Über alle politischen, regionalen oder konfessionellen Grenzen

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Über alle politischen, regionalen oder konfessionellen Grenzen hinweg dominiert im 17. Jahrhundert noch die Idee einer zweckmäßig geschichteten Sozialordnung. »Hohe« und »niedere« Literatur
werden in der gleichen Weise gegeneinander abgegrenzt, wie Adel
und Nicht-Adel kontrastieren. Die barocken Poetiken reflektieren
jeweils nur die »hohen« Literaturformen: am deutlichsten zu beobachten beim Roman, wo zunächst nur die höfische Variante theoriefähig war, nicht jedoch der Pikaroroman. Trotz dieser Asymetrie
bleibt die aus der antiken Rhetorik übernommene Dreistil-Lehre
für Produktion wie Rezeption im Hintergrund in Kraft. Mit dem
allmählichen Abbau der Ständeordnung einher geht die Entwicklung einer von italienischen und französischen Vorbildern inspirierten Poetik des Barock-Klassizismus.
Der sozialgeschichtliche Ansatz im vorliegenden Band paßt sich
den kulturellen wie sozialen Besonderheiten des Barockzeitalters
an: Er stellt die frühneuzeitliche Literatur vor, wie sie auf die spezifischen Bedingungen des 17. Jahrhunderts reagiert, und eröffnet
heutigen Lesern ein Verständnis von Texten, die unseren Denk- und
Wahrnehmungsgewohnheiten ferngerückt sind, weil sie einer anderen »Diskursordnung« angehören als der heutigen.
Hansers Sozialgeschichte
der deutschen Literatur
vom 16. Jahrhundert bis zur Gegenwart
Begründet von Rolf Grimminger
Band 2
Die Literatur des 17. Jahrhunderts
Herausgegeben von Albert Meier
Deutscher Taschenbuch Verlag
Register: Manfred Pfister
Mai 1999
Deutscher Taschenbuch Verlag GmbH & Co. KG,
München
O 1999 Carl Hanser Verlag München Wien
Umschlagkonzept: Balk & Brumshagen
Satz: Satz für Satz. Barbara Reischmann, Leutkirch
Druck und Bindung: Appl, Wemding
Printed in Germany
ISBN 3-446-12776-3 (Hanser)
ISBN 3-423-04344-X (dtv)
5
Inhalt
Vorwort
9
A. Historisch-politische Grundlagen
Michael Maurer
Geschichte und gesellschaftliche Strukturen
des 17. Jahrhunderts
18
B. Philosophisch-anthropologische Grundlagen
Christoph Deupmann gen. Frohues
Philosophie und Jurisprudenz 100
Claus-Michael Ort
Affektenlehre 124
Steffen Martus
Sprachtheorien 140
C. Literaturbezogene Institutionen
1. Literarisches Handeln
Anke-Marie Lohmeier
>Vir eruditus< und >Homo politicus<. Soziale Stellung
und Selbstverständnis der Autoren 156
Peter Cersowsky
Buchwesen 176
Ingo Breuer
Literarische Sozietäten 201
6
INHALT
2. Literarische Formen
Boy Hinrichs
Rhetorik und Poetik 209
Ernst Osterkamp
Emblematik 233
Jutta Breyl
Dedikationen in Text und Bild 255
Kirsten Erwentraut
Briefkultur und Briefsteller — Briefsteller und Briefkultur . . 266
Guillaume van Gemert
Fremdsprachige Literatur
(>Latinität< und Übersetzungen)
286
D. Literarische Institutionen:
Funktionsbereiche und Gattungssystem
1. Höfische Repräsentationsliteratur
Albert Meier
Der Heroische Roman 300
Michael Schilling
Lyrik 316
Markus Engelhardt
Oper, Festspiel, Ballett 333
2.Religiöse Literatur
Irmgard Scheitler
Geistliche Lyrik 347
Helmuth Thomke
Geistliches Drama und Kritik am Drama 377
INHALT
7
Franz Eybl
Predigt / Erbauungsliteratur 401
Peter Cersowsky
Pansophische Literatur 420
3. Bürgerlich-weltliche Literatur
a) Gebrauchs- und Massenliteratur
Claudia Stockinger
Kasuallyrik
436
Guillaume van Gemert
Pikaro-Roman 453
Helga Brandes
Frühneuzeitliche Ökonomieliteratur 470
Guillaume van Gemert
Moralisch-didaktische Literatur 485
Nicola Graap
Publizistische Medien im sozialhistorischen Kontext
des 17. Jahrhunderts 501
b) Kunstliteratur
Rainer Baasner
Lyrik 517
Peter J. Brenner
Das Drama 539
Ingo Breuer
Formen des Romans 575
8
INHALT
Anhang
Anmerkungen Literaturverzeichnis Register Inhaltsverzeichnis 597
679
748
765
9
Vorwort
Fast zwei Jahrzehnte nach Band 3 (Aufklärung), der Hansers Sozialgeschichte der deutschen Literatur 1980 eröffnete, folgt Band 2 zur
Literatur des 17. Jahrhunderts. Inzwischen ist deutlich geworden,
daß die einstige Absicht, allen Bänden über den gesamten Berichtszeitraum vom 16. Jahrhundert bis zur unmittelbaren Gegenwart
eine gemeinsame, trotz weitgezogener Freiräume im Kern verbindliche »heuristische Vorgabe« (Bd. 3, 9) zu unterlegen, nicht realistisch war. Aufgrund vielfältiger methodischer Probleme, die in kritischen Stellungnahmen schnell zur Sprache kamen,' sind seitdem
tiefgreifende Abweichungen von den Prämissen erforderlich geworden, die jedem späteren Band individuelle Lösungen abverlangen.
