Sind kulturelle Handlungen etwas spezifisch

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Sind kulturelle Handlungen etwas spezifisch Menschliches?
Überlegungen zum Begriff der kulturellen Praxis
Florian Franken (LMU München)
Vorgetragen am 24.02.2015, Tagung „Praktiken kultureller Orientierung“ der Universität Koblenz-Landau
In seinem 2003 erschienen Artikel »Is Culture a Golden Barrier Between Human and Chimpanzee?« spricht der Verhaltensforscher Christophe Boesch von einem Dogma, dass sich in
den Lebens- und Sozialwissenschaften herausgebildet habe. Diesem Dogma zufolge, das Boesch in seinem Artikel beabsichtigt in Frage zu stellen, seien Menschen die einzigen Lebewesen auf der Erde, die eine Kultur ausbilden:
»Culture frees us from the natural world whereas all other living animals are mainly
influenced by nature. But is that dogma really so?« 1
Um die Diskussion dieser Frage auf eine adäquate Grundlage zu stellen, erscheint es angebracht, den Kulturbegriff, der in diesem Zusammenhang in Anschlag gebracht wird, konzeptuell näher zu beleuchten. Die Begriffsklärung gehört zum Kerngeschäft der Philosophie. Sie
scheint insbesondere deshalb angezeigt, da laut Boesch zu beobachten ist, dass Primatologen,
Psychologen, Biologen und Anthropologen in den jeweiligen wissenschaftlichen Kontexten
den Kulturbegriff auf verschiedene Weise gebrauchen und seiner Verwendung durchaus unterschiedliche Kriterien unterstellen. Primatologen bringen den Kulturbegriff häufig mit dem
instrumentellen Verhalten von Menschenaffen im Zusammenhang des Werkzeuggebrauchs
(„tool use“) in Verbindung, während sich Psychologen dem Begriff durch die Untersuchung
verschiedener Lernprozesse annähern, um ein Verständnis der damit einhergehenden kulturellen Überlieferung von Informationen zu erhalten. Biologen wiederum verfolgen diesbezüglich
die Vorstellung einer „kulturellen Evolution“ als Alternative zur genetischen Evolution, während Anthropologen schließlich die Möglichkeit einer begrifflichen Einbeziehung anderer
Arten scheinbar bereits definitorisch auszuschließen beabsichtigen 2.
1
Vgl. Ch. Boesch, (2003): »Is Culture a Golden Barrier Between Human and Chimpanzee?«, Evolutionary Anthropology 12, 82-91.
2
Zu den jeweiligen Referenzen vgl. ebd. Es scheint indes untereinander auch Überschneidungen der Begriffskontexte zu geben. So definiert Michael Tomasello einleitend in den von ihm gehaltenen Tanner Lectures 2008:
1
Einigkeit scheint in den genannten Wissenschaften indes in den folgenden drei Punkten zu
bestehen: Erstens bezieht sich der Kulturbegriff auf eine Praxis, und kulturelle Praktiken werden innerhalb dieser Praxis von anderen Teilnehmern erlernt und auf diese Weise sozial vermittelt. Zweitens lassen sich kulturelle Praktiken, weil sie Teil einer sozialen Praxis sind, bestimmten Gemeinschaften zuordnen und von den kulturellen Praktiken anderer Gemeinschaften unterscheiden. Drittens besitzen kulturelle Praktiken unter Teilnehmern gemeinsam geteilte Bedeutungen, die durch Symbolsysteme ausgedrückt werden können 3.
