Inhaltsverzeichnis Seite I. Vorwort 2 II. Biographie 4 III. Kindheit in Ingolstadt 12 IV. Elterliche Erziehung und deren Auswirkung 1. Geschichte der Familie Fleißer 2. Verhältnis Marieluises zum Vater 3. Verhältnis Marieluises zur Mutter 4.Verhältnis Marieluises zu ihren Geschwistern 14 15 18 20 V. Schulzeit 1. in Ingolstadt a) An der Werktagsschule b) An der Gnadenthalschule 2. in Regensburg a) Fluch oder Segen? – Die ambivalente Beurteilung von Fleißers Schulzeit in Regensburg b) Zur Geschichte der „Englischen Fräulein“ in Regensburg c) Atmosphäre und Erziehungsgrundsätze der Schulen zur Schulzeit Fleißers d) Lehrplan und Unterricht e) Lektüren und Lehrbücher f) Absolutorialaufgaben g) Außerschulische Aktivitäten und Verhältnis Marieluises zu ihren Mitschülerinnen h) Die Schule während des Ersten Weltkrieges VI. Fazit VII. Anhang und Quellen 22 23 28 32 33 35 37 39 40 42 45 I. Vorwort „Wenn ich mal gestorben bin, das ist beruhigender, da weiß man, jetzt kann sie nichts mehr anstellen“1. Dieses Zitat stammt von einem der größten deutschen Literatur- und Theatertalente des zwanzigsten Jahrhunderts und einer der bedeutendsten deutschsprachigen Schriftstellerinnen: Marieluise Fleißer. Lange galt die Ingolstädter Autorin, die auf Grund ihrer Schulzeit am Institut der Englischen Fräulein in Regensburg auch eng mit unserer Stadt verbunden ist, als weitgehend unbekannt, ihre Werke erfuhren, abgesehen von einem großen Skandal bei der Uraufführung ihres Stückes „Pioniere in Ingolstadt“ 1929, kaum Beachtung. Erst mit ihrer Wiederentdeckung im Zusammenhang mit dem Aufleben des Volksstücks Ende der 1960er und Anfang der 1970er Jahre, also kurz vor ihrem Tod am 02. Februar 1974, rückte die Schriftstellerin erneut in den Fokus der Öffentlichkeit: Sammlungen ihrer Werke wurden herausgegeben, erste Publikationen und Biographien zu ihrer Person entstanden und seit 1981 würdigt sie ihre Geburtsstadt Ingolstadt durch die Vergabe des Marieluise Fleißer Preises, der mittlerweile alle zwei Jahre an Autorinnen und Autoren verliehen wird, die die Grundgedanken ihrer Werke literarisch aufgreifen und so Marieluise Fleißers Erbe fortführen. Dennoch bleibt der Kreis der sogenannten „Fleißerforscher“ klein, die breite Öffentlichkeit weiß bis heute kaum etwas über das bayerische Ausnahmetalent2. Gerade einmal 144 000 Treffer listet die Internetsuchmaschine Google bei der Eingabe ihres Namens auf3 4. Und auch an anderen Stellen bleibt ihr der Ruhm verwehrt: so widmet Kindlers 1 Marieluise Fleißer in ihrem letzten Interview 1974, Fleißer Dokument (Fl.-Dok.) I, S. 82. Zum aktuellen Forschungsstand vgl. z. B. H. Häntzschel, Marieluise Fleißer - Eine Biographie, Frankfurt 2007; E. Hartenstein, A. Hülsenbeck, Marieluise Fleißer - Leben im Spagat - Eine biographische Collage, Berlin 2001; C. L. Reichert, Marieluise Fleißer, München 2001; S. Göttel, Natürlich sind es Bruchstücke – Zum Verhältnis von Biographie und literarischer Produktion bei Marieluise Fleißer, St. Ingbert 1997; G. Lutz, Marieluise Fleißer – Verdichtetes Leben, München 1989; M. McGowan, Marieluise Fleißer, München 1987; G. Rühle (Hg.), Materialien zum Leben und Schreiben von Marieluise Fleißer, Frankfurt 1973. 3 Stand: 28.02.2010. 4 Zum Vergleich: bei Günter Grass sind es 616 000, bei Fleißers ehemaligem Weggefährten und Förderer Brecht sogar 1 810 000. 2 2 Neues Literaturlexikon der Autorin nicht einmal drei Seiten, im Vergleich ist dies kaum mehr als der Eintrag über den hebräischen Schriftsteller Flavius Iosephus (37 v.Chr. bis 100 n.Chr.) und neben den fast zehn Seiten über Lion Feuchtwanger, einen anderen aus den Reihen von Fleißers Münchner Bekanntschaften, kaum der Rede wert.5 Dabei zählt Fleißer zu den bedeutendsten deutschen Schriftstellerinnen des zwanzigsten Jahrhunderts und hatte Kontakt zu Autoren wie Erich Kästner, Lion Feuchtwanger oder Bertolt Brecht. Deshalb möchte ich mit dieser Arbeit zum einen an Marieluise Fleißer erinnern, zum anderen aber auch einer viel wichtigeren Frage nachgehen, nämlich: Wie ist sie zu dem geworden, was sie war? Was hat sie in ihrer Kindheit und Jugend beeinflusst, was geprägt? Hierbei möchte ich zunächst, nachdem ich Marieluise Fleißers Leben in Form einer Kurzbiographie dargestellt habe, einen Überblick über die Situation in ihrer Heimatstadt Ingolstadt während ihrer Kindheit geben. Anschließend befasse ich mich näher mit der Familie Fleißer, wobei ich vor allem auf die Eltern der Schriftstellerin, ihre Erziehungspraktiken sowie das Verhältnis Marieluises zu ihrem Vater, ihrer Mutter und ihren Geschwistern eingehen möchte. Ein weiterer zentraler Aspekt meiner Seminararbeit ist die schulische Ausbildung der jungen Marieluise, sowohl in ihrer Heimatstadt Ingolstadt als auch später am Institut der „Englischen Fräulein“ in Regensburg. Ein besonderer Dank im Rahmen meiner Seminararbeit gilt dabei den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern der Wissenschaftlichen Bibliothek Ingolstadt, allen voran Frau Doris Wittmann, die mich im Laufe meiner Recherchen immer wieder unterstützt und mir stets mit Rat und Tat sowie ihrem schier unerschöpflichen Vorrat an Quellen und Dokumenten über das Leben und Wirken Marieluise Fleißers zur Verfügung gestanden haben. 5 Siehe: Kindler Neues Literaturlexikon, Band 5: Fleißer Marieluise (S .624-627), Feuchtwanger Lion (S. 513522) und Flavius Iosephus (S. 620-622). 3 II. Biographie6 Louise Marie Fleißer, später Marieluise genannt7, kam am 23. November 1901 (die amtlichen Urkunden nennen den 22. November8) als drittes Kind des Schmiedes Heinrich Fleißer und dessen Frau Anna Maria, geborene Schmid, im niederbayerischen Ingolstadt zur Welt. Zusammen mit ihren vier Geschwistern wuchs sie dort in der Kupferstraße, wo der Vater seine Werkstätte hatte, auf. Ab Herbst 1907 besuchte sie die Volksschule, die sogenannte deutsche Werktagsschule und trat 1911 auf die Höhere Töchterschule des Gnadenthalklosters Ingolstadt in der Nähe des elterlichen Wohnhauses über. 1914 folgte der Wechsel an das Internat der „Englischen Fräulein“ in Regensburg, da Luise hier die Möglichkeit hatte, als Mädchen die Abiturprüfung abzulegen, was ihr auch im Sommer 1920, zwei Jahre nach dem Tod der Mutter 1918, mit Bestnoten9 gelang. Nach dem Abitur zog die Dichterin nach München, um sich im Oktober 1920 an der Philosophischen Fakultät I der Ludwig-MaximiliansUniversität zu immatrikulieren. Ihr Studienvorhaben präzisierte sie auf der Immatrikulationskarte mit „Dramat.“, was wohl ihre Absicht eines Studiums der Theaterwissenschaften (dieses Fach existierte als selbstständiges Hauptfach eigentlich nicht, ebenso wenig die von Fleißer gewählte Abkürzung) andeuten sollte10. In den darauffolgenden Jahren belegte sie vor allem Vorlesungen bei den Professoren Arthur Kutscher und Heinrich Wölfflin, zu Beginn des Studiums auch einige fachfremde 6 Im Folgenden wurden durchgehend als Quellen verwendet: Häntzschel Hiltrud, Marieluise Fleißer, Eine Biographie, Insel Verlag, Frankfurt am Main, 2007, im Folgenden zitiert als „MFB“; Rühle Günther, Materialien zum Leben und Schreiben der Marieluise Fleißer, Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main, 1973, im Folgenden zitiert als „Mat.“, Autobiographie S. 411 - 430. 7 Den Namen gab ihr Lion Feuchtwanger 1922, vgl. MFB, S. 45. 8 Stadtarchiv Ingolstadt, Fl.-Dok. I/1, Mat., S. 411. 9 Vgl. Interview mit Marieluise Fleißers ehemaliger Mitschülerin Marielies Schleicher, Stadtarchiv Ingolstadt, Fl.-Dok. I, 92-1. 10 Siehe Immatrikulationskarte der LMU-München von 1920, Archiv der LMU-München, Kopie im Anhang. 4 Veranstaltungen11. Aus diesen „Münchner Jahren“ stammten Fleißers Liebesbeziehung mit ihren Luxemburger Kommilitonen Alexander Weicker, genannt „Jappes“, sowie ihren Bekanntschaft mit Lion Feuchtwanger, dem sie im Februar 1922 auf einer Faschingsfeier begegnete und über den sie schließlich Berthold Brecht kennen lernte. 1923, zur Krisenzeit der Weimarer Republik, die die Autorin in den nachfolgenden Jahren nicht unberührt ließ12, veröffentlichte sie ihre erste Erzählung „Meine Zwillingsschwester Olga“ (später die „Dreizehnjährigen“) im Berliner Intellektuellenheft „Das Tagebuch“. Den Kontakt zum „Tagebuch“ hatte Lion Feuchtwanger hergestellt13. Bereits in dieser frühen Erzählung, die auf Grund ihres ungewöhnlichen Stils skurril, ja fast schon bizarr anmutet (es gibt keine erläuternden Einführungen oder Vorstellung der Personen, der Leser wird einfach mitten hinein in ein Geflecht aus Beziehungen und Konflikten geworfen, auch die Sprache bleibt mit ihrer mitunter eigenartig abgehackten Syntax manchmal zusammenhanglos und diffus) griff die junge Ingolstädterin Themen wie Gewalt und Sexualität auf, die sich später immer wieder wie ein roter Faden durch ihre Werke zogen. Ende 1924 brach Marieluise Fleißer ihr in den vergangenen Jahren nur noch sehr sporadisch betriebenes Studium ab und kehrte aus finanziellen Gründen nach Ingolstadt zu ihrem inzwischen wieder verheirateten Vater zurück14. Dies bedeutete aber keinesfalls das Ende ihrer literarischen Tätigkeiten, obwohl sich der Vater dies gewünscht hätte15. Im Gegenteil: Marieluise Fleißer feilte weiter an ihrem - bereits in München begonnenen - ersten eigenen Theaterstück, „Die Fußwaschung“16, das am 25. April 1926 am Deutschen Theater in Berlin uraufgeführt wurde, veröffentlichte im Laufe des Jahres 1925 die Erzählungen „Der Apfel“, „Die Stunde der Magd“ sowie „Zwischen Schlaf und Schlaf“ im Berliner 11 Siehe Belegblätter „Fleißer Marieluise“ für das Wintersemester 1920/1921 und das Sommersemester 1921, Archiv der LMU-München, Kopie im Anhang. 12 Vgl. z. B. Briefwechsel Fleißer-Weicker, Stadtarchiv Ingolstadt, S. 12; Briefwechsel zwischen Marieluise Fleißer und ihrem Vater Heinrich Fleißer von 1929-1932, S. 5, S. 16-17. 13 MFB, S. 61. 14 Mat., S. 415. 15 Vgl. Briefwechsel zwischen Marieluise Fleißer und ihrem Vater Heinrich Fleißer von 1929-1932, ediert von Klaus Gültig, Hrsg.: Schriftenreihe der Marieluise Fleißer Gesellschaft e.V., Heft 3, Ingolstadt 2001, S. 10. 16 später „Fegefeuer in Ingolstadt“; der Titel wurde auf Anraten Moritz Seelers, des Gründers des Theaterensembles der Jungen Bühne, die das Stück präsentierte, und einem glühenden Anhänger von Fleißers Schreibkunst, geändert, vgl. Mat., S. 27. 5 „Börsen Courier“. Im Mai 1926 folgte die Titelgeschichte ihrer späteren Novellensammlung „Ein Pfund Orangen“ im Berliner „Tage-Buch“. Finanzielle Sicherheit brachten diese Publikationen der Autorin freilich wenig. Wie aus einem Brief Lion Feuchtwangers vom 24. Januar 1926 hervorgeht17, blieb auch Luise von den sozialen Härten der Weimarer Republik nicht verschont. Es waren vielmehr die Kontakte, beispielsweise zu Herbert Ihering, dem Theaterkritiker des „Börsen Couriers“ sowie natürlich auch die Beziehungen zu Brecht und Feuchtwanger, die für sie von entscheidender Bedeutung waren und zur wachsenden Bekanntheit Marieluise Fleißers beitrugen. Sie bemühte sich beim Rohwohlt und beim Kiepenheuer Verlag um einen Vertrag18, was den ersten Schritt auf ihrem Weg zur Berufsschriftstellerin markiert hätte, wurde aber immer wieder abgewiesen. Ihre publizistische Tätigkeit geriet ins Stocken, da sie nicht genügend Abschriften ihrer Texte besaß und Verlage so auf Einsendungen warten mussten, wodurch sie Aufträge einbüßte. Der erste echte Durchbruch gelang der Dramatikerin nach der Premiere von „Fegefeuer in Ingolstadt“, die in der Theaterwelt zwar auf ambivalente, aber durchaus auch positive Kritiken stieß19, in Form eines Vertrages mit dem Ullstein Verlag, der „Fegefeuer in Ingolstadt“ in seinen Bühnenverlag Arcadia übernahm. Dabei hatte Brecht nicht nur beim Vertragsschluss eine zentrale Rolle gespielt20 21, er betätigte sich wiederholt als „Verhandlungspartner“ zwischen Fleißer und den Verlagen, was seitens der letzteren nicht immer gerne gesehen wurde und mitunter zu ernsthaften Problemen führte22. Dennoch gelang es Fleißer allmählich, sich zu etablieren; sie veröffentlichte in der „Magdeburgischen Börsen Zeitung“, sowie auf Vermittlung von Alfred Kerr, den sie bei der Uraufführung von „Fegefeuer in Ingolstadt“ kennengelernt hatte, beim „Berliner Tagblatt“ und bald auch bei der „Frankfurter Zeitung“. Daneben arbeitete sie an ihrem 17 Vgl. Briefwechsel Fleißer-Feuchtwanger, Stadtarchiv Ingolstadt, S. 19. Mat., S. 29. 