Die Wissenschaften in den 20er Jahren

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Die Wissenschaften in den 20er Jahren
Mit dem Ende des Ersten Weltkrieges waren ähnlich der Zäsur von 1793 die alten Institutionen
nicht gänzlich zusammengebrochen, wie es das Ziel der Revolution und der linken Republikaner
gewesen war. Max Weber hatte schon in der Charakterisierung dieses Wandels der Typen von
Herrschaft festgehalten, dass eine merkwürdige Ungleichzeitigkeit entstanden war, nämlich
einerseits das Fortwirken bürokratischer Organisation aus der Kaiserzeit und andererseits die
neue Zweckbestimmung der jungen Republiken, die von den neuen politischen Eliten ausgerufen
worden waren. Allerdings wird selten erwähnt, dass nicht nur eine einschneidende Zäsur zu
bemerken war, so deutlich sich diese auch in den Vordergrund spielte, sondern auch die
Mitspieler der Politik waren gänzlich neu. Sind in Frankreich nach Revolution und
Koalitionskrieg zwar die politischen Karten neu verteilt worden, so erhielten sie immerhin die
bereits bekannten Mitspieler in der europäischen Geschichte. Das war 1918 anders. In dem
politischen Selbstverständnis der USA war sie als Anwalt unmündiger Völker aufgetreten und
wollte der treibende Faktor der kommenden Neugestaltung demokratischer Ordnung sein. Somit
war eine bemerkenswerte Koalition entstanden, die man als gegenstrebige Fügung
charakterisieren kann. Da war die neue Weltmacht unter Woodrow Wilson, die für ein liberales
Modell der Demokratie stand und dieses für Europa als Missionswerk anbot und gleichzeitig
koexistierte es mit den Vertretern einer revolutionären Linken in den mitteleuropäischen Staaten.
Diese hatten sich gegen ihre Überzeugung also einerseits mit diesem neuen Modell abzufinden,
andererseits hielten sie es für ein zeitlich befristetes Durchgangsstadium der Weltgeschichte und
meinten, das da wohl das letzte Wort nicht gesprochen worden war. In dieser Einschätzung hatte
man nicht bedacht, dass das Modell Wilsons Formen der Friedenssicherung in Europa vorsah,
weshalb es eine Einmischung in innere Angelegenheiten der Staaten für denkbar hielt – also eine
neue Form des Verständnisses von Politik. Da war eine amerikanische bürgerliche Internationale
geschaffen worden, die eine taktische Allianz mit der europäischen Linken einging, allerdings
war das Grundprinzip die liberale Freiheit auf politischem und wirtschaftlichem Gebiet. Man
könnte diese Zweckallianz mit jener späteren zwischen Roosevelt und Stalin vergleichen. Wilson
proklamierte daher völlig zurecht 1917: „Die Welt muß sicher gemacht werden für die
Demokratie!“ Nur eine Partnerschaft der Nationen garantiert ein fruchtbares Zusammenwirken
für den Frieden, also unter dieser Voraussetzung sei das Konzert der Völker und Staaten denkbar
und realisierbar.
