Studienseminar Koblenz

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Studienseminar Koblenz
Allgemeines Seminar
aus: http://www.philosophisch-politische-akademie.de/sokr1.html
© 2001 Philosophisch-Politische Akademie e.V.
Sokratische Gespräche
Was sind sokratische Gespräche?
Im sokratischen Gespräch sollen die Teilnehmer eigene Einsichten zu der jeweiligen Frage erlangen.
Gustav Heckmann schrieb dazu: "Das Ziel ist, daß die Teilnehmer Einsichten gewinnen, und das
heißt: sie im eigenen Geist auffinden. Einsicht ist etwas anderes als durch Sinneswahrnehmung
vermittelte Kenntnis oder ein Wissen, das mir durch einen anderen vermittelt wird. Jeder kann die
Einsicht nur reflektierend im eigenen Geiste finden. Das Gespräch zwischen Partnern, unter denen
keiner für den anderen Autorität ist, kann dazu wesentlich helfen."
Bei der Suche nach eigenen Einsichten ist das Bemühen um Wahrheit die treibende Kraft. Das
Denken jedes einzelnen ist notwendig begrenzt, es wird beeinflußt von seinen individuellen
Erfahrungen und Gefühlen. Im Sokratischen Gespräch bemühen wir uns, die eigenen Gedanken an
denen anderer zu überprüfen und gegebenenfalls zu korrigieren oder zu modifizieren, also in
Gemeinschaft zu denken und zu Aussagen zu kommen, denen alle zustimmen können.
Immer wieder stellen Teilnehmer fest, daß die Gespräche weiterwirken, daß sie später auch im Alltag
kritischer an Gesprächen teilnehmen, genauer zuhören, Phrasen hinterfragen, weniger anfällig
geworden sind gegen Dogmen oder bloße Schlagworte. Das Selbstvertrauen wächst durch die
Erfahrung, daß wir nicht darauf angewiesen sind, Urteile von Autoritäten zu übernehmen, sondern
durch eigenes Denken und Argumentieren selber zu begründeten Urteilen kommen können. So hat
das Sokratische Gespräch, selbst wenn es sich nicht unmittelbar mit einem politischen Thema befaßt
hat, als anti-doktrinäre Gesprächsform eine politische Wirkung im Sinne der Förderung mündiger
Bürger. Auch kann das Nachdenken über ethische Fragen – über das jeweils behandelte Thema
hinaus – zu einer Orientierungshilfe bei der Auseinandersetzung mit Problemen der Lebensführung
und des gesellschaftlichen Zusammenlebens werden.
Voraussetzungen
Für die Teilnahme an einem sokratischen Gespräch sind keine philosophischen Vorkenntnisse
erforderlich, sondern allein ein "normaler" Verstand und die Bereitschaft, sich auf diese Methode
einzulassen.
Voraussetzung für die Teilnahme an einem Sokratischen Gespräch ist, daß jeder Teilnehmer nur
seine eigenen Überlegungen auszudrücken versucht und sich nicht auf irgendwelche Autoritäten
bezieht. Er soll auch nicht Thesen vertreten, von denen er nicht überzeugt ist. Im sokratischen
Gespräch vertraut man darauf, daß jeder Teilnehmer für das, was er vorbringt, Gründe hat. Nur auf
dieser Grundlage ist es möglich, daß alle Gesprächsteilnehmer sich gegenseitig ernst nehmen und
beanspruchen können, ernst genommen zu werden. Durch den Austausch von Argumenten und
Gründen gelingt es allmählich, den Wahrheitskern auch von zunächst gegensätzlich erscheinenden
Auffassungen herauszuschälen. Im Sokratischen Gespräch kommt es nicht darauf an, Recht zu
behalten: Das gemeinsame Anliegen ist, zu einer besseren Einsicht zu gelangen.
Voraussetzung für das Gelingen eines Sokratischen Gesprächs sind die ununterbrochene Teilnahme
aller Teilnehmer vom Anfang bis zum Ende des Gesprächs, die Bereitschaft, sich aktiv am Gespräch
zu beteiligen, sich klar auszudrücken, deutlich zu sprechen, keine langen Reden zu halten, den
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anderen Teilnehmern gut zuzuhören und zu versuchen, sie zu verstehen: Je intensiver die
Verständigung unter den Teilnehmern ist, umso besser wird das Ergebnis des Gesprächs sein.