Nach wie vor mag der Gedanke konsensfähig sein, daß »selbst
literarische Kunstwerke oder philosophische Literatur (...) ohne
Kenntnis jener sozialen Wirklichkeit, die sie in ihren Sprachformen
stets schon zu Sinnzusammenhängen verarbeitet haben, nur unzureichend oder gar falsch verstanden werden« (Bd. 3, 7); eine Übereinstimmung darüber, in welcher Weise Dichtung und Gesellschaft
vermittelt sind und ob erstere überhaupt von letzterer her erklärbar
ist (vom >wie< ganz abgesehen), wird sich dennoch kaum mehr herbeiführen lassen. Vor allem das Vertrauen auf die Rationalität geschichtlicher Veränderungen, innerhalb derer Literatur, Gesellschaft
und Staat in einem »notwendigen Zusammenhang« (Bd. 3, 15)
stünden, muß vor dem Horizont der >condition postmoderne< (Lyotard) als obsolet gelten — gegenwärtig ist zweifellos kein Paradigma
für eine neue, konsistente Geschichtsphilosophie abzusehen, die
alle Ereignisse auf eine Sinn-Matrix verteilen könnte. Infolgedessen
fehlt es jedem Versuch, im Rahmen einer Gesamtdarstellung das literaturgeschichtliche Einheitsgebot zu beachten, an seiner gewichtigsten Voraussetzung; ebenso verbietet sich der Anspruch, mit dem
Ansatz >Sozialgeschichte< über eine bevorzugte Generalmethode
zur Einsicht in alle literarischen Daten zu verfügen (auch wenn er
unter der Flagge des >New Historicism< gerade wieder Rückenwind
verspürt).
10
VORWORT
Immerhin: Auf keine Epoche deutscher Dichtung dürfte eine sozialgeschichtlich perspektivierte Darstellung so gut passen wie auf
die Literatur der Barockzeit, weil deren Regelhaftigkeit in zeitgenössischen Poetiken nicht autonom-selbstreferentiell begründet
war, sondern von den Gesellschaftsstrukturen hergeleitet wurde:
Über alle politischen, regionalen oder konfessionellen Differenzen hinweg dominiert im Selbstverständnis der frühen Neuzeit
noch die Idee einer zweckmäßig geschichteten Sozialordnung. Die
Soziologie unserer Tage spricht von einer >stratifikatorischen< Gliederung, 2 deren Endphase auf das 17. Jahrhundert zu datieren ist:
auf das Jahrhundert, in dem sich mit der breiten Durchsetzung absolutistischer Regierungsformen die Umgestaltung von der Stratifikation zur funktionalen Differenzierung des Gesellschaftssystems
vollzog. Desto nachdrücklicher wirkt sich zur gleichen Zeit die in
der Lebensrealität verschwindende Ständeordnung in der neuen,
von italienischen und französischen Vorbildern inspirierten Poetik
des Barock-Klassizismus aus, deren Organisationszentrum im Differenz-Prinzip liegt. Ihre Regelsetzung leitet sich von den Standesunterschieden im Staat her:
Denn wie ein anderer habit einem könige / ein anderer einer privatperson
gebühret / vnd ein Kriegesman so / ein Bawer anders / ein Kauffmann wieder anders hergehen soll: so muß man auch nicht von allen dingen auff einerley weise reden; sondern zue niedrigen sachen schlechte / zue hohen ansehliche, zue mittelmässigen auch mässige vnd weder zue grosse noch zue
gemeine worte brauchen. 3
Das rhetorische Wertgefälle von >genus grandiloquus< (bzw. >altiloquus<) und >genus infimus < 4 wird in erster Linie durch den gesellschaftlichen Rang des Stoffes definiert, der wiederum mit der Reputation der jeweils zentralen Affekte in Analogie steht: Der Zorn
eines Fürsten soll weit >edler< sein als die Rachsucht eines Soldaten
oder Bauern. Seit Aristoteles sind Tragödie und Epos — die >hohen<
Dichtarten schlechthin — folglich darauf ausgerichtet, »bessere Menschen nachzuahmen, als sie in der Wirklichkeit vorkommen«;' die
untergeordneten Dichtarten (Komödie, Exempelerzählung usw)
befassen sich hingegen mit Personen oder Verhaltensweisen, deren
VORWORT
11
sittliche Schwächen das Normalmaß übertreffen. Insofern konkretisiert sich die poetologische Leitdifferenz >hoch</>niedrig< in der Polarität von >Heroischem< und >Satirischem>, d. h. als positive vs. negative Übersteigerung des menschlich Üblichen.
