Kapitel 3 3 Bildung 3.1 Theoriefolie zur Analyse des empirischen

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Kapitel 3
Bildung – Theoriefolie zur Analyse des empirischen Materials
Kapitel 3
3
Bildung
3.1
Theoriefolie zur Analyse des empirischen Materials
Wie bereits im vorherigen Kapitel ausgeführt wurde, scheint die Jugendsozialarbeit als
sozialpädagogisches
Handlungsfeld
aufgrund
ihrer
pragmatischen
Entstehungsgeschichte als Selbsthilfewerk der Jugend, das auf gesellschaftliche
Lebensbedingungen von Jugendlichen in der Zeit nach dem zweiten Weltkrieg
reagierte, und ihrer darauf aufbauenden Professionalisierung von Anfang an eher ein
Praxisfeld ohne grundlegende theoretische Fundierung zu sein. 5 Je nach Träger- und
Zielgruppenspezifik lassen sich verschiedene Grundverständnisse ausmachen, die z.
B. zwischen Dienstleistung und Hilfe oder zwischen Bildung und Qualifizierung
divergieren.
Die folgenden Ausführungen sollen dazu beitragen, das Theoriekonstrukt, das in
dieser Arbeit an die sozialpädagogische Praxis in Projekten der Jugendsozialarbeit
herangetragen wurde, zu entfalten. Dazu werden zunächst einige Leitkategorien in der
Jugendsozialarbeit exemplarisch dargestellt, um dann im Folgenden mit den
Ausführungen zum „Entwurf einer strukturalen Bildungstheorie“ von Marotzki (vgl.
Marotzki
1990)
weiterreichende
Analyseinstrumente
zur
Interpretation
des
empirischen Datenmaterials zur Verfügung zu stellen.
Dabei erscheint die biographietheoretische Auslegung des Bildungsbegriffs bei
Marotzki,
der
in
entsprechenden
Arbeiten
durch
biographietheoretische
Rekonstruktion individueller Prozesse analysiert und erfasst wird, für die Praxis in der
Jugendsozialarbeit als hilfreich, für die Weiterentwicklung sozialpädagogischer Praxis
in diesem Feld allerdings nicht hinreichend genug zu sein. Für ein solches Vorhaben
müssten die vorhandenen Ansätze in ein bildungstheoretisches Konzept eingebunden
werden, das im Sinne der Berücksichtigung kollektiver Prozesse in Gruppen zu einem
Konstrukt „kollektiver Bildung“ erweitert wird, da zum einen die sozialpädagogische
5
Demgegenüber ist beispielsweise die Jugendverbandsarbeit in ihren historischen Wurzeln
zwar auch eine Reaktion auf gesellschaftliche Rahmenbedingungen, und zwar auf die durch die
Industrialisierung hervorgerufene Desorganisation der Familie, die zur Gründung der
„Katholischen Deutschen Gesellenvereine“ (vgl. Ebel 1981, 216) und der „Hilfsvereine für
Jünglinge“ (vgl. Seydel 1974) führten, nach Giesecke verfüge aber jeder, der Jugendarbeit
betreibe „über einen [...] theoretischen Vorstellungszusammenhang des Komplexes von
Erziehung-Jugend-Staat/Gesellschaft“ (Giesecke 1971, 129). Im Bereich der Jugendarbeit hat
mit der Veröffentlichung des Buches „Was ist Jugendarbeit?“ von Müller, Kentler,
Mollenhauer, Giesecke 1964 eine intensive Diskussion über die theoretische Bestimmung
unterschiedlicher Formen von Jugendarbeit eingesetzt, die in einer auch nur annähernd
intensiven Form von der Jugendsozialarbeit bisher nicht geführt wurde.
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Kapitel 3
Bildung – Theoriefolie zur Analyse des empirischen Materials
Praxis in diesem Feld eine Praxis der Arbeit in und mit Gruppen ist, zum anderen die
Potenzialitäten von Bildung für den Einzelnen in den Projekten von der sozialen
Realität und von den Orientierungsmustern der Gruppe abhängig zu sein scheinen.
3.2
Flexibilisierung der Ausbildung durch Entspezialisierung von Bildung –
zur Kritik an den Begriffen und Konzepten „Schlüsselqualifikation“ und
„Kompetenz“
In den Konzepten und Programmen der Jugendsozialarbeit und Jugendberufshilfe
finden
sich
im
Kontext
der
Frage
nach
den
Ausbildungsprofilen
und
Qualifizierungsanforderungen an Jugendliche oftmals Verweise auf den Erwerb von
„Schlüsselqualifikationen“
und
„Kompetenzen“. 6
Der
Begriff
„Schlüsselqualifikationen“ ist in der Praxis der Jugendsozialarbeit in vielfacher
Hinsicht präsent – geht es z.B. um die Einforderung von Medienkompetenz als
zentrale Schlüsselqualifikation oder die Frage nach der Fachlichkeit in der
Vorbereitung Jugendlicher auf die Arbeitswelt. Gerade auch im Kontext von
Kompetenzmessungsverfahren, Potentialanalysen oder Förder-Assessment-Verfahren
im Rahmen der Diagnose von Förderbedarfen auf der Seite arbeitsloser oder von
Arbeitslosigkeit bedrohter Jugendlicher werden Begriffe wie Kernkompetenz,
Schlüsselqualifikation, Soft-Skills oder allgemein „Fähigkeiten“ synonym verwendet 7 .
Das ursprüngliche Konzept und seine Verortung ist im Feld der Jugendsozialarbeit
jedoch kaum beschrieben. Ein anderes Bild bietet sich demgegenüber im Bereich der
beruflichen
Bildung
und
der
Weiterbildung,
in
dem
die
Begriffe
„Schlüsselqualifikation“ und „Kompetenz“ steigende Prominenz erfahren 8
insgesamt auch auf wissenschaftlicher Ebene breiter diskutiert werden.
und
Ziel der
folgenden Ausführungen ist es, das Konzept der „Schlüsselqualifikation“ und den
Kompetenzbegriff als Leitkategorie der Praxis in der Jugendsozialarbeit zu explizieren
6
vgl. Enggruber 2001, 2-8; Würfel 2001, 33-38; BMFSFJ 2002 – Modellprogramm
Kompetenagenturen [http://www.news.jugendsozialarbeit.de/020121afaKompAgenturen.htm],
Download: 21.01.2002
7
vgl: [http://www.news.jugendsozialarbeit.de/030929BvBAusschreibung.htm], vom
29.09.2003, Download: 28.01.04,
[http://www.bildungsportal.nrw.de/BP/Ministerium/SchulzVanheyden/Reden/2003/Netzwerk
Muenster.html],Rede von Staatssekretär Dr. Elmar Schulz-Vanheyden vom 02.07.2003,
Download : 28.01.04,
[http://www.dernordverbund.de/html/newsletter_04.htm], 04/Januar 2003, Download: 28.01.04
und Themenhefte „Schlüsselqualifikation” 01/1998 und 03/1999 der Zeitschrift „inform“
Zeitschrift für Jugendsozialarbeit des Landschaftsverbandes Rheinland.
8
Während die Debatte um Schlüsselqualifikationen in den letzten Jahren etwas abgeflacht zu
sein scheint (vgl. Gonon 1996, Beck 2001) taucht der Begriff der Kompetenz in neuern
Debatten verstärkt auf (vgl. Brödel 2004, Wittwer 2003, Vonken 2001). Im Kontext
informellen Lernens und informeller Bildung werden diese Begriffe z.T. synonym verwendet,
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Kapitel 3
Bildung – Theoriefolie zur Analyse des empirischen Materials
und dadurch aufzuzeigen, dass dieser Begriff allenfalls als konzeptionelle Kategorie
und normatives Konzept für die Praxis der Jugendsozialarbeit geeignet ist, für die
Analyse von pädagogischen Prozessen der Jugendsozialarbeit aufgrund ihres
hypothetischen und kaum zu operationalisierenden Charakters nicht hinreichend ist.
Darüber hinaus provoziert das Konzept nach wie vor die Frage danach, welche
gesellschaftlichen Akteure letztlich die als Schlüsselqualifikation beschriebenen
Persönlichkeitsmerkmale bestimmen, die in der Folge dann von Jugendlichen
ausgebildet werden sollen. In der Auseinandersetzung mit dem Begriff „Kompetenz“
und „Qualifikation“ bemerkt Oelkers (2003), dass den „Schlüsselkompetenzen“ oder
„Schlüsselqualifikationen“ „inhaltliche Bildungsparameter abhanden gekommen sind.
Derartige Qualifikationen gibt es freilich nur auf dem Papier, also in der Gestalt von
Listen, für die eigentümlich ist, dass sie beliebig erweitert werden können, ohne dass
auch nur basishaft abgeklärt wäre, worauf sich die einzelnen Stichworte beziehen und
wie sie in eine praktisch sinnvolle Ordnung gebracht werden können“ (ebd., 10).
Diese Frage verweist auf die weiterreichenden Überlegungen, was das Spezifikum von
Jugendsozialarbeit im Kontext der Jugendhilfe ist und woran sie sich orientiert, bzw.
auf welchen normativen Grundannahmen ihre Konzepte basieren. Es wird – auch
empirisch – zu prüfen sein, ob Projekte der Jugendsozialarbeit „in ihren Konzepten
und Handlungsstrategien ein Normalitätsmuster [...] konservieren, das mit den
Möglichkeitsstrukturen der Klienten immer weniger zu tun hat“ (Galuske 2001, 891)
und sich in ihren Handlungslogiken weitestgehend an den Anforderungen einer
deutschen Arbeitsmarktpolitik und einer Gesellschaft orientieren, „deren zentrale
Institutionen auf Vollbeschäftigung in Form von Normalarbeit aufbauen und in der
das Muster individueller Normalbiographie auf abhängiger Arbeit beruht“ (Beck 2000,
8; zit. nach Galuske 2001, 891).
Dem
gegenüber
stünde
ein
Verständnis
von
Jugendsozialarbeit
als
sozialpädagogisches Handlungsfeld im Rahmen der Jugendhilfe, dem pädagogische
Leitkategorien zu Grunde liegen, die auf die Entfaltung von Subjektivität zielen (vgl.
Scherr 2002c). Scherr führt als Aufgaben einer solchen als Subjektbildung
verstandenen Pädagogik u.a. aus, „solche Wahrnehmungs-, Bewertungs- und
Deutungsschema zugänglich zu machen, die sie sich nicht ohnehin durch das ganz
normale Heranwachsen, die Sozialisation in Familien, Schulen, Betrieben und durch
die Teilnahme an der massenmedialen Kommunikation erschließen. Es geht also um
Bildung, d.h. um die Eröffnung neuer Horizonte des Erlebens, Denkens und
Handelns“ (Scherr 2002c, 38f).
bzw. in dem Terminus „Schlüsselkompetenzen“ (vgl. Karcher/Overwien 1999, Arnold/Müller
1999, Overwien 2004) kombiniert.
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Kapitel 3
Bildung – Theoriefolie zur Analyse des empirischen Materials
3.2.1
Das Konzept der Schlüsselqualifikation
Ausgehend von eigenen Thesen zur Flexiblitätsforschung am Arbeitsmarkt entwickelt
Mertens, der als Volkswirt langjähriger Leiter des Instituts für Arbeitsmarkt- und
Berufsforschung (IAB) war (vgl. Beck 2001, 34), 1974 unter dem Begriff
„Schlüsselqualifikation“
übergeordnete
„Bildungsziele
und
Bildungselemente“
(Mertens 1974, 36), die einen „Schlüssel zur raschen und reibungslosen Erschließung
wechselnden Spezialwissens bilden“ (ebd.) und dadurch als ein Beitrag zur
„Entspezialisierung von Bildung“ betrachtet werden können. Nach Marotzki (1998),
der den Begriff „Schlüsselqualifikation“ im Kontext der Ausführungen zum „Problem
der Flexibilität im Hinblick auf virtuelle Lern- und Bildungsräume“ (ebd. 110) als eine
erste
Argumentationslinie
Schlüsselqualifikationen
wieder
eine
aufnimmt,
Reaktion
auf
stellt
die
die
Diskussion
„erhöhte
Flexibilität
über
der
Qualifikationen, die sich durch fachübergreifende Kompetenzen auszeichnet“ dar
(ebd., 111).
Da die Debatte über Schlüsselqualifikationen auch gut 30 Jahre nach dem Erscheinen
des Aufsatzes von Mertens 1974 noch weitergeführt wird, der Begriff in
Qualifizierungskonzepten der Jugendsozialarbeit und Jugendberufshilfe nach wie vor
Eingang
findet
und
die
Annahmen
über
die
Entwicklung
von
Qualifikationsanforderungen auf dem Arbeitsmarkt bis heute an Aktualität kaum
verloren haben, wird das Konzept mit seinen Grundaxiomen an dieser Stelle weiter
ausgeführt und diskutiert.
In dem häufig zitierten Aufsatz formuliert Mertens 42 „Thesen zur Schulung für eine
moderne Gesellschaft“ (Mertens 1974, 36), die als Beitrag für eine Arbeitsmarkt- und
Berufsforschung neben den Auswirkungen auf unterschiedliche Felder der
Ausbildung, Erwachsenen- und Weiterbildung auch in der außerschulischen
Jugendbildung ihren Niederschlag gefunden haben. Bodensohn (1994, 200) weist
darauf hin, dass Mertens` hypothetische Denkanstöße, die er in Form von Thesen
formulierte, in der Folgezeit oft fälschlicherweise als Tatsachenbehauptungen
wiedergegeben wurden. Mertens selbst zeigt sich 15 Jahre nach dem Erscheinen dieser
Thesen überrascht, irritiert und „nicht ganz glücklich“ (Mertens 1989, 84) über die
weite Verbreitung des Konzepts, das entgegen vielfacher Annahmen über keine
kultur- oder bildungspolitische Genese verfügt, sondern einen eindeutigen wirtschaftsund arbeitsmarktpolitischen Hintergrund aufweise (vgl. ebd., 79). Dabei sei es nach
Mertens kaum zu antizipieren gewesen, welche Popularität dieser Begriff entfalten
würde, „denn sehr handfeste und zugleich umsetzbare Konkretisierungen hatten wir
eigentlich nicht zur Hand. Es ging mehr um, wenn auch gut begründete, Hypothesen
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Kapitel 3
Bildung – Theoriefolie zur Analyse des empirischen Materials
und Postulate, und ihre Verortung im gegebenen Bildungswesen war auch noch nicht
durchdacht“ (ebd., 84f).
Beck analysiert 2001, dass das Konzept der Schlüsselqualifikationen nach wie vor
sehr unhandlich ist und eine konkrete Verortung im Bildungswesen schwierig ist. Der
Begriff Schlüsselqualifikationen „scheint als suggestiver und multifunktionaler
Konjunkturbegriff
der
Erziehungswissenschaft
bildungspolitisch
bedeutend,
bildungstheoretisch jedoch heftig umstritten und bildungspraktisch unhandlich zu
sein“ (ebd.37). Der ursprünglich bildungsökonomisch geprägte Begriff wurde vor
allem durch seine spätere pädagogische Umdeutung schwierig, verwirrend und
verunsichernd (vgl. ebd. 36). So bleibt zunächst festzuhalten, dass es sich bei den
Überlegungen von Mertens also um Hypothesen und Postulate handelt, die allerdings
weit reichende Verbreitung und Aufnahme in die Fachdebatte gefunden haben.
Im Folgenden weist Beck (2001) darauf hin, dass eine Definition des Begriffs
„Schlüsselqualifikationen“ zwar notwendig wäre, begriffslogisch aber problematisch
ist,
„denn
der
Begriff
‚Schlüsselqualifikationen‘
wird
hauptsächlich
als
‚Eigenschaftsbegriff‘ nominal oder ostensiv definiert, also entweder beschrieben
durch lange Kataloge mit untergeordneten Qualifikationen oder durch Verweis auf
typische
Beispiele
wie
Methoden-,
Sozial-
und
Selbstkompetenz.
Solchen
Eigenschaftsbegriffen fehlt jedoch ein theoretischer Bezug und durch ihre
Kontextabhängigkeit ist ihr Wert begrenzt“ (ebd., 37). Das eine solche
Unterscheidung überdies nicht besonders hilfreich ist, hat Oelkers (2003, 8)
herausgearbeitet.
Die Kernaussage des Konzepts stellt dennoch einen Paradigmenwechsel im
Bildungsverständnis dar: das Erlernen konkreter und aktueller Fakten und Inhalte wird
ersetzt durch die Vermittlung von Methoden, die ein selbständiges Erarbeiten
relevanten Wissens ermöglichen sollen. „Die Bereitschaft, unterschiedliche Aufgaben
und Tätigkeiten wahrzunehmen (Flexibilität), steht an erster Stelle der Anforderungen.
Persönliche Einstellungen und Persönlichkeitsmerkmale haben eine hohe Bedeutung.
Sie werden durchweg höher bewertet als formale Zusatzqualifikationen. Den höchsten
Rang nehmen jene Eigenschaften ein, die auf eine hohe Eigenmotivation schließen
lassen
sowie
Leistungsbereitschaft,
Problemlösungsfähigkeiten,
Initiative,
Lernbereitschaft, Kooperationsfähigkeit und Teamfähigkeit. [...] Die Überlegungen
lassen sich so zusammenfassen, daß in Zukunft nicht nur mehr gelernt werden muß,
sondern vor allem auch anders. [...] Man kommt der Sache etwas näher, wenn man an
die Diskussion der Umstellung von Faktenwissen auf Prinzipienwissen denkt, also die
Umstellung auf das sogenannte prozedurale Wissen“ (Marotzki 1998, 111f,
Hervorhebungen i.O.).
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Kapitel 3
Bildung – Theoriefolie zur Analyse des empirischen Materials
Den Boden für das Mertens`sche Konzept bildeten nach Huisinga im Wesentlichen
vier Modernisierungstendenzen zu Beginn der 1970er Jahre (vgl. Huisinga 1992,
81ff):
♦ Der gesellschaftliche Umbruch der 1968er Zeit (Umbruch und Verunsicherung)
♦ Die ökonomische Krise („OPEC 1“) (ansteigende Arbeitslosigkeit)
♦ Demographische Verschiebungen (Weiterbildungsoffensive)
♦ Tendenzen einer „verwissenschaftlichten Produktion“ (Modernisierungsbedarf
traditioneller Berufsqualifikationen).
Als Grundlage für die „Schulung einer modernen Gesellschaft“ (Mertens 1974, 36)
stellt Mertens ein Schulungskonzept vor, dass Kompetenzen zur Problembewältigung
vermitteln soll und drei Dimensionen aufweist: „Schulung und Bewältigung zur
Entfaltung der eigenen Persönlichkeit, Schulung zur Fundierung der beruflichen
Existenz, Schulung zu gesellschaftlichen Verhalten“ (ebd., 37).
Nach Mertens kann jede Art von Bildung prinzipiell diese drei Kategorien
repräsentieren. Damit wird deutlich, dass seine Überlegungen zwar aus einem
bildungsökonomischen Kontext entstanden sind, er selbst jedoch für diese Thesen
auch in Bezug auf das System der Allgemeinbildung Gültigkeit beansprucht. Er
prognostiziert,
dass
in
dem
Konzept
ein
„Wiederaufleben
humanistischer
Bildungsvorstellungen“ (ebd. 36) entdeckt werden könnte, wobei dies jedoch
eindeutig aus der Perspektive des Arbeitsmarktes heraus entwickelt wurde, da es
diesem im hohen Maße dienlich ist.
Im Ausland gab es in der Folgezeit vergleichbare Überlegungen, als „Qualificationsclés“ in Frankreich und der Schweiz, als „core skills“ oder „key qualifications“ in
England und in Kanada als „Generic Skills“ bzw. „Habilités Generiques“ (vgl.
Mertens 1989, 85).
Mertens geht von drei wesentlichen Hypothesen aus, die das Konzept der
Schlüsselqualifikationen stützen:
Grenzen der Prognostik
Aufgrund der beschleunigenden Modernisierung und Technisierung der Arbeitswelt
können immer seltener Prognosen erstellt werden, welche beruflichen Qualifikationen
für die verschiedenen Berufe notwendig und förderlich sein können. „Statt dessen
kann die Anpassungsfähigkeit an nicht Prognostizierbares selbst zum Angelpunkt
bildungsplanerischer Entscheidungen werden“ (Mertens 1974, 39).
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Kapitel 3
Bildung – Theoriefolie zur Analyse des empirischen Materials
These vom Obsoleszenstempo
„Es kann die Hypothese vertreten werden, daß das Obsoleszentempo (Zerfallszeit,
Veraltenstempo)
positiv
mit
ihrer
Praxisnähe
und
negativ
mit
ihrem
Abstraktionsniveau korreliert“ (ebd.). Je konkreter also die Bildungsinhalte auf die
Praxis vorbereiten, desto schneller veralten sie. Sind die Bildungsinhalte jedoch
zunehmend abstrakt, ist ihre Bedeutungsaktualität relativ lang.
Omnipotenz abstrakten Wissens in modernen Gesellschaften
„Je dynamischer, komplexer und unvorhersehbarer die gesellschaftliche, technische,
wirtschaftliche und damit persönliche Umweltentwicklung verläuft, desto größere
Bedeutung erhalten für die existentielle Bewältigung von Herausforderungen solche
Bildungselemente, welche übergeordneten Charakter haben“ (Mertens 1989, 85).
Mit dem Begriff „Schlüsselqualifikationen“ kennzeichnet Mertens also Bildungswege,
„die dem einzelnen ein besonders breites Feld von Anwendungs- und Ausbauchancen
mit vielfältigem persönlichem und gesellschaftlichen Nutzen eröffnen“ (ebd. 84). Als
unabweisbare, aber anzuerkennende Denkgrundlagen formuliert er die Hypothesen
(vgl. im Folgenden Mertens 1974, 40), dass „die Vermittlung spezialisierter
Fertigkeiten
gegenüber
deren
übergeordneten
strukturellen
Gemeinsamkeiten
zurückzutreten habe“, „ein enumerativ-additives Bildungsverständnis (Fakten-,
Instrumenten- und Methodendwissen) durch ein instrumentelles Bildungsverständnis
(Zugriffswissen, know how to know) abzulösen ist“ und die mentale Kapazität nicht
mehr als reines Speichermedium, sondern „als Schaltzentrale für intelligente
Reaktionen“ zu nutzen ist.
Schlüsselqualifikationen definiert Mertens als „solche Kenntnisse, Fähigkeiten und
Fertigkeiten, welche nicht unmittelbaren und begrenzten Bezug zu bestimmten,
disparaten praktischen Tätigkeiten erbringen, sondern vielmehr a) die Eignung für
eine große Zahl von Positionen und Funktionen als alternative Optionen zum gleichen
Zeitpunkt, und b) die Eignung für die Bewältigung einer Sequenz von (meist
unvorhersehbaren) Änderungen von Anforderungen im Laufe des Lebens“ (ebd. 40).
Damit wird deutlich, dass die Überlegungen zu einem Konzept der Vermittlung von
Schlüsselqualifikationen zunächst enttäuschend sind, da diese Art der Überlegungen
bereits vor der Arbeitsmarktforschung in der Erziehungswissenschaft diskutiert
wurden (vgl. Mertens 1989) und Fragen gestellt wurden, die auf die Überlegungen zu
den Schlüsselqualifikationen hinweisen.
Mertens schränkt die Überlegungen weiter ein, indem er sich in seinem Konzept „im
wesentlichen auf vermittelbare intellektuelle Fähigkeiten konzentriert“ (Mertens 1989,
61
Kapitel 3
Bildung – Theoriefolie zur Analyse des empirischen Materials
88), wenngleich klar ist, dass ein großer Teil extrafachlicher Qualifikationen, die für
die Arbeitswelt eine fundamentale Bedeutung haben (z.B. emotionale und soziale
Kompetenzen), dadurch nicht erfasst werden können.
Mertens teilt die von ihm benannten Schlüsselqualifikationen in vier Kategorien auf
(vgl. im Folgenden Mertens 1974, 41ff):
Basisqualifikationen, als „Qualifikationen höherer Ordnung [...]. Sie erlauben einen
vertikalen Anwendungstransfer auf die speziellen Anforderung in Beruf und
Gesellschaft“.
Horizontqualifikationen ermöglichen „eine möglichst effiziente Nutzung der
Informationshorizonte der Gesellschaft für den einzelnen“ und bringen „vor allem
horizontalen Transfer“ („Informiertheit über Informationen“).
Breitenelemente stellen neben den Basisqualifikationen mit ihrem vertikalen Transfer
und Horizontqualifikationen mit ihrem horizontalen Transfer die „speziellen
Kenntnisse und Fertigkeiten [dar], die über breite Felder der Tätigkeitslandschaft
nachweislich als praktische Anforderung am Arbeitsplatz auftreten“.
Vintage-Faktoren ermöglichen vor allem durch geeignete Instrumente und Methoden
in der Erwachsenenbildung einen intergenerativen Austausch. Sie tragen somit dazu
bei, dass Bildungsdefizite der Erwachsenengenerationen, die durch fortschreitende
Technologisierung und Weiterentwicklung des Wissensbestandes entstehen, durch den
Kontakt und Transfer mit nachwachsenden Generationen aufgehoben werden können.
Augenscheinlich wird bei der Darstellung des Mertens`schen Konzepts die zentrale
Bedeutung des Transfers von Wissen auf unterschiedliche Anwendungsbereiche.
Mertens geht davon aus, das es in Zukunft immer schwerer sein wird, Bildungsziele,
die arbeitsmarktrelevant sind, zu prognostizieren und entwickelt daraus das Konzept
der Vermittlung von Schlüsselqualifikationen. Landwehr 1996 versucht aufzuzeigen,
„dass das Konzept der Schlüsselqualifikationen gesehen werden muss als Teil eines
umfassenderen Konzeptes zur transformativen Kompetenz“ (ebd., 89) und bezeichnet
diesen Ansatz als unerlässlich für ein „zeitgemäßes Bildungsverständnis in unserer
Kultur des beschleunigten Wandels“ (ebd.). Das Konzept der Schlüsselqualifikationen
steht für Landwehr nur für den Beginn eines epochalen Wandels des Bildungssystems
(vgl. ebd., 99). Der Begriff der Transformation legt nahe, das Konzept der
Schlüsselqualifikation unter bildungstheoretischer Perspektive zu betrachten (vgl.
Reetz 1999). Eine solche Analyse kommt dabei allerdings über die Entwicklung
spezifischer Kompetenzen, bzw. Bewältigung bestimmter „Entwicklungsaufgaben“
(ebd., 46) im Kontext von Persönlichkeitsentwicklung nicht hinaus und scheint für
eine Analyse von pädagogischer Praxis nicht weiter zu bringen.
62
Kapitel 3
Bildung – Theoriefolie zur Analyse des empirischen Materials
Die von Landwehr beschriebene Transferleistung führt aber zu einem Konflikt, der
von Zabeck 1991 als Schlüsselqualifikations-Dilemma bezeichnet und auf den Dubs
1996 und Beck 2001 in ihrer Kritik hinweisen:
„Je allgemeiner und unspezifischer die Schlüsselqualifikationen definiert werden,
desto wahrscheinlicher ist es, dass der Transfer misslingt. Je enger und
situationsspezifischer sie gefasst werden, desto weiter entfernen sie sich von der ihr
zugesprochenen Form“ (Dubs 1996, 51).
Zabeck bezeichnet es als illusionäre Vorstellung, „die Probleme der (1) Stoffülle, (2)
der Komplexität konkreter und der (3) Unbestimmtheit künftiger Anforderungen
ließen sich durch die Konzentration von Erziehung und Unterricht auf wenige
einfache, aber situationsadäquat kombinierbare Fähigkeiten und Fertigkeiten
bewältigen“ (Zabeck 1991, 54).
Das Konzept scheint darüber hinaus von einem Bild vom Menschen auszugehen, der
so gebildet werden kann, dass er freiwillig und aus eigenem Antrieb über die Nutzung
unterschiedlicher Informationskanäle lernt. Ungeklärt bleibt in diesem Konzept die
Frage, wie Menschen, resp. Jugendliche, motiviert werden können, sich mit Hilfe evtl.
ausgebildeter Schlüsselqualifikationen spezifische Fähigkeiten anzueignen. Unklar ist
darüber hinaus auch, in wie weit ein solches Konzept für die Zielgruppe der
Jugendsozialarbeit geeignet ist, die oftmals bereits im Bereich formalisierten Lernens
erhebliche
Defizite
aufweisen
und
negative
Erfahrungen