegriffen. Im Mittelalter war das Gebiet der Christenheit mit dem Begriff Europa nahezu gleichbedeutend. Ihm stand die byzantinisch-ostslawische Welt gleichwertig gegenüber. Beide Räume, der europäische und der byzantinisch-ostslawische, haben ihre eigene kulturelle Tradition entfaltet. Die Gleichsetzung Europas mit dem Abendland würde z. B. die Zugehörigkeit Dostojewskis, Tolstois, Gogols, Puschkins, Peters d. Gr. u. a. zur europäischen Kultur in Frage stellen. Unternimmt man den Versuch, einige geistige Gemeinsamkeiten unter den europäischen Völkern herauszuarbeiten, ergeben sich insbes. für die westeuropäische Entwicklung die folgenden Gesichtspunkte: Seit der Französischen Revolution von 1789 gilt die Würde des Menschen als unantastbar. Daraus folgen die allgemeinen Menschen-, Freiheits- und Gleichheitsrechte, die sich aus der Betonung der Personalität des freiverantwortlichen Individuums ergeben (vgl. die europäische Literatur seit Sophokles’ „Antigone“). Sie sind in den Grundrechtskatalogen der europäischen Verfassungen sowie seit dem Lissabon-Vertrag in der EU-Grundrechtecharta niedergelegt. Im Bereiche des Rechts hat Europa das römische privatrechtliche Denken übernommen, wonach der Bürger Rechtssubjekt ist und im öffentlichen Gerichtswesen als Träger persönlicher Freiheiten und Pflichten in Erscheinung tritt, wie z. B. in der Idee des gegenseitig bindenden Vertrages zum Ausdruck kommt. Dagegen bieten Germanen- und Slawentum, infolge ihrer genossenschaftlichen Stammesordnung und damit im Gegensatz zur lateinischen Antike, keine eigenständigen Kulturüberlieferungen für die Selbstwerdung Europas vor ihrer Berührung mit dem Christentum. Das von Germanen und Slawen ausgeprägte Treueverhältnis zwischen dem 8 Führer und dem Gefolgsmann enthält das Recht auf Widerstand, das vom Christentum in zeitlich verschiedener Ausprägung übernommen wurde. Über Jahrhunderte war eine enge Verbindung von Staat und Kirche für das öffentliche und private Leben maßgebend, mit je unterschiedlicher Vorherrschaft der einen oder anderen Gewalt. Aus dem reformatorischen Daseins- und Staatsverständnis ergaben sich die ersten Ansätze für den Vertretungsgedanken der politischen Demokratie, der später von der „Glorious Revolution“ in England (1688) und von politischen Philosophen wie John Locke (1632–1704, Repräsentation des Volkes), Montesquieu (1689–1755, Gewaltenteilung), Rousseau (1712–1778, Gesellschaftsvertrag) u. a. aufgenommen wurde. Karl Marx (1818– 1883) hat die Entfremdung des Menschen durch Lohnarbeit herausgestellt und eine neue Freiheit verkündet: die Abschaffung des Privateigentums an Produktionsmitteln und damit der Ausbeutung von Menschen durch Menschen. Am Ende dieser Entwicklung stehen moderne Philosophen mit ihrer Forderung nach Abbau der autoritären Strukturen in Staat und Gesellschaft und die von vielen, auch von Politikern unterstützte Forderung nach einer neuen Denkungsart, die – auf Verantwortung gegründet (Hans Jonas) – Gewalt als unangemessenes und unmenschliches Mittel der Daseinsbewältigung ablehnt und eine europäische und weltweite Friedensordnung anstrebt. Quelle: Wolfgang W. Mickel / Jan Bergmann, Zur Geschichte der europäischen Einigung. In: Bergmann (Hrsg.), Handlexikon der Europäischen Union. Baden-Baden 2012