>Hohe< und >niedere< Literatur werden daher bewußt in der gleichen Weise gegeneinander abgegrenzt, wie Adel und Nicht-Adel
kontrastieren. Frappierend ist diese Analogie gerade hinsichtlich
der Argumentationsstrategie. Ihre poetologischen Normerwartungen haben die Zeitgenossen von oben nach unten definiert, d. h. als
Ableitung aus dem >Oberschichtenbezug< (Luhmann). Nach eben
diesem vertikalen Schema sind auch die Regeln für den Bereich der
Moral vorgegeben worden: Die »Kriteriendiskussion (...) formuliert die an den Adel gerichteten Erwartungen und setzt den Unterschied von Oberschicht und Unterschicht als selbstverständlich voraus. Die Unterschicht mag nach einer anderen Moral leben«. 6 In
genau dieser Weise reflektieren die barocken Poetiken jeweils nur
die >hohen< Literaturformen: am deutlichsten zu beobachten beim
Roman, wo zuerst nur die höfische Variante theoriefähig war
[- 305 f.], nicht jedoch der Pikaroroman oder gar die vielfältigen Zwischenformen. Trotz dieser Asymmetrie bleibt die aus der
antiken Rhetorik übernommene Dreistil-Lehre für Produktion wie
Rezeption im Hintergrund in Kraft [— 222-225]. Die Distinktion
zwischen hohem, mittlerem und niederem Stil weist eine derart evidente Parallele zum barocken Blick auf die soziale Schichtung auf
[ — 30-36], daß dieser Zusammenhang den Dichtungslehren zur
nicht hintergehbaren Argumentationsbasis diente. Am deutlichsten
hat Georg Philipp Harsdörffer 1648 die Bindung der literarischen
Struktur an die Rang-Abstufung in seinem Poetischen Trichter zum
Ausdruck gebracht:
Wie nun dreyerley Haubtstände/ also sind auch dreyerley Arten der Gedichte/ welche auf den Schauplatz gesehen und gehöret werden. I. Die Trauerspiele/ welche der Könige/ Fürsten und grosser Herren Geschichte behandeln. II. Die Freudenspiele/ so deß gemeinen Burgermanns Leben außbilden.
III. Die Hirten oder Feldspiele/ die das Bauerleben vorstellig machen/ und
Satyrisch genennet werden. Diese Nachahmung der dreyen Stände haben etliche Stücke/ ins gemein und zugleich; etliche aber absonderlich (...).'