Gleichzeitig mit diesen Plänen der USA verkündete Lenin in der Oktoberrevolution 1917 ein
vergleichbar wirksames Konzept. Auch er sprach vom Frieden, legte ein „Dekret über den
Frieden“ vor, das ebenfalls ein Selbstbestimmungsrecht der Völker enthielt, wenn auch
umfassender, da Lenin auch an die Abschaffung des Kolonialismus dachte. Dennoch war dieses
Konzept für die Zeitgenossen nicht leicht unterscheidbar. Natürlich gab es das revolutionäre
Pathos, diese Beschwörung der Internationalität und Solidarität des neuen Heilsträgers, des
Proletariats, doch im Grunde schien es sich wie eine Geschmackssache zu lesen, welches von den
beiden Modellen man für attraktiver und brauchbarer hielt. Man darf ja nicht vergessen, dass
damals die Zeitungsleser vermutlich nicht genauer und nicht mit besserer politischer Bildung die
Zeitungen lasen und die politischen Pläne bewerteten als heute. Attraktiv war immerhin für die
meisten Menschen, besonders in Mitteleuropa, dass die Aufforderung Lenins, für „die Sache der
Befreiung der Werktätigen und ausgebeuteten Volksmassen von jeder Sklaverei und jeder
Ausbeutung“ zu kämpfen, sich als lohnendes Ziel darstellte, gerade nach den schrecklichen
Kriegsjahren. Und man hatte sich mehr oder weniger in der Katastrophe von 1918 daran
gewöhnt, dass die Verlautbarungen harte Worte enthielten, Manifeste waren, die in ihrem
unversöhnlichen Stil jede Gegenseite schamloser Machenschaften beschuldigte. Also war der
Kampf gegen Kapitalismus und Kriegswirtschaft, gegen Imperialismus und Ausbeutung das
zuständige Vokabular zur Charakterisierung der Tagesfragen. Nur wenigen war wirklich
aufgefallen, dass da die Karten an neue Mitspieler in Europa verteilt wurden: an die junge
Sowjetunion und an die USA. Es war gar nicht aufgefallen, dass zwei Mächte immerhin einen
Geltungsbereich beanspruchten, der gleich die ganze Welt betraf – und wahrscheinlich war darin
auch die Faszination dieser Pläne begründet.
Da diese Pläne aber einander grundsätzlich ausschlossen, konnte man hin und wieder lesen, dass
da wohl ein globaler Konflikt die Folge sein würde, eine dauerhafte Instabilität der Weltpolitik
und ein latenter Grundkonflikt, der sehr schnell das konstitutive Merkmal der internationalen
Beziehungen wurde. Das war nicht wirklich gleich bekannt gewesen, denn zuerst bedauerte man
in Europa das je eigene Schicksal, den Zusammenbruch und die Welle einer gemeinsamen
Pauperisierung.
Diese Darstellung soll als Prolog gelten, denn ohne diese Bedingungen ist weder die geistige
Situation dieser Zeit verständlich, noch das Einwirken der politischen Lage auf die Fortsetzung
der wissenschaftlichen Forschung. Dass immerhin die Geisteswissenschaften zutiefst betroffen
waren, ist nicht verwunderlich, denn schon vor 1914 waren sie in ihrer
Weltanschauungsproduktion scheinbar erfolgreich, zumindest – um ein Beispiel mit Max Weber
zu nennen, hatten sie sehr häufig den Katheder wie Parlamentarier gebraucht, waren also schon
geübt im Wechsel der Tribünen und der politischen Analysen. Und die Tragödie des Weltkriegs
ließ diesen Wechsel noch angezeigter erscheinen als vor 1914. So waren die Vorlesungen nicht
nur jeweiligen Wissensgebieten gewidmet, sondern enthielten zahlreiche ausgiebige Exkurse zur
Tagespolitik. Wenn also diese Staaten Mitteleuropas mit einer besonderen Belastung ihr neues
Demokratie-Modell zu übernehmen hatten, vor allem Deutschland und Österreich wie auch
Ungarn, dann war die Situation der Zeit geeignet, diese Katheder-Politik an den Universitäten
fortzusetzen und sich gründlich einer Zeitdiagnose zu verschreiben. Dass obendrein Demokratien
– oder besser gesagt – Republiken ausgerufen worden waren, die ohne Demokraten und großteils
ohne Republikaner gegründet wurden, blieb eine dauerhafte Belastung, die bei diesen neuen
Allianzen und neuen weltpolitischen Mitspielern in ein noch größeres Dilemma führte.