19 MFB, S. 92-97. 20 Ebenda S. 99. 21 Elisabeth Hauptmann hielt im Tagebuch ihrer Zusammenarbeit mit Brecht fest: „Für die Fleißer Vertrag gesucht - bei Ullstein 200M. à fond perdu“, vgl. Elisabeth Hauptmann: Tagebuch zitiert nach: Sabine Kebir: Ich fragte nicht nach meinem Anteil. Elisabeth Hauptmanns Arbeit mit Bertholt Brecht, Berlin, 1997. 22 Vgl. Briefwechsel Fleißer-Ullstein Verlag, Nachlass Marieluise Fleißer, Stadtarchiv Ingolstadt. 18 6 zweiten Stück „Pioniere in Ingolstadt“, das 1928 in Dresden uraufgeführt wurde (eine zuvor in Essen geplante Aufführung hatte aus Zensurgründen abgesagt werden müssen) und publizierte, nachdem sie nach einem kurzen Berlinaufenthalt von Januar bis November 1927 wieder in ihre bayerische Heimatstadt zurückgekehrt war, weitere Erzählungen23. Andere Werke, die einen interessanten Aufschluss über das Innenleben der Autorin zur damaligen Zeit geben, sind der Text „Der verschollene Verbrecher X“, Fleißers Beitrag zu einer Umfrage der „Magdeburgischen Zeitung“ zum Thema „Männer, die ich heiraten möchte“ von 1927, sowie die Geschichte „Die Ziege“ aus dem „Berliner Tagblatt“ (1928). Die Fülle an Texten, die Fleißer zur damaligen Zeit produzierte, lässt darauf schließen, dass ihre schriftstellerische Karriere ins Laufen gekommen war, auch wenn sie finanziell nach wie vor nicht besonders gut gestellt war24. Zu dieser Zeit begann Marieluise ein Verhältnis mit ihrem Jugendfreund und späteren Ehemann, dem Sportschwimmer Josef, genannt Bepp, Haindl, der, obwohl ihr intellektuell um Längen unterlegen, bald zu einem ihrer engsten Vertrauten und Fürsorger wurde. Er begleitete sie immer wieder auf ihren Reisen, beispielsweise auf der Fahrt zu den Proben für die Uraufführung von „Pioniere in Ingolstadt“ nach Dresden und sandte ihr liebevolle Briefe, in denen er sie ermahnte „viel Sport zu treiben“, „fein tüchtig zu essen“ und „dich nicht zu ärgern“25. Er nannte sie seine „Luis“, „Punny“ oder mein „Herzkätzchen“ und sprach schon bald von Heirat, Plänen, denen Fleißer selbst eher kritisch gegenüber stand26. Nach den ambivalenten Reaktionen, die der Uraufführung von „Pioniere in Ingolstadt“ in Dresden, für die die Autorin Lob und Kritik gleichermaßen erntete27 , folgten, und einigen Rundfunkauftritten, die ihre Haupteinnahmequelle darstellten, begann es Ende 1928 ruhiger um Marieluise Fleißer zu werden. 23 Beispielsweise „Abenteuer aus dem englischen Garten“ (Ostern 1927 im „Börsen Courier“) oder ihre vier zentralen Essays „Das dramatische Empfinden bei den Frauen“, „Der Heinrich von Kleist der Novellen“, „Buster Keaton“ und „Bruder des Blitzes“ (alle 1927). 24 Vgl. Briefwechsel mit ihrem Vater, S. 16/17. 25 Vgl. Marieluise Fleißer: Briefwechsel 1925-1974, Hrsg. Günther Rühle, Frankfurt am Main, 2004, S. 51, im Folgenden zitiert als „Brf.“. 26 Vgl. Mat, S. 416. 27 MFB, S. 154/155. 7 Aus der Versenkung heraus, freilich auf andere Weise als geplant, katapultierte sie sich dann durch die Aufführung von „Pioniere in Ingolstadt“ am 30. März 1929 im Theater am Schiffbauerdamm in Berlin, die in der Heimat der Schriftstellerin den sagenumwobenen Skandal um ihre Person auslöste. In Theaterkreisen keineswegs negativ gesehen, vor allem da Mängel der Dresdner Aufführung behoben und kleine Änderungen am Stoff vorgenommen worden waren, fand die Inszenierung durchaus beachtlichen Zuspruch, wohingegen die Kritiken der konservativen Blätter freilich verheerend ausfielen28. Der Kiepenheuer Verlag zumindest war vom Erfolg des Stückes angetan und schloss mit Fleißer fünf Tage später den Vertrag über den Novellenband „Ein Pfund Orangen“29, der noch im Sommer des selben Jahres erschien. Auch andere renommierte Schriftsteller wie etwa Erich Kästner ergriffen Partei für die junge Autorin30. Von den Turbulenzen um ihre Person gesundheitlich angeschlagen, beschloss sie vorübergehend in Berlin zu bleiben, wohin sie zur Uraufführung ihres Stückes gereist war. Aus dem anfänglichen Genesungs- wurde schließlich ein Daueraufenthalt. Vergeblich schienen Bepp Haindls Versuche seine „Luisi“ nach Ingolstadt zurückzulocken, obwohl er ihr dort finanzielle Sicherheit und Schutz vor öffentlichen Anfeindungen versprach31. Schließlich kam es zum Bruch zwischen Haindl und Fleißer, dem, wenn auch nur vorübergehenden, Aus einer Beziehung, das gleichzeitig den Beginn einer neuen markierte. Wann und wie genau Fleißer ihren neuen Liebhaber Hellmut Draws-Tychsen kennen gelernt hat, ist unklar, vermutlich zur Zeit der Aufführung von „Pioniere in Ingolstadt“32. Sicher ist jedoch, dass er Haindl sowohl intellektuell als auch hinsichtlich des Durchsetzungsvermögens um Längen übertraf. Der erklärte Brechtfeind Draws war ein Lebenskünstler, der als Schriftsteller und Journalist arbeitete und im Alltag durch seine zahllosen Ticks und Eigenheiten hervorstach. Von Marieluise verlangte er bedingungslose Unterwerfung und Hingabe, er beutete sie aus, nicht nur finanziell, sondern auch psychisch und trieb sie immer wieder bis an den Rand des Nervenzusammenbruches. Stundenlang 28 Siehe ebenda S. 175-190. MFB, S. 183. 30 Mit „Kleine Skandale um gute Stücke“, in Neue Leipziger Zeitung, Nr. 100 vom 10.04.1929. 31 Brf., 04. Mai 1929, S. 72f.. 32 MFB, S. 202. 29 8 musste sie seine Stücke abschreiben, von ihren eigenen Arbeiten hielt Draws-Tychsen, der ohnehin der Meinung war, Frauen seien zum Ausüben literarischer Tätigkeiten ungeeignet, nichts33. Dennoch schien sich Fleißer immer mehr an ihn zu klammern, je schlechter er sie behandelte. Auf einer Schwedenreise im Sommer 1930, kurz nach Beginn ihrer Beziehung, gaben die beiden sogar ihre Verlobung bekannt. Draws-Tychsen intervenierte in ihre Stücke34, bei der Arbeit an Fleißers Werk „Der Tiefseefisch“ gab er sich als Zensor und diktierte ihr weitestgehend die Umsetzung. Dieses Verhalten führte auch zum Bruch der Schriftstellerin mit dem Ullstein Verlag am 02. Dezember 193035. Zusammen mit Draws-Tychsen unternahm sie im selben Jahr ihre gemeinsame Andorrareise, die sie unter dem Titel „Andorranische Abenteuer“, einem ihrer schönsten Werke, festhielt. 1931 erschien ihr einziger Roman „Die Mehlreisende Frieda Geier“, der das Porträt einer starken und selbstständigen Frau zeichnet und zugleich den Beginn ihrer Aussöhnung mit Bepp Haindl (der Untertitel des Romans lautete „Vom Rauchen, Sporteln, Lieben und Verkaufen“ und ließ deutliche Parallelen zu Haindls Person erkennen) im darauffolgenden Jahr markierte. Erst nachdem sie 1932 auf Grund finanzieller Schwierigkeiten (nach dem Bruch mit dem Ullstein Verlag hatte sie keine feste Rente mehr) nach Ingolstadt zu ihrem Vater zurückgekehrt war, versuchte sie 1933 ihre Verlobung zu lösen und sich von Draws-Tychsen zu trennen, ein zermürbender Prozess, der über zwei Jahre andauerte und ihr erst 1935 endgültig gelang. Nach einer kurzen Affäre mit dem Maler Georg Hetzelein 1934 heiratete sie schließlich im darauffolgenden Jahr Bepp Haindl und zog zu ihm in sein Tabakwarengeschäft nach Ingolstadt. Dort kamen ihre literarischen Tätigkeiten immer mehr zum Erliegen; Bepp benötigte ihre helfende Hand im Laden, zudem unterlagen ihre Stücke zur Zeit des Dritten Reiches der Zensur und schließlich dem Verbot durch die Nationalsozialisten36. Während des Zweiten Weltkrieges war ihr schriftstellerisches Schaffen nahezu vollständig auf Eis gelegt, was sie so sehr belastete, dass sie 1938 einen Nervenzusammenbruch erlitt und 33 Vgl. ebenda S. 234. Vgl. ebenda S. 217. 35 Ullstein an Fleißer, 02.12.1930, Nachlass Marieluise Fleißer, Stadtarchiv Ingolstadt. 36 Institut für Zeitgeschichte München, Doc. 16.03. 34 9 vorübergehend in einer psychiatrischen Klinik behandelt werden musste. Nach Kriegsende veröffentlichte sie 1946 mit mäßigem Erfolg das Stück „Karl Stuart“ und wurde wieder in den Schutzverband deutscher Schriftsteller aufgenommen37. Zwei Jahre später erfolgten die erneute Kontaktaufnahme und Aussöhnung mit Brecht und anderen „Kriegsexilanten“, mit denen sie regen Briefwechsel betrieb38. Sie versuchte an frühere Erfolge anzuknüpfen, mit ihren beiden Prosaarbeiten „Das Pferd und die Jungfer“ (1952) und „Im Netz“ (heute: „Er hätte besser alles verschlafen“, 1953) gelang ihr dies auch; was das Theater betraf, so blieb der Erfolg zunächst aus. Zwar wurde die Inszenierung von der „Starke Stamm“, uraufgeführt am 07.11.1950 auf der Münchner Kammerspiel Bühne, von den Kritikern gefeiert39, Fleißer selbst blieb jedoch skeptisch. In einem Brief an Helene Weigl schrieb sie: „…und bin, obwohl die Presse im ganzen wohlwollend war, rein aus dem heraus, was ich spürte, jetzt davon überzeugt, dass ich nicht fürs Theater schreiben kann…“ 40. Die rasche Absetzung des Stücks am Ingolstädter Theater im Oktober 1951 schien ihr hierbei Recht zu geben. Fleißer zog sich nach Ingolstadt zurück, wo sie ihren mittlerweile herzkranken Ehemann pflegen musste. Zeit zum Schreiben blieb da kaum. Sie erwog die Trennung, verwarf den Gedanken aber wieder. 1958 starb Bepp Haindl. Für Marieluise Fleißer kam dies einem Befreiungsschlag gleich. Unter welch großer psychischer Anspannung die Autorin, die seit 1956 für das Lektorat des Bayerischen Rundfunks arbeitete, in der Zeit vor Haindls Tod gestanden haben musste, davon zeugte der Herzinfarkt, den sie kurz darauf erlitt. Nach einem Krankenhausaufenthalt verkaufte sie das Tabakgeschäft ihres Mannes und mietete sich eine kleine Wohnung in Ingolstadt an41. Mit „Avantgarde“ (1963) und „Der Rauch“ (1964) gelang ihr die Rückkehr in die Öffentlichkeit. Den endgültigen Durchbruch erreichte sie freilich erst mit der Neuinszenierung des „Starken Stamms“ 1966 in Berlin, sowie der Neufassung von „Pioniere in Ingolstadt“ von Rainer Werner Fassbinder. Dieser ist neben Martin Sperr und Franz Xaver Kroetz einer der jungen 37 MFB, S. 311/312. MFB, S. 315ff.. 39 ebenda S. 317. 40 Fleißer an Helene Weigl, 16.01.1951, Brf., S. 321f.. 41 Mat., S. 424/425. 38 10 Dramatiker, denen sie zum Großteil ihren späten Ruhm zu verdanken hat42. 1972 widmete sie ihnen die Erzählung „Alle meine Söhne“, im selben Jahr erschien auch eine Ausgabe ihrer gesammelten Werke im Suhrkamp Verlag. Dafür hatte die Autorin monatelang eng mit dem Verleger und dem Herausgeber Günther Rühle zusammengearbeitet. Fleißer war mit ihren Erzählungen nicht zufrieden; in einem für eine mittlerweile Siebzigjährige erstaunlichen Kraftakt schrieb sie immer wieder um, ergänzte Teile, strich und ließ sich vom Verleger jedes Stück abringen43. Zusätzlich zu den Texten erschien ein Anmerkungsteil, in dem die Autorin selbst zu Wort kam, und der heute noch als Interpretationsgrundlage vieler ihrer Texte herangezogen wird. Mit den Veröffentlichungen nahmen ihre Popularität und die Anerkennung, die ihr zu Teil wurde, zu. Im Frühjahr 1973 wurde sie ordentliches Mitglied der Berliner Akademie der Künste, im gleichen Jahr sogar mit dem Bayerischen Verdienstorden ausgezeichnet44. Ihre schwache Gesundheit hielt dem allen nicht stand. Ihre Herzprobleme und Krankenhausaufenthalte häuften sich. Im Januar 1974 unternahm sie noch einen Kurversuch in der Schweiz, musste aber am 21. Januar auf die Intensivstation gebracht werden. Zwölf Tage später starb sie schließlich und wurde in ihrer Heimatstadt Ingolstadt auf dem Westfriedhof beigesetzt. 42 MFB, S. 353-364. MFB, S. 364 ff.. 44 MFB, S. 376. 