12
VORWORT
Diesem Angebot, in der Literatur des 17. Jahrhunderts eine direkte Widerspiegelung der gesellschaftlichen Verhältnisse zu erkennen, läßt sich freilich nicht unbesehen Folge leisten. Das liegt nur
zum geringeren Teil daran, daß die Soziologie in der offiziellen
»Lehre von den drei Ständen (Geistlichkeit, Adel und dritter Stand)
ein semantisches Artefakt« wahrnimmt und auch für das 17. Jahrhundert als >Grundunterscheidung< nur die Differenz »von Adel
und gemeinem Volk« anerkennt.' Gewichtiger dürfte sein, daß eine
postmarxistische Literaturgeschichtsschreibung, die auf die Erklärung literarischer Wirkungen durch gesellschaftliche Ursachen
zu verzichten gelernt hat und auch nicht mehr ideologiekritisch
das Denken einer früheren Zeit nach >progressiv</>regressiv< oder
>emanzipatorisch</>repressiv< zu sortieren vermag, zwischen Harsdörffers Analogieprinzip und der gesellschaftlichen Realität seiner
Gegenwart kein Abbildungsverhältnis nach dem Basis/UberbauSchema annehmen kann. Neuere Versuche deutscher Provenienz,
an der Idee einer Sozialgeschichte der Literatur festzuhalten, haben
jedenfalls Georg Lukács' Widerspiegelungstheorem ebenso zu den
Akten gelegt wie das auf die Adorno/Horkheimer-Schule zurückgehende Programm der Ideologiekritik; statt dessen berufen sie sich
auf systemtheoretische Basisannahmen (gleichgültig, ob luhmannscher oder parsonsscher Couleur) und geben der Beschreibung den
Vorzug vor genetischen Erklärungen. Solche Theoriemodelle beziehen sich allerdings regelmäßig auf den Zeitraum nach 1750: 9 auf
die Phase eines ausdifferenzierten gesellschaftlichen Teilsystems >Literatur<, das im wesentlichen nach Marktprinzipien funktioniert
und insofern eine >relative Autonomie< ausbildet. Auf die Literatur
vor dieser >Sattelzeit< (Koselleck), d. h. auf die frühneuzeitliche Periode einer noch nicht autonom begründeten Literatur, geht keiner
dieser Modellentwürfe ein. Für die Sozialgeschichtsschreibung der
Barockliteratur liegt mithin keine brauchbare Theoriebildung der
90er Jahre vor.
Demzufolge versteht sich die sozialgeschichtliche Herangehensweise im vorliegenden Band nicht als Universalparadigma, das seiner exklusiven Erkenntnischancen wegen den konkurrierenden
Ansätzen überlegen wäre. Als eine von mehreren Strategien, die
Komplexität literarischer Erscheinungen eines Zeitabschnitts über-
VORWORT
13
schaubar zu machen, hat sie ihre Rechtfertigung am Vorrang des
Sozialbezugs im Selbstverständnis der Literaten des 17. Jahrhunderts. Der sozialgeschichtliche Zugang leitet sich insofern von seinen Darstellungsmöglichkeiten ab und paßt sich in dieser Absicht
den kulturellen wie sozialen Besonderheiten des Barockzeitalters
an: Er strukturiert eine Präsentation der frühneuzeitlichen Literatur, die auf die spezifischen Bedingungen des 17. Jahrhunderts reagiert und heutigen Lesern ein leistungsfähiges Verständnis von Texten eröffnet, die unseren Denk- und Wahrnehmungsgewohnheiten
ferngerückt sind, weil sie einer älteren >Diskursordnung< (Foucault)
angehören.
Als nur >regulativ< gemeinte Idee wird das Gliederungsprinzip
der Rhetorik vorausgesetzt (die Unterscheidung von drei Stilebenen), weil diese Binnendifferenzierung wiederum auf der zeitgenössischen Deutung der sozialen Realität im höfisch-absolutistischen
Staatswesen beruht. Aufgrund ihrer Zweckorientiertheit werden
die literarischen Produkte nach Maßgabe ihrer gesellschaftlichen
Leistung je einem Bereich des Ständesystems zugeordnet: >höfisch<
H >geistlich< H >bürgerlich-weltlich <. 10 Analog zur Vorgehensweise
barocker Poetiken, die sich als normsetzende Anleitungen zur Produktion von Literatur geben, stehen für die literaturgeschichtliche
Rekonstruktion darüber hinaus die literarischen Texte im Vordergrund, nicht deren Rezeption. Demgemäß folgt die Gliederung
des vorliegenden Bandes einem soziologisch fundierten Gattungssystem: Die literarischen Genres werden auf die drei Hauptfunktionsbereiche >höfisch>, >geistlich< und >bürgerlich< verteilt, um auf
diese Weise ein zureichend vollständiges Gesamtsystem zu bilden. Je
nachdem, welche Gattungen bzw. Textsorten im gegebenen Sozialbereich von Bedeutung sind, werden die einzelnen Unterpunkte
festgelegt. Dieses flexible Gliederungsprinzip reagiert auf die Unmöglichkeit, das Gattungsschema stringent umzusetzen, und bringt
ein höheres Maß an historischer wie an poetischer Konkretheit
hervor. Es erlaubt zudem, innerhalb der werkbezogenen Artikel
repräsentative Texte in den Vordergrund zu stellen. Gerade hier
— im Widerstreit von poetologischem Schema und individuellem
Text — läßt sich der literaturgeschichtliche Entwicklungsgang am
besten erfassen: die Wandlungsprozesse, die in die Ausbildung eines
14
VORWORT
autonomen Literatursystems einmünden. Gerade weil die Literatur
des 17. Jahrhunderts in so hohem Maße regelbestimmt ist, der jeweilige Autor als >poeta doctus< seinen strengen Vorgaben mit rationalem Kalkül zu folgen hat und das Prinzip der Innovation noch
nicht als Qualitätsmerkmal gilt, kann es aber keine Souveränität
des individuellen Werkes geben. Dessen Ort und Rang entscheiden
sich vielmehr in der Reibung mit den poetologischen Vorgaben, deren rationale Ordnung zunehmend brüchig wird und hinter der
Vielfalt der Produktion mehr und mehr zurückbleibt. Deutlich
wird das insbesondere am Auftauchen der neuen Prosagattung
>Roman< mit ihren von Anfang an divergenten Sub-Genres (>höfischer Roman< [--> 300 ff.], <Schäferroman<, >galanter Roman< etc.