Der Aublauf eines sokratischen Gesprächs
Ausgehend von der jeweiligen Fragestellung wird in der Regel ein möglichst selbsterlebtes Beispiel
zum Thema gesucht und analysiert. Entsprechend geht man bei mathematischen Themen von
konkreten Beispielen bzw. Figuren aus. Die wichtigsten Regeln des Sokratischen Gesprächs sind:
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Jeder Teilnehmer sagt nur seine eigenen Überlegungen, die Meinungen von "Autoritäten"
gelten nicht als Argument.
Das Thema wird vom Konkreten ausgehend und allmählich abstrahierend untersucht. In der
Regel wird daher zunächst ein konkretes Beispiel aus dem eigenen Erfahrungsbereich (eines)
der Teilnehmer untersucht.
Die wirkliche Verständigung zwischen den Teilnehmern in der Sache hat Priorität vor dem
schnelleren finden von "Ergebnissen".
Es wird Schritt für Schritt vorgegangen unter Beteiligung aller Teilnehmer.
Zu den im Gesprächsverlauf aufgestellten Behauptungen, Vermutungen und Fragen soll
jeweils das Für und Wider begründet und geprüft werden.
Die Teilnehmer bemühen sich gemeinsam um Urteile, denen alle zustimmen können.
Wenn die Gesprächsgruppe ein Urteil gewonnen hat, dem alle zustimmen können, ist ein Konsens
erreicht. Obwohl ein solcher Konsens angestrebt wird, sollte kein Teilnehmer echte Zweifel um eines
schnellen Konsenses willen zurückstellen. Jeder Teilnehmer kann einen Konsens wieder in Frage
stellen, wenn er begründete Zweifel hat. Dies kann er auch dann, wenn er dem Urteil zu einem
früheren Zeitpunkt ausdrücklich zugestimmt hat. Die wichtigen Aussagen bzw. Gedankenschritte
werden für alle sichtbar als "roter Faden" schriftlich festgehalten.
Die Gruppe bemüht sich zuerst um eine Verständigung über das gewählte konkrete Beispiel. Dies
schließt häufig Klärungen über die Verwendungsweise von Bezeichnungen und begrifflichen Inhalten
ein. Wichtig sind die Urteile, die zu dem Beispiel gefällt werden. Sodann werden die Prinzipien,
Überzeugungen und Werte freigelegt, die den anfangs gefällten Urteilen zugrundeliegen. Erst dann
kann in die Untersuchung eingetreten werden, wieweit die für das Beispiel aufgestellten
Behauptungen allgemeingültig sind. Dazu sind weitere Überlegungen und Argumente zu prüfen und
ggf. notwendige Abänderungen vorzunehmen.
Ob ein sokratisches Gespräch gelingt, hängt vom Zusammenwirken der Gruppe ab, nicht nur von der
Leitung. Jeder Teilnehmer ist für die Beachtung der Regeln, aber auch für eine hinreichende
Flexibilität und einen konstruktiven Gesprächsverlauf mitverantwortlich.
Die Aufgaben des Leiters
Der Leiter eines Sokratischen Gesprächs stellt ein Thema, mit dem er sich ausführlich beschäftigt
haben muß. Er beteiligt sich jedoch nicht inhaltlich an dem Gespräch, sondern achtet auf dessen
Verlauf und lenkt es so, daß die Gruppe zu möglichst produktiven Einsichten kommen kann.
Insbesondere hat der Leiter darauf zu achten, daß
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die Teilnehmer nicht vom Gedankengang abschweifen,
die Teilnehmer sich gegenseitig verstehen und wirklich auffassen, was andere Teilnehmer
sagen,
Schritt für Schritt vorgegangen wird unter Beteiligung aller Teilnehmer,
die aufgestellten Behauptungen begründet werden,
ein Fortschritt in der gemeinsamen Untersuchung zustande kommt,
seine Lenkungsentscheidungen der gemeinsamen Einsicht in die Sache dienen,
sich alle um einen Konsens bemühen.
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Unverzichtbar für das Gelingen eines solchen Gesprächs ist, daß alle Teilnehmer am Gespräch
beteiligt sind und am Sachproblem arbeiten. Dadurch, daß der Leiter sich nicht am Sachgespräch
beteiligt, kann er sich ganz auf seine Aufgaben konzentrieren. Der Leiter wird versuchen, den
Teilnehmern Hindernisse für die eigene Einsicht aus dem Weg zu räumen. Seine Vertrautheit mit dem
Thema hilft ihm, wichtige Gesprächsbeiträge für die Gruppe produktiv werden zu lassen und den
Gesprächsgang so zu lenken, daß gemeinsame Einsichten ermöglicht werden.
