wellen kreis

Werbung
Ethik als
Reflexionsmethode –
Ein gutes
Werkzeug
Eine Institution des ovwb
WELLENKREIS
DIE HAUSZEITUNG
FÜR AKTUELLES IM HAUS SELUN
AUSGABE Frühling 2012
EDITORIAL
ethische entscheidungsfindung –
schon mal gehört ?
Ethik hat in den letzten Jahren aus
verschieden Gründen an Bedeutung gewonnen:
> Wir leben in einer pluralistischen
Gesellschaft und sind deshalb mit
verschieden Normen und Werten
konfrontiert
> Fortschritte in der Forschung,
vorallem in der medizinischen
Forschung, werfen immer wieder die Frage auf, ob alles was
gemacht werden kann, auch
gemacht werden soll.
> Welche Einschränkungen bei der
Forschung an Mensch und Tier
sind sinnvoll und nötig?
> Wie können knapper werdende
Ressourcen gerecht und sinnvoll
verteilt werden?
Durch die immer komplexer werdenden Fragestellungen unserer
Zeit hat Ethik einen grösseren
Stellenwert erhalten. In Forschung,
Spitälern, Politik und Wirtschaft
beispielsweise in Form von EthikForen, Ethik-Kommissionen, Hausethikern, ethischen Entscheidungsfindungsverfahren oder ethisch
basierten Richtlinien.
Ich gehe davon aus, dass Ethik auch
in der Arbeit mit Menschen mit
einer Behinderung immer grösseres Gewicht bekommen wird. Zum
einen, da die Mittel für Menschen
mit einer Behinderung knapper
werden und über eine ethisch vertretbare Verteilung nachgedacht
werden muss. Zum anderen, weil
in den letzten Jahren im Behindertenbereich ein Wertewandel – weg
von Fürsorge und Verwaltung von
Menschen mit einer Behinderung
hin zu Selbstbestimmung und Autonomie – stattgefunden hat.
Ich freue mich, wenn Sie sich – angeregt durch die Lektüre mit dem
Thema Ethik auseinandersetzen.
Verena Diener
Bereichsleiterin Wohnen
das neue werkzeug
hilft uns, in der Beratung kreative,
praktikable und ethisch
begründbare Lösungen zu finden.
Inspiriert
durch meine Weiterbildung ‹Ethik in
Medizin und Sozialarbeit und ethische
Reflexion im beraterischen Alltag› habe
ich für diese Ausgabe des Wellenkreises einige Gedanken zum Thema Ethik
und zum Einsatz von Ethik in unserer
praktischen Arbeit für Sie festgehalten.
Ich werde zuerst den Begriff Ethik und
einige weitere wichtige Begriffe im Zusammenhang mit Ethik erläutern und
danach ein Modell für ethische Entscheidungsfindungen vorstellen.
Was bedeutet Ethik?
Ethik ist die Wissenschaft, die über das ‹gute
Leben› nachdenkt. Seit den alten Griechen
– allen voran Aristoteles und Platon – gab
und gibt es verschiedenste Traditionen und
Schulen, die darüber nachdenken, wie das
‹gute Leben› für den Einzelnen und für die
Gesellschaft aussehen könnte.
Um den Begriff Ethik genauer zu erläutern
müssen auch die Begriffe Moral, Normen
und Werte erklärt werden.
Moral
In der Ethik bezeichnet der Begriff ‹Moral›
die Gesamtheit der für eine Gesellschaft
oder Institution geltenden Normen/ Wertvorstellungen. Es können auch die Wertvorstellungen einer Person sein (persönliche
Moral).
Werte und Normen
Werte dienen als Orientierungshilfen im
Umgang mit uns, anderen Menschen und
der Umwelt. Von Normen spricht man, wenn
bestimmte Werte eine gewisse allgemeine
Gültigkeit haben. Wenn von Normen gesprochen wird, dann im Zusammenhang
mit z. B. gesellschaftlichen Normen. In der
Alltagsprache werden die Begriffe Normen
und Werte, aber auch Begriffe wie Ideale,
Regeln, Prinzipien und Überzeugungen, oft
synonym verwendet. Sie alle bezeichnen
Leitideen und Orientierungspunkte für ein
‹gutes Handeln›.
Ethik
Als Ethik wird das systematische Nachdenken über das Moralsystem bezeichnet. Dazu
gehört auch die Frage, wie sich Normen
begründen lassen.
Ethik hat neben der theoretisch-philosophischen Seite eine konkret-problemorientierte
Seite. In der geht es darum, für konkrete
Themen kreative, praktikable und ethisch
begründbare Lösungen zu finden. Ethik ist
bemüht, Werkzeuge für eine Problemlösung
zur Verfügung zu stellen. Dazu gehören
verschieden Modelle, wie schwierige Entscheidungen ethisch reflektiert und ethisch
gut begründet werden können.
Ethische Entscheidungsfindungen
Ich habe während meiner Weiterbildung
verschiedene Modelle kennengelernt, die
es mir ermöglichen, Probleme, die während
meiner Arbeit an mich herangetragen werden, ethisch zu reflektieren.
Eine wichtige Gemeinsamkeit dieser Modelle ist die strenge Trennung von Fakten und
Werten. Es passiert uns leicht, dass wir von
Fakten sprechen, damit aber unsere Werte
transportieren. Wenn es uns gelingt, Werte von Fakten zu trennen, stossen wir bei
schwierigen Entscheidungen in der Regel
auf für uns wichtige Werte. Oft erkennen
wir dann, dass wir uns mit dem Entscheid
auch zwischen zwei uns wichtigen Werten
entscheiden müssen. Wir haben also einen
Wertekonflikt bzw. ein ethisches Dilemma.
Das sorgfältige Herausschälen der betroffen
Werte und die Formulierung des ethischen
Dilemmas kann Blockaden lösen und den
Weg für kreative und ethisch gut begründbare Lösungen frei machen.
Fallbeispiel
Für einen 38-jährigen hirnverletzten Bewohner kann nach dem Sozial-Rehabilitationsaufenthalt im Haus Selun eine Anschlusslösung gesucht werden. Er wäre von seinen
Fähigkeiten her in der Lage, in ein Begleitetes Wohnen zu wechseln. Bei den Standortgesprächen zeigt sich, dass der junge Mann
gerne in eine stationäre Einrichtung ziehen
möchte. Er wird in dieser Haltung von seinen Angehörigen unterstützt. Sein Beistand
und der Rehabilitationskoordinator im Haus
Selun empfehlen das Begleitete Wohnen mit
einer passenden Tagesstruktur.
> Fakten und Werte
Fakten
• Bewohner will in einer Institution wohnen
• Ist in der Selbsthilfe selbständig und kann
sich Mahlzeiten selbständig zubereiten
Um zu verdeutlichen, wie eine ethische
Fallbesprechung aussehen kann, folgt ein
fingiertes und stark verkürztes Fallbeispiel
nach einem ethischen Entscheidungsfindung Modell von Christof Arn.
• Gerät oft in Streit mit dem Umfeld (Folge
Für dieses Modell braucht es die vier folgenden ethischen Werkzeuge:
• Begleitetes Wohnen ist kostengünstiger
• Viel Betreuung macht unselbständig
der Hirnverletzung)
• Ist durch die Hirnverletzung traumatisiert
und stark verunsichert
• Plätze für Menschen mit Hirnverletzung
sind knapp
>
>
>
>
Fakten und Werte
ethisches Dilemma
Handlungshorizont erweitern
Handlungsvariante auswählen
Werte
• Wohnform soll selbstbestimmt gewählt
werden können
• Menschen sollen möglichst selbständig
leben
• Wer selbständig wohnen kann, soll keine
Plätze in Institutionen besetzten
• Es sollen nicht mehr Kosten als nötig
entstehen.
• Verunsicherte Menschen habe ein Recht
auf Sicherheit durch genügend Betreuung
> ethisches Dilemma
Nachdem die Werte priorisiert worden sind,
hat sich folgendes ethisches Dilemma herausgeschält: Gerechtigkeit/Fürsorge
Gerechtigkeit → Die wenigen Plätze für
Menschen mit einer Hirnverletzung sollen
schwerer Betroffen bereitgestellt werden,
die auf eine 24-Stunden-Betreuung angewiesen sind.
Fürsorge → Verunsicherte Menschen haben
ein Recht auf Sicherheit.
> Handlungshorizont erweitern
schlusslösung wurde aufgenommen und ein
Platz in einer Institution mit dem passendes
Angebot im Bereich Psychiatrie gefunden.
Der Bewohner erhält dadurch die nötige
Sicherheit, hat aber gleichzeitig die Möglichkeit, sich weiter zu entwickeln und zur
gegebenen Zeit in eine weniger betreute
Wohnform zu zügeln
Als besonders fruchtbar habe ich ethische
Entscheidungsfindungen in Teams und
Gruppen erlebt. Gerade in belastenden Situationen, in denen sich ein Team schwer
darüber klar werden konnte, wie mit einer
Bewohnerin / einem Bewohner gearbeitet
werden soll, hat das Sammeln und Bewusstmachen der verschiedenen Werte im Team
blockierte Situationen gelöst, eine gute Zusammenarbeit ermöglicht und zu kreativen
und ethisch gut begründbaren Lösungen
geführt.
• Wohnplatz kündigen und hoffen, dass
durch den Zeitdruck eine ambulante Lösung zustande kommt
• Den Betroffen so lange im Haus Selun
behalten, bis eine stationäre Wohnmöglichkeit gefunden wird
• Eine Anschlusslösung in einer Institution
suchen, welche mehrstufige Wohn- und
Beschäftigungsmöglichkeiten anbietet
Verena Diener
Bereichsleiterin Wohnen
IMPRESSUM
Haus Selun
> Handlungsvariante auswählen
Nach der Priorisierung der Handlungsmöglichkeiten erhielt der letzte Vorschlag die
meisten Punkte. Die Suche nach einer An-
Literatur:
Christof Arn, Ethik als Reflexionsmethode für Teams,
Version 0. 9 .1, April 2011, www.ethikprojekte.ch
Eine Institution des OVWB
Redaktion Haus Selun
Layout
Astrid Gmünder
Druck Haus Selun
Auflage
Erscheint
400 Exemplare
2 × jährlich
Herunterladen