[— 575 ff.]), die sich keineswegs reibungslos auf soziologisch definierbare Trägerschichten verteilen lassen.
Das auf diese Weise vorgegebene Raster versteht sich jedoch nicht
als gültige Gliederungsstruktur, sondern stellt sich in ein Spannungsverhältnis mit den Inhalten: Inwiefern sich eine bestimmte
Haupt-<Gattung< wie z. B. die >Lyrik< mit plausiblen Argumenten
tatsächlich dreiteilen läßt, müssen die entsprechenden Artikel erweisen. Dort ist der Ort für die Kontrolle des Rasters; dort läßt sich
jeweils die Frage stellen, ob die ständisch - rhetorische Abgrenzung
Plausibilität besitzt, ob zwischen den Regionen oder den Konfessionen Unterschiede zu beachten sind und ob die Dynamik der literarischen Entwicklungen über ein Jahrhundert hinweg die Ausgangsmatrix gegebenenfalls sprengen kann. Das triadische Gliederungsprinzip bleibt daher rein formal und beansprucht weniger eine
heuristische denn eine funktionale Qualität: Es setzt einen gemeinsamen Nenner aller Einzelbeiträge, indem es ihnen gerade dadurch
den inneren Problemzusammenhang verschafft, daß der systematische Ansatz als äußerliches Gerüst formal bleibt. Darüber hinaus
aber hat jeder Beiträger die Konzeption des Artikels eigenverantwortlich bestimmt, ohne durch methodische Vorgaben in seiner
Wahl der Mittel eingeschränkt worden zu sein.
Die Offenheit für Störungen oder gar Widersprüche zwischen
den Ordnungsprämissen der Gesamtkonzeption und der jeweiligen
Realisation in der Entwicklung einer literarischen Form will den
Autoren des Bandes ebenso wie seinen Lesern den Test auf Abwei-
VORWORT
15
chungen hin ermöglichen. In solcher Selbstkritik der Ausgangspositionen manifestiert sich der Verzicht auf jede substantialistische,
unvermeidlich präskriptive Geschichtsschreibung zugunsten ihrer
deskriptiven Brauchbarkeit. Insofern jeder Artikel im knappen
Überblick über die komplexen Ereignissen informiert und diese anhand von repräsentativen Beispielen illustriert, bildet er eine Art
von Monographie. Diese monographische Absicht liegt auch der
Entscheidung zugrunde, den Band aufzuteilen zwischen der Darstellung aller wesentlichen Grundlagen der literarischen Produktion und der Darstellung ihrer dichterischen Folgen, wenngleich
das Konzept der >poetics of culture< (Greenblatt) eine innigere Vernetzung nahelegt. Vor der Auseinandersetzung mit den poetischen
Gattungen werden daher Informationen sowohl über die politisch-soziologischen Fakten als auch über die ideengeschichtlichen Voraussetzungen der Literatur geliefert: die gesellschaftlich-geschichtlichen Rahmenbedingungen ()A. Historisch-politische Grundlagen<), die zentralen Denkweisen in Philosophie und
Wissenschaft (>B. Philosophische und anthropologische Grundlagen<), die soziologischen wie poetologischen Institutionen des literarischen Lebens (>C. 1. Literarisches Handeln< / >C. 2. Literarische Formen<). Ein weiterer Grund für die Binnendifferenzierung
des Bandes liegt darin, daß die unkaschierte Präsentation solcher
Hintergrundinformationen die formale Reaktion darstellt auf die
Unmöglichkeit, zwingende Beziehungen zwischen Literatur und
Gesellschaft aufzudecken (im Sinne etwa von >Kausalität< oder >Widerspiegelung<).