43 11 III. Kindheit in Ingolstadt Ihre Kindheit und einen Teil ihrer Jugendzeit verbrachte die Autorin in ihrer niederbayerischen Geburtsstadt Ingolstadt. Wie sie das Leben dort beeinflusste und welche Eindrücke sie in dieser Zeit gesammelt hat, schilderte sie später in ihren Erzählungen „Kinderland“ (1950) und „Gassenbesen in Ingolstadt“ (1928). Das Milieu, in dem Fleißer aufgewachsen ist, lässt sich vermutlich am Treffendsten mit dem Begriff „kleinbürgerlich“ beschreiben. Das Leben in der Universitätsstadt Ingolstadt, für die seit jeher das Militär eine wichtige Rolle gespielt hatte, war zu Beginn des 20. Jahrhunderts dabei zu stagnieren: von 1901, dem Geburtsjahr Marieluise Fleißers, bis 1914, dem Jahr, an dem sie an das Institut der Englischen Fräulein in Regensburg überwechselte, ließ sich lediglich ein Wachstum der Einwohnerzahlen um 1 539 Bürgerinnen und Bürger von 22 206 (1901) auf 23 745 (1914) verzeichnen, verglichen mit anderen Städten ist dies für die damalige Zeit sehr gering45. Wie das Adressbuch von 1914 zeigt, war der Alltag der Ingolstädter geprägt vom Handwerk, aber auch „lebhafter Handel und Verkehr“, vor allem die günstige Lage der Stadt als Eisenbahnknotenpunkt zwischen München und Nürnberg und als Umschlagplatz für die Donauschifffahrt waren von entscheidender Bedeutung für die Bevölkerung46. Die Mehrheit der Einwohner übte vielfältigste handwerkliche Tätigkeiten aus, ebenso Marieluise Fleißers Vater, der von Beruf Schmied war. Die Sozialstrukturen waren von einer Vielzahl bürgerlicher Vereine dominiert47. Das Militär, das in Ingolstadt, wie bereits erwähnt, auf eine lange Tradition zurückblicken konnte, hatte vor dem Ersten Weltkrieg erheblich an Bedeutung eingebüßt und hielt eher noch repräsentative Zwecke inne, ein Bild, das sich allerdings mit Kriegsbeginn sehr zur Freude der Ingolstädter wieder wandelte. Das endgültige Aus und die damit verbundenen wirtschaftlichen und sozialen 45 Vgl. „Die Schulzeit der Marieluise Fleißer in Ingolstadt“, Facharbeit von Christine Zehelein, Ingolstadt, 1994, im Folgenden zitiert als „Farb.“, S. 5. 46 Farb., S. 5-6. 47 Farb., S. 5. 12 Probleme erfuhr das Soldatenwesen in Ingolstadt nach Inkrafttreten des Versailler Vertrages 1919 und den damit eintretenden Entmilitarisierungsmaßnahmen im besiegten Deutschland48. Im Leben der Kleinstadt ließen sich jedoch damals auch Gegensätzlichkeiten erkennen: so steht das Bild der bürgerlichen Enge und Kontrolle, das Fleißer immer wieder in ihren Werken, insbesondere in ihrem Roman „Die Mehlreisende Frieda Geier“ (1931), vermittelt, in krassem Widerspruch zu der Toleranz, die offensichtlich gegenüber den circa dreißig jüdischen Familien der Stadt herrschte und die für die damalige Zeit eher ungewöhnlich war. Konfessionell gesehen war die Mehrheit der Einwohner katholisch, allerdings ist in den Jahren von Fleißers Kindheit ein Prozentsatz von ungefähr zehn Protestanten in den Stadtbüchern verzeichnet 49. Das Schulwesen war um die Jahrhundertwende - im Verhältnis zu den Einwohnerzahlen gesehen - gut ausgebaut: es gab ein Gymnasium, eine Realschule, ein Mädcheninternat, eine Knaben- und eine Mädchenvolksschule (damals Werktagsschule genannt) sowie eine Fortbildungsanstalt für Lehrerinnen50. Ein Erlebnis aus Fleißers Kindheit, das ihr wohl im Gedächtnis geblieben sein wird, war die Bedrohung der Stadt durch ein Hochwasser im Jahre 1910, bei dem sie als Achtjährige miterlebte, wie die Gefahr durch die Truppen der stationierten Garnison, zufälligerweise „Pionieren“, gebannt wurde51. Fest steht, dass sich Fleißer bis zu ihrem Tod trotz der teilweise immer wieder erfahrenen Ablehnung ihrer schriftstellerischen Tätigkeiten und den Spannungen, mit denen sie nach der Aufführung ihres Stückes „Pioniere in Ingolstadt“ ihrer Heimatstadt konfrontiert war, eng – im positiven wie im negativen Sinn - mit ihrer Geburtsstadt verbunden sah, wovon zahlreiche ihrer Werke, etwa die „Zwölf Portraits“ (1928) oder ihre Lebensrückschau in den „Materialien“52, zeugen. 48 Mat., S. 19-20. Farb., S. 5. 50 Farb., S. 6. 51 Farb., S. 6. 52 Vgl. Mat., S. 411-428. 49 13 IV. Elterliche Erziehung und deren Auswirkungen 1. Zur Geschichte der Familie Fleißer53 Die Familie Fleißer ist seit jeher tief in Bayern verwurzelt. Marieluises Vorfahren stammten ursprünglich aus der Oberpfalz, ihr Ururgroßvater Georg Mathias Fleißer, ein Schneidermeister, lebte in Fuchsberg, einer kleinen Hofmark in der Nähe von Teunz54. Fleißers Urgroßvater Peter, der erste Waffen- und Zeugschmied der Familie, verlegte seinen Wohnsitz 1830 nach Weiden und Amberg, wo er mehrere Schmiedewerkstätten betrieb55. Sein Sohn Andreas Fleißer, der Großvater von Marieluise, führte diesen Beruf fort und ließ sich 1860 als Geschmeidemacher in Ingolstadt nieder. Dort erwarb er am 20. April 1861 das spätere Geburtshaus der Autorin in der Kupferstraße 18 (damals Hausnummer 69). Im Juni desselben Jahres heiratete er die Zeugmachertochter Walburga Höcht aus Treuchtlingen, mit der er drei Kinder hatte. Nach Walburgas Tod im Jahre 1867 vermählte er sich erneut, diesmal mit der Ingolstädter Maurerstochter Anna Ostermair, die ein Jahr später am 22. Mai 1867 Marieluises Vater Heinrich Fleißer zur Welt brachte, allerdings kurz darauf starb. Andreas Fleißer lebte noch bis zu seinem Tod am 14. September 1904 in der Kupferstraße in Ingolstadt. Er war zeitweise als Kommunalpolitiker tätig und erlebte noch die Geburt seiner Enkelin Marieluise am 22. November 190156. Marieluise Fleißer selbst setzte sich mit ihrer Familiengeschichte im Programmheft zur Uraufführung des Stückes „Starker Stamm“ 1950 in München auseinander. Lebhaft und detailliert schildert sie dort die Charaktere ihrer Vorfahren (übrigens ausschließlich der männlichen!) und 53 Als Quellen wurden im Folgenden benutzt: Edmund Hausfelder, „Zur Geschichte der Familie Fleißer“, erschienen im Schriftenheft 3 der Schriftenreihe der Marieluise Fleißer Gesellschaft e.V., Ingolstadt 2001, im Folgenden zitiert als „Heft“; Edmund Hausfelder, „Genealogie der Familie Fleißer“, erschienen ebenda, sowie Marieluise Fleißer, „Der starke Stamm“, Programmheft für das Stück „Der Starke Stamm“ der Kammerspiele München, 1950. 54 Heft, S. 27. 55 Heft, S. 28-35. 56 Heft, S. 35-40. 14 skizziert ein mitunter ironisches, aber durchaus liebevolles Bild ihrer Familie, insbesondere ihres Vaters57. 2. Verhältnis Marieluises zum Vater Heinrich Fleißer Was das Verhältnis der Autorin zu ihren Verwandten anbelangt, so ist die Beziehung Marieluises zu ihrem Vater Heinrich Fleißer wohl die am häufigsten Behandelte und die umstrittenste. Am 22. Mai 1868 geboren, erlernte Heinrich Fleißer das väterliche Handwerk des Geschmeidemachers in Ingolstadt. Dort ehelichte er am 23.05.1898 Marieluises Mutter Anna Maria Fleißer, geborene Schmidt. Louise Marie war das dritte Kind der beiden58. Von der FleißerBiographik lange Zeit als unbarmherziger Vater gesehen, der Marieluise nach dem Skandal um ihr Stück „Pioniere in Ingolstadt“ 1929 „Hausverbot erteilte“59, muss dieses Urteil heute zumindest teilweise revidiert werden. Denn Heinrich Fleißer erkannte offensichtlich Marieluises Talent und war bemüht, seine Tochter zu fördern. So durften sie und ihr Bruder Heinrich als einzige der sechs Kinder der Familie das Gymnasium besuchen, seiner Tochter ermöglichte der Schmied sogar die kostspielige Ausbildung an Privatinstituten, zuerst 1909 an der privaten Vorschule der Höheren Töchterschule der Gnadenthalklosters in Ingolstadt, ab 1914 den Internatsaufenthalt in Regensburg. Dem Wunsch ihres Vaters, Lehrerin zu werden, kam Marieluise nach dem Abitur dann jedoch, sehr zu seinem Bedauern, nicht nach60. Immer wieder haderte er deshalb mit ihrem Schriftstellerinnendasein61; ihm wäre es lieber sie würde „als Zigarrenladnerin in Berlin leben“62 oder irgendwo als „Sekretärin od. Redaktörin Mitarbeiterin oder ähnliches Unterkommen 57 Heft, S. 21-26. Vgl. Edmund Hauser „Genealogie der Familie Fleißer“, Heft drei der Schriftenreihe der Marieluise Fleißer Gesellschaft e.V., Ingolstadt 2001. 59 Mat., S. 417. 60 Mat., S. 415. 61 Vgl. Briefwechsel zwischen Marieluise Fleißer und ihrem Vater Heinrich Fleißer, herausgegeben in der Schriftenreihe der Marieluise Fleißer Gesellschaft e.V., Heft 3, S. 5-19, im Folgenden zitiert als „Briefwechsel“. 62 Briefwechsel, S. 9. 58 15 finden“63, da sie in diesen Berufen ein festes Einkommen hätte. Auch ihren Werken stand er mitunter kritisch gegenüber. Nach der Uraufführung der „Pioniere in Ingolstadt“ schrieb er ihr am 27. Juni 1929 „ich hatte es satt unseren Namen fast täglich als ergötzliche Zielscheibe von Hohn, Spott oder bedauern zu wissen u. konnte sorglos dann sein wenn mich die Leute überall ansahen wie einen Sünder“. Des Weiteren fügte er hinzu: „…am liebsten wäre es mir schon, wenn einmal Ruhe würde, mit diesen Pionieren, oder dir gelingt es neues zu schaffen „besseres“, wie es die dir wohlwollende Kritik in Dir verborgen glaubt.“ 64. Überhaupt sah er die Schriftstellerei als brotlose Kunst, oft geht es in den Briefen an seine Tochter um finanzielle Probleme, seien es die eigenen (denn auch das väterliche Geschäft bleibt von der Wirtschaftskrise 1929 und den wirtschaftlichen Turbulenzen der folgenden Jahre nicht verschont65) oder die der jungen Autorin66. Er riet ihr, sich eine sichere Stelle mit geregeltem Einkommen zu suchen, teilweise sogar in vorwurfsvollen Ton67, gleichwohl er ihr „ja das Geld mitsamt dem Ruhm scheffelweise wünschen [würde]“68. Aus einem Brief vom 23. März 1932 geht hervor, dass er ihr manchmal Geld sandte69. Nach dem Skandal 1929 mahnte er sie, sich nicht mit der Stadtverwaltung anzulegen, da „ [sie] gleich gar vielleicht einmal eine Unterstützung von der Stadt brauchen würde[st], wenn ich einmal nicht mehr lebe…“70. Selbst von intimen Themen hielt er sich nicht fern und ging mit ihr über ihre Beziehung zu Haindl ins Gericht.71 Dass der Vater allerdings durchaus Interesse an ihren Werken zeigte, davon zeugen die Tatsache, dass er ihren Roman, von dem sie ihm offensichtlich ein Exemplar hatte zukommen lassen, gelesen hat und bei der Rezession nicht mit Lob sparte72, auch wenn er ihn „des Anstandes halber“ nicht an ihre Geschwister, besonders an die junge Hilde, die kurz 63 Briefwechsel, S. 10. Briefwechsel, S. 7/8. 65 Briefwechsel, S. 5/6, 13, 14, 15, 16 und 18. 66 Briefwechsel, S. 5/7, S. 15ff.. 67 Briefwechsel, S. 6. 68 Briefwechsel, S. 8. 69 Briefwechsel, S. 17. 70 Briefwechsel, S. 8. 71 Briefwechsel, S. 9. 72 Briefwechsel, S. 13, S. 17. 64 16 vor der Kommunion stand, weitergegeben hat73. Er schrieb hierüber: „Wenn du nun einmal das Unglück gehabt hast in so jungen Jahren allein u. fern dem Elternhaus in der Blüte deiner Seele u. dann im Denken und Fühlen von Weickert u. Konsorten vergiftet zu werden, so lasse das bitte nicht abfärben an Ella und an Hilde…“ und „… das Buch ist flüssig geschrieben es ist manches gut geschildert aber, ich wurde rot bei manchen Stellen u. nicht jede Familie nicht jede Mutter wird das Buch auf den Tisch legen;…“74. Aus einem früheren Brief geht hervor, dass er auch ihre Radiolesungen hörte.75 Stimmt also das Bild vom herzlosen Vater, das allzu oft von Heinrich Fleißer gezeichnet wird? Ein strenger Grobian, der sich an seinem 75. Geburtstag noch mit dem Schmiedehammer über der Schulter ablichten ließ?76 Betrachtet man seine Briefe genauer, so kann man an einigen Stellen einen milderen, fast liebevollen Ton erkennen, den Ton eines mittlerweile in die Jahre gekommenen etwas mürrischen „Urbayern“, der sich sehr wohl um seine Tochter sorgt. Einer Ermahnung an Marieluise schickte er beispielsweise hinterher: „Nun ich weiß ja eigentlich nichts, im ungewissen denke ich immer leichter das schlimmere, es kann ja auch anders sein,… das würde ich dir wünschen von ganzem Herzen“77. Er machte sich Gedanken um sein Alter und seine Gesundheit, immer wieder ist auch seine Furcht vor dem Tod zu spüren, bei der zugleich Sorge um die Zukunft seiner Kinder mitschwingt78. Marieluise Fleißer selbst zeigte im Alter ein positives Bild von ihrem Vater. Im Programmheft zum „Starken Stamm“79 schrieb sie: „Mein Vater Heinrich… war als echter Fleißer zu den Wallungen jäher Heftigkeit ziemlich geneigt, hielt sich aber, weil er dies wusste, aus Auseinandersetzungen gerne heraus. Im ganzen war er eine beschauliche 73 Briefwechsel, S. 16/17. Briefwechsel, S. 16/17. 75 Briefwechsel, S. 14. 76 Vgl. Fotographie 10) im Anhang. 77 Briefwechsel, S. 7. 78 Briefwechsel, S. 6, 8, 10, 14, 16 und 18. 79 Marieluise Fleißer, Der Starke Stamm, Aufsatz im Programmheft zur Uraufführung des gleichnamigen Theaterstückes an den Münchner Kammerspielen 1950, veröffentlicht in der Schriftenreihe der Marieluise Fleißer Gesellschaft e.V., Heft 3, Ingolstadt 2001, im Folgenden zitiert als „Prg.“. 