Ich möchte den Kulturbegriff und den mit ihm im engeren Sinne verbundenen Begriff kultureller Praktiken in Verbindung mit den drei genannten Punkten im Folgenden näher untersuchen. In diesem Zusammenhang möchte ich (I) zeigen, dass aus ihnen ein wichtiger vierter
Punkt hervorgeht, dem zumeist wenig Beachtung geschenkt wird 4, auf den sich die Wissenschaften in ihrer Verwendung jedoch notwendigerweise verpflichten müssen. Er lautet: Kulturelle Praktiken zeichnet aus, dass sie normativ strukturierte Praktiken sind. Ich werden diesen
Punkt erläutern und (II) an einem Beispiel dafür argumentieren, dass der Mensch als einzige
Spezies dazu in der Lage ist, Praktiken normativ zu strukturieren, d.h. sie mit einem normativen Status zu verbinden. Kulturelle Praktiken, verstanden als normativ strukturierte Praktiken,
beinhalten eine Form von Verbindlichkeit und ein Orientierungspotential, das durch das Auftreten kultureller Brüche in Ermangelung einer normativen Struktur, verloren gehen kann. In
solchen Fällen werden die zu (re-)etablierenden normativen Strukturen von Praktiken selbst
zum Gegenstand der Rechtfertigung. Ich werde diesbezüglich (III) zeigen, unter welchen Bedingungen sich normative Strukturen selbst rechtfertigen lassen, ohne dabei argumentativ in
die Gefahr eines Zirkelschlusses zu geraten.
»When individuals socially learn to the degree that different populations of species develop different ways of
doing things, biologists now speak of culture.«; vgl. M. Tomasello (2009): Why we cooperate, Cambridge, Mass.
3
Vgl. Boesch (2003), S. 83.
4
Eine Ausnahme stellt Tomasello (2009) dar, der für seine These, dass die menschliche Kultur einzigartig ist,
zwei Argumente anführt: Die menschliche Kultur ist (i) durch eine kumulative kulturelle Evolution („cumulative
cultural evolution“) gekennzeichnet, d.h. es besteht die Möglichkeit der Weitergabe und des Erlernens verbesserter und neuer Praktiken. Sie ermöglicht (ii) die Erschaffung sozialer Institutionen verstanden als »sets of behavioral practices governed by various kinds of mutually recognized norms and rules«. Allerdings zeigt Tomasello
nicht, dass diese beiden Eigenschaften wesentlich miteinander zusammenhängen. Zur Idee der »mutually recognized norms and rules« vgl. R. B. Brandom (1994): Making It Explicit, Cambridge, Mass.
2
I
Der Philosoph im 20. Jahrhundert, dessen Überlegungen der Spätphase sich in ausgezeichneter Weise mit den drei oben genannten Aspekten des Kulturbegriffs in Verbindungen bringen
lassen, ist Ludwig Wittgenstein. Wittgenstein, der philosophisch zunächst an dem Gebiet der
Logik und deren Formalisierung durch Russell und Frege interessiert war, entwickelte vermutlich bereits Ende der 20er Jahre die Idee, Sprache nicht als ein formallogisches Konstrukt,
sondern als eine Praxis, d.h. als ein Geflecht von Tätigkeiten zu verstehen, und damit ihren
Gebrauchscharakter in den Mittelpunkt zu stellen. Diese Idee wird von ihm mit dem bekannt
gewordenen Ausdruck des Sprachspiels beschrieben. Mit ihm wird hervorgehoben, dass »das
Sprechen der Sprache ein Teil ist einer Tätigkeit, oder einer Lebensform«5.
Anhand der Beschreibung primitiver Sprachspiele kann Wittgenstein zu Beginn seiner Philosophischen Untersuchungen in erhellender Weise zeigen, wie sprachliche Praktiken durch die
soziale Interaktion zwischen einem (oder mehreren) kompetenten Sprachteilnehmer(n) (im
Folgenden als „Lehrer“ bezeichnet) und einem Neuling), der in die Sprachpraxis eingeführt
werden soll (im Folgenden als „Novize“ bezeichnet), erlernt werden 6. In einem Vergleich mit
dem Augustinischen Bild der Sprache, das Wittgenstein den Confessiones entnimmt (vgl. PU
1), beschreibt er die Interaktionen, in denen sich der Spracherwerb vollzieht, unter den Bezeichnungen »ostensives Lehren« und »ostensive Definition«. Auf diese Vorgänge zurückgreifend, beziehe ich mich auf den ersten Aspekt des Kulturbegriffes, das Erlernen sozial geteilter Praktiken.