Das Metagespräch
So einleuchtend diese Methode erscheint, ist die Praxis doch nicht immer leicht. Viel Geduld,
Einfühlungsvermögen und Disziplin jedes Teilnehmers sind nötig. Gruppendynamische Prozesse
können zu Spannungen, ja zu Konflikten führen. Um das Sachgespräch von solchen Störungen zu
entlasten, wurde das "Metagespräch" eingeführt: das Gespräch über das Gespräch. Das
Metagespräch ist für das Sachgespräch oftmals eine wichtige Hilfe. Das Bewußtsein, Unklarheiten
über das Vorgehen, Ärger oder andere Störungen später im Metagespräch vorbringen und bereinigen
zu können, erleichtert es den Teilnehmern, sich auf das Sachgespräch zu konzentrieren. Im
Metagespräch können auch Fragen zur Methode geklärt werden. Und schließlich bietet es
Gelegenheit, sich bei Bedarf über das weitere Vorgehen zu verständigen, also ein Strategiegespräch
zu führen, sofern nicht schon während des Sachgesprächs eine Verständigung über die nächsten
Schritte erreicht wurde.
In der Regel übernimmt ein in sokratischen Gesprächen erfahrener Teilnehmer die Leitung des
Metagesprächs. Der Leiter des Sachgesprächs beteiligt sich an diesem Gespräch.
Themen Sokratischer Gespräche
Für Sokratische Gespräche sind solche Themen – und nur solche – geeignet, für die durch
Nachdenken eine Antwort gefunden werden kann und die dem Erfahrungsbereich aller Teilnehmer
zugänglich sind. Themen, für die empirische oder historische Untersuchungen erforderlich sind oder
für die es nur subjektive Antworten geben kann, sind für ein Sokratisches Gespräch ungeeignet. In
Betracht kommen daher vor allem ethische, erkenntnistheoretische oder mathematische Themen. Bei
ethischen Themen können pädagogische, politische oder psychologische Schwerpunkte gesetzt
werden. Hier einige Beipiele für Themen, die in den letzten Jahren behandelt wurden:
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Was ist Unrecht?
Wofür sind wir verantwortlich?
Gibt es Werte, die unser Leben bestimmen sollten?
Was bedeutet "sinnvoll"?
Welche Kriterien kennzeichnen einen guten Erzieher / eine gute Erzieherin?
Was macht ein Leben zu einem guten Leben?
Hat die Natur ein Recht?
Gibt es berechtigte Ungleichheiten?
Sind Freiheit und Staat vereinbar?
Soll man die Frage der Abtreibung allein den Frauen überlassen?
Was gibt mir die Kraft, nicht den Mut zu verlieren?
Unter welchen Voraussetzungen sind wir berechtigt, etwas für wahr zu halten?
Was heißt es, eine Behauptung zu begründen?
Welche Körper gibt es, die von lauter gleichen Flächen mit gleichen Seiten und gleichen
Winkeln begrenzt werden?
Ist jede Primzahl, die größer als drei ist, Nachbar eines Vielfachen von sechs?
Im Prinzip ist jedes philosophische oder mathematische Thema geeignet, das eine hinreichende Nähe
zur Alltagserfahrung aufweist. Für die sokratische Woche wählen die Gesprächsleiter Themen aus
den verschiedenen Teilgebieten der Philosophie aus und bemühen sich, auch ein mathematisches
Thema anzubieten.
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Die Themen werden so ausgesucht und formuliert, daß zu erwarten ist, daß die Teilnehmer an dem
Thema interessiert sind und die Gruppe in der zur Verfügung stehenden Zeit zu einem Ergebnis
gelangen kann.
Mathematische Themen – zumindest die, die im Rahmen dieser Seminare gestellt wurden und
werden – sind in bestimmter Hinsicht besonders geeignet und fruchtbar für die sokratische Arbeit: Sie
knüpfen an elementare Erfahrungen mit Figuren und Zahlen an, über die jeder verfügt. Dadurch
ermöglichen sie jedem einen unmittelbaren Zugang. Es ist in der Regel leichter als bei anderen
Themen, sich über den Inhalt der Begriffe zu einigen, die man verwendet, und die Gruppe kommt
erfahrungsgemäß eher zu befriedigenden Antworten auf die Ausgangsfrage. Auch kommt es weniger
zu störenden Emotionen.