Zeitdiagnose betrieben zum Beispiel Max Scheler, Ernst Troeltsch, Max Weber, Oswald
Spengler, Karl Mannheim, Carl Schmitt, Georg Lukacs, Ernst Bloch, Hans Kelsen, Friedrich von
Wieser, Joseph Schumpeter und andere mehr. Und da blieb es nicht bei der Debatte über
Kriegsschuld und moralischer Niederlage, bei der nötigenden finanziellen Belastung durch
Reparationen, bei den Debatten über die Friedensverträge, sondern insgesamt geriet die Politik in
ein Klima des ungezügelten Streitens und Agierens wie Agitierens, schlechte Paten des neuen
Modells von Staat und Gesellschaft, die erst jetzt jene Unterscheidung sichtbar machten, die
Hegel einmal in seiner Rechtsphilosophie recht abstrakt entworfen hatte. Freilich sah die
Gesellschaft naach 1918 nicht so aus, dass man sie ohne weiteres als bürgerliche hätte bezeichnen
können. Knapp nach 1918 wetterte Max Weber über die „moralische Rechthaberei“ in seinem
berühmten Aufsatz zum „Beruf in der Politik“ - und war da nicht der einzige geblieben.
Friedrich von Wieser formulierte ähnlich: „Der Unbegreiflichkeit des Weltkriegs folgte die
Unbegreiflichkeit des inneren Zerfalls. Nun war die Zeit des Handelns zu Ende und das Gemüt
meldete sich zum Wort. Wie hatte das alles geschehen können? Hatte das Leben nicht seinen
Sinn verloren? Waren die Mühen einer jahrhundertelangen geschichtlichen Arbeit und die
unerhörten Opfer des Krieges ganz vergebens erbracht? ...in einem Artikel „Die Schuld am
Frieden“ formulierte ich die Anklage, die ich gegen den Gewaltfrieden zu erheben hatte,
außerdem faßte ich den Plan zu einer großen Schrift über den Weltkrieg und die Verfehlungen
des Friedensschlusses und war eifrig an den Vorarbeiten hiezu tätig. Aus diesen Ansätzen ist das
„Gesetz der Macht“ entstanden.“
Natürlich bemerkte man in Westeuropa, dass da eine ungeheure Gefahr im Entstehen war, denn
weiterhin war man überzeugt, dass die ehemaligen Mittelmächte in dem neuen Konzert eine
Schlüsselstellung einnehmen werden oder gar behalten haben. Der britische Premier Lloyd
George sah in der Räterepublik Bela Kuns im März 1919 nicht nur ganz Europa vom Geist der
Revolution verführt, sondern dass wohl zu erwarten sei, dass es zu einer Verständigung zwischen
Deutschland und Rußland kommen werde – vermutlich sogar im Geist des Bolschewismus.
Diese Diagnose bewog die USA zu einer gewaltigen finanziellen Subvention und Investition in
Europa, um über eine liberale Wirtschaftsordnung die Staaten samt Demokratie zu stärken. Der
Vetrag von Locarno 1925 war der Höhepunkt dieser Initiative und wirklich konnte man den
Eindruck erhalten, dass es nunmehr aufwärts gehen werde. Dass sich diese Hoffnung zerschlug,
ist allgemein bekannt. Der Fehler war, dass die USA nicht wirklich eine ökonomische
Steuerungsfunktion übernehmen wollten und England dafür zu schwach war. Und 1929 stürzte
diese Konstruktion bekanntlich ein. Der Finanzkrach war so gewaltig, dass man eigentlich von
vorne hätte beginnen müssen – als wäre man wieder im Jahr 1918. Es erlaubte diese Krise an jene
politischen Alternativen zu denken, die bis heute die Fundgrube für Zeithistoriker geblieben sind.
Die Zeitdiagnostiker waren also wieder aufgerufen, die Lage zu beurteilen. Vermutlich ist die
wichtigste von Karl Mannheim vorgelegt worden, da er in seinem Werk „Ideologie und Utopie“
davon ausgegangen war, dass nunmehr die Geschichte in eine neue und unvergleichbare Phase
eingetreten ist. Auch wenn damals in einer ersten Kritik der Historiker Ernst Robert Curtius
meinte, dass es sich dabei um „eine zeitbedingte Skepsis“ handle, „die zu den Konstanten der
Gesistegeschichte gehört“, hatte er dennoch in der Einschätzung die Bedeutung nicht recht erfaßt.