Wie der Berichtszeitraum >Barock< abzustecken ist, bleibt ebenfalls programmatisch offen und kann durch die provisorische Festlegung auf das >17. Jahrhundert< nur vage bestimmt werden. Eindeutige Ränder werden nicht verbindlich und allgemeingültig
definiert — für jeden Einzelbereich (z. B. eine Gattung) müssen Anfangs- und Endpunkt eigens präzisiert werden und dürfen zweckmäßige Abweichungen von den Nachbarbereichen aufweisen. Gleiches gilt für die räumlich-landschaftliche Begrenzung: Auch wenn
grundsätzlich alle deutschsprachigen Territorien gleichermaßen das
Beschreibungsobjekt bilden, werden von Fall zu Fall Einschränkungen bzw. individuelle Akzentsetzungen erforderlich sein (Nord H
16
VORWORT
Süd / protestantisch H katholisch). Als gemeinsamer Nenner für
das, was hier unter >barocker< Literatur verstanden wird, fungiert
jedoch der rhetorische Kernbegriff >aptum< [-> 217-219], der die
analogiefähige Leitdifferenz >angemessen</>unangemessen< vorgibt
und erst im Gefolge von Martin Opitz' Klassizismus in der deutschsprachigen Literatur zum Tragen gekommen ist. An diesem streng
rationalen Ordnungsprinzip, das emotionalistischen Zwischentönen noch keinen Raum läßt, orientieren sich gleichermaßen die
poetologischen Gattungsregeln des 17. Jahrhunderts wie die sozialen Standards der damaligen Lebenswelt - jedesmal entscheidet die
>Schicklichkeit< über die Richtigkeit des Handelns. Daß sich Literatur unter diesem Zeichen am geschlossenen System der DreistilLehre [-' 222-225] orientiert und die innere Gliederung in der jeweiligen Übereinstimmung von literarischer Form und sozialem
Ort sucht, darf in Deutschland gerade während des 17. Jahrhunderts als verbindendes Charakteristikum aller Kulturbereiche gelten und kann insofern eine vage Epochenabgrenzung tragen. Jedenfalls ist in dieser rhetorisch fundierten Literatur, die sich gleichermaßen an die Tradition wie an die gesellschaftliche Gegenwart
rückgebunden sieht, eine Differenz wahrzunehmen zu den Entwicklungen im Laufe des 18. Jahrhunderts, als die Literatur einen
Markt ausbildet und unter der sensualistisch motivierten Leitidee
einer ästhetischen Autonomie die Bindung an die rational fundierte
Rhetorik-Tradition aufgibt. Das bedeutet ganz wesentlich, daß es
für die >Barockliteratur< noch keinen Anlaß gibt, zwischen >Dichtung< und >Sachliteratur< zu unterscheiden 486 ff.]. Alle literarischen Formen definieren sich vielmehr als zweckgebundene
Texte, d. h. durch ihre gesellschaftlich gewollte Funktion und damit
Nützlichkeit: sei es konkret im Alltag (etwa in Predigten oder in der
Ökonomieliteratur), sei es abstrakt durch die Bestätigung der sozial
vorgegebenen Ordnung (in der >hohen< Dichtung durch das Repräsentieren des fürstlichen Ethos, in der >niederen< Dichtung durch
das Respektieren gesellschaftlicher Rangunterschiede von unten
[-^ 575f.1).