Ostensives Lehren kann als ein kausaler Prozess zwischen dem Lehrer und dem Novizen verstanden werden, der beispielsweise das Ziel hat, eine assoziative Verbindung zwischen einem
Wort und einem Gegenstand zu schlagen (vgl. PU 6). Es ist wichtig zu berücksichtigen, dass
dieser Prozess noch vor einem hinweisenden Erklären (z.B. durch hinweisende Definition) am
Anfang des Spracherwerbs steht, da, wie Wittgenstein bemerkt, das Kind (i.e. der Novize)
noch nicht nach einer Benennung fragen kann (vgl. PU 6; 30). Dazu fehlt ihm aus genealogischen Gründen die sprachliche Kompetenz. Ihm diese Kompetenz zu unterstellen, wie es Augustinus in den Confessiones scheinbar tut, bedeutet, die Fähigkeiten des Lehrers in den Novizen hineinzulesen.
5
L. Wittgenstein (2009): Philosophical Investigations, 4. Aufl., hg. von Peter M. S. Hacker / Joachim Schulte,
Oxford, §23. Die nachfolgenden Verweise werden direkt im Text mit der Abkürzung PU und der entsprechenden
Bezifferung der Bemerkungen vorgenommen.
6
In Bezug auf das Thema und die hier verwendete Terminologie vgl. M. Williams (2010): Blind Obedience.
Paradox and learning in the later Wittgenstein, London, insbes. Kap. 2 & 3.
3
Andererseits leuchtet es ein, dass sich sprachliches Verstehen nicht bloß in der dispositionalen
Fähigkeit erschöpfen kann, in einer bestimmten Weise auf einen Reiz zu reagieren. Anderenfalls würde sich die menschliche Äußerung eines Wortes beispielsweise nicht von der Fähigkeit eines trainierten Papageien unterscheiden und das Verstehen könnte folglich durch einen
einfachen Behaviorismus erklärt werden 7. Entgegen einer verbreiteten Annahme sind Wittgensteins Überlegungen jedoch keinesfalls als behavioristisch zu verstehen (vgl. PU 307).
Denn die Besonderheit am ostensiven Training besteht nicht lediglich darin, dass der Novize
auf einen Reiz reagiert, sondern darin, dass er im Zusammenhang eines bestimmten Trainings,
d.h. einer Praxis unter bestimmten Umständen, gelernt hat, in einer bestimmten Weise zu reagieren. »Mit einem anderen Unterricht«, bemerkt Wittgenstein, »hätte dasselbe hinweisende
Lehren […] ein ganz anderes Verständnis bewirkt.« (PU 6).
Ich komme nun zum zweiten Aspekt des Kulturbegriffs, die Ansässigkeit der Praxis in einer
Gemeinschaft. Vor dem Hintergrund der vorangegangenen Erläuterungen lässt sich hinzufügen, dass die Form des Unterrichts Teil einer bereits bestehenden Praxis ist, die von dem Lehrenden im Zuge des hinweisenden Lehrens in Anschlag gebracht wird. Der Lehrende teilt
diese Praxis mit anderen Teilnehmern der Gemeinschaft, die in der Vergangenheit ebenfalls in
bestehende Praktiken eingeführt worden sind. Wittgenstein betont in den Philosophischen
Untersuchungen, dass der soziale Charakter sprachlicher Praktiken für die Möglichkeit der
Verständigung essentiell ist:
»Zur Verständigung durch die Sprache gehört nicht nur eine Übereinstimmung in den
Definitionen, sondern (so seltsam dies klingen mag) eine Übereinstimmung in den Urteilen.« (PU 242)
Dem ostensiven Lehren gehen ebenso wie dem ostensiven Erklären bereits in einer Gemeinschaft gemeinsam geteilte Praktiken voraus. Dabei ist der wichtige Punkt zu berücksichtigen,
dass im Zusammenhang der Erwerbssituationen generell die Möglichkeit bestehen muss, den
erlernten Praktiken einen eigenen, d.h. einen von den Zuschreibungen der Gemeinschaft unabhängigen, normativen Status zuschreiben zu können. Würde der normative Status prinzipiell auf denjenigen der gemeinschaftlichen Praktiken reduziert, würde der normative Raum
zugunsten eines gemeinschaftlich konformen Verhaltens aufgegeben werden müssen, das sich
7
Diese Sorge äußert z.B. Brandom (2000), Articulating Reasons. An Introduction to Inferentialism, Cambridge,
Mass., S. 14 explizit gegenüber Wittgenstein. In Brandom (1994) formuliert er die Gefahr eines »Regularismus«.