Er meinte, dass sich in „anarchíschen Epochen eine Gleichgewichtsstörung manifestiere und sei
so alt wie die Weisheit des Predigers Salomo.“ Er schrieb: „Wenn man dies übersieht und in der
Kulturkrisis der Gegenwart eine präzedenzlose Zäsur erblickt, so verrät das Mangel an Abstand
vom betrachteten Gegenstand und Mangel an elementaren Geschichtskenntnissen. Die
Behauptung, unsre Gegenwart stehe in einem Prozeß, der ohne alle Analogie sei, tritt als
Ausdruck naiver, natürlicher, vorwissenschaftlicher Denkhaltung in allen Geschichtskrisen
auf....Man kann die ganze Geschichte unseres Abendlandes als eine Kette solcher apokalyptischer
Momente darstellen.“
Diese die Zeit beschönigende Kritik an Mannheim konnte nur von einem Historiker stammen, der
offenbar das Sensorium für die Überraschungen der Geschichte eingebüßt hat. Mannheim
plädierte für einen erkenntnistheoretischen Dynamismus, im Grunde variiert er die Ansicht von
Auguste Comte, dass es da eben eine „Statik“ und „Dynamik“ gäbe, jedoch erfuhren sie eine
Drehung oder Beschleunigung. „Es mutet ja manchmal geradzu unheimlich an, wenn in der
gegenwärtigen Denk- und Seinslage gerade jene sich als höherwertig vorkommende, die irgend
etwas „Absolutes“ zu besitzen angeben. Dieses Sich-Anpreisen und Sich-Empfehlen durch
Absolutheiten spekuliert allzu bloß auf das Sekuritätsbedürfnis breiter Schichten, die den auf der
gegenwärtigen Seinsstufe offenbar werdenden Abgrund des Lebens nicht sehen wollen.“ Daher
formulierte Mannheim weiterhin: „Falsch ist es deshalb, die suchende Unruhe durch nicht mehr
lebbare Absolutheiten zu verdecken, so etwa „Mythen“ zu wollen, für „Größe an und für sich“ zu
schwären, „idealistisch“ zu sein und faktisch sich selbst Schritt für Schritt in bereits leicht
durchschaubarer Unbewußtheit zu umgehen.“ Es ist diese Art der Soziologie, die uns den
Schwund von Geist und Sittlichkeit vor Augen führt und wie eine Sollensnorm sich aufdrängt.
Die Darstellung gesellschaftlicher Kräfte entspricht zwar etwa den Beobachtungen der Wiener
Nationalökonomen, die da nur mehr einen Markt als institutionalisierte Vernunft beschwören
konnten, aber sie sind nicht mehr durch irgend etwas gehalten, nicht mehr zurückgebunden an
Recht und politische Ordnung, sondern zeigen sich im Zerbrechen rationalistischer und
verhärteter Strukturen. So sieht dann diese apokalyptische Metaphysik aus, die offensichtlich die
Institutionen wie Recht, Staat oder Weltbild überrundete.