74 17 Natur - im Gegensatz zum handelnden Großvater - nannte sich einen Philosophen, wurde übrigens als junger Mensch von der Zivilisation erfaßt und schwärmte für Salome und Oscar Wild.“80 Sie schilderte ihn als sportlich, da er in seiner Jugend gerne Eisenbahn und Rad gefahren war und betonte sein charmantes Verhalten gegenüber den Frauen. Über sein Verhältnis zu seiner Familie schrieb sie: „Er war nacheinander mit zwei Frauen verheiratet und hat mit jeder von ihnen wunderbar gelebt…Alle seine Kinder hingen mit starker Bindung an ihm wie an einer zentralen Sonne.“81 Carl-Ludwig Reichert nennt Marieluise Fleißer ein „Vaterkind“82, sie durfte bei seiner Arbeit in der Werkstatt zusehen, ihn manchmal nach München begleiten83. Ihre Schwester Ella Gültig berichtete später: „…darf sie [=Marieluise], während ihre Geschwister im Haushalt helfen, am Fenster sitzen und ihren Gedanken nachhängen.“84 Aus ihren Werken geht hervor, dass ihr Vater eine starke Persönlichkeit hatte85 und sicherlich dazu beitrug, das Bild des „unbeugsamen, dominanten Mannes“ zu prägen, der sich in den Stücken der Autorin finden lässt, seinen Kindern gegenüber zeigte er sich jedoch als durchaus fürsorgender Vater86, was die emotionale Sprache in den Briefen an seine Tochter belegt. Heinrich Fleißer lebte bis zu seinem Tod am 04.11.1946 in Ingolstadt. 3 . Verhältnis Marieluises zur Mutter Anna Fleißer So viel man aus Fleißers Werken über ihren Vater erfahren kann, so vage und diffus bleibt doch das Bild der Mutter, über die sich nur in der Erzählung „Kinderland“ Informationen finden lassen. Nach der 80 Prg., S. 25. Prg., S. 25. 82 Vgl. Carl-Ludwig Reichert, Marieluise Fleißer, dtv, München, 2001. 83 Vgl. Marieluise Fleißer, Kinderland, 1950. 84 Aus einem Interview mit Ella Gültig, geführt von Andrea Biberger im Rahmen der Magisterarbeit „Nur Fluchtwege im Kopf“, Familie und Schule, Erziehung und Bildung im Werke von Marieluise Fleißer, Landshut, 1998. 85 Vgl. Marieluise Fleißer, Kinderland, 1950, S. 32/33, Prg. S. 25f.. 86 Vgl. Briefwechsel; Marieluise Fleißer, Kinderland, 1950, S. 35, 36 und 40. 81 18 Eheschließung von Marieluises Eltern hatte Anna Fleißer bereits zwei Jahre vor Marieluise die Zwillinge Anna Theresa und Heinrich Andreas zur Welt gebracht. Der Sohn starb schon im Februar 1901 an Rachitis, ein Erlebnis, das die Mutter offenbar schwer belastete. Der Vater soll sie mit den Worten getröstet haben: „Sei still ich mache Dir wieder einen Buben.“87. Statt des ersehnten Stammhalters wurde jedoch im November desselben Jahres Marieluise geboren. Vielleicht hat dies die Beziehung der Mutter zu ihrem Kind von Anfang an belastet, Fleißer selbst berichtet zumindest kaum über ihre Mutter. Häntzschel nennt es „auffällig, dass es in Marieluise Fleißers literarischem Werk nicht eine einzige liebevolle Mutter gibt, dafür mehrere schon verstorbene oder äußerst unsympathische.“88 Andererseits starb die Mutter bereits 1918 während Marieluises Schulzeit in Regensburg an einem plötzlichen Grippetod, sodass die Zeit, die die beiden miteinander verbrachten, eher kurz war (man beachte, dass Fleißer ab 1914 in Regensburg war). Dass ihr Tod für die damals erst 17-Jährige äußerst schmerzlich gewesen sein muss, davon zeugt ein Kommentar im Nachwort ihrer „Gesammelten Werke“, wo sie bei der Erinnerung an das Weihnachtsfest schrieb: „…die Mutter war es, von der die Wärme und das Wunder strömten, die mit den Engeln auf du und du stand; niemand konnte Stille Nacht singen wie sie mit zarter, etwas zerscherbter Stimme, in der Glaube, Liebe und Hoffnung zitterten. Die gute Mutter, sie sparte ein Jahr lang dafür, es war ihr Fest, und als die Mutter nicht mehr lebte, war es kein Weihnachten mehr.“89. Die wenigen Erinnerungen sind also durchaus positiv. Auch wenn sie die Mutter in „Kinderland“ erwähnt, geht es um das Weihnachtsfest. Dort schildert sie, wie die Kinder der Mutter bei den Weihnachtsvorbereitungen zur Hand gehen. Marieluise ist erneut die Privilegierte, wie schon beim Vater, darf heimlich beim Schmücken des Baumes helfen.90 Die Mutter erscheint die ganze Erzählung hinweg liebevoll, von Strenge oder gar körperlicher Züchtigung ist nicht die Rede. Nur einmal in Marieluises Kindheit schien ihr dieses Mittel der elterlichen Erziehung 87 Mat., S. 411. MFB, S. 22. 89 Marieluise Fleißer, Gesammelte Werke, Hrsg. Günther Rühle, Frankfurt am Main, 1972, Bd. 4, S. 51. 90 Vgl. Marieluise Fleißer, Kinderland, 1950, S. 41ff., im Folgenden zitiert als „Kl.“. 88 19 widerfahren zu sein, als sie und ihre Geschwister nicht pünktlich nach dem Gebetläuten zu Hause waren, ein in der Familie Fleißer offenbar strenges Gebot.91 Ansonsten ist Marieluise offenbar unbeschwert herangewachsen. Sie selbst berichtet in „Kinderland“: „Es war eine intime kleine Welt, die noch nicht versehrt war. Alle traurigen Dinge waren noch Rätsel, die man nicht auf sich selber bezog.“92 Marieluise spielte offensichtlich viel auf der Straße mit anderen Kindern der Nachbarschaft93, weshalb die Mutter über den „Gassenbesen“94 schimpfte und damit wahrscheinlich den Anreiz zu Fleißers gleichnamiger Erzählung gab. Die Religiosität der Familie spiegelt sich ebenfalls in Fleißers Kindheitserinnerungen wider, sei es im offensichtlich hohen Stellenwert, den christliche Feste wie etwa Weihnachten im Familienalltag einnahmen oder den zahlreichen Kirchenbesuchen in der Adventszeit.95 4 . Verhältnis Marieluises zu ihren Geschwistern Marieluise Fleißer hatte insgesamt sechs Geschwister, von denen eines, der ältere Bruder Heinrich Andreas, im Frühjahr vor ihrer Geburt starb. Seine Schwester Anna Theresia Fleißer (geb.: 07.03.1899) war das älteste Kind der Familie, dann folgten Louise Marie (1901), Henriette Franziska (1903), Heinrich Christian (1907) und Gabriele Maria (1909). Nach dem Tod seiner ersten Frau Anna im Jahre 1918 heiratete Heinrich Fleißer am 19.10.1921 das ehemalige Dienstmädchen der Familie, Maria Werler. Diese war zum damaligen Zeitpunkt nur zwanzig Jahre alt, also im selben Alter wie ihre Stieftochter Marieluise. Aus dieser Ehe ging 1923 noch die Nachzüglerin Hildegard Maria hervor96. Über Marieluises Verhältnis zu ihren Geschwistern ist wenig bekannt. In ihren Erzählungen tauchen sie zwar an einigen Stellen auf (etwa in 91 Kl., S. 37, 39. Kl., S. 34. 93 Kl., S. 36; Marieluise Fleißer, Gassenbesen in Ingolstadt, 1929/1930. 94 Kl., S. 36. 95 Kl., S. 39. 96 Heft, S. 42. 92 20 „Kinderland“97), eine namentliche Nennung gibt es jedoch nie. Auch in ihrer Autobiographie in den „Materialien“ bleibt sie diesbezüglich vage98. Wie bereits oben angedeutet, scheint Marieluise das Lieblingskind ihres Vaters gewesen zu sein, in späteren Interviews äußerten sich ihre Geschwister allerdings durchweg positiv über Marieluise, vor allem ihre Schwester Gabriele Gültig, genannt „Ella“99. Aus dem Briefwechsel zwischen Marieluise und ihrem Vater geht der Werdegang der einzelnen Fleißerkinder hervor: Die Älteste, Anna, trat als Schwester Maria Fidelis in den „Covent of the Holy Cross“ ein und ging anschließend nach Namibia, wo sie in Aliwal North als Missionarin und Lehrerin tätig war. Kurz vor ihrem Tod im Jahre 1950 überfielen sie Fiebervisionen, im Delirium schrieb sie mehrere Briefe an Marieluise, in denen sie ihre Kindheit rekapitulierte. Henriette, genannt „Jetty“, heiratete einen Lokomotivführer, „Ella“ arbeitete als Angestellte bei der Vereinsbank in Ingolstadt. Marieluises einziger Bruder Heinrich absolvierte ebenso wie sie selbst das Gymnasium, schloss dieses mit guten Noten ab und bekleidete später nach anfänglicher Arbeitslosigkeit zu Zeiten der Wirtschaftskrise eine leitende Position bei der Firma Siemens. Hilde, die Jüngste, übernahm das Eisenwarengeschäft100. 97 z. B. Kl., S. 38, 40, 41ff.. Mat., S. 411/412. 99 Vgl. Interviews von Gabriele Gültig mit Andrea Biberger und Christine Zehelein im Rahmen derer Magisterbzw. Facharbeiten. 100 Heft, S. 11, 14 und 16; Mat. S. 411/412. 98 21 V. Schulzeit101 1. in Ingolstadt a) An der Werktagsschule Im Jahre 1907 trat Marieluise Fleißer im Alter von fast sechs Jahren in die städtische Volksschule, damals Werktagsschule genannt, in Ingolstadt ein102. Dort besuchte sie die Klasse Ia der Klassenlehrerin Anna Strauber. Das Schuljahr war viergeteilt, wobei in jedem Quartal Einzelnoten vergeben wurden, die am Jahresende zu einer Gesamtnote verrechnet wurden. Von den 49 Schülerinnen war sie mit einem Notendurchschnitt von 1,17 die Klassenbeste103, eine Leistung, die sie im darauffolgenden Jahr in der zweiten Klasse von Sr. Bonifazia Schiebel mit einem Notendurchschnitt von 1,03 sogar noch verbessern konnte. Im ersten Schuljahr hatte sie nur fünf Fehltage, im zweiten wahrscheinlich auf Grund einer längeren Krankheit 31.104 Die Autorin schien sich dabei bereits damals vor allem in den Fächern Deutsch und Aufsatz hervorzutun. Anlässlich eines Volksfestes in Ingolstadt schrieb sie ein kleines Gedicht, an welches sich eine Lehrerin auch nach sechzig Jahren noch erinnern konnte105. Interessant dabei ist, dass Marieluise als Kind viel gelesen haben muss. In „Kinderland“ berichtete sie über ihre Ausflüge in die Volksbücherei, wo sie sich ihre Lektüre auslieh. Dort schrieb sie: „ `Was möchtest du denn haben?´, fragte er [= der Bibliothekar] mich… `Am liebsten ein dickes [Buch]´, sagte ich schlicht und wies das dünne Bändchen Gockel, Hinkel und Gackeleia, das er mir eigens ausgesucht hatte, mit Entrüstung zurück, das hatte ich viel zu schnell ausgelesen.“106 101 Für Allgemeine Informationen zur Mädchenbildung zu Beginn des 20. Jahrhunderts siehe: Puhlmann Angelika, Mädchenerziehung in der bürgerlichen Gesellschaft, Köln, 1919; Hopf Caroline, Frauenbewegung und Pädagogik-Gertrud Bäumer zum Beispiel, Bad Heilbronn, 1997; Hiltrud Häntzschel und Hadumod Bußmann, Bedrohlich gescheit, Ein Jahrhundert Frauen und Wissenschaft in Bayern, Beck Verlag, München, 1997 sowie „Nur Fluchtwege im Kopf“, Familie und Schule, Erziehung und Bildung im Werk von Marieluise Fleißer“, Magisterarbeit von Andrea Biberger, Landshut, 1998, S. 9-11, in Folgenden zitiert als „Magarb.“. 102 Vgl. „Die Schulzeit der Marieluise Fleißer in Ingolstadt“, Facharbeit von Christine Zehelein, Ingolstadt 1994, im Folgenden zitiert als „Farb.“. 103 Zu den Einzelnoten vgl. Zensurbücher der dt. Werktagsschule zu Ingolstadt von 1907/08 und 1908/09, Stadtarchiv Ingolstadt, AV I 130a, Kopien im Anhang. 104 Siehe ebenda. 105 Farb., S. 14. 106 Marieluise Fleißer, Kinderland, 1950, S. 36. 22 b) An der Gnadenthalschule 1909 wechselte Marieluise an die private Vorschule der Höheren Töchterschule des Klosters Gnadenthal, anschließend besuchte sie bis 1914 die Gnadenthalschule selbst, die in der Nähe des elterlichen Wohnhauses in der Kupferstraße lag. Auch dort erbrachte sie hervorragende Leistungen, war an der Vorschule mit einem Notendurchschnitt von 1,37 in der dritten und 1,26 in der vierten Klasse Zweit- bzw. Klassenbeste. An der Höheren Mädchenschule belegte sie mit Durchschnitten von 1,37 (1.Klasse), 1,42 (2.Klasse) und 1,05 (3.Klasse) jeweils den ersten Platz im Vergleich mit ihren circa je 40 Mitschülerinnen107. Dass sie trotz etwas schlechterer Zensuren Klassenbeste blieb, zeugt davon, dass sie den offenbar gestiegenen Ansprüchen gewachsen war. Wieder schienen ihre besten Fächer - neben Kunst - Deutsch und Aufsatz zu sein108. Was die Atmosphäre an den Gnadenthalschulen betraf, so lässt sich festhalten, dass dort großer Wert auf die individuelle Bildung der Schülerinnen sowie auf deren religiöse Erziehung gelegt wurde.109 Das Erziehungs- und Leitbild war geprägt von den Grundsätzen Gleichheit und Gleichberechtigung und der Bemühung, eine familiäre Lernatmosphäre zu schaffen. So scheinen sich die Schwestern beispielsweise im besonderen Maße der Jüdinnen der Stadt angenommen zu haben, um sie in das Stadtleben zu integrieren und ihnen eine Chance auf Bildung zukommen zu lassen.110 Dass es allerdings gleichwohl ein Privileg war, Mitglied der traditionsreichen Schulgemeinschaft zu sein, das beweist die Aussage von Marieluises Schwester Gabriele Gültig „Ja, des war scho was b´sonders, wenn ma´aufs Gnadenthal ganga is´“111. 