4
der Korrigierbarkeit entzöge 8. Die Berücksichtigung dieses Punktes wiederspricht gleichzeitig
nicht einer Anerkennung der Bedingung, der zufolge der Erwerb von Praktiken bestehende
sozial geteilte Praktiken einer Gemeinschaft im Rücken liegen müssen, vor deren Hintergrund
sich die Übereinstimmungen in den Überzeugungen und die Möglichkeit normativer Beurteilung verständlich machen lässt.
Daran schließt sich der dritte Aspekt des Kulturbegriffs an, dem Aspekt gemeinsam geteilter
Bedeutungen in Symbolsystemen, auf den ich hier nur in knappen Sätzen eingehen möchte.
Die bisherigen Erläuterungen fortführend, kann die Konstituierung sprachlicher Bedeutungen
innerhalb einer gemeinsam geteilten Praxis so verstanden werden, dass die bedeutungskonstituierenden Praktiken durch ostensives Lehren und ostensive Definition vor dem Hintergrund
bereits bestehender gemeinsam geteilter Praktiken erlernt wird. Auf diese Weise wird der Novize in die bedeutungskonstituierenden und bedeutungstragenden Praktiken einer Gemeinschaft eingeführt.
Wichtiger und interessanter scheint mir in diesem Zusammenhang aber nun der zu ergänzende
vierte Aspekt des Kulturbegriffs zu sein, nämlich die Beobachtung, dass die Beherrschung
sprachlicher Praktiken stets eine normative Struktur voraussetzt, ohne die, wie mir scheint, die
praktische Einführung des Novizen gar nicht verständlich gemacht werden kann. Damit der
Gebrauch der erlernten Praktiken von Seiten des Novizen als korrekt oder inkorrekt beurteilt
werden kann, muss bereits ein normativ strukturiertes Verständnis dieser Praktiken vorausgesetzt werden können, das sich hintergründig in der Beherrschung der Praktiken durch den
Lehrenden ausdrückt. Mithilfe dieses Hintergrunds erfolgt die Strukturierung des normativen
Raumes, in dem der Novize die betreffenden Praktiken erlernt. Auf diese Weise erhalten die
(kausalen) Verhaltensreaktionen durch den Hintergrund des Lehrenden unter den Umständen
eines bestimmten Trainings einen normativen Status. Im folgenden Abschnitt werde ich diesen Punkt an einem kurzen Beispiel erläutern.
8
Dieser Punkt kann hier nicht eingehender betrachtet werden. Eine gegenteilige Auffassung vertritt der sogenannte »community view« (vgl. dazu C. Wright (1980): Wittgenstein on the Foundation of Mathematics,
Cambridge, Harvard University Press). Zur Kritik an dieser Auffassung vgl. Brandom (1994), Williams (2010)
und J. McDowell (1984): »Wittgenstein on Following a Rule«, Synthese 58, 325-363.
5
II
In einer Studie von Claudio Tennie, Josep Call und Michael Tomasello aus dem Jahr 2012
wurde das Lernpotenzial anhand der Imitationsfähigkeit von untrainierten Schimpansen untersucht 9. Die Versuchstiere sollten ein in ihrem natürlichen Repertoire nicht vorhandenes Verhalten infolge der Demonstration durch einen männlichen Affen mit dem Namen Mawa imitieren. Mawa wurde auf dieses Verhalten von einem menschlichen Trainer abgerichtet und
bekam bei Anwendung des richtigen Verhaltens eine Futterbelohnung. In zwei Studien zeigte
das Verhalten eines der Versuchstiere mit dem Namen Baluku Anzeichen dafür, dass das Tier
in der Lage ist, das Zielverhalten tatsächlich zu imitieren. Daraufhin wurden drei weitere Studien mit Baluku durchgeführt, in denen das Tier eine betende Geste nachahmen sollte, die
Mawa ihm vorführte. Gegenüber den Ergebnissen der ersten beiden Studien war jedoch nicht
zu beobachten, dass Baluku das neue Verhalten für die Forscher erkennbar imitierte.
