Neuschöpfung durch das Evangelium Theologische und soziologische Überlegungen zum Verhältnis von Mission und Milieu Wünschelrute Schläft ein Lied in allen Dingen, Die da träumen fort und fort, Und die Welt hebt an zu singen, Triffst du nur das Zauberwort. Joseph von Eichendorff „Eng ist die Welt und das Gehirn ist weit. Leicht beieinander wohnen die Gedanken. Doch hart im Raume stoßen sich die Sachen. Wo eines Platz nimmt, muss das andere rücken. Wer nicht vertrieben sein will, muss vertreiben.“ Friedrich Schiller: Wallensteins Tod, 2. Aufzug „To enjoy another’s enjoyment is already an act of love.” Frank Burch Brown Das wäre der Traum: Das Zauberwort des Evangeliums so zu sagen, dass es in jedem Menschen wieder klingt. Dann würde in der Tat die Welt an zu singen fangen – das große Lied zum Lobe ihres Schöpfers und Erlösers. Aber das ist nur ein Traum, denn jeder und jede singt sein und ihr eigenes Lied – lebt und webt in seinen und ihren lebensweltliche Gespinsten – ihren „Milieus“. Und die stoßen sich ab: wo sich die einen breit machen, können sich die anderen nicht niederlassen. Und wenn die einen sich ausbreiten, vertreiben sie die anderen. Aber vielleicht gibt es im Horizont des Evangeliums auch noch etwas Drittes: Liebe, die sich daran freut, woran sich der andere freut. Sie hebt die Trennungen nicht auf, aber sie ist ein Zeichen, dass sie nicht das letzte Wort haben sollen. Thesen zum Verhältnis von Mission und Milieu (1) Wie das Evangelium den Menschen begegnet, steht zum Glück nicht in unserer Verfügung. Es ist immer davon auszugehen, dass Gott auch noch ganz anders wirkt, als wir es wahrnehmen (können) und es deswegen fremde Gestalten des Glaubens gibt. Was wir aber erkennen können, ist dass die explizite Kommunikation des Glaubens in Form von Kirchen, christlichen Gemeinschaften aller Art oder auch in die Kultur eingelassenen Motiven an spezifische kulturelle und soziale Formen gekoppelt ist, deren Legitimität in der Regel scharf bewacht wird. In diesem Sinne hat das Evangelium eine immer auch sinnlich wahrnehmbare Gestalt, die einen Ort in der Gesellschaft bezeichnet, der durch bestimmte Gerüche, Klänge und Farben ausgezeichnet ist. Wer sich an diesem Ort wohlfühlt entwickelt einen spezifischen – in unserem Fall: kirchlichen - Habitus. (2) Die Gerüche, Klänge und Farben des kirchlichen Habitus sind originäre Folgen intensiver Kommunikation des Evangeliums: es nötigt spontan aus sich heraus zu bestimmten Wahrnehmungsmustern, Einstellungen, sozialen und kulturellen Optionen und schließt andere aus. In ihm verdichten sich christliche Lebenseinstellungen und Bewältigungsformen. Es bildet sich eine inspirierte Gestalt heraus. Idealerweise kommt es zu einer spirituellen Imitatio in den präferierten Gesellungsformen: die Gemeinde hört den Klang der Schöpfung in ihren Liedern. Das kirchliche Milieu ist weltliche Heimat und weist in die überweltliche hinein. Vergl. die Klänge in Willow Creek. Das missionarische Bestreben, den Glauben an andere weiterzugeben und ihnen zu helfen, den eigenen Glauben zu entdecken, nimmt seinen Ausgangspunkt immer an der vorhandenen Glaubensgestalt. Ich kann anderen nur zum eigenen Glauben verhelfen, indem ich sie von meinem Glauben überzeuge. Mein Habitus ist Hilfe und Hindernis zugleich. (3) Mit der Hilfe der Milieuanalyse kann man die Gebundenheit dieser kirchlich-religiöser Kommunikation an soziokulturelle Strukturen wahrnehmen. Sie lässt erkennen, wie sehr jede Geste, jeder Akt von Menschen der Darstellung des eigenen Selbst und insofern der Mehrung eigenen Nutzens – der Vergrößerung des sozialen, kulturellen oder sogar direkt des ökonomischen Kapitals (P. Bourdieu) - dient. Sie zeigt, wie sich die eigene Lage in den je eigenen Geschmack umsetzt. Auch