0707 Zu welchem Ende treiben wir Milieuanalyse

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Neuschöpfung durch das Evangelium
Theologische und soziologische Überlegungen zum Verhältnis von
Mission und Milieu
Wünschelrute
Schläft ein Lied in allen Dingen,
Die da träumen fort und fort,
Und die Welt hebt an zu singen,
Triffst du nur das Zauberwort.
Joseph von Eichendorff
„Eng ist die Welt und das Gehirn ist weit.
Leicht beieinander wohnen die Gedanken.
Doch hart im Raume stoßen sich die Sachen.
Wo eines Platz nimmt, muss das andere rücken.
Wer nicht vertrieben sein will, muss vertreiben.“
Friedrich Schiller: Wallensteins Tod, 2. Aufzug
„To enjoy another’s enjoyment is already an act of love.”
Frank Burch Brown
Das wäre der Traum: Das Zauberwort des Evangeliums so zu sagen, dass
es in jedem Menschen wieder klingt. Dann würde in der Tat die Welt an zu
singen fangen – das große Lied zum Lobe ihres Schöpfers und Erlösers.
Aber das ist nur ein Traum, denn jeder und jede singt sein und ihr eigenes
Lied – lebt und webt in seinen und ihren lebensweltliche Gespinsten – ihren
„Milieus“. Und die stoßen sich ab: wo sich die einen breit machen, können
sich die anderen nicht niederlassen. Und wenn die einen sich ausbreiten,
vertreiben sie die anderen. Aber vielleicht gibt es im Horizont des
Evangeliums auch noch etwas Drittes: Liebe, die sich daran freut, woran sich
der andere freut. Sie hebt die Trennungen nicht auf, aber sie ist ein Zeichen,
dass sie nicht das letzte Wort haben sollen.
Thesen zum Verhältnis von Mission und Milieu
(1) Wie das Evangelium den Menschen begegnet, steht zum Glück nicht in
unserer Verfügung. Es ist immer davon auszugehen, dass Gott auch noch
ganz anders wirkt, als wir es wahrnehmen (können) und es deswegen
fremde Gestalten des Glaubens gibt. Was wir aber erkennen können, ist
dass die explizite Kommunikation des Glaubens in Form von Kirchen,
christlichen Gemeinschaften aller Art oder auch in die Kultur eingelassenen
Motiven an spezifische kulturelle und soziale Formen gekoppelt ist, deren
Legitimität in der Regel scharf bewacht wird. In diesem Sinne hat das
Evangelium eine immer auch sinnlich wahrnehmbare Gestalt, die einen Ort
in der Gesellschaft bezeichnet, der durch bestimmte Gerüche, Klänge und
Farben ausgezeichnet ist. Wer sich an diesem Ort wohlfühlt entwickelt einen
spezifischen – in unserem Fall: kirchlichen - Habitus.
(2) Die Gerüche, Klänge und Farben des kirchlichen Habitus sind originäre
Folgen intensiver Kommunikation des Evangeliums: es nötigt spontan aus
sich heraus zu bestimmten Wahrnehmungsmustern, Einstellungen, sozialen
und kulturellen Optionen und schließt andere aus. In ihm verdichten sich
christliche Lebenseinstellungen und Bewältigungsformen. Es bildet sich eine
inspirierte Gestalt heraus. Idealerweise kommt es zu einer spirituellen
Imitatio in den präferierten Gesellungsformen: die Gemeinde hört den Klang
der Schöpfung in ihren Liedern. Das kirchliche Milieu ist weltliche Heimat und
weist in die überweltliche hinein. Vergl. die Klänge in Willow Creek. Das
missionarische Bestreben, den Glauben an andere weiterzugeben und ihnen
zu helfen, den eigenen Glauben zu entdecken, nimmt seinen Ausgangspunkt
immer an der vorhandenen Glaubensgestalt. Ich kann anderen nur zum
eigenen Glauben verhelfen, indem ich sie von meinem Glauben überzeuge.
Mein Habitus ist Hilfe und Hindernis zugleich.
(3) Mit der Hilfe der Milieuanalyse kann man die Gebundenheit dieser
kirchlich-religiöser Kommunikation an soziokulturelle Strukturen wahrnehmen.