Wenn diese Apokalyptik zur Realität wurde, so war das Fazit so geartet, dass Hermann Heller
schreiben konnte, dass dann eben „entweder nur die Verzweiflung des Historismus übrig bleibt,
oder aber die Gespenster leerer, weil geschichts- und damit wirklichkeitsfremder Begriffsformen,
die in falscher Analogie zur mathematisch-logischen Methode gebildet, eine höchst trügerische
Sekurität und Objektivität vortäuschen.“
Diese Dualität zwischen Historismus und Formalisierung kennzeichnet auch diese Philosophie
der Zwischenkriegszeit. Sie ergriff auch die historische Nationalökonomie und historische
Rechtsschule. Wenn es einmal geheißen hatte, dass da zwischen der begrifflichen sowie
verfahrenstechnischen Invarianz der Methodologie und der historischen Vielfalt der
wissenschaftlichen Inhalte eine fruchtbare Spannung bestehe, so ist dieses Spannungsmoment in
den 20er Jahren verloren gegangen. Ein Denken, das die Beziehung zwischen Dauer und Wandel
nicht mehr nachvollziehen kann und damit das Gleichgewicht verlor, das dazu geeignet erschien,
die Geschichte durch Logik zu widerlegen, förderte eher die Erstarrung in den Geistes- und
Sozialwissenschaften, nämlich einen Hang zur Formalisierung, aus der die Wirklichkeit
verabschiedet erscheint. Das war mit der formalen Soziologie versucht worden, in der Reinen
Rechtslehre, im „Modellplatonismus“ der Nationalökonomie oder in einer willkürlichen
Konstruktion von Scheinobjektivitäten aller Art. Umgekehrt hat ein Denken, das die Begriffsund Argumentationslogik durch radikale Faktographie und historischen Empirismus
zurückdrängen will, die Geisteswissenschaften in der strukturlosen Vielfalt der Phänomene
versinken lassen. So kam es zur „gespensterhaften Unwirklichkeit einer Staatslehre ohne Staat
und einer Rechtswissenschaft ohne Recht“, wie Hermann Heller bemerkte. Da spinnen sich
Mythen oder willkürliche Ermächtigungen aus der Wissenschaft kondensierter Gottheiten, da ist
an die Geschichtswissenschaften, an die Ethnologie, Geographie und Kulturgeschichte zu
erinnern, aus der Rasse, Volksgeist oder kulturelle Dominanz abgeleitet werden, auf der anderen
Seite wird dem ein kruder Daten- und Faktenfetischismus entgegengehalten.
Daraus sind die verschiedenen Denkstile abzuleiten. In den Sozialwissenschaften konnte man
zwar da und dort historisch bleiben, aber schon ist erkennbar, dass sie es auch in anderer Form
gibt, nämlich als soziale Faktographie, die sich als Kriseninterventionsprogramm versteht.
Gleichzeitig sieht man auf formalistische Orientierungen, die im Grunde ihren politischen
Impetus aus der „mos geometricus“ des 17. Jahrhunderts ableiteten. Diese heterogenen
Forschungsorientierungen zeigen gleichzeitig eine methodische Verunsicherung an und fördern
erfolgreich entgegenwirkende Orientierungen: nämlich eine Anthropologisierung und
Politisierung der Geistes- und Sozialwissenschaften.
Diese Anthropologisierung besitzt ihre Ursache in der Auseinandersetzung mit dem Historismus
und in der Zuspitzung der Problemfelder durch den Weltkrieg. Bis in die Soziologie reicht dann
die Zuwendung zur philosophischen Anthropologie, die – im Unterschied zur Wertphilosophie
bei Heinrich Rickert – das Sein im Werden unterhalb der Geschichte, im Wesen der sie
konstituierenden Individuen feststellen zu können glaubte. Das war von Max Scheler
ausgegangen, wurde aber bei Helmut Plessner und Arnold Gehlen später konsequent fortgesetzt,
um eben zu einer ethnisch-kulturethnologischen Selbstvergewisserung in der Soziologie zu
gelangen.
Diese Wendung motivierte auch in gewisser Weise die geisteswissenschaftlichen Faktographen.
Im Soziologismus bestand ja ein ähnliches Konzept für die Konstruktion des
„Durchschnittsmenschen“, des „l´homme moyen“ bei Adolphe Quetelet, womit man die Lösung
für das Sein-Sollen-Problem zu finden glaubte. Es sollten ja die empirisch ermittelten
statistischen Werte zugleich auch die Richtwerte für das Sollen sein. Daraus leitete man die
Verbindbarkeit individueller Intention mit der mehrheitlich für moralisch und objektiv gehaltenen
Disponierbarkeit ab, worauf man mittels Durkheim auch eine Weltanschauung zu errichten
hoffte. Es sollte eine wissenschaftliche Weltauffassung werden, die Max Weber treffend in ihrer
Scheinobjektivität entlarvte. Dennoch: Auch dort war Anthropologie angesagt, ein Dogmatismus,
der hervorragend für diese Zeit der Sinnkrisen geeignet erschien. Dass dann die
Volkswirtschaftslehre sich dieser Anthropologisierung anschloß, verwundert nicht mehr. Sie
wollte ebenfalls eine Wissenschaft vom Menschen sein, die vor allem nach der Qualität der
Menschen fragte, welche durch die jeweiligen „ökonomischen und sozialen Daseinsbedingungen
herangezüchtet werden." – so Max Weber in seiner Kritik an den dogmatischen Wissenschaften.