religiöse Formen unterliegen in dieser Sichtweise diesen Mechanismen. Die Analyse funktioniert deswegen religions- und kirchenkritisch und kann so auch theologisch genutzt werden. Sie bleibt dabei aber defensiv: Sie kann plausibel machen, warum spezifische Menschen ihr Christsein so und nicht anders gestalten (können) und welche identifizierenden und distanzierenden Folgen das hat. Dass sich die Abhängigkeiten ändern ließen, ist eher zweifelhaft. (4) Näherhin kann deswegen gesagt werden, dass Menschen nicht nur zu bestimmten Milieus gehören, sondern Milieus sind: die Gebundenheit steckt in ihren Körpern (Habitus) und zeigt sich deswegen in ihren ästhetischen (und damit sekundär immer auch ethischen) Einstellungen und Optionen. Gesellschaftliche Unterscheidungen transformieren sich in die Formungen der Sinne – in die verschiedenen Geschmäcker. Milieus wirken folglich wie Klang, Musik, Stil: sie vereinnahmen zwanglos, aber mit sinnlicher Gewalt. Das bedeutet: Immer dann, wenn ich am authentischsten bin, schließe ich am deutlichsten aus. Milieus zu verstehen, bedeutet ästhetisch zu analysieren: - Wahrnehmung (Wie nehmen Milieus die Wirklichkeit wahr?) - Wohlgefallen (Woran macht sich Freude und Lust fest?) - Beurteilung (Welche Urteilskriterien gibt es?) Die Konstruktionen sind zirkulär: Jedes Milieu ordnet die verschiedenen Kategorien in seiner spezifischen „Welt“. Deswegen bedeuten die Begriffe je nach Milieu verschiedenes: „Klassik“ z.B. ist etwas anderes, je nachdem, ob ich Menschen aus den unteren oder oberen Milieus befrage. Dies gilt noch mehr für Glaube und Evangelium. (5) Die Milieuanalyse ist so im Kern eine Indikatorenbatterie, mit deren Hilfe man die Gespaltenheit der Gesellschaft erfassen kann. Man sieht dann die durchgreifende strukturellen Kommunikationsschranken, die zwischen den Menschen existieren: „Kommunikation auf Augenhöhe“ ist in der Regel nur zwischen Gliedern eines Milieus möglich. Besonders deutliche Grenzen werden „nach unten“ (Grenze der Respektabilität, „Ekelschranke“) und „nach oben“ (Grenze der Distinktion, „Die goldene Mauer“) gezogen. Im breiten mittleren Bereich der Gesellschaft unterscheidet man sich anhand „feiner Unterschiede“. Identifizierung und Distanzierung sind zwei Seiten desselben Prozesses des Sich-Einordnens und des Eingeordnet-Werdens in die Skala der gesellschaftlichen Unterscheidungen (die sozialer Ungleichheit entspricht). Kirchlichkeit verortet sich in diesen Unterscheidungen und damit in der gesellschaftlichen Hierarchie. (6) Mit der Hilfe der Milieuanalyse kann man folglich sehen, dass mit der jeweiligen Anrufung oder Distanzierung von Stilelementen aller Art zugleich immer auch die Protagonisten dieser Elemente in Kommunikationswelten inoder exkludiert werden. Dies gilt auch für die Kirche: Entsprechende anziehende oder abstoßende Wirkungen entwickelt dann die Gemeinde. Man kann nun sehen, dass dieser Prozess zu einen hin völlig „normal“ ist. „Von innen“ her gesehen gehört so etwas zur Identitätsgewinnung und – stabilisierung eines jeden Sozialgebildes i.S. einer Trennung vom „Bösen“, ohne die es nicht leben könnte. Nur so wird das helle Licht strahlend. Es ist aber zum anderen hin auch das genaue Gegenteil: dadurch, dass sich partikulare – im Grunde genommen: ethnozentrische - Elementen vor die an alle gerichtete Verkündigung schieben, verdunkelt sie sich. So etwas kann schlicht darin bestehen, dass sich die Vorherrschaft eines vermeintlich „guten Geschmacks“ - oder auch dessen Gegenteil – exkludierend auswirkt. Mission bedeutet dann Übernahme von herrschenden kulturellen Standards – aber nicht die Entwicklung eigener Glaubensformen. (7) Wie die Milieubindungen des Glaubens jeweils beurteilt werden, kann nicht die Milieuanalyse, sondern