Diese kurze Skizze des Experiments gibt im Zusammenhang der bisherigen Untersuchung
kultureller Praktiken Anlass zu drei interessanten und weiterführenden Fragen, die aus dem
Experiment hervorgehen:
(1) Warum ist Mawa in der Lage gewesen, die verschiedenen Verhaltensweisen zu Demonstrationszwecken zu erlernen und durchzuführen?
(2) Wie ist es zu erklären, dass Baluku in den ersten beiden Studien scheinbar in der Lage
war, das demonstrierte Verhalten zu kopieren?
(3) Warum ist Baluku in den drei anschließenden Studien den Ergebnissen zufolge nicht
dazu in der Lage gewesen, die betende Geste zu imitieren?
Die meine diesbezüglichen Überlegungen leitende Vermutung ist, dass die Berücksichtigung
des normativen Charakters kultureller Praktiken einerseits für ein adäquates Verständnis der
Untersuchungsergebnisse hilfreich zu sein scheint, zum anderen kann er auch als ein Kriterium zur Bestimmung von kulturellen Praktiken als spezifisch menschlichen Praktiken dienen.
Wenden wir uns also zunächst der ersten der drei Fragen zu. Laut der Studie ist Mawa von
einem menschlichen Trainer auf das Zielverhalten abgerichtet worden. Das Tier nimmt hier
die Rolle des Novizen ein und muss dazu zunächst, neben perzeptiven Fähigkeiten, lediglich
die Fähigkeit besitzen, auf Reize zu reagieren und diesbezüglich Gewohnheiten auszubilden.
9
Vgl. C. Tennie, J. Call, M. Tomasello (2012): »Untrained Chimpanzees (Pan troglodytes schweinfurthii) Fail to
Imitate Novel Actions«, PLoS ONE 7 (8): e41548.
6
Die Form des Trainings und die damit verbundene normative Struktur bestimmt der Trainer.
Seine Fähigkeit, dem Verhalten einen normativen Status zuzuweisen, ist notwendige Voraussetzung dafür, dass das Training als ›erfolgreich‹ bezeichnet werden kann.
Wenn es stimmt, dass die Fähigkeit des Trainers zur normativen Strukturierung des Verhaltens vorausgesetzt werden muss, dann lässt sich zweitens fragen, warum Baluku scheinbar in
der Lage war, das Verhalten in den ersten beiden Studien zu imitieren. Um diese Frage zu
beantworten, sollte eine wichtige Unterscheidung zwischen kausaler Konditionierung und
normativer Strukturierung des Verhaltens berücksichtigt werden. In den ersten beiden Studien
wurde Baluku von Mawa nicht durch ein Training abgerichtet, sondern das Tier machte die
kausal strukturierte Erfahrung, dass auf Mawas Verhalten eine Belohnung folgte. Es reagierte
entsprechend auf die gemachte Erfahrung, um ebenfalls eine Belohnung zu erhalten. Mawa
erhielt ein normativ strukturiertes Training, während Baluku lediglich nach einem demonstrierten Verhaltensmuster auf eine bestimmte Situation reagieren kann. Auch wenn das Verhalten in der Beobachtung zum gleichen Ergebnis führt, so ist zu berücksichtigen, dass Mawas Verhalten von Seiten des Trainers ein normativer Status zugewiesen wird, während Balukus Verhalten keinen solchen Status besitzt, sondern lediglich in einer kausalen Beziehung
zum demonstrierten Zielverhalten steht 10. Dieser Unterschied tritt noch deutlicher hervor,
wenn man sich vorstellt, dass das Verhalten der Versuchstiere ganz ohne äußere Belohnung
erfolgen würde.