1827 auf Weisung Ludwigs des I. mit dem Auftrag zur „Erziehung und Bildung der weiblichen Jugend“, insbesondere aber zur Erteilung des Religionsunterrichtes, gegründet, befreiten die Gnadenthalschulen das 107 Vgl. Farb., S. 12-14, Zensurbücher der Höheren Töchterschule des Klosters Gnadenthal, 1909/10 bis 1913/1914, Stadtarchiv Ingolstadt. 108 Vgl. Farb., S. 13. 109 Vgl. Farb., S. 12. 110 Vgl. Farb., S. 12. 111 Vgl. Farb., S. 9. 23 gleichnamige Kloster, das zwei Jahre darauf wiedereingerichtet wurde, aus der misslichen Lage der Säkularisation nach 1803. Der Bau des Schulgebäudes, in dem ab 30. September 1830 404 Schülerinnen sogenannten „Elementarunterricht“ durch die Schwestern erhielten, dauerte von März bis August 1830. Durch den großen Erfolg der Gnadenthalschulen stieg die Schülerzahl in den nächsten dreißig Jahren auf 738 an, 1914 wurden bereits 2227 Mädchen dort unterrichtet.112 Die steigenden Schülerzahlen machten ständige Neu- und Umbauten von Nöten, so entstand auch das sog. „Elisabethhaus“, in dem Marieluise Fleißer untergebracht war113. 1900 wurde die Vorschule, welche Marieluise besuchte, 1913 ein Lehrerinnenfortbildungsseminar sowie 1914 eine Kochschule eingerichtet. Die große Bedeutung der Schule für die Stadt geht aus den zahlreichen Nennungen im „Ingolstädter Tagblatt“, der Lokalzeitung, hervor. Man lobte die „vorzügliche Schulung“ sowie die Tatsache, dass die Schülerinnen „allseitig und praktisch gebildet“ seien und „mit so viel Liebe und Fleiß unterrichtet“ werde114. Der Ingolstädter Bürgermeister Doll hob anlässlich der 50-Jahrfeier der Klosterschulen im Jahre 1880 ausdrücklich deren Bedeutung für die Stadtgemeinde hervor115. Ihren guten Ruf hatte die Schule sicherlich der erstklassigen Bildung zu verdanken, die den Mädchen dort zu teil wurde. Neben den „Elementarfächern“ wie Deutsch oder Mathematik wurden noch Zusatzfächer wie Englisch, Stenographie, Buchführung und sogar die Naturwissenschaften Physik und Chemie, für die eigens neue Räume angebaut werden, unterrichtet. Allerdings war dies mit einem zusätzlichen Aufpreis von 30 bzw. 10 Mark zum üblichen Schulgeld von 80 Mark verbunden116. Daneben wurde viel Wert auf die kulturelle Bildung der Schülerinnen gelegt. Wie eine Auswertung der Jahresberichte der Gnadenthalschulen von 1904-1914 ergibt117, besuchten die Schülerinnen mehrere 112 Vgl. Farb., S. 8. Zur genaueren räumlichen Situation an den Gnadenthalschulen vgl. Fl.- Dok. I, 313, Stadtarchiv Ingolstadt, Kopie im Anhang. 114 Siehe Ingolstädter Tagblatt, 1909, Nr. 237, S. 9; Ingolstädter Tagblatt, 1910, Nr. 156, S. 3f. und Ingolstädter Tagblatt, 1911, Nr. 158, S. 3f.. 115 Vgl. Festschrift zur Jahrhundertfeier der Gnadenthalschulen, S. 14. 116 Farb., S. 10. 117 Siehe Jahresberichte der Gnadenthalschulen von 1904-1914, Stadtarchiv Ingolstadt sowie Farb., S. 10f.. 113 24 Rezitationsvorträge deutscher Dichter, sowie zwei kunstgeschichtliche Vorträge mit Lichtbildführung über die italienische Renaissance im Februar und März 1913. Des Weiteren standen Konzert- sowie Museums- und Theaterbesuche auf dem Programm, die für die höheren Klassen zweimal pro Jahr Pflicht waren. Um den Zusammenhalt unter den Mädchen zu stärken, wurden gemeinsame Ausflüge nach Ingolstadt und Umgebung, etwa in den Geisenfelder Forst oder das Altmühltal, unternommen, die bei den Jugendlichen großen Anklang fanden118. Zudem war die Schule bemüht, das politische Interesse der jungen Frauen zu wecken und ihren Patriotismus zu stärken. Wie aus den Jahresberichten von 1913 und 1914 hervorgeht, besuchten die Schülerinnen die Festspiele zum Völkerschlachtsdenkmal bei Leipzig im Ingolstädter Lichtspielmuseum im Oktober 1913, am 14. Juni des selben Jahres wurden die Erhebung Deutschlands zum Kaiserreich und das Regierungsjubiläum des Kaisers feierlich begangen sowie am 17.01.1914 die Thronbesteigung Ludwigs III. festlich inszeniert. Oberin Canisia Adlhoch, zu Marieluises Schulzeit die Direktorin der Schule, war eine glühende Verehrerin Seiner Kgl. Majestät des Prinzregenten Luitpold, sodass alle seine Geburts- und Namenstage gefeiert werden und ein Requiem mit anschließender Trauerfeier anlässlich seines Todes im Dezember 1912 stattfand119. Natürlich kam auch die Vermittlung christlicher Werte nicht zu kurz: so wurden etwa an Weihnachten Spenden gesammelt oder die Beschenkung armer Kinder organisiert120. Großer Beliebtheit seitens der Schülerinnen erfreute sich der seit 1912 angebotene „Benimmunterricht“ (leider ist nicht festzustellen, ob Marieluise diesen besuchte oder nicht) sowie das kostenlos angebotene Schulspiel, an dem die Autorin teilnahm. Im Rahmen dieses Wahlfaches wurden die zahlreichen Weihnachts- und Faschingsfeiern der Schule sowie das alljährliche Mai- und Schlussfest organisiert, welche der Öffentlichkeit zugänglich waren und dort auf breiten Zuspruch stießen. So nannte die Ingolstädter Zeitung vom 22. Dezember 1912 das von den Schülerinnen bei der Weihnachtsfeier aufgeführte Stück „Wie Klein-Else 118 Vgl. Schickel A., 150 Jahre Gnadenthalschulen, Geschichte und Erbe. Farb., S. 11. 120 Ingolstädter Zeitung, Nr. 294, 1912, S. 2, Stadtarchiv Ingolstadt, Fl.- Dok. I, 240 – 2. 119 25 das Christkind suchen ging“121 „Eine Augenweide für jeden, der sich ein Stück Kindessinn erhalten“ und schrieb: „Wer hätte nicht seine Freude haben sollen an diesem an Handlung und Abwechslung reichen kindlichen Spiele!“122. Auch die Weihnachtsaufführung vom darauffolgenden Jahr, die Inszenierung des Krippenspiels „Thalita“, erntete positive Kritik123. Marieluise Fleißer wurde dabei zweimal namentlich als Mitglied der Theatergruppe erwähnt: einmal erschien sie in als Meerjungfrau (1912), im Jahr darauf spielte sie in „Thalita“ sogar die Hauptrolle. Der Verfasser des Artikels würdigte an dieser Stelle ausdrücklich „…Louise Fleißer als „Thalita“, die durch ihr hingebungsvolles, aus tiefster Seele geschöpftes Spiel den Zuschauer fesselte[n]“124. Darüber hinaus tauchte die junge Marieluise in einem Artikel des Ingolstädter Tagblattes von 1914 auf: dort heißt es „sehr schön und dramatisch vollendet [kam] … Le Coeur de Jeanne d´Arc (Luise Fleißer) zum Vortrag:“125 Auch privat war die Autorin bereits als Kind vom Theater fasziniert. In einem späteren Interview berichtete sie: „Ich habe schon als Kind häufig Puppentheater nach Märchen, ohne jede Vorbereitung und aus dem Stegreif gespielt. Ich habe dafür gegen einen Pfennig Eintritt die Kinder der Kupferstraße eingeladen und hatte immer soviel Kinder bei mir, dass ich sie kaum auf den Stühlen unterbringen konnte.“126 Hieran lässt sich ermessen, dass in Ingolstadt sicherlich ein hervorragender Grundstein für die umfassende Bildung der Autorin gelegt wurde, die später in Regensburg am Realgymnasium der Englischen Fräulein den letzten Schliff erhalten hat. Ohne ihre Ausbildung an den Gnadenthalschulen hätte Marieluise vermutlich nie die Aufnahmeprüfung dort bestanden. Auf diese angesprochen antwortete die damals Dreizehnjährige keck „…warum soll ich mich fürchten, ich bin ja gescheit.“127, was zeigt, dass die Dichterin durchaus über die ihr zuteilwerdenden Privilegien Bescheid wusste. Freilich erwarteten die Gnadenthaler Schwestern im Gegenzug für die hervorragende Bildung, die sie den Schülerinnen vermittelten - ganz nach 121 Ebenda. Ebenda. 123 Ingolstädter Zeitung, Nr. 289, 1913, S. 3, Stadtarchiv Ingolstadt, Fl.-Dok. I, 240 - 1. 124 Ebenda. 125 Ingolstädter Tagblatt, Nr. 161, 1914, S. 3. 126 Fl.-Dok. 131a, S. 4, Stadtarchiv Ingolstadt. 127 Farb., S. 14. 122 26 damaliger Tradition - auch Respekt, Disziplin, Fleiß sowie gutes Benehmen von den Mädchen als Gegenleistung, was daran ersichtlich wird, dass in den Jahresberichten ausdrücklich erwähnt wird, dass Schülerinnen der zweiten, dritten und fünften Klassen schlechte Betragensnoten erhalten hätten , da sie „vorübergehend einen Verkehr, der nicht zu dulden, ist pflogen“128; ein Preis, den die jungen Frauen bereit sein mussten zu zahlen und der auch Marieluise später in Regensburg immer wieder Schwierigkeiten bereitete. 128 Farb., S. 11. 27 2. am Institut der „Englischen Fräulein“ in Regensburg a) Fluch oder Segen? - Die ambivalente Beurteilung von Fleißers Schulzeit in Regensburg 1914 wechselte Marieluise an das Institut der „Englischen Fräulein“ in Regensburg. Die Ursachen hierfür waren so banal wie einfach: am Ende des 19. Jahrhunderts war die Ausbildung für Frauen in Bayern nicht einheitlich geregelt. Neben der Volks- existierten nur die Höhere Töchter- oder die Mädchenschule als Bildungseinrichtung, Lehrpläne und Abschlüsse waren nicht einheitlich organisiert, sodass Frauen in der Regel nicht die Möglichkeit hatten, zum Hochschulstudium zugelassen zu werden129. Ihre Schulzeit sollte sie vielmehr auf ihre Rolle als Gattin, Hausfrau und Mutter vorbereiten und dafür notwendige Kenntnisse, z. B. auf dem Feld von Konversation und Religiosität, vermitteln. Eine der wenigen Berufsaussichten für junge Mädchen war der Beruf der Lehrerin, in dem auch Heinrich Fleißer, wie bereits erwähnt, seine Tochter gerne gesehen hätte130. Eine Verbesserung der weiblichen Bildungssituation trat erst ab dem Jahre 1911 mit einer einheitlichen Schulordnung für Höhere Mädchenschulen ein, die auch die Einführung eines zum Hochschulstudium berechtigenden Abiturs, wie es 1915/1916 erstmals am Institut der „Englischen Fräulein“ in Regensburg abgelegt wurde, möglich machte131. Da es in Ingolstadt nur ein Knabengymnasium gab und Marieluise somit die Möglichkeit eines Abiturs dort verwehrt geblieben wäre, hatte sie keine andere Wahl als den Wechsel an das klösterliche Institut in Regensburg132. Die folgenden sechs Jahre, die die spätere Autorin am dortigen Internat verbrachte, gehören wohl neben ihrer Münchner Zeit zu den umstrittensten Perioden ihres Lebens. Immer wieder ist in der Fleißerbiographik von einem `Horrorinstitut´ die Rede, das Fleißer selbst einen „steifleinernen Kragen“133 nannte. Sie sprach von „Scheuklappen der Internatsbildung“134, rigiden Regeln und rigorosen 129 Magarb., S. 9. Mat., S. 415. 131 Magarb., S. 9. 132 Mat., S. 412, MFB, S. 23 und 26. 133 Mat., S. 357. 134 Marieluise Fleißer, Gesammelte Werke, Hrsg. Günther Rühle, Frankfurt a. Main, 1972, Bd. III, S. 312. 130 28 Reglementierungen135 – gerne wird hier als Beispiel die im Internat herrschende Briefzensur genannt, deren Abschaffung die Schülerinnen jedoch 1918 erreichten, und auch die Anekdote über die Lektüre von Kleists „Die Marquise von O…“, auf Grund derer angeblich eine Mitschülerin Fleißers des Internates verwiesen worden sei, weil sie den Inhalt an ihre Kameradinnen weitererzählte, ist fast schon Standard136. In Fleißers Werken finden sich ebenfalls immer wieder Anspielungen auf ihre Schulzeit an der Klosterschule, sei es in Form der oft religiösen und biblisch geprägten Sprache137 oder in zahlreichen Erzählungen wie „Der Apfel“ (1925) und „Die Törin“, (später bekannt als „Arme Louise“ oder „Moritat vom Institutsfräulein“, 1926), der Geschichte „Die Ziege“ (1926/1929), in der sich Fleißer mit der Existenz Gottes auseinander beschäftigte, oder in „Das Mädchen Yella“ (1929) sowie nicht zuletzt in ihrem Roman „Die Mehlreisende Frieda Geier“ (1931), in dem sie in der Figur von Friedas Schwester Linchen dem leidenden Internatszögling ein literarisches Denkmal setzte. Dass sie sich scheinbar eingeengt fühlte im Internat, davon zeugen vielfältigste Berichte und Erwähnungen ihrer Schulzeit. So schrieb sie am 03.01.1972 an Günther Rühle: „Ich habe schon auf der Klosterschule geschrieben, dummes Zeug, Geschichten, die in der Wüste spielten und Gedichte.“138. In einem Interview mit A. Forster sagte sie über „Fegefeuer in Ingolstadt“: „Es [= das Stück] entstand aus dem Zusammenprall meiner katholischen Klostererziehung und meiner Begegnung mit Feuchtwanger und den Werken Brechts. Das hat sich einfach nicht miteinander vertragen“139. Des Weiteren schilderte sie „…es gab die Flucht nicht nach draußen, es gab nur Fluchtwege im Kopf…“140. In „Moritat vom Institutsfräulein“ (1928) heißt es: „Ich wusste nicht, wie man klug ist. Ich wusste bloß, daß ich aufgewachsen bin in einem Kloster und daß alles, was ich dort gelernt habe für mein Leben falsch ist. Ich war erzogen, daß ich 135 Vgl. hierzu: Marieluise Fleißer, Die Mehlreisende Frieda Geier, Roman vom Rauchen, Sporteln, Lieben, und Verkaufen, Kiepernheuer Verlag, Berlin, 1931, S. 91/92. 