muss die – sich missionarisch verstehende – Kirche entscheiden. Folglich muss sich die Perspektive drehen: Nicht die Zugehörigkeit zu Milieus entscheidet - letztlich, wirklich - über den Glauben, sondern der Glaube ruft sozusagen die Milieus in seinen Dienst und nutzt sie als Potential zum Zeugnis. Empirisch gilt: Jedes Milieu hat seinen Glauben – theologisch gilt: der Glaube schafft sich seine Milieus. Die Erkenntnis in die soziokulturelle Behaftetheit oder gar Gefangenschaft des Glaubens führt zur Unterscheidung zwischen ihm und seinen Formen und funktioniert damit letztere zu reinem Material um. Das setzt allerdings voraus, dass es einen Ort gibt, an dem man sozusagen mit dem Material der Milieus „spielen“ kann – und d.h. von der lebensweltlichen Bindung an sie distanziert ist. Dieser Ort ist die Begegnung mit dem lebendigen Christus – als Krise und Neuschöpfung zugleich. (8) So betrachtet muss für die Kirche insgesamt gelten: Unter dem „Feuer lebendiger Verkündigung“ kann es zu einem „Einschmelzungsprozess“ kulturellen und sozialen „Materials“, den vorhandenen Gerüchen, Klängen und Farben kommen. Dies kann ein ungeheuer kreativer Prozess – ein Prozess der „kreativen Zerstörung“ - sein, in dem Identitäten neu erschaffen und ungeheure Gestaltungskräfte frei werden können. Gerade weil hier das Evangelium als Neues und bisher Fremdes für das Leben und die Welt erlebt wird – gerade weil es nicht alltäglich oder gar niedrigschwellig; ja vielleicht gar kein „Angebot“, sondern ein gewaltiger „Anspruch“ ist – fühlen sich Menschen angezogen und erfahren Erneuerung. Ihre Raum- und Zeiterfahrung ändert sich. „Du stellst meine Füße auf weiten Raum.“ Kirche muss entsprechende kreative Prozesse fördern - sie sind der Kern einer missionarischen Kirche. (9) Zum Ziel kommt eine missionarische Nutzung der Milieus folglich dann, wenn es zu „authentischen Transformationen“ des Glaubens kommt (H.R. Niebuhr) –: die herkömmlichen Formen der Kommunikation des Glaubens werden erweitert und nur so können bisher Fremde in sie einbezogen werden. Bisherige kulturelle Bindungen des Glaubens werden als zu eng erfahren und es stellen sich neue Identifikationen zwischen diesen Stilen und jenen Glaubenserfahrungen ein. Nur so erfahren sich bisher Fremde als Bereichernde – weil sie als Erneuert-Werdende doch sie selbst bleiben können – jedenfalls sich nicht einfach den herrschenden kulturellen und sozialen Settings der Gemeinde angleichen müssen. Es bilden sich neue Gestalten des Glaubens heraus – die Kirche wächst in bisher unbekanntes Land hinein. (10) Damit gilt: Kirche kommt sozusagen immer „vor“ den Milieus. Eine missionarische Kirche gibt es nur dann, wenn deutlich wird, dass es Kirche ist, die die Milieus inkludiert und nutzt – und nicht umgekehrt. Wo nur noch selbstgenügsam der jeweilige Milieuglauben gepflegt und simple taktische Angleichungen an Lebensstile vollzogen werden wird, ist Kirche elementar bedroht. Dies entspricht auch erkennbar der Wahrnehmung der Menschen: man geht nur sehr begrenzt zu einer kirchlichen Veranstaltung, die das eigene Milieu anspricht, wenn man nichts mit Kirche zu tun hat. Inklusion in Kirche bleibt vorgeordnet. Wer mit Glauben nichts anfangen kann, lässt sich auch nicht durch Milieubezug ködern. Ohne einen solchen geht es allerdings auch nicht, weil dann der Glaube nicht mit dem Leben vermittelt ist. Nur dann, wenn sich plausible Synthesen, Synkretismen zwischen den lebendigen sozialen und kulturellen Formen der Menschen und dem Evangelium einstellen, können missionarische Erfolge erzielt werden. Authentischer Glaube ist gefragt. „Kirche soll nicht vertraute Vergangenheit, sondern ersehnte Zukunft sein!“ (Ernst Lange) Hannover, Juli 2007 Gerhard Wegner [email protected]