Von daher wird die Beglückung der Menschen und der Welt in greifbare Nähe gerückt, zur
Besserung der Lustbilanz des Menschendaseins aufgerufen, so dass nicht mehr die realen Fragen
interessieren, die Gegenwart, sondern weit mehr spekuliert wurde, wie einerseits der Mensch
aussehen werde und sein solle, andererseits wie die Welt beschaffen sein solle. Das
anthropologische Prinzip drückt aufs Visionäre oder Utopische und die Wissenschaften beeilten
sich, dieser Gegenwartsfrage nach der Zukunft nachzugehen.
Natürlich waren die konkreten Begleiterscheinungen in den 20er Jahren gut geeignet, diese
Wende zu vollziehen. Da war eben Kapitalismus und dessen Krise, die Bewußtseinskrise und
Sinnkrise, politische Krisen aller Art und jedes Charakters und im Grunde war eben, auch wenn
es Curtius nicht glauben wollte, eine Art Zeit eingetreten, die eigentlich ohne Geschichte war
oder zumindest sich vor das Problem gestellt empfand, eine Geschichte erst erfinden zu müssen.
Und es war wiederum Karl Mannheim, der diese Unübersichtlichkeit dieser Gegenwart in
Kategorien einzuteilen versuchte. Am historischen Beispiel der politischen Lage charakterisiert er
die unversöhnlichen Strömungen und markiert sie: Zuerst den Konservativismus als wert- und
strukturkonservierendes Element, den reformistischen und revolutionären Sozialismus, den
politischen und hierauf ökonomische Liberalismus. Alle drei verkörperten Utopien, auch wenn
sie ihre utopische Intensität nach und nach vermindern, also die Differenz zwischen Realität und
Utopie einebnen. Nirgendwo ist diese Spannung besser veranschaulicht als in den revolutionär
anmutenden Prozessen der modernen Malerei. Mit erstaunlicher Präzision gab Mannheim auch
einen Fluchtpunkt an: Er prognostiziert einen neuen Realismus durch die Manifestation eines
„amerikanischen Bewußtseins“, dessen Einkehr sich wegen des nächsten Weltkrieges allerdings
verzögerte. Die Zukunft werde einer organisatorisch-technischen Wirklichkeitsbeherrschung
gehören, auch wenn dieser amerikanische Pragmatismus, den etwa John Dewey verkörperte,
ebenfalls ein Merkmal des Utopischen besitzt. Es ist eine pädagogische und politische
Metaphysik der „One World“.
Selbst wenn die Amerikanisierung noch auf sich warten ließ und die ersten Austauschprogramme
dank Rockefeller-Stiftung nicht so umfassend an junge europäische Gelehrte anliefen, wie nach
1945, so war im politischen Selbstverständnis in Europa die weit dringlichere Frage, wie man
sich zwischen Kommunismus und Sozialismus zu entscheiden habe, so man die Varianten des
Faschismus und Nationalsozialismus nicht den Vorzug geben wollte. Diese Konstellation war
gerade an den Universitäten geeignet, aus den Gelehrten Intellektuelle zu machen, wie sie
Schumpeter charakterisiert hatte. Dieser schäbige Verstandesgebrauch und die Bereitschaft zu
Konformitäten aller Art löste im Grunde die alte Struktur der Fakultäten auf. Die intellektuellen
Eliten radikalisierten sich, wie sie sich auch dementsprechend in Zirkeln auflösten, in Sekten,
Gruppen und Lebensgemeinschaften. Damit haben sie ihre Kompetenz verloren, zuvor schon ihre
Verpflichtung zur objektiven Erkenntnis und schwankten somit zwischen politischem
Engagement und kognitiver Distanznahme.