Sie lässt erkennen, wie sehr jede Geste, jeder Akt von Menschen der
Darstellung des eigenen Selbst und insofern der Mehrung eigenen Nutzens –
der Vergrößerung des sozialen, kulturellen oder sogar direkt des
ökonomischen Kapitals (P. Bourdieu) - dient. Sie zeigt, wie sich die eigene
Lage in den je eigenen Geschmack umsetzt. Auch religiöse Formen
unterliegen in dieser Sichtweise diesen Mechanismen. Die Analyse
funktioniert deswegen religions- und kirchenkritisch und kann so auch
theologisch genutzt werden. Sie bleibt dabei aber defensiv: Sie kann
plausibel machen, warum spezifische Menschen ihr Christsein so und nicht
anders gestalten (können) und welche identifizierenden und distanzierenden
Folgen das hat. Dass sich die Abhängigkeiten ändern ließen, ist eher
zweifelhaft.
(4) Näherhin kann deswegen gesagt werden, dass Menschen nicht nur zu
bestimmten Milieus gehören, sondern Milieus sind: die Gebundenheit steckt
in ihren Körpern (Habitus) und zeigt sich deswegen in ihren ästhetischen (und
damit sekundär immer auch ethischen) Einstellungen und Optionen.
Gesellschaftliche Unterscheidungen transformieren sich in die Formungen
der Sinne – in die verschiedenen Geschmäcker. Milieus wirken folglich wie
Klang, Musik, Stil: sie vereinnahmen zwanglos, aber mit sinnlicher Gewalt.
Das bedeutet: Immer dann, wenn ich am authentischsten bin, schließe ich am
deutlichsten aus.
Milieus zu verstehen, bedeutet ästhetisch zu analysieren:
- Wahrnehmung (Wie nehmen Milieus die Wirklichkeit wahr?)
- Wohlgefallen (Woran macht sich Freude und Lust fest?)
- Beurteilung (Welche Urteilskriterien gibt es?)
Die Konstruktionen sind zirkulär: Jedes Milieu ordnet die verschiedenen
Kategorien in seiner spezifischen „Welt“. Deswegen bedeuten die Begriffe je
nach Milieu verschiedenes: „Klassik“ z.B. ist etwas anderes, je nachdem, ob
ich Menschen aus den unteren oder oberen Milieus befrage. Dies gilt noch
mehr für Glaube und Evangelium.
(5) Die Milieuanalyse ist so im Kern eine Indikatorenbatterie, mit deren Hilfe
man die Gespaltenheit der Gesellschaft erfassen kann. Man sieht dann die
durchgreifende strukturellen Kommunikationsschranken, die zwischen den
Menschen existieren: „Kommunikation auf Augenhöhe“ ist in der Regel nur
zwischen Gliedern eines Milieus möglich. Besonders deutliche Grenzen
werden „nach unten“ (Grenze der Respektabilität, „Ekelschranke“) und „nach
oben“ (Grenze der Distinktion, „Die goldene Mauer“) gezogen. Im breiten
mittleren Bereich der Gesellschaft unterscheidet man sich anhand „feiner
Unterschiede“. Identifizierung und Distanzierung sind zwei Seiten desselben
Prozesses des Sich-Einordnens und des Eingeordnet-Werdens in die Skala
der gesellschaftlichen Unterscheidungen (die sozialer Ungleichheit
entspricht). Kirchlichkeit verortet sich in diesen Unterscheidungen und damit
in der gesellschaftlichen Hierarchie.
(6) Mit der Hilfe der Milieuanalyse kann man folglich sehen, dass mit der
jeweiligen Anrufung oder Distanzierung von Stilelementen aller Art zugleich
immer auch die Protagonisten dieser Elemente in Kommunikationswelten inoder exkludiert werden. Dies gilt auch für die Kirche: Entsprechende
anziehende oder abstoßende Wirkungen entwickelt dann die Gemeinde. Man
kann nun sehen, dass dieser Prozess zu einen hin völlig „normal“ ist. „Von
innen“ her gesehen gehört so etwas zur Identitätsgewinnung und –
stabilisierung eines jeden Sozialgebildes i.S. einer Trennung vom „Bösen“,
ohne die es nicht leben könnte. Nur so wird das helle Licht strahlend. Es ist
aber zum anderen hin auch das genaue Gegenteil: dadurch, dass sich
partikulare – im Grunde genommen: ethnozentrische - Elementen vor die an
alle gerichtete Verkündigung schieben, verdunkelt sie sich. So etwas kann
schlicht darin bestehen, dass sich die Vorherrschaft eines vermeintlich „guten
Geschmacks“ - oder auch dessen Gegenteil – exkludierend auswirkt.
Mission bedeutet dann Übernahme von herrschenden kulturellen Standards –
aber nicht die Entwicklung eigener Glaubensformen.