Im Kontrast zu diesen Vorteilen mathematischer Themen stehen häufig Befürchtungen von
Teilnehmern, sie "könnten keine Mathematik". Groß ist inzwischen jedoch die Zahl derer, für die sich
diese Befürchtungen als unbegründet erwiesen und die während solcher Gespräche erstmals die für
sie überraschende und befriedigende Erfahrung gemacht haben, daß sie kraft ihres eigenen Denkens
zu mathematischen Einsichten gelangen können.
Die Tradition des Sokratischen Gesprächs
Leonard Nelson (1882-1927) war an der Universität Göttingen Professor für Philosophie. als er im
Jahre 1927 im Alter von nur 45 Jahren starb, hinterließ er ein umfangreiches Werk. Zu seinen
bedeutensten pädagogischen Leistungen gehört zweifellos die Entwicklung der sokratischen Methode.
Er hat diese Methode selber praktiziert und stellte sie vor in einem Vortrag bei der Pädagogischen
Gesellschaft in Göttingen am 11. Dezember 1922 (Leonard Nelson: Gesammelte Schriften Bd. 1, 269316).
Unter Nelsons Zuhörern in Göttingen war Gustav Heckmann (1898-1996), damals Student der
Mathematik, Physik und Philosophie, den die Gestalt des Sokrates, dessen Suche nach Wahrheit und
dessen Ablehnung jedes Dogmatismus seit seiner Gymnasialzeit fasziniert hatten. Er sah in der
sokratischen Methode die Möglichkeit, Menschen anzuleiten, in gleichberechtigtem Diskurs einander
gegenseitig bei der Klärung ihrer Gedanken zu helfen und zu vertieften Einsichten zu gelangen.
Gustav Heckmann entschloß sich, die sokratische Methode, wie er sie bei Nelson kennengelernt
hatte, zu erlernen und zu praktizieren.
Nach seiner Promotion bei Max Born (1924) und dem Staatsexamen für das höhere Lehramt (1925)
war er von 1927 bis 1931 Lehrer am Landerziehungsheim Walkemühle. 1933 ging er mit der Schule
ins Exil nach Dänemark und später nach England. 1946 kehrte er nach Deutschland zurück und
erhielt eine Professur für Philsophie und Pädagogik in Hannover.
Gustav Heckmann hat die sokratische Methode jahrzehntelang in der Erwachsenenbildung und der
Lehrerbildung praktiziert. Er hat die sokratische Methode zudem weiterentwickelt und ab 1969 einen
Kreis von jüngeren Menschen angeleitet, Sokratische Gespräche zu leiten. Aus diesem Kreis ist die
GSP hervorgegangen, deren Ehrenmitglied er und seine Ehefrau Charlotte wurden.
Sokratischer Dialog und Nelsons Sokratische Methode
Der Vergleich zwischen dem klassischen sokratischen Dialog und der Nelsonschen sokratischen
Methode verdeutlicht zunächst die unterschiedlichen Strukturen beider Gesprächstypen. Während es
sich bei Sokrates im Kern um einen Dialog zwischen genau zwei Personen – Sokrates und seinem
jeweiligen Gesprächspartner – handelt, sind es bei Nelson immer mehrere Personen, die miteinander
sprechen. Beides sind Gespräche mit maieutischer Absicht, bei denen der Gesprächspartner bzw. die
Gesprächsteilnehmer nicht belehrt werden, sondern dabei unterstützt werden, ihre eigenen Urteile zu
treffen. Sokrates bzw. der Nelsonsche Gesprächsleiter setzen unterschiedliche Instrumentarien ein,
um das Gespräch zum Erfolg zu führen. Bei Sokrates ist es vor allem die Frage, die das Gespräch
charakterisiert. Mit der Frage transportiert er jedoch gleichzeitig Inhalte. Im Grunde stammen die
Argumentationen in den durch Platon überlieferten sokratischen Dialogen von Sokrates selbst. In den
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den Gesprächsverlauf prägenden Entscheidungsfragen wie "Ist es nicht so, daß ..." oder "Meinst du
nicht, daß ..." sind die wichtigen Gedanken enthalten. Dem Geprächspartner obliegt es, mit "ja" oder
"nein" seine Zustimmung oder Nicht-Zustimmung auszudrücken. Er ist Mitvollziehender eines
Gedankenganges, der im wesentlichen durch Sokrates bestimmt wird.