136 Mat., S. 412. 137 Vgl. hierzu Mat., S. 393 und Magarb., S. 27 und 76. 138 Vgl. Magarb., S. 24. 139 Mat., S. 351. 140 „Das erste Stück“, vgl. dazu Kraft 1981, S. 22. 29 gehorchte. Ich war gewöhnt, daß ich mich nicht verriet. Ich war nicht erzogen, daß ich mich wehrte.“141 Trotz dieser Kritik Fleißers an ihrer Schulzeit in Regensburg, darf ihr Internatsaufenthalt keinesfalls so pessimistisch betrachtet werden, wie sie selbst dies manchmal tat. Häntzschel nennt diese negative Rückschau „freilich einseitig“142 und auch Marieluises Aussage aus einem Brief an ihren damaligen Verlobten Hellmut Draws-Tychsen vom 19.05. 1934 scheint zu beweisen, dass die unerfreulichen Erinnerungen, die sie später an Regensburg hatte, nicht ihre einzigen waren. Darin schrieb sie nämlich, dass sie „gerne ein paar Tage in Regensburg verbringen [möchte], der Stadt meiner Erinnerung vom zwölften bis zum neunzehnten Lebensjahr. Auch an meinen früheren Deutschlehrer, den eine Klassengenossin von mir geheiratet hat, muss ich jetzt oft denken. Dieser war es, der vielleicht ohne es zu ahnen, den Mut in mir frei gemacht hat, den Gedanken eines Broterwerbes auszuschließen und den Sprung in die Kunst zu wagen.“143 Andrea Biberger kommt in ihrer Magisterarbeit zu dem Schluss: „Vielleicht trug gerade jene Zeit [in Regensburg] dazu bei, dass aus dem jungen Mädchen Luise Marie die sensible und ausdrucksstarke Schriftstellerin Marieluise Fleißer wurde, als die sie heute verehrt wird. Ihre Werke wären ohne diese Erfahrung viel ärmer, vor allem, weil ihre Geschichten nie auf reiner Fiktion, sondern stets auf persönlicher Lebenserfahrung basieren. Ihre Erlebnisse als Schülerin in Regensburg haben sie sensibler und kritischer, aber auch verwundbarer und verletzlicher gemacht. Selbst, wenn sie ihr Leben als „zertrümmert“ betrachtet, so zeugt ihr Gesamtwerk in seinem schonungslosen Realismus dennoch von einzigartiger sprachlicher Ästhetik, die einfach und schwierig, schön und schmerzhaft zugleich ist. Trotz aller persönlichen und beruflichen Schwierigkeiten ist es Marieluise Fleißer gelungen ihre „Fluchtwege im Kopf“ als wertvollen Beitrag zur deutschen Literatur in ihrem Gesamtwerk festzuhalten.“144 Auffällig ist auch, dass sich die negative Sicht Fleißers hauptsächlich auf ihre frühen Werke beschränkt und im Alter zumindest teilweise revidiert worden sein muss. So berichtete 141 Mat., S. 357. MFB, S. 27. 143 Marieluise Fleißer, Briefwechsel von 1925-1974, Hrsg. Günther Rühle, Frankfurt a. Main, 2001, S. 200. 144 Vgl. Magarb., S. 76/77. 142 30 ihr Neffe Klaus Gültig, der Betreuer ihres Nachlasses, seine Tante sei als alte Dame wieder eine „eifrige Kirchgängerin“ gewesen und habe jeden Sonntag pflichtbewusst die Heilige Messe besucht, bis ihr dies aus gesundheitlichen Gründen nicht mehr möglich gewesen wäre. Dann habe sie sich sogar eigens von ihrem Pfarrer Dispenz erteilen lassen.145 Dass ausnahmslose Kritik an Fleißers Regensburger Schulzeit zurückgenommen werden muss, zeigt auch die wohl unumstrittene Tatsache, dass die junge Marieluise ohne ihren Internatsaufenthalt höchstwahrscheinlich nie Schriftstellerin geworden wäre, da ihr in diesem Fall nicht nur das Abitur sondern auch ein Hochschulstudium verwehrt geblieben wären. Zudem muss, will man sich ein Urteil über die Zeit am Institut der „Englischen Fräulein“ bilden, die damals gängige Erziehungs- und Unterrichtspraxis, die sich selbstverständlich stark von der heutigen unterscheidet, berücksichtigt werden. Des Weiteren muss man sich vergegenwärtigen, welch hervorragende Bildungsmöglichkeiten, vor allem im Bereich der Naturwissenschaften und der außerschulischen Bildung (wie in den folgenden Abschnitten genauer erörtert werden soll), Marieluise an dieser Schule genießen durfte, ein Umstand, der zur damaligen Zeit für ein Mädchen ja keinesfalls selbstverständlich war und auch ein großes finanzielles Opfer seitens ihrer Eltern verlangte (zu dessen Zahlung Heinrich Fleißer im Fall seiner Tochter allerdings offensichtlich diskussionslos bereit war). Hinzu kommt noch, dass ein solcher Traditionsbruch, wie ihn ein Mädchen mit dem Absolvieren der Abiturprüfung und eines anschließenden Studiums beging, ein gewisses Maß an Selbstbewusstsein und Selbstbehauptung voraussetzte, eine Erfahrung, die Marieluise Fleißer sicher einschneidend geprägt hat und die sie mit Sicherheit später in ihrem Roman in der Rolle der Frieda literarisch verarbeitet hat. So kann man durchaus zu dem Schluss kommen, dass ihre Schuljahre in Regensburg keinesfalls nur „Folter und Quälerei“ für die Autorin gewesen sein müssen, sondern anstelle des oft genannten `Fluches´ mitunter vielmehr einen `Segen´ für ihr Leben und Schreiben dargestellt haben146. 145 146 Vgl. Fl.-Dok. I, 98-48, Stadtarchiv Ingolstadt. Vgl. hierzu auch MFB, S. 23 und 26. 31 b) Zur Geschichte der „Englischen Fräulein“ in Regensburg147 Ähnlich wie Marieluises erste Schule, die Höhere Töchterschule des Gnadenthalklosters Ingolstadt, kann auch das Institut der Englischen Fräulein in Regensburg auf eine lange Tradition zurückblicken und ist seit seiner Gründung im Jahre 1903 eng mit der Domstadt und deren Bevölkerung verbunden148. Ende März 1904 bezogen die Schwestern einen Neubau an der Kumpfmühler Straße, der im April desselben Jahres eingeweiht wurde.149 In den beiden folgenden Jahren stiegen die Schülerzahlen stark an; im ersten Jahr nach der Gründung verdoppelten sie sich sogar von 75 auf 150 Schülerinnen. Als Marieluise Fleißer 1914 an die Schule eintrat, besuchten bereits 336 Mädchen das Institut, die in 17 Klassen von 42 Lehrern unterrichtet wurden.150 Das stetige Anwachsen der Schülerinnenzahlen machte immer wieder Um- und Neubauten nötig (darunter die hauseigene Institutskirche, deren Grundstein 1925 gelegt wurde), um das Schulgebäude an die veränderten Unterrichtsbedürfnisse anzupassen, nach dem zweiten Weltkrieg, während dessen die Schule ab 1939 zwangsgeschlossen wurde, musste das stark beschädigte Gebäude151 sogar fast vollständig renoviert werden. 1990 kam es zur Auflösung des Internates152. 1993 übernahm die Diözese Regensburg die Trägerschaft für die St. Marien-Schulen und sicherte damit deren Fortbestand. Zum Zeitpunkt des 100 - jährigen Schuljubiläums 2003, das mit groß angelegten Feierlichkeiten begangen wurde, besuchten 1113 Mädchen im Alter 147 Vgl. Schulchronik anlässlich des 100-jährigen Gründungsjubiläums der „Englischen Fräulein“: Chronik 1903-2003 von Dorothea Adler und Heidrun Lanzendörfer, Hrsg. St.-Marien-Schulen der Diözese Regensburg, Regensburg, 2003, im Folgenden zitiert als „Chr.“. 148 Erste Versuche der „Englischen Fräulein“, sich in Regensburg zu etablieren, reichen laut Klosterchronik bis zum Jahr 1719 zurück, in dem die Mary-Ward Schwestern erstmals Kontakt zu der Reichsstadt aufnahmen, jedoch bei der Schulgründung an den dortigen konfessionellen Gegensätzen scheiterten. 1901 wandte sich dann der Regensburger Bischof Ignatius von Senestry auf Drängen der Bevölkerung an das Mutterhaus der Englischen Fräulein in Nymphenburg mit der Bitte eine „Privat-Unterrichtsanstalt“ in der Donaustadt zu errichten. Nach anfänglichen Zögern stimmte die Generaloberin der Englischen Fräulein, Elise Blume, schließlich zu und erwarb 1903 das ursprüngliche Schulgelände an der Kumpfmühlerstraße 5 vom Fürstlichen Haus Thurn und Taxis. Mit tatkräftiger finanzieller Unterstützung konnte bereits am 26. Juli desselben Jahres der Grundstein für das Schulgebäude gelegt werden, das erste Schuljahr fand schon am 18. September mit einem Gottesdienst in der Emmeramskirche in Regensburg seinen Anfang.; vgl. hierzu auch Chr. S. 15, 21 und 22. 149 Vgl. Chr., S. 24. 150 Vgl. Chr., S. 120. 151 in dem seit 1989/90 Realschülerinnen und Gymnasistinnen zusammen auf dem Areal, das heute in der Margaretenstraße liegt unterrichtet werden. 152 Vgl. Chr., S. 117-119. 32 zwischen 10 und 20 Jahren die Schule153, die mittlerweile ihren festen Platz im Stadtbild gefunden hat. c) Atmosphäre und Erziehungsgrundsätze der Schulen zur Schulzeit Fleißers154 Die Schule gliederte sich damals in die Höhere Mädchenschule mit sechs aufsteigenden Klassen, für deren Besuch das erfolgreiche Absolvieren der 4. Klasse der Volksschule, das Bestehen einer Aufnahmeprüfung sowie einer achtwöchigen Probezeit vorausgesetzt wurden, sowie in die zweijährige Frauenschule, in die erfolgreiche Absolventinnen der sechsten Klasse der Höheren Mädchenschule eintreten und sich dort zur Erzieherin ausbilden lassen konnten. Daneben existierte seit 1911 auch das sogenannte Realgymnasium, in welches Schülerinnen nach erfolgreichem Besuch der dritten Klasse der Höheren Mädchenschule sowie dem Bestehen einer Aufnahmeprüfung und einer achtwöchigen Probezeit aufgenommen wurden und welches in fünf, ab 1915, in sechs Klassen zum Abitur, „Absolutorial“ genannt, führte. Das jährliche Schulgeld betrug 100 Mark an der Höheren Mädchen- und an der Frauenschule und wurde am 15. des jeweiligen Monats im Voraus bezahlt; Schülerinnen der Realgymnasialkurse hatten im ersten Jahr 200, in den folgenden Klassen 250 Mark pro Jahr zu entrichten. Des Weiteren wurde eine Einschreibegebühr von zwei Mark an der Höheren Mädchenschule und vier Mark am Realgymnasium erhoben. Schülerinnen des Realgymnasiums mussten zudem zusätzlich drei bis fünf Mark pro Semester für „physikalische und chemische Schülerübungen“ bezahlen155. Diese Summe aufzubringen wird Heinrich Fleißer nicht leicht gefallen sein, zumal da er nach dem Tod seiner Frau alleine die Werkstätte in der Kupferstraße betreiben musste und in seinen späteren Briefen auch immer wieder von finanziellen Schwierigkeiten berichtet wird (vgl. Gliederungspunkt IV, 2). Umso erstaunlicher, dass er seiner Tochter die kostspielige Ausbildung in Regensburg ermöglicht hat, anstatt sie nach dem 153 154 Vgl. Chr., S. 120. Einen aufschlussreichen Einblick in das Umfeld, in dem Marieluise während ihrer Schulzeit in Regensburg herangewachsen ist, bieten die alten Jahresberichte der Schule sowie die anlässlich des 100-jährigen Schuljubiläums verfasste Chronik von 2003. 155 Vgl. Jahresbericht der Englischen Fräulein von 1914/1915, S. 5/6. 33 Verlust seiner Ehefrau als Haushaltshilfe zu sich nach Ingolstadt zurückzuholen, was von Marieluise als zweitältester Tochter durchaus zu erwarten gewesen wäre. Aus einem Bericht von 1903 gehen Wesen und Ziel der Töchterschule hervor, aus denen das Erziehungsideal zur damaligen Zeit deutlich wird. Dort heißt es: „Das Institut…stellt sich die Aufgabe, der weiblichen Jugend eine religiössittliche Erziehung sowie eine den Anforderungen der Zeit entsprechende allgemeine höhere Ausbildung zu vermitteln.“156 Hierzu gehören neben dem Unterricht auch ein geregelter Arbeitsalltag mit genauen Angaben über Leistungsnachweise, Hausaufgaben, Studier- und Freizeit der Schülerinnen, sowie eine sittlich-religiöse Erziehung, im Rahmen derer die Schülerinnen jeden Monat auch Noten über Fleiß, Betragen, Ordnung und Anstand erhalten157. Des Weiteren wurde Wert auf eine künstlerische und musische Ausbildung der Zöglinge gelegt. So konnten die Schülerinnen für acht Mark pro Monat zusätzlichen Musikunterricht belegen, von den Mädchen angefertigte Zeichnungen oder Handarbeiten wurden den Eltern in regelmäßigen Abständen im Rahmen von Ausstellungen präsentiert158. Ein Internatsprospekt von 1904 nennt als Erziehungsleitfaden: „…katholischen Mädchen aus besseren Ständen eine ihrer künftigen Lebensstellung entsprechende Erziehung und Ausbildung zu geben und sie nicht nur mit nützlichen Kenntnissen auszustatten, sondern auch ihr Gemüt zu veredeln und sie anzuleiten zur Ordnung und edlem Anstand“159. Zudem werde „dem körperlichen Wohle und der physischen Entwicklung der Zöglinge die liebevollste Aufmerksamkeit und Sorgfalt zugewendet“. „Die geregelte Tagesordnung, die kräftige Kost, der tägliche Spaziergang, Bewegung und Spiel im freien während der längeren Unterrichtspausen und namentlich die freie, gesunde Lage des schönen Institutsgebäudes, all das kann für die gedeihliche Entwicklung der Kinder nur günstig sein.