Daran anschließend kann die dritte Frage wie folgt beantwortet werden. Die Geste in den drei
darauffolgenden Studien konnte nicht erfolgreich imitiert werden, weil Baluku nicht mittels
eines normativ strukturierten Trainings auf sie abgerichtet worden ist. Die Form der kausalen
Konditionierung des Verhaltens reicht für sich genommen nicht dazu aus, dass Baluku in die
Lage versetzt werden könnte, die Geste zu imitieren. Das bedeutet im Umkehrschluss, dass
das Imitieren der unnatürlichen Geste auf den Voraussetzungen normativ strukturierten Trainings beruht. Aus dem Ergebnis des Experiments, dass Schimpansen als die nächsten Verwandten des Menschen nicht dazu in der Lage sind, ein normativ strukturiertes Verhalten untereinander zu imitieren, kann bis auf weiteres die Schlussfolgerung gezogen werden, dass
ihnen nicht die Fähigkeiten zur Verfügung stehen, die zur Imitation des Verhaltens notwendig
10
Vgl. M. Williams (2010), S. 49: »Skinner box creatures can obscure the difference between causally conditioned doings and normatively informed doings of a primitive sort. This is because the behavior of Skinner box
creatures is informed by norms imposed by the experimenters. They decide what behavior is correct […].«
7
vorausgesetzt werden müssen, und Menschen folglich die einzigen Lebewesen auf der Erde
sind, die diese Fähigkeit besitzen.
III
Kulturelle Praktiken gewinnen durch die normative Struktur, die ihnen im Rücken liegt, ein
signifikantes Potenzial an Verbindlichkeit und Orientierung im Rahmen einer gemeinsam
geteilten Praxis. Die Kultur, die sich durch die Ausführungen menschlicher Praktiken konstituiert, besitzt aufgrund dessen eine außergewöhnliche Kontinuität und Stabilität, sowohl für
die Gemeinschaft als auch für das praktisch handelnde und interagierende Individuum. Indem
der Novize in die gemeinschaftliche Praktiken eingeführt werden, werden die Praktiken mit
einem normativen Status versehen. Dieser Status ist aus der Sicht des Novizen aufgrund der
Ermangelung eines bestehenden Hintergrunds zunächst unbezweifelbar, und besitzt für ihn
dadurch den höchstmöglichen Grad der Verbindlichkeit und Orientierung. Die besondere
Verbindlichkeit und Orientierung wird, wie Wittgenstein an einer Stelle bemerkt, ebenfalls
durch den Eindruck bestätigt, man folge der Regel »blind« (vgl. PU 219).
Mit dem fortschreitenden Erwerb von an Komplexität zunehmenden Praktiken und der fortschreitenden Integration in die gemeinschaftliche Praxis werden die Verbindlichkeit und Orientierung, d.h. die normativen Status der erlernten Praktiken durch zwei Faktoren jedoch zunehmend und kontinuierlich in Frage gestellt: zum einen durch die Möglichkeit des Zweifels
jeder einzelnen Akteurin an der Richtigkeit ihrer einstmals erlernten Praktiken und zum anderen durch das kontinuierliche Angebot anderer Teilnehmer an die Akteurin, weitere und bislang unbekannte Praktiken zu erlernen, die unter Umständen in einem Konkurrenzverhältnis
zu den eigenen Praktiken stehen 11. Dadurch ist der Überzeugungsholismus der einzelnen Akteurin kontinuierlich einem potentiell verändernden Einfluss durch die Praktiken anderer Akteurinnen ausgesetzt.
Durch den gesellschaftlichen Fortschritt und das Entstehen technischer Innovationen tritt drittens grundsätzlich die Möglichkeit hinzu, dass bislang ungeregelte Handlungskontexte auftreten, in denen zu jeder vorstellbaren Zeit und möglicherweise ganz unerwartet die Ausführung
11
Autoren wie R. Brandom behaupten demgegenüber, dass zwar die normativen Einstellungen der Akteurinnen
in Frage gestellt werden können, sich die normativen Status aufgrund der inferenziellen Beziehungen, aus denen
heraus sie sich legitimieren, in der deontischen Buchführung letztlich über alle Zweifeln erhaben sind. Ich meine
stattdessen, dass generell der legitime Wechsel normativer Status (und damit ein Verlust an Verbindlichkeit und
Orientierung) mit zunehmender Pluralisierung elaborierter Praktiken in politisch verfassten Gemeinschaften
wesentlich begünstigt wird. Vgl. dazu auch F. Franken (2015): »Überreden und Überzeugen. Eine Verhältnisbestimmung aus der Perspektive des späten Wittgenstein«, Deutsche Zeitschrift für Philosophie 63 (1): 1-29.