Die Literatur des 17. Jahrhundert bildet im deutschen Sprachraum
sowenig wie anderswo ein bruchloses System aus. Als Phase des Paradigmenwechsels vom Humanismus zur Autonomieästhetik ist die
VORWORT
17
Epoche >Barock< aber von vielen Ungleichzeitigkeiten, Phasenverschiebungen, Traditionsbindungen und auch Freiheiten geprägt,
die es im Rahmen einer Sozialgeschichtsschreibung zu respektieren
gilt. Gerade in den Abweichungen — sei es zwischen den Funktionsbereichen, zwischen den Gattungen oder zwischen den Zeiträumen
— bringt sich die gesellschaftlich bedingte Dynamik jedenfalls am
markantesten zur Geltung. Das ist kein Prozeß, der sich von gesellschaftlichen Wandlungen herleiten ließe oder auch nur als Epiphänomen zu erklären wäre (im Sinne des Mythologems von >Aufstieg
des Bürgertums< als der Ursache dafür, daß eine neue, nicht-höfisch
definierte Literatur die alte, höfische verdrängt hätte). Vielmehr ist
auf den beiden Feldern Gesellschaft/Literatur eine vergleichbare
Umstellung der Ordnungsregeln zu bemerken, die freilich nicht
geschichtsphilosophisch-linear als Fortschrittsprozeß zu erfassen
ist: Feste Strukturen lösen sich nicht zugunsten höherer Organisationsformen auf; mehr und mehr wird jedoch bewußt, daß die rationalen Ordnungsvorstellungen in der sozialen Realität ebenso wie
innerhalb der literarischen Produktion der anwachsenden Komplexität der Fakten nicht mehr gerecht zu werden vermögen. Demzufolge tritt gerade auch im Rahmen von Dichtung und Dichtungstheorie der Primat der Ratio zurück, was sich im Verdrängen der
Rhetorik durch eine tendenziell emotionalistische Poetik äußert
und insofern der Auflösung der Ständeordnung korrespondieren
mag. Im günstigsten Fall kann die Sozialgeschichtsschreibung die
literarischen Veränderungen während des 17. Jahrhunderts bis zu
diesem Punkt hin beobachten und die literarische Epoche >Barock<
als Erscheinungsform der frühen Neuzeit deutlich machen, in der
sich das moderne, funktionale Denken vorbereitet.
Albert Meier
18
Michael Maurer
Geschichte und gesellschaftliche Strukturen
des 17. Jahrhunderts
I. Staaten und Stände
Das 17. Jahrhundert ist ein Jahrhundert der Kriege; nur von dieser
Lebensbedingung her wird es verständlich. Aus der Glaubensspaltung und der humanistischen Gelehrsamkeit, dem Ständewesen
und dem Dualismus von Reich und Territorialstaaten (dem Erbe des
16. Jahrhunderts) entwickelten sich im 17. Jahrhundert sowohl die
krisenhaften Zuspitzungen als auch das dauerhafte Friedensmodell
von Münster und Osnabrück, der Aufstieg der Territorialstaaten
ebenso wie der Absolutismus, die katastrophalen Abstürze der Zivilisation wie die Aufgipfelung höfischer Pracht und Kultur.
1. Das Heilige Römische Reich Deutscher Nation
Die politische Verfaßtheit der deutschen Länder um 1600 war
höchst komplex. Es ist nicht leicht, ihr von einem modernen Bewußtsein aus gerecht zu werden — am ehesten lassen sich die Extreme benennen: Die Verfassung enthielt noch Elemente des mittelalterlichen Personenverbandsstaates (die Gestalt des Reiches war
letztlich nur als Produkt des Lehenswesens erklärbar); die Verfassung enthielt aber auch schon Elemente des modernen, institutionellen Flächenstaates, zu dem sich Deutschland damals in einzelnen seiner Territorien entwickelte.' Um 1600 wie um 1700 muß
man daher stets (mindestens) zwei Ebenen des politischen Lebens
im Blick behalten. Noch gab es das Heilige Römische Reich Deutscher Nation, also eine teils reale, teils metaphysische Größe: einen
Herrschaftsverband unter dem Kaiser, dem man eine universalgeschichtliche Bedeutung zumaß und den man in Kontinuität mit dem
Römerreich der Antike sehen wollte, der eine zweite universale
DAS HEILIGE RÖMISCHE REICH DEUTSCHER NATION 19
Macht neben dem Papsttum darstellte und im religiösen Weltbild
eine eigene Funktion besaß. 2 Schon gab es aber auch die Wirklichkeit absolutistisch regierter Territorialstaaten, die sich zunehmend
vom Reich ablösten und deren Macht wesentlich reale Fürstenmacht bedeutete, die sich jeweils auf stehende Heere und feste Beamtenapparate stützte. Der Schlüsselbegriff für die neuzeitliche
Staatsbildung hieß >Souveränität< (— 113 f. J, klar entwickelt von
Jean Bodin (1529/30-1596) in den Six livres de la République
(1576) und seit dem frühen 17. Jahrhundert auch im Reich rezipiert:
Ideell umfaßt der Begriff Fürsten, die jeweils in ihren Staaten weitgehend unabhängig regieren und im europäischen Rahmen auf
gleichrangige Fürsten treffen, welche in ihrem Bereich ebenfalls uneingeschränkt sind. Den wichtigsten Faktor bei der Umwandlung
älterer Herrschaftsgebilde mit geteilter oder gestufter Souveränität
in absolutistische Fürstenstaaten von einheitlicher Souveränität bildete das seit dem Humanismus zunehmend rezipierte Römische
Recht: das geschriebene Recht des antiken Römerreichs, das auf
eine kaiserliche Spitze zugeschnitten war und dadurch die Möglichkeit bot, souveräne Fürsten der Neuzeit mit entsprechenden Herrschaftsrechten auszustatten. Auf diesem Wege dienten den Fürsten
gelehrte Juristen (oft bürgerlicher Herkunft), die an den Universitäten Oberitaliens (Padua, Bologna usw., seit dem späten 15. Jahrhundert mehr und mehr auch innerhalb des eigenen Territoriums)
Römisches Recht studiert hatten und entsprechende Vorstellungen
in die Wirklichkeit der Territorialstaaten hineintrugen. 3
Das Heilige Römische Reich Deutscher Nation, ein kompliziertes
staatliches Gebilde, das weder mit antiken noch mit neuzeitlichen
politischen Begriffen ganz greifbar war, umfaßte die Mitte Europas:
Nach dem bekannten Ausspruch Samuel Pufendorfs (1632-1694)
war es >monstro simile< (irregulär bzw. ungestalt), weil es sich mit
den aristotelischen Staatsformen – Monarchie, Aristokratie, Demokratie – nicht identifizieren ließ. 4 Nach neuzeitlichen Begriffen
stand es vor allem im Widerspruch zur Souveränitätslehre, da man
dem Kaiser, der doch unbestritten das Haupt des Reiches war, angesichts vielfältiger Einschränkungen keine wirkliche Souveränität
zusprechen konnte. Aber auch die mächtigsten Territorialfürsten,
mochten sie nun König von Böhmen oder Kurfürst von Branden-
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STAATEN UND STÄNDE
burg heißen, waren nicht wirklich souverän (wie etwa der König
von Frankreich oder der König von England), solange sie sich dem
Kaiser unterordnen mußten. Einerseits sah das Reich mit dem Kaiser an der Spitze wie eine Monarchie aus; andererseits bildete es seit
dem hohen Mittelalter ein Wahlreich, dessen sieben Kurfürsten sich
auf einen Kaiser einigen mußten, was einer Aristokratie ähnelte.
Man kann das Heilige Römische Reich wohl nur dann richtig verstehen, wenn man stets beide Ebenen vor Augen hat: das Reich als
ideelle Größe, der eine je sich wandelnde Realität entsprach, und
die Territorialstaaten, die in den Wandlungen des 17. Jahrhunderts
zu Zentren realer Machtentfaltung aufstiegen.
Seit dem Wormser Reichstag 1495 hatte es immer wieder Bestrebungen zur Reform des Reiches gegeben; 5 tatsächlich hatte das
Reich bis 1806 Bestand, als es infolge der Napoleonischen Kriege
schließlich zusammenbrach. Die entscheidende Entwicklungsten denz führte jedoch nicht zu einem Ausbau, einer Erneuerung des
Reiches und seiner Institutionen, sondern vielmehr zu einer Aushöhlung durch die wachsende Souveränität der Territorialstaaten.
Die wichtigsten Stadien dieses Prozesses sind im 17. Jahrhundert
greifbar. Sie beruhten nicht allein auf interner Machtentfaltung auf
der zweiten Ebene, sondern auf einem komplexen Zusammenspiel
der Fürsten mit äußeren Mächten. Insofern ist das Alte Reich der
Frühen Neuzeit nur als Bestandteil eines internationalen Systems zu
begreifen, in dem zunächst das Verhältnis zu Spanien den Ausschlag gab, während im 17. Jahrhundert zunehmend Frankreich
und Schweden eingriffen.
Dabei muß man sich vor Augen halten, daß die Nationalstaaten
der Moderne damals erst im Entstehen waren. Im Westen Europas
gab es bereits relativ homogene Nationalstaaten: Spanien (Kastilien
und Aragön, von 1580 bis 1640 einschließlich Portugals), Frankreich (noch ohne Lothringen, das Elsaß, die Franche-Comté; auch
die Nordgrenze verlief um 1600 noch wesentlich anders) und England (mit Einschluß von Wales, seit 1603 in Personalunion und seit
1707 in Realunion mit Schottland; Irland wurde nominell beherrscht,
aber durchgreifend erst seit den Kolonisierungsunternehmen und
Feldzügen des 17. Jahrhunderts). Diese Staaten waren allesamt Monarchien, hatten ein einheitliches Recht (zumindest tendenziell),
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