“160. Auch die umfassende Lehr- und Schülerinnenbibliothek sowie die Sammlung an Veranschaulichungsmitteln für den naturwissenschaftlichen Unterricht, die - 156 Vgl. Chr., S. 23. Vgl. Chr., S. 23/24. 158 Vgl. Chr., S. 24/29. 159 Vgl. Chr., S. 28. 160 Vgl. Chr., S. 28/29. 157 34 wie in den Jahresberichten akribisch festgehalten161- immer wieder erweitert und ergänzt wurden, finden dort Erwähnung. Auf eine Zukunft als Schriftstellerin vorbereiten, war freilich eigentlich nicht das beabsichtigte Ziel der Schule; dieser Beruf fehlt selbstverständlich in der Auflistung der Tätigkeiten, die die Schülerinnen nach dem erfolgreichen Bestehen des „Absolutorials“ ergreifen können und die in den Jahresberichten von 1914 - 1917 aufgeführt sind. Dort werden als Berufsmöglichkeit beispielsweise Ärztin, Beamtin bei verschiedenen sozialen Ämtern, Fabrikinspektorin, wissenschaftliche Zeichnerin, Bibliothekarin und natürlich Lehrerin (versehen mit dem Kommentar „aussichtsreich für die nächste Zukunft“) genannt.162 Die Klassenstärke betrug in Marieluises Kursen im Durchschnitt zehn Schülerinnen pro Jahrgang163; die Gymnasiastinnen trugen alle Einheitskleidung164. d) Lehrplan und Unterricht Der durchaus umfangreiche Stoff, der den Mädchen in den sechs Jahren des Realgymnasiums vermittelt wurde, richtete sich in allen Klassen nach dem Lehrplan vom 08. April 1911. Alle Schülerinnen wurden durchgehend in den Pflichtfächern Religion, Deutsche Sprache, Lateinische Sprache, Französische Sprache, Geschichte, Rechnen und Mathematik, Zeichnen und Turnen unterrichtet, wobei Latein mit bis zu acht Wochenstunden den Spitzenplatz unter den Fächern einnahm165. Danach folgten Mathematik und Französisch mit drei bis vier Wochenstunden und Deutsch mit je drei Stunden pro Woche. Das Schlusslicht bildeten Religion, Geschichte, Zeichnen und Turnen (zwei Wochenstunden). In den Klassen I und II wurde zudem noch Erdkunde und Naturbeschreibung (jeweils zweistündig) gelehrt, ab der dritten Klasse kamen englische Sprache (je nach Jahrgang drei- bis fünfstündig) und Physik, ab der vierten Klasse auch Chemie (die 161 Vgl. Jahresbericht der Englischen Fräulein 1914/15, S. 30ff.. Vgl. Jahresbericht der Englischen Fräulein 1916/17, S. 37-38. 163 Magarb., S. 80. 164 Chr., S. 29. 165 Diese und folgende Zahlenangaben vgl. „Stundentafel der Lehrfächer und Wochenstunden“ aus dem Jahresbericht 1915/16, Chr., S. 38 . 162 35 beiden letzteren mit jeweils zwei Wochenstunden) hinzu. Als Wahlfächer konnten die Schülerinnen durchgehend Gesang (einstündig) belegen, bis zur dritten Klasse auch Stenographie (zwei- bzw. einstündig). Für die oberen Jahrgänge wurden außerdem Darstellende Geometrie mit einer Wochenstunde in IV und je zwei Wochenstunden in V und VI sowie zwei zusätzliche Englischstunden in den letzten beiden Schuljahren angeboten, sodass die Mädchen mit durchschnittlich 30 Wochenstunden (ohne Wahlfächer) ein umfangreiches Programm zu bewältigen hatten166. Im Vergleich mit der Stundentafel der Höheren Mädchenschule fällt hierbei auf, dass in den neueren Sprachen und in Deutsch an beiden Schularten in etwa die gleiche Anzahl an Stunden gelehrt wurde (teilweise lag die Stundenzahl der Höheren Mädchenschule in diesen Fächern sogar etwas höher als die des Realgymnasiums), wohingegen in den Realgymnasialkursen deutlich mehr Gewicht auf naturwissenschaftliche Fächer, insbesondere Physik und Chemie, lag167. Unterrichtet wurden die Zöglinge unter dem Direktorat von Maria Hohenegg dabei von 14 Lehrerinnen und Lehrern, die alle namentlich in den jeweiligen Jahresberichten aufgeführt sind168. Besonders interessant ist dabei, dass am Realgymnasium überwiegend männliche Lehrkräfte tätig waren, was wahrscheinlich auf die damals mangelnde Ausbildung von weiblichem Lehrpersonal für das Realymnasium zurückzuführen ist169. So befanden sich unter Marieluises Lehrern (anders als an der Höheren Mädchenschule, wo bis auf zwei Ausnahmen nur Schwestern und weltliche Lehrerinnen, die sogenannten `Fräulein´, unterrichten) neun männliche Lehrkräfte (darunter vier mit Doktortitel), drei weltliche Lehrerinnen für neuere Sprachen und Turnen (darunter wiederum eine Promovierte) und nur zwei Schwestern (M. Maturina Hofstetter und M. Munibalda Zottmann) für neuere Sprachen und Stenographie170. Die Tatsache, dass die Autorin also während der Unterrichtszeit de facto nur wenig Kontakt mit `richtigen Nonnen´ gehabt zu haben scheint, lässt ebenfalls darauf schließen, dass einige der im Roman und im „Moritat vom Institutsfräulein“ geschilderten 166 Vgl. Chr., S. 38. Siehe ebenda. 168 Vgl. Magarb., S. 14. 169 Vgl. Chr., S. 42. 170 Vgl. Magarb., S. 78. 167 36 Darstellungen der Ordensschwestern wohl eher der literarischen Fiktion als wirklichen Erlebnissen im Schulalltag entspringen. Welche Noten Marieluise während ihrer Regensburger Schuljahre im Einzelnen hatte und welche Wahlfächer sie eventuell belegt hat, lässt sich leider nicht mehr genau feststellen. Aus einem Interview mit ihrer ehemaligen Klassenkameradin Marielies Schleicher vom 25.06.1992 geht jedoch hervor, dass Marieluise wie auch schon zuvor in Ingolstadt eine sehr gute Schülerin gewesen sein musste171, die besonders durch ihr Zeichentalent hervorzustechen schien. So berichtete Frau Schleicher, dass ihre Mutter, die über die dementsprechenden finanziellen Mittel verfügte, von Marieluises Zeichnungen derart angetan gewesen sei, dass sie zweimal danach Postkarten anfertigen ließ, welche anschließend an Eltern und Bekannte versandt wurden172. Auch die Karikaturen anlässlich des bestandenen Absolutorials von 1920, die als Einladungskarten zur Abiturfeier verschickt wurden, stammten von der jungen Autorin173. e) Lektüren und Lehrbücher Ebenfalls akribisch in den Jahresberichten festgehalten, sind die Auflistungen der Lektüren und Lehrbücher, die die Schülerinnen damals im Unterricht benutzten. So wurden in Deutsch (neben Kriegsliteratur zur Zeit des Ersten Weltkrieges) vor allem klassische Werke, die zum Teil noch heute zum Lektürekanon der Oberstufe zählen, und Dichter in den Gattungen der Kurzprosa, Romane, Lyrik und Dramen gelesen. Hierunter befanden sich beispielsweise folgende Stücke: Eichendorff, „Das Marmorbild“; Goethe, „Herrmann und Dorothea“, „Egmont“, „Götz von Berlichingen“, „Faust, I. Teil“, „Italienische Reise“, „Dichtung und Wahrheit“, „Iphigenie auf Tauris“, „Aus meinem Leben“; Grillparzer, „Ottokars Glück und Ende“, „Das goldene Fließ“ oder Grimmelshausens, „Simplicissimus“174. Die aufgeführten Werke machen dabei zum einen die 171 Vgl. Gesprächsprotokoll des Interviews zwischen Ingrid Eiden von Stadtarchiv Ingolstadt und Marielies Schleicher vom 25.06.92, Stadtarchiv Ingolstadt, Fl.- Dok. I, 92-1, im Folgenden zitiert als „Interview“, S. 1 und 2 unten. 172 Vgl. Interview, S. 1 unten. 173 Vgl. Kopie im Anhang 174 Magarb., S. 79; ein vollständiges Verzeichnis alles gelesenen Lektüren befindet sich am Anhang. 37 selektive Auswahl der Schule (etwa am Beispiel von Heinrich Kleist) sowie die patriotische Färbung einiger Lektüren deutlich, zeigen zum anderen aber die wirklich umfassende literarische Bildung, die den Schülerinnen damals vermittelt wurde. Auch in den Fremdsprachen hatten die Mädchen ein breit gefächertes Literaturspektrum zu bewältigen. So las man in Latein Werke von Tacitus, Horaz, Livius, Vergil, Cornelius Nepos, Cäsar und Ovid, für die „Englische Sprache“ wurde Werke von Hume, Eliot, Dickens, Shakespeare, Ferrars, Tennnyson, Lamb, Carlyle, Corbet-Seymour, Grey, Hope, Irving, Chambers, Scott, Macaulay, Alcott und Jerome, für die „Französische Sprache“ wurden Arbeiten von Molière, Racine, Sandeau, Sarcey, Scribe, Madame Stolz, Robert-Dumas, Segur, Voltaire, Diderot, Rousseau, Corneille, Lesage, Mairet, Deschaumes, Mérimée, Victor Hugo, Taine und Malin ausgewählt. Daneben standen politische und literarische Aufsätze in englischer und französischer175 Sprache auf dem Unterrichtsprogramm. Des Weiteren konnten die Schülerinnen die Schülerinnenbibliothek benutzen sowie über eine „überwachte Privatlektüre“ verfügen176. Letztere Maßnahme wurde offensichtlich erlassen, um die Schülerinnen vor Werken zu „schützen“, die nicht mit den politischen Vorstellungen der damaligen Zeit übereinstimmten oder nach Ansicht der Schule damals als unziemlich geltende Themen wie etwa Sexualität ansprachen. So fiel beispielsweise auch der Schwede August Strindberg unter die damals verbotenen Dichter, weshalb Fleißer ihn heimlich unter der Bank las177. Die Aufsatzthemen, etwa „´The Germans to the front!´ Beschreibung des Bildes von R. Röchling.“, „Was nicht tief wurzelt, wipfelt auch nicht“, „Welche Bande verknüpfen uns mit dem deutschen Vaterland?“, „Schillers Lied von der Glocke - Ein Spiegelbild des deutschen Bürgerlebens“, „Die Vorteile und Schäden des Industriestaates“ oder „Warum lernt man heutzutage noch Latein?“178 gehen ebenfalls zum einen sowohl auf die Kriegsthematik als auch auf damals relevante soziologische Fragestellungen ein, muten aber mitunter, wie das letzte Beispiel zeigt, sogar aktuell an. 175 Magarb., S. 15. Magarb., S. 14. 177 Mat., S. 412. 178 Magarb., S. 15. 176 38 Ein detailliertes Verzeichnis der am Realgymnasium verwendeten Lehrbücher befindet sich im Anhang. f) Absolutorialaufgaben 1919 absolvierte Marieluise Fleißer zusammen mit neun weiteren Mitschülerinnen das Abitur. Im Jahresbericht von 1919/20 wurde sie auf der Liste der Abiturientinnen an Stelle drei unter dem Namen „Fleißer Aloisia“ aufgeführt, des Weiteren war die Eintragung jeder Schülerin außer mit dem Vor- uns Zunamen noch mit Geburtstag, -ort, Konfession sowie mit Stand und Wohnort der Eltern versehen179. Das gemeinsame Abschlussfoto der Abiturientinnen mit ihren Lehrerinnen und Lehrern zeigt die junge Dichterin, wie sie keck und mit leicht schiefer Uniformmütze in der letzten Reihe zwischen ihren Klassenkameradinnen hervorlugt180. Um das „Absolutorial“ zu bestehen, mussten die Mädchen Prüfungen in acht Fächern ablegen. Diese umfassten einen deutschen Aufsatz zu einem der gestellten Themen: 1. Immer war die Willkür fürchterlich (Schillers Octavio zu Max), nachgewiesen an Natur, Geschichte und Lektüre; 2. Ein glückliches Genie vermag viel über sein Volk. Lessing, Hamburgische Dramaturgie; 3. Welche Vorteile und Wohltaten verdanken wir dem Staate?, die Bearbeitung einer der drei Fragestellungen aus der katholischen Religion: 1. Auf welchen Wegen gelangt die Vernunft zur Erkenntnis eines persönlichen Gottes? (Die einzelnen Beweise sind in ihrem Gedankengang kurz und klar darzustellen.); 2. Welche philosophischen Systeme verneinen das Dasein eines persönlichen Gottes? (Die Grundirrtümer derselben sind kurz zu kennzeichnen, einige Vertreter zu nennen).; 3. Worin liegt der hohe Wert des Gottesgedankens für das sittliche und soziale Leben der Menschheit? (ebenfalls in Aufsatzform), ein französisches Diktat: Les déserts de l´Arabie Pétrée (30 Minuten Arbeitszeit), eine Übersetzung aus dem Französischen in das Deutsche: De la guerre dans l´ordre providentiel (90 Minuten Arbeitszeit), eine Übersetzung aus dem Deutschen in das Französische: Wallensteins Tod (90 Minuten Arbeitszeit), eine Übersetzung 179 Jahresbericht der „Englischen Fräulein“ von 1919/20, S. 25. Vgl. Abschlussfoto des Abiturjahrgangs der „Englischen Fräulein“ von 1919/1920, Fotographie 34) im Anhang. 