Es wäre nun verfehlt, für dieses intellektuelle Milieu eine Politisierung anzunehmen, die etwa
jener der Öffentlichkeit oder der Gesellschaft adäquat erscheint. Weiterhin gab es den
apolitischen Gelehrten. Dieser sah sich innerhalb vier Funktionstypen sozialwissenschaftlicher
Erkenntnis. Da gab es weiterhin das Bildungswissen im Rahmen der historischen
Sozialwissenschaften, das Ausbildungs- und Dienstleistungswissen der empirischen
Sozialforschung, das Aufklärungswissen im Entstehungs- und Verwertungszusammenhang und
das Weltanschauungswissen politisierender Wissenschaften. Gerade der letzte Typus erfuhr seine
Ausfaltung bei Vertretern kommunistischer, austromarxistischer, völkisch-nationalistischer und
katholisch-ständestaatlicher Geistes- und Sozialwissenschaft.
In einer bewußt eng gefaßten Analyse, die sich jetzt nicht so sehr an Einzelnen oder an
Einzelheiten orientiert, auch bewußt nicht der Frage nach der Dimension dieser die Typologie
stellt und daher wie eine Simplifikation erscheint, wird man zur Behauptung veranlaßt, dass für
alle diese Richtungen das Dilemma entscheidend war, nämlich die Beziehung zwischen
Historismus und Relativismus nicht wirklich geklärt zu haben. Eigentlich war generell eine
„Soziologisierung“ eingetreten“, was unter dieser Bedingung heißen soll, dass grundsätzlich in
Gebundenheiten gedacht wurde. War der Historiker in seiner Geschichtsgebundenheit gefangen,
so der Soziologie in einer holistischen oder kollektivistischen Metaphysik. Es war eine
Fehlinterpretation, die man sich nach der Schwächung der Individualität oder des Menschen
leistete. Da war Curtius im Recht, wenn er schrieb, dass „ man das Individuum zwar nicht
abschaffen könne, aber man kann es entwerten. Es soll nicht Rohstoff für das Kollektiv sein.“
Diesen soziologischen Historismus trennte eine Welt von dem ideographischen, um die
Besonderheiten der gesellschaftlich-geschichtlichen Welt bemühten Historismus des 19.
Jahrhunderts. Das passierte, da sich die junge Variante des Historismus sich der Veränderung
wegen der Entnahme anthropologischer Implikationen nicht wirklich bewußt war. Plötzlich gab
es in den Wissenschaften das sogenannte Menschenbild, aber wurde umgehend einem
soziologischen Determinismus untergeordnet.
In der Zwischenzeit muß man wohl oder übel die Verschärfung der Situation in Erinnerung rufen.
Am Ende der 20er Jahre ist die mühsam errichtete liberale Ordnung zusammengebrochen. Neu
war daran, dass gegen die Allianz liberaler und sozialistischer Kräfte sich eine andere stellte, die
sich abseits von Kapitalismus und Sozialismus definierte. Während also die reformistischen und
kommunistischen Flügel überzeugt waren, mit der Weltwirtschaftkrise habe der Kapitalismus
ausgedient und die Umwandlung der Demokratie in eine proletarische Herrschaftsform stehe
knapp bevor, stand diesen überraschend schnell eine „Bewegung“ gegenüber, die in Perversionen
alle Merkmale aller anderen Gruppierungen und Parteien zu vereinen wußte. Es sollte sich der
Sinnspruch Goethes als fatal erweisen, denn nun schien er anwendbar geworden zu sein, wenn er
gemeint hatte, dass er Ungerechtigkeit eher ertragen könne als Unordnung. Am Horizont erschien
der terroristische Maßnahmenstaat, der sich auf die Umfunktionierung der schwachen
demokratischen Institutionen hervorragend spezialisierte – doch diese Geschichte ist bestens in
der Erinnerung erhalten geblieben.
Die Mächte, die Europa nach 1918 zu beherrschen begannen, sollten wieder hinausgedrängt
werden. Das war das sozial integrierende Ziel, gegen das die Wissenschaften nicht wirklich ein
Mittel mehr wußten.
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