(7) Wie die Milieubindungen des Glaubens jeweils beurteilt werden, kann
nicht die Milieuanalyse, sondern muss die – sich missionarisch verstehende –
Kirche entscheiden. Folglich muss sich die Perspektive drehen: Nicht die
Zugehörigkeit zu Milieus entscheidet - letztlich, wirklich - über den Glauben,
sondern der Glaube ruft sozusagen die Milieus in seinen Dienst und nutzt
sie als Potential zum Zeugnis. Empirisch gilt: Jedes Milieu hat seinen
Glauben – theologisch gilt: der Glaube schafft sich seine Milieus. Die
Erkenntnis in die soziokulturelle Behaftetheit oder gar Gefangenschaft des
Glaubens führt zur Unterscheidung zwischen ihm und seinen Formen und
funktioniert damit letztere zu reinem Material um. Das setzt allerdings voraus,
dass es einen Ort gibt, an dem man sozusagen mit dem Material der Milieus
„spielen“ kann – und d.h. von der lebensweltlichen Bindung an sie distanziert
ist. Dieser Ort ist die Begegnung mit dem lebendigen Christus – als Krise
und Neuschöpfung zugleich.
(8) So betrachtet muss für die Kirche insgesamt gelten: Unter dem „Feuer
lebendiger Verkündigung“ kann es zu einem „Einschmelzungsprozess“
kulturellen und sozialen „Materials“, den vorhandenen Gerüchen, Klängen
und Farben kommen. Dies kann ein ungeheuer kreativer Prozess – ein
Prozess der „kreativen Zerstörung“ - sein, in dem Identitäten neu erschaffen
und ungeheure Gestaltungskräfte frei werden können. Gerade weil hier das
Evangelium als Neues und bisher Fremdes für das Leben und die Welt erlebt
wird – gerade weil es nicht alltäglich oder gar niedrigschwellig; ja vielleicht
gar kein „Angebot“, sondern ein gewaltiger „Anspruch“ ist – fühlen sich
Menschen angezogen und erfahren Erneuerung. Ihre Raum- und
Zeiterfahrung ändert sich. „Du stellst meine Füße auf weiten Raum.“ Kirche
muss entsprechende kreative Prozesse fördern - sie sind der Kern einer
missionarischen Kirche.
(9) Zum Ziel kommt eine missionarische Nutzung der Milieus folglich dann,
wenn es zu „authentischen Transformationen“ des Glaubens kommt (H.R.
Niebuhr) –: die herkömmlichen Formen der Kommunikation des Glaubens
werden erweitert und nur so können bisher Fremde in sie einbezogen
werden. Bisherige kulturelle Bindungen des Glaubens werden als zu eng
erfahren und es stellen sich neue Identifikationen zwischen diesen Stilen und
jenen Glaubenserfahrungen ein. Nur so erfahren sich bisher Fremde als
Bereichernde – weil sie als Erneuert-Werdende doch sie selbst bleiben
können – jedenfalls sich nicht einfach den herrschenden kulturellen und
sozialen Settings der Gemeinde angleichen müssen. Es bilden sich neue
Gestalten des Glaubens heraus – die Kirche wächst in bisher unbekanntes
Land hinein.
(10) Damit gilt: Kirche kommt sozusagen immer „vor“ den Milieus. Eine
missionarische Kirche gibt es nur dann, wenn deutlich wird, dass es Kirche
ist, die die Milieus inkludiert und nutzt – und nicht umgekehrt. Wo nur noch
selbstgenügsam der jeweilige Milieuglauben gepflegt und simple taktische
Angleichungen an Lebensstile vollzogen werden wird, ist Kirche elementar
bedroht. Dies entspricht auch erkennbar der Wahrnehmung der Menschen:
man geht nur sehr begrenzt zu einer kirchlichen Veranstaltung, die das
eigene Milieu anspricht, wenn man nichts mit Kirche zu tun hat. Inklusion in
Kirche bleibt vorgeordnet. Wer mit Glauben nichts anfangen kann, lässt sich
auch nicht durch Milieubezug ködern. Ohne einen solchen geht es allerdings
auch nicht, weil dann der Glaube nicht mit dem Leben vermittelt ist. Nur dann,
wenn sich plausible Synthesen, Synkretismen zwischen den lebendigen
sozialen und kulturellen Formen der Menschen und dem Evangelium
einstellen, können missionarische Erfolge erzielt werden. Authentischer
Glaube ist gefragt.
„Kirche soll nicht vertraute Vergangenheit, sondern ersehnte Zukunft sein!“
(Ernst Lange)
Hannover, Juli 2007
Gerhard Wegner
[email protected]
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