180 39 aus dem Lateinischen in das Deutsche, ein englisches Diktat (30 Minuten Arbeitszeit), eine Übersetzung vom Englischen in das Deutsche und umgekehrt ( jeweils wieder 90 Minuten Arbeitszeit) sowie Aufgaben aus der Mathematik (150 Minuten Arbeitszeit), Physik und Chemie181. Auch hier verdeutlicht das breite Spektrum an unterschiedlichsten Themenstellungen und Aufgabengebieten wieder die fundierte ganzheitliche Bildung, die damals am Institut der „Englischen Fräulein“ vermittelt wurde. g) Außerschulische Aktivitäten und Verhältnis Marieluises zu ihren Mitschülerinnen Wie bereits in den Gnadenthalschulen in Ingolstadt so wurde am Institut der „Englischen Fräulein“ in Regensburg ebenfalls großer Wert auf die außerschulische Bildung der Mädchen gelegt182. Hierzu zählten beispielsweise wieder Wanderungen, etwa in das Birkmühltal, auf die Mattinger Höhen oder nach Mariaort, der traditionelle Maiausflug, auf den Fleißer sogar in „Die Mehlreisende Frieda Geier eingeht183, die Besuche der Walhalla und der Befreiungshalle in Kelheim, Ausflüge in das Laabertal, nach Regenstauf und Schloss Karlstein sowie die Besichtigung der Städte München, Neumarkt und Landshut. Um das musikalische und künstlerische Interesse der Schülerinnen zu wecken, wurden Konzerte, z. B. Kirchenkonzerte, ein Wagnerabend oder ein Wohltätigkeitskonzert mit dem Programm „Der Rose Pilgerfahrt“ von Schumann, Theateraufführungen und Museen besucht. Daneben fanden an der Schule regelmäßig Lichtbildvorträge sowie allgemeine Vorträge zu den verschiedensten Themen184 statt. Ebenfalls auf dem Programm standen botanische und geologische Exkursionen, überwiegend in Regensburg und Umgebung, die vom Besuch der Sternwarte über Stadtführungen und Eisenbahnfahrten bis hin zur Besichtigung verschiedener Regensburger Handwerksbetriebe und 181 Vgl. Auflistung des „Absolutorialaufgaben“ des diesjährigen Abiturjahrgangs, Jahresbericht der „Englischen Fräulein“ von 1919/20, S. 31-35. 182 Magarb., S. 16. 183 Vgl. Marieluise Fleißer, Mehlreisende Frieda Geier, Roman vom Rauchen, Sporteln, Lieben und Verkaufen, Kiepenheuer Verlag, Berlin, 1931, S. 259-262. 184 etwa über den Krieg, Kommunismus, Bolschewismus, Astronomie, mittelalterliche Plastik, Michelangelo, die Städte Rom, Nürnberg, Athen und Rothenburg a. d. Tauber, Flandern, bayerische Schlösser, Schubert, Pilze und einheimische Pflanzen sowie über Blindenschrift und Elektrotherapie. 40 Firmen sowie der Telefon- und Telegraphenanlage des Oberpostamtes Regensburg reichten185. Zudem organisieren die Schülerinnen selbst Ausstellungen ihrer im Rahmen des Kunst- oder Handarbeitsunterrichtes angefertigten Stücke und Aufführungen des Schultheaters und -chores186. Auch kirchliche Feierlichkeiten wie Weihnachten, Ostern, Firmung oder Hl. Erstkommunion wurden dem Anlass entsprechend begangen. Über das Verhältnis Marieluises zu ihren Klassenkameradinnen ist nur wenig bekannt, auf den meisten Fotos aus ihrer Schulzeit wirkt sie jedoch glücklich; selten steht sie abseits oder getrennt von den anderen187. In zwei Interviews, die Frau Ingrid Eiden vom Stadtarchiv Ingolstadt 1994 mit den ehemaligen Mitschülerinnen Fleißers, Frau Marielies Schleicher und Frau Dr. Ernestine Fischer geführt hat (Fl.-Dok. I, 24-2 bzw. I, 94-1, Stadtarchiv Ingolstadt), wird Marieluise als „positiv und kameradschaftlich gegenüber ihren Mitschülerinnen eingestellt[e]“ junge Frau geschildert, die vor allem durch ihr Zeichentalent und ihre guten Noten aufgefallen sei. Diese Kameradschaftlichkeit ging sogar so weit, dass Fleißers Zeichenlehrerin, Frau Karoline Ammer, die „Luis“ gebeten habe, einer Mitschülerin, die sich ihr Abitur mit einer schlechten Zeichennote verdorben habe, bei der Anfertigung einer neuen Arbeit zu helfen; eine Bitte, der Fleißer augenscheinlich auch nachgekommen ist. Die einzigen `Ausrutscher´, die sich die Autorin während ihrer Schulzeit erlaubt habe, seien eine unpassende Bemerkung über den Besuch der morgendlichen Schulmesse („saudumme oder blöde Schulmesse oder ähnlich“) gewesen, (wobei laut Frau Dr. Eiden hierbei eher das frühe Aufstehen und das lange Knien auf den harten Kirchenbänken als der Gottesdienst an sich gemeint gewesen seien), für die Luise dann auch dementsprechend bestraft worden sei, sowie ein Aufsatz mit dem Titel „Gedanken beim Anblick eines Flugzeugs“ über den Ersten Weltkrieg, in dem sie beschrieben habe, wie sie auf einer „grünen Wiese“ liege und von einem fliegenden Flugzeug mit in den Himmel zu Petrus genommen werde wo sie allerhand lustige Dinge erlebt. Für den Aufsatz habe Fleißer von ihrem Deutschlehrer (vermutlich derselbe, den sie auch in ihrem Brief an 185 Magarb., S. 81. Chr., S. 24; Magarb., S. 81. 187 Vgl. Fotographien 27) – 31) im Anhang. 186 41 Draws-Tchysen erwähnt188) prompt „einen Vierer bekommen“, was ihre Mitschülerinnen damals für eine schreiende Ungerechtigkeit hielten. Die negative Einstellung, die Marieluise später zu ihrer Schule gehabt haben soll, können die beiden ebenfalls nicht nachvollziehen. So äußerte Frau Dr. Fischer, dass Fleißer ihr gegenüber nie derartige Dinge hätte anklingen lassen. Allerdings habe sie ihr einmal gesagt, dass sie „das Religiöse etwas in Zweifel ziehe“, aber „wahrscheinlich wieder einmal auf all das zurückkommen werde“. Fleißer selbst schreibt außer in „Das Mädchen Yella“ (1929) nie über ihre Klassenkameradinnen, Vermutungen, dass die Wesenszüge einiger von Linchens Mitschülerinnen, die sie in „Die Mehlreisende Frieda Geier“ charakterisiert189, denen ihrer eigenen Klassenkameradinnen nachempfunden seien, bleiben vermutlich reine Spekulation190. h) Die Schule während des Ersten Weltkrieges Zu Marieluise Fleißers einschneidendsten Erlebnissen während ihrer Zeit an Institut der „Englischen Fräulein“ in Regensburg gehörte, neben dem Tod der Mutter 1918 und einer schweren Hirnhautentzündung im selben Jahr, mit Sicherheit die Art und Weise, wie sie dort die Zeit des Ersten Weltkrieges (1914-1918) verlebt hat. So konnte sie an ihrer Schule, in der sich ab 1914 ein Reservelazarett befand, die Auswirkungen und Grauen des Krieges aus nächster Entfernung miterleben; Eindrücke, die sie später bestimmt auch in ihrem Stück „Pioniere in Ingolstadt“ verarbeitet hat. Die Jahresberichte aus den Kriegsjahren, in denen es ab dem Schuljahr 1914/15 jährlich einen Abschnitt mit dem Titel „Aus unserem Kriegstagebuch“ gibt, liefern hierbei interessante Einblicke in den Internatsalltag zu dieser Zeit. Dort heißt es beispielsweise im ersten Kriegsjahr 1914/1915: „Nachdem durch die Kgl. Militärverwaltung ein großer Teil unseres Schulgebäudes zu einem Reservelazarett bestimmt worden war, begann in den ersten Tagen des August die Räumung von 18 188 Vgl. hierzu Gliederungspunkt V, 2, a), S. 31. Vgl. hierzu: Marieluise Fleißer, Die Mehlreisende Frieda Geier, Roman vom Rauchen, Sporteln, Lieben und Verkaufen, Kiepeneuer Verlag, Berlin, 1931, S. 91ff.. 190 Vgl. hierzu Magarb., S. 28-29. 189 42 Schulzimmern und die Einrichtung von 11 Krankensälen und einem Operationssaal, entsprechenden Räumen für Hausarzt, Lazarettinspektor, Polizeiunterinspektor und Wachposten. Freudig stellten hierbei viele Schülerinnen freiwillig ihre Dienste zur Verfügung. Betten besorgen, Wäsche bügeln und ordnen, Geschirre reinigen, in Küche, Obstkeller, Garten und Waschhaus helfend eingreifen, all das geschah mit überraschendem Geschick, mit größter Bereitwilligkeit, weil die Liebe zum Vaterland sie drängte, für das ihre Väter und Brüder bereits in den Kampf zogen.“191. Dass anstatt der erwarteten deutschen Kriegshelden dann aber verwundete Franzosen bei den „Englischen“ einquartiert wurden, diese Überraschung stieß auf „große Enttäuschung bei unseren Freiwilligen!“192. Da sich das Lazarett abgetrennt von den Schulräumen befand, konnte der Schulbetrieb, wenn auch stark beeinträchtigt, dennoch fortgeführt werden193. Dabei übten die jungen Soldaten selbstverständlich einen gewissen Reiz auf die - oft gleichaltrigen - Internatszöglinge aus. Fleißer selbst schilderte die Situation in ihrer Autobiographie folgendermaßen: „Aufnahmeprüfung noch im Frieden. Bei Schulbeginn ist schon Krieg und sie[=Fleißer] findet eine beengte Situation vor. Das halbe Schulgebäude ist von kriegsverwundeten Soldaten belegt, auch der Turnsaal und die lange Terrasse über dem Klavierhaus. Die Oberin hat in der ersten Kriegsbegeisterung die Räume zur Verfügung gestellt, weil sie glaubt, der Krieg sei bis Weihnachten schon wieder aus. Sie kämpft dann jahrelang, um die Räume freizubekommen. Die Mädchen dürfen im Garten nicht zu den Soldaten auf der Terrasse hinaufsehen. Die Soldaten werfen Zettel herunter.“194. Ein gewisser allerdings durchaus dem Zeitgeist entspringender Patriotismus seitens der Schulleitung lässt sich die vier Kriegsjahre über nicht leugnen: so wurde beispielsweise in einer Fußnote der jeweiligen Jahresberichte angegeben, welche Lehrer zum Militärdienst abberufen sind195, zudem sind in den Jahresberichten detailliert die von den Schülerinnen und Lehrerinnen hergestellten Kleiderspenden, die an die Front geschickt wurden, 191 Jahresbericht der „Englischen Fräulein“ 1914/15, S. 31-32. Ebenda, S. 32. 193 Chr., S. 42. 194 Mat., S. 412. 195 Magarb., S. 78. 192 43 verzeichnet, ebenso wie gesammelte Geldgeschenke oder Lebensmittelpakete, die als „Liebesgaben“ bezeichnet wurden196. Auch auf den Unterricht übt der Krieg nachhaltigen Einfluss aus. Es fanden Lesungen von Kriegslyrik sowie Kriegsausstellungen und „Kriegsfeierstunden“ statt197, ab dem ersten Kriegsjahr werden auch durchgehend Kriegsberichte aus Zeitungen und Zeitschriften, Kriegsliteratur und Kriegsgedichte (zum Beispiel: Aufsätze aus Sven Hedin, Ein Volk in Waffen, Lieder aus den Befreiungskriegen, Kriegsgedichte der Gegenwart, Berichte über die Kriegslage, Stimmungsbilder vom Felde, Reichstagsreden der Kriegszeit, Kriegsnachrichten, Detlev von Liliencron „Kriegsnovellen“, Gertrud Bäumer: „Der Krieg und die deutsche Frau198) gelesen. Die Aufsatzthemen, Hausaufgaben und Referate waren ebenfalls vom Kriegsgeschehen beeinflusst. Dort mussten sich die Mädchen mit Aufgabenstellungen wie „Inwiefern hat der Krieg unsere Lebensweise und uns selbst umgewandelt?“, „Der Krieg in der Kinderstube. Nach eigenen Beobachtungen.“, „Das eiserne Kreuz“, „Alfred Krupp“ oder „Soldatenlieder“ und „Krieg und Schule“199 auseinandersetzten. Als nach drei Jahren das Lazarett im Herbst 1917, ein Jahr vor Kriegsende, aufgelöst wurde, war die Erleichterung seitens der Schülerinnen aber auch der Lehrkräfte trotz der anfänglichen Euphorie groß. Im Jahresbericht von 1917/18 heißt es: „Diese Zeit hat den Schülerinnen tiefe Eindrücke hinterlassen. Sie hat ihnen aus nächster Nähe vor Augen geführt, was Soldaten für uns gelitten und geopfert haben.“200. 196 Chr., S. 43, Magarb., S. 16. Magarb., S. 81. 198 Magarb., S. 78. 199 Chr., S. 42. 200 Chr., S. 43. 197 44 VI. Fazit Abschließend lässt sich feststellen, dass die umfassende und äußerst fundierte Bildung, die Marieluise Fleißer zuerst in Ingolstadt und später am Institut der „Englischen Fräulein“ in Regensburg erhalten hat, mit Sicherheit einen entscheidenden Beitrag zu ihrem Entschluss, Schriftstellerin zu werden, geleistet hat. Denn an beiden Schulen hat die Autorin nicht nur detailliertes Fachwissen auf den unterschiedlichsten Gebieten erworben, und eine exzellente Allgemeinbildung erhalten, sondern darüber hinaus wertvolle Erfahrungen und Eindrücke sammeln können, die sie im Laufe ihres Lebens literarisch verarbeitet hat. So wurde durch ihre Schulzeit einerseits die Basis für ihr Studium gelegt und damit die nötigen äußeren Umstände für ihren Beruf geschaffen, andererseits durch Marieluises Erlebnisse auch die inneren Voraussetzungen für eine schriftstellerische Tätigkeit gegeben. Eine entscheidende Rolle spielte hierbei zudem die elterliche Erziehung, insbesondere die Einstellung und Förderung ihres Vaters, durch welche es der Dichterin erst möglich wurde, als Frau zur damaligen Zeit einen Höheren Bildungsabschluss zu erlangen und ihre Veranlagungen zu entfalten. Daneben haben ihre Kindheit in Ingolstadt und die dortigen Erfahrungen ihre Karriere auf bedeutende Weise geprägt, was sich stark in ihren Werken widerspiegelt. Insgesamt gesehen ist Marieluise Fleißer ein Beispiel dafür, im welchem Maße Schule und Ausbildung, ebenso aber elterliche Erziehung und familiäres Umfeld Einfluss auf die Mentalität und die Zukunftserwartungen sowie die Berufswahl und damit auf den ganzen weiteren Lebensweg eines jungen Menschen nehmen können. 45 Ich erkläre hiermit, dass ich die Seminararbeit ohne fremde Hilfe angefertigt und nur die im Literaturverzeichnis angeführten Quellen und Hilfsmittel benützt habe. ............................................................. Ort, Datum …………………………………………… Unterschrift der Schülerin 46