8
neuer Handlungsweisen virulent wird, so dass der diesbezüglichen Praxis von sich aus eine
bereits etablierte normativen Struktur fehlt 12.
In solchen Situationen stellt sich die Frage nach Kriterien, mit denen die erstmalige oder erneute Festlegung normativer Status gerechtfertigt werden kann. Eines dieser Kriterien lässt
sich, wenn ich richtig sehe, aus der oben ausgeführten Tatsache gewinnen, dass die Akteurinnen praktische Wesen sind, d.h. ihr Selbstverständnis durchgängig davon geprägt ist, dass sie
immer schon in praktischen Zusammenhängen stehen. Anthropologisch betrachtet scheint es
eine menschliche Grundkonstante zu sein, dass wir praktische Wesen sind und wir uns die
menschliche Lebensform nicht anders vorstellen können als eine praktische, d.h. notwendig
unter der Bedingung, dass Menschen etwas tun. Wir haben gesehen, dass diese praktischen
Zusammenhänge geregelt sind, und dadurch die Möglichkeit der Interaktion gewährleistet ist.
Bei uns Menschen besteht aufgrund der Tatsache, dass wir uns notwendig praktisch verhalten,
ein grundsätzliches Eigeninteresse, die Interaktionspraxis möglichst aufrechtzuerhalten. Zur
Unterstützung dieser Annahme denke man beispielsweise an Menschen, deren Situation nicht
in Übereinstimmung mit diesem Eigeninteresse liegt. Das kann entweder der Fall sein, weil
sie sich aktiv in der Fortsetzung der Interaktion mit anderen Akteurinnen behindern (mangelndes Selbstwertgefühl, Vereinsamung oder Depression kann die Folge sein), oder weil
ihnen die Möglichkeit zur Interaktion (z.B. als eine Strafmaßnahme) entzogen worden ist.
Von dem essentiellen Eigeninteresse des Menschen, praktisch zu sein, leitet sich die Forderung nach der Aufrechterhaltung der Interaktion ab.
Die Wahrscheinlichkeit dazu steigt, wenn es den Akteurinnen gelingt, ihre Praktiken danach
auszurichten, dass sie Anschlussmöglichkeiten für weitere Praktiken liefern. In diesem Zusammenhang sei noch einmal an Wittgensteins Ausdruck des Sprachspiels erinnert: Das Spiel
besteht, so lange es möglich ist, weitere Züge im Spiel durchzuführen. Sofern ein Interesse
daran besteht, das Spiel aufrechtzuerhalten, besteht ebenfalls ein Interesse daran, die Möglichkeit von weiteren Spielzügen zu garantieren.
Unser eigenes Interesse an der Aufrechterhaltung der Interaktionspraxis stellt Praktiken insofern unter die Bedingung anschlussfähig, und in diesem Sinne gebrauchsfähig, zu sein. Ich
nenne diese Bedingung das Kriterium der Praktikabilität. Im Umgang mit der Welt leuchtet
die Notwendigkeit der Bedingung unmittelbar ein. In einer Welt beispielsweise, in der die
Farben von Gegenständen alle fünf Sekunden wechseln würden, wären unsere Farbbegriffe
unbrauchbar. In einer Welt, in der Gegenstände nicht ihren Grad an Stabilität und Identität für
12
Beispiele, die sich diesbezüglich aufdrängen, sind zumeist eng an Fragen von Leben und Tod geknüpft, wie
etwa Fragen zur Abtreibung, Sterbehilfe, Todesstrafe, Terrorismusbekämpfung, etc.
9
eine gewisse Zeitspanne beibehalten würden, um ein weiteres Beispiel zu nennen, wären die
einfachsten mathematischen Sätze unbrauchbar. Und besäßen Menschen darüber hinaus nicht
die Fähigkeit Identitäten und Ähnlichkeiten zu erkennen, wären solche Sätze ebenfalls unbrauchbar. Im Umgang mit den Praktiken anderer Akteurinnen gelten ganz ähnliche Bedingungen. Sofern Praktiken nicht so angelegt sind, dass andere Teilnehmer mit ihrem Repertoire
an Praktiken daran anschließen können, gerät die Interaktion ins Stocken und gelangt im Extremfall zum Erliegen. Damit zeigen sich die bisherigen Praktiken und ihr normativer Status
aufgrund mangelnder Praktikabilität als unbrauchbar.
In Ermangelung einer brauchbaren normativen Struktur kommt es zu Brüchen im Versuch der
Ausübung kultureller Praktiken. Diese Brüche können je nach Betrachtungsgegenstand gesellschaftlich oder in einzelnen Biographien erfolgen. Sie lassen sich, wie mir scheint,
dadurch überwinden, dass sich der normative Status von Praktiken erneut an ihrer Gebrauchsfähigkeit in der Interaktion ausrichtet. Die Tatsache, dass kulturelle Brüche auch in Eigenregie durch die Anwendung unbrauchbarer Praktiken hervorgerufen werden können, ist ein Beleg dafür, dass die Praktikabilität nicht an kausale Regularitäten in der Welt gebunden ist, wie
die genannten Beispiele im praktischen Umgang mit der Welt vielleicht nahelegen. In Bezug
auf die Wahl unserer Praktiken sind wir als kompetente Teilnehmer einer gemeinsamen Praxis selbst verantwortlich, und also auch dafür, die Möglichkeit zu nutzen, die Wahl unserer
Praktiken an dem Kriterium ihrer Gebrauchsfähigkeit zu orientieren. Die kulturelle Praxis
impliziert die Möglichkeit von Brüchen, weil ihre Teilnehmer kontinuierlich vor der Aufgabe
stehen, den normativen Status einzelner Praktiken an der Gebrauchsfähigkeit auszurichten
und somit ihre Interaktionsmöglichkeiten aufrechtzuerhalten. Die Erkenntnis, dass wir in der
Lage sind, unseren Praktiken mit normativen Status zu verbinden stellt einen, und meiner
Auffassung nach den wesentlichen Aspekt des Kulturbegriffs dar. Zur Geschichte des Kulturbegriffs gehört allerdings gerade deshalb auch, dass wir an dieser Aufgabe grundsätzlich
scheitern können und auch in historischen Abständen daran scheitern und gescheitert sind.
Schließlich besteht die anthropologische zu formulierende Aufgabe für uns darin, die Normativität unseres Handelns so auszurichten, dass sie zu unserem generellen Eigeninteresse als
praktisch Agierende und Interagierende nicht im Widerspruch steht. Nicht mehr, aber auch
nicht weniger, haben wir als kulturelle Wesen von uns selbst abzuverlangen.
10
Literatur
Boesch, Christophe (2003): »Is Culture a Golden Barrier Between Human and Chimpanzee?«,
Evolutionary Anthropology 12, 82-91.
Brandom, Robert B. (1994): Making It Explicit, Cambridge, Mass.
Brandom, Robert B. (2000), Articulating Reasons. An Introduction to Inferentialism, Cambridge, Mass.
Franken, Florian (2015): »Überreden und Überzeugen. Eine Verhältnisbestimmung aus der
Perspektive des späten Wittgenstein«, Deutsche Zeitschrift für Philosophie 63 (1): 1-29.
McDowell, John (1984): »Wittgenstein on Following a Rule«, Synthese 58, 325-363.
Tennie, Claudio, Call, Josep, Tomasello, Michael (2012): »Untrained Chimpanzees (Pan troglodytes schweinfurthii) Fail to Imitate Novel Actions«, PLoS ONE 7 (8): e41548.
Tomasello, Michael (2009): Why we cooperate, Cambridge, Mass.
Williams, Meredith (2010): Blind Obedience. Paradox and learning in the later Wittgenstein,
London.
Wittgenstein, Ludwig (2009): Philosophical Investigations, 4. Aufl., herausg. von Peter M. S.
Hacker / Joachim Schulte, Oxford.
Wright, Crispin (1980): Wittgenstein on the Foundation of Mathematics, Cambridge, Harvard
University Press.
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