Die Aufgabe zu argumentieren liegt im Nelsonschen Sokratischen Gespräch ganz bei den
Teilnehmern. Der Gesprächsleiter wirkt indirekt: Sein Eingreifen hat in der Hauptsache die Funktion,
das Gespräch zwischen den Teilnehmern so zu steuern, daß diese sich gegenseitig richtig verstehen
und daß sie bei der jeweils zu beantwortenden Frage bleiben. Die Zurückhaltung in der Sache
entlastet den Gesprächsleiter, so daß er seine Aufmerksamkeit darauf konzentrieren kann, wie sich
das Gespräch entwickelt und wie er gegebenenfalls gesprächssteuernde Maßnahmen einsetzen
kann, um dabei zu helfen, daß das Gespräch gelingt. Sein Wissen in der Sache bringt er indirekt ein,
indem er z.B. durch Wiederholenlassen, durch Aufschreiben einzelner Beiträge an der Tafel wichtige
Gedanken der Teilnehmer ins Zent rum der gemeinsamen Aufmerksamkeit rückt. Seine
Gesprächsführung benutzt also fast nur gesprächssteuernde Fragen bzw. gesprächssteuernde
Aufforderungen.
Die Strukturen von sokratischem Dialog und Nelsonschem Sokratischem Gespräch sind in den
Abbildungen 1 und 2 in Diagrammen dargestellt.
In Abb. 1 drückt der Pfeil, der für die Kommunikation zwischen Leiter (L) und
Gesprächspartner (T) steht, die asymmetrische, in Abb. 2 die symmetrische
Struktur der Kommunikation zwischen hier grundsätzlich gleichberechtigten
Teilnehmern (T1, T2, ...) aus. Leiter und Teilnehmer orientieren sich bei
beiden Gesprächstypen an der Sache (S).
Die gestrichelte Linie in Abb. 2 steht für den indirekten Charakter der
Gesprächsleitung im Nelsonschen Sokratischen Gespräch. Eine Asymmetrie besteht auch hier, weil
sich der Leiter zwar an die Teilnehmer richtet, diese aber i.a. nicht an ihn.
In beiden Gesprächstypen ist das eigene Urteil der Teilnehmer gefragt. Bei
Sokrates wird aus der Frage "Ist es nicht so, daß ..." durch die Bejahung des
Gesprächspartners eine durch sein Urteil bestätigte Aussage. Im Nelsonschen
Gespräch werden die Teilnehmer immer wieder gehalten zu prüfen, ob sie
den aufgestellten Sätzen wirklich zustimmen. Erst wenn gemeinsam alle
Einwände verworfen worden sind, kann die Zustimmung zu Ergebnissen
führen, die gemeinsam getragen werden. Beide Gesprächstypen sind
Prüfprozesse, um zu begründeten Aussagen zu gelangen. Gemeinsam ist
beiden auch der Weg, vom Konkreten ausgehend zu Grundsätzen zu
gelangen. Aber erst die Nelsonsche sokratische Methode löst durch die inhaltliche Zurückhaltung des
Leiters den maieutischen Anspruch des Sokrates wirklich ein.
Leonhard Nelson und seine Philosophie
Zeitlich fällt Nelsons Philosophie in die Spätphase des Neukantianismus (1900-1925), die für die
Philosophie in Deutschland eine Umbruchsituation darstellte: Neben den verschiedenen
neukantianischen Schulen gab es erste Ansätze in Richtung der Analytischen Philosophie und der
Phänomenologie. Nelson knüpfte bewußt an die Richtung des Kantianismus an, die Jakob Friedrich
Fries eingeschlagen hatte. Die beiden großen neukantianischen Schulen, die Marburger und die
Südwestdeutsche Schule, beurteilten die Nelsonsche Philosophie um die Jahrhundertwende
abwertend als Psychologismus. Die Marburger Neukantianer Cohen, Natorp und Cassierer
entwickelten ein geltungslogisches Begründungsprogramm wissenschaftlicher Erkenntnis, mit dem
sich Nelson bereits in seinen frühen erkenntnistheoretischen Schriften kritisch und außerordentlich
polemisch auseinandersetzte. Ebenso kritisierte er aber auch die Wertphilosophie von Windelband
und Rickert und die phänomenologische Methode von Husserl als logisch unhaltbare
Begründungsversuche.
Nelsons eigene Philosophie basiert auf der regressiven Methode der Abstraktion, die die
Vernunftgrundlagen unseres Erkennens und Handelns aufweisen soll. Sie hat, aus heutiger Sicht
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betrachtet, eine Reihe von Motiven mit den von ihm kritisierten Philosophien führender Neukantianer
gemeinsam: Rückgriff auf Kant und dessen transzendentale Analyse der Vernunft, das Bestreben, die
Philosophie als Begründungswissenschaft vor der wachsenden Bedeutung der empirischen
Einzelwissenschaften zu retten, den Versuch der Letztbegründung von Erkenntnis, einen
ungebrochenen Glauben an die Vernunft sowie die Integration der frühplatonischen
Vernunftkonzeption in die kritische Philosophie.
Die zentrale Bedeutung von Nelsons Werk ist in der Ausarbeitung einer wissenschaftlich begründeten
Ethik und in deren praktischen Verwirklichungsmöglichkeiten zu sehen. Diese Ethik zeigt neben der
eindeutigen kantianischen bzw. neukantianischen Prägung aber auch Affinitäten zur frühen
Analytischen Philosophie. Dies wird vor allem deutlich in Nelsons axiomatischem
Begründungsprogramm, der logischen Stringenz seiner Beweisführung und seiner klaren Sprache.
Nelson setzte seine theoretischen Konzepte in praktisches, pädagogisches und politisches Handeln
um, indem er sowohl pädagogische wie politische Institutionen schuf und leitete. Auch hierin zeigt sich
eine Paralle zu Werken anderer Neukantianer; von Friedrich Albrecht Lange bis Paul Natorp hatten
sich führende Neukantianer immer wieder in der praktischen Politik für sozialistische Ideen engagiert.
Ebenso waren eine Reihe von Denkern in der letzten Phase der neukantianischen Philosophie
herausragende Pädagogen (so Eduard Spranger und Paul Natorp).
Ein zentrales Anliegen Leonard Nelsons war, Philosophie wissenschaftlich zu begründen. In seiner
theoretischen Philosophie knüpfte Nelson in Fortführung der kritischen Methode an Immanuel Kant an,
durch die (kritische) Rückfrage nach den Bedingungen der Erkenntnis diese auf eine rationale
Grundlage zu stellen. Dabei leitete ihn in klassischer Weise der Gedanke eines axiomatischen
Systems analog zur Mathematik, in dem jedes Urteil begründet wird durch andere Urteile usf., bis man
vor der Frage nach der Begründung letzter Urteile steht. Zwischen Skeptizismus und Dogmatismus
verfolgte Nelson einen dritten Weg der Erkenntnis-Begründung.
Nelsons Ziel war, die Möglichkeit von Erkenntnis durch den Rückgriff auf unmittelbare Erkenntnisse
nicht-anschaulicher Art zu begründen. Mit der Methode der "regressiven Abstraktion" werden
Erfahrungsurteile analysiert und die ihnen zugrunde liegenden Prinzipien aufgedeckt (nicht etwa
induktiv gefolgert). Deren Rechtfertigung erfolgt durch die Methode der "psychologischen Deduktion",
Ergebnisse werden durch die unmittelbare Vernunft in der Selbstbeobachtung aufgewiesen. In diesem
Sinn ist das "Selbstvertrauen der Vernunft" das Kernstück der Nelsonschen Philosophie, die Nelson
anknüpfend an die Ergebnisse von Jakob Friedrich Fries entwickelte. Nelson anerkennt die
Bedeutung der "inneren Erfahrung", seine Philosophie mündet in Vernunftkritik.
Nelson hat sich intensiv (und teilweise polemisch) mit der zeitgenössischen Erkenntnistheorie, aber
auch mit mathematischen und naturwissenschaftlichen Themen auseinandergesetzt. Die
programmatische Abhandlung "Die Unmöglichkeit der Erkenntistheorie" im Jahre 1911 richtet sich
lediglich gegen die Diskussion im Neukantianismus um das Postulat der Existenz eines
Erkenntniskriteriums, die Nelson als das erkenntnistheoretische Vorurteil ad absurdum führte.
Die Tragfähigkeit und Begriffsschärfe der Nelsonschen Erkenntnisphilosophie wird gegenwärtig nicht
einheitlich beurteilt. In Nelsons rigoroser Bemühung um Klärung des Wahren auch in konkreten
Urteilen können Parallelen zu gegenwärtigen Naturalisierungsbemühungen der Erkenntistheorie
gesehen werden. Die antiskeptische Haltung, mit der er an unhintergehbaren Einsichten festhielt, teilt
Nelson mit der Letztbegründungsphilosophie gegenwärtiger Transzendentalpragmatik, wobei die
intersubjektive Dimension noch nicht explizit thematisiert wird, die in der Entwicklung der sokratischen
Methode jedoch schon impliziert ist.
SokratischesGesprächs und Diskurstheorie
Das Sokratische Gespräch weist enge Bezüge zu der von Karl-Otto Apel und Jürgen Habermas in den
70er Jahren entwickelten Diskurstheorie auf. Diese begründet Diskursnormen, indem sie die
Argumentations- bzw. Diskursbedingungen (Apel, Transzendentalpragmatik) aufdeckt und die
Bedingungen kommunikativen Handelns (Habermas, Theorie des kommunikativen Handelns)
erläutert.
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Apel hat die realtivistischen und irrationalistischen Tendenzen der sogenannten pragmatischhermeneutischen Wende in der Philosophie kritisiert. Sein Hauptargument für eine universalistisch
orientierte Philosophie besteht in dem Nachweis, daß einige Sinnbedingungen des Redens
unhintergehbar sind, weil deren Anzweifeln in einen sogenannten pragmatischen Selbstwiderspruch
führe. Ein solcher pragmatischer Selbstwiderspruch liegt vor, wenn in einer Behauptung dasjenige
bezweifelt wird, was im Akt des Behauptens als gültig anerkannt werden muß, damit er als
verständliche Sprachhandlung gelingen kann.
Habermas entwickelte die Grundlagen für eine rationale Theorie des Diskurses und unterscheidet
dabei vier universale Geltungsansprüche: Verständlichkeit, Wahrheit, Richtigkeit und Wahrhaftigkeit.
Die aufgewiesenen Diskursnormen bilden den Grundstein für eine Ethik der Erfolgs- und
Zukunftsverantwortung. In der Reflexion auf die eigene argumentative Rede zeigt sich, daß der
Mensch als vernunftfähiges Wesen immer schon dazu verpflichtet ist, den anderen als
gleichberechtigten und wahrheitsfähigen Diskussionspartner ernst zu nehmen, den idealen
argumentativen Konsens als Geltungskriterium zur Prüfung von Behauptungen anzuerkennen und in
Konfliktfällen eine konsensuelle Lösung anzustreben. Damit ist die doppelte Pflicht verbunden, sich
einerseits für die Verbesserung der Verständigungsverhältnisee einzusetzen, andererseits fär die
Erhaltung der Menschheit als der Sinn- und Existenzbedingung von Verständigung Sorge zu tragen.
Wesentliche Inhalte der Diskursethik, vor allem die Orientierung an allgemeingültiger Wahrheit und an
gegenseitigem Verständnis, kennzeichnen auch die Praxis des Sokratischen Gesprächs. Auf die
Parallelen zwischen Sokratischem Gespräch und rationalem Diskurs weist u.a. ein kritischer Beitrag
Gustav Heckmanns in seinem Buch "das Sokratische Gespräch" hin. Darin diskutiert er die an
Habermas' Diskursethik anknüpfende "Theorie der juristischen Argumentation" von Robert Alexy.
Das Sokratische Gespräch unterscheidet sich von der Diskurstheorie vor allem darin, daß es in ihm
weniger darum geht, die Grundlagen des Redens und Argumentierens zu begründen, als die
aufgewiesenen Prinzipien im Gespräch praktisch werden zu lassen. Gerade aus diesem Grunde lßßt
sich wohl mit Recht sagen: im Sinne der Diskursethik stellt das Sokratische Gespräch einen Diskurs
par excellence dar.
"Sokratisches Philosophieren" Bd. III – Diskurstheorie und Sokratisches Gespräch. Hrsg. v. Dieter
Krohn, Barbara Neißer, Nora Walter. Frankfurt a. M. 1996
© 2001 Philosophisch-Politische Akademie e.V.
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