Warum ich fühle, was Du fühlst

Werbung
BULLETIN 6/2008
DAS BUCHPORTRÄT
Warum ich fühle, was Du fühlst
Intuitive Kommunikation und das Geheimnis der Spiegelneurone
Da lächelt einen jemand spontan an – und bevor man Gegensteuer geben
kann, sitzt einem auch schon das charmanteste Lächeln mitten im Gesicht.
Der Impuls kommt wie von selbst. Aber wer um Himmels Willen macht
denn mein Lächeln? Schuld sind die Spiegelneurone.
Von Regula Zellweger
In seinem Buch «Warum ich fühle, was du fühlst» führt der Internist, Psychiater und Facharzt für Psychotherapeutische Medizin am Universitätsklinikum
Freiburg i. Br. Joachim Bauer in die spannende Welt der Spiegelneurone ein,
in diese Nervenzellen, die im Gehirn während der Betrachtung eines Vorgangs
die gleichen Potenziale auslösen, wie sie entstünden, wenn dieser Vorgang
nicht bloss passiv betrachtet, sondern aktiv gestaltet würde.
Versuche mit Affen
Am Anfang standen mal wieder die Affen: Im Tierversuch wurde entdeckt,
dass Neuronen im Feld F5c des Grosshirns dann reagierten, wenn zielmotorische Hand-Objekt-Interaktionen durchgeführt oder bei anderen – zumindest
anatomisch ähnlichen – lebenden Individuen beobachtet wurden. Mit anderen Worten: Wenn ein Affe beobachtete, wie jemand nach einer Nuss griff,
feuerten in seinem Hirn dieselben Zellen Signale ab, wie wenn er die Handlung
selbst durchgeführt hätte. Er simuliert die beobachtete Handlung quasi im
Kopf. Die Spiegelneurone reagierten selbst mit Signalen, wenn er nur den
Beginn der Handlung sehen konnte und das Greifen nach der Nuss hinter
einem Sichtschutz stattfand. Spiegelneurone lassen uns also zukünftige Entwicklungen vorgängig wahrnehmen. Die Reaktionen blieben hingegen aus,
wenn ein Roboter die Handlung ausführte.
Spiegelneurone sind keine Einzelgänger, sie wirken in Spiegelsystemen unter
anderem zusammen mit Handlungsneuronen, Wahrnehmungsneuronen der
inneren Organe, mit dem optischen Aufbereitungs- und Interpretationssystem
und vor allem auch mit verantwortlichen Zellen für Empfindungen, für das
Lebensgefühl und für den emotionalen Grundzustand zusammen.
Regula Zellweger
Spiegelneurone lassen uns
zukünftige Entwicklungen vorgängig wahrnehmen.
Was Spiegelneurone leisten
Der Autor zeigt differenziert auf, was Spiegelneuronen leisten und wie sie
unser Denken, Fühlen und Handeln beeinflussen – was von uns meist nicht
aktiv wahrgenommen wird. Intuition lässt sich beispielsweise mit dem Zusammenspiel von Programmen anderer spezialisierter Neuronen erklären. So wird
daran geforscht, wie Spiegelzellen eine Schlüsselrolle für das Verständnis von
Empathie, Sprache, sogar für die Kultur und für die vermeintliche Willensfreiheit der Menschen bedeuten könnten. Sogar Autismus-Symptome und ein
Abgespaltensein von den Gefühlen könnte mit den Spiegelneuronen erklärt
werden. Die Entdeckung der Spiegelneuronen eröffnet ein weites Feld.
Bauer erklärt: «Die Spiegelresonanz ist die neurologische Basis dessen, was
als ‹Theory of Mind› bezeichntet wird. Sie ist nicht nur in der Lage, bei der in
Beobachterposition befindlichen Personen Vorstellungen anzuregen, Gedanken und Gefühle hervorzurufen, sie kann unter bestimmten Voraussetzungen
auch den biologischen Körperzustand verändern.»
19
DAS BUCHPORTRÄT
BULLETIN 6/2008
Joachim Bauer
Warum ich fühle, was du fühlst
Intuitive Kommunikation und das Geheimnis der
Spiegelneurone
191 Seiten, Heyne 2006
ISBN 978-3-453-61501-4, Fr. 14.90
Entwicklung dieser Systeme
Eine Grundregel unseres
Gehirns lautet:
«Use it or lose it.»
Ohne Spiegelneurone gibt es keine Spontaneität, keinen tieferen zwischenmenschlichen Kontakt und vor allem kein emotionales Verstehen. Spiegelneurone gehören zu den wichtigsten, lebensbestimmendsten Faktoren im
Gepäck auf der Reise durchs Leben. Die Spiegelneurone müssen von Säuglingen eingespielt werden. Und vielleicht ist der evolutionstheoretische Grundsatz, dass vor allem die körperlich stärksten Babys im Lauf der Menschheitsgeschichte überlebt haben, gar nicht einzig richtig. Vielleicht ist es die Entwicklung der Spiegelzellen. Denn ein Baby, das zwar alle lebensnotwendigen
«körperlichen Dinge» wie Wärme und Nahrung bekommt, das aber keinen
Kontakt mit Menschen hat, stirbt. Ohne emotionale Zuwendung sind wir
Menschen nicht lebensfähig. Eine Grundregel unseres Gehirns lautet: «Use it
or lose it.» Nicht benutzte Nervenzellen gehen verloren. Sie entwickeln sich
aber nicht von allein, sie brauchen Partner – und sie müssen lebenslang trainiert werden.
Wer das Funktionieren der Spiegelneurone begreift, kommt nicht um Schlussfolgerungen für die Kindererziehung und das Lehren herum.
Arbeitswelt
Bauer zeigt auf, wie sich die Spiegelneurone im sozialen Beziehungsraum, insbesondere in der Liebe auswirken. Wer sich nicht intuitiv auf andere einlassen, deren Empfindungen in sich selbst nicht spontan zum Schwingen bringen, Gefühle nicht spiegeln kann, hat es in der Liebe nicht leicht – und macht
es auch anderen schwer. Denn die Aufmerksamkeit für den anderen bleibt
dann aus, was sehr schmerzhaft sein kann – denn ein emotionales Nehmen
ohne ein Geben schafft ein tödliches Gefälle in Beziehungen.
In der Arbeitswelt lässt sich mit dem Verständnis für die Funktion von Spiegelneuronen der Mobbingprozess verstehen. Das systematische Verweigern sozialer Resonanz ist heute ein bedeutsamer Krankheitsfaktor. Nehmen wir zum
Beispiel das nicht erfolgte freundliche Lächeln zur Begrüssung im Büro. Da
Spiegelneurone auch zur intuitiven Wahrnehmung von Vorzeichen für einen
bestimmten nachfolgenden Ablauf der Dinge beitragen, bringen sie die betroffene Person in eine eher düster vorahnende Stimmung – kein guter Boden für
Freude an der Arbeit, für Entwicklung und Zufriedenheit. Dazu Bauer: «Indem
wir uns im Alltag spontan, unwillkürlich und ohne jedes Nachdenken fortlaufend einzelner Spiegelungen bedienen, machen wir die weitere Entwicklung
von Situationen, in denen wir uns befinden, vorhersehbar und berechenbar.
Vorhersehbarkeit und Berechenbarkeit sind die Grundlage dessen, was wir
Vertrauen nennen.»
20
BULLETIN 6/2008
DAS BUCHPORTRÄT
Fazit
Der Autor versteht es, äusserst komplexe Tatsachen und Zusammenhänge
verständlich zu formulieren. Die Lektüre dieses Buches hat mich wie selten
ein Buch zum Nach-Denken angeregt, es beeinflusst mein Menschen- und
Weltbild ganz stark. Zusätzlich zur Lesezeit dieses Taschenbuches muss man
sich ein Vielfaches an Zeit dazu gönnen, um über die Aussagen nachzudenken und sie ins eigene Lebens- und Beratungskonzept zu integrieren. Es bringt
nicht nur viel neues Wissen, sondern auch Trauer darüber, dass vieles nicht
einfach machbar ist, dass wir andere Menschen mit rudimentärer Übung im
Umgang mit den Spiegelsystemen nicht ohne deren Problemeinsicht bei einer
Veränderung unterstützen können. Zitat Bauer: «Zumindest für den Menschen
gilt: Nicht dass wir um jeden Preis überleben, sondern dass wir andere finden, die unsere Gefühle und Sehnsüchte binden und spiegelnd erwidern können, ist das Geheimnis des Lebens.»
Ich denke allerdings: Eines von vielen! Wenn unser Hirn so einfach konstruiert wäre, dass wir es verstehen könnten, dann wären wir so einfach gestrickt,
dass wir es nicht verstehen würden.
Das Buch bringt nicht nur viel
neues Wissen, sondern auch
Trauer darüber, dass vieles
nicht einfach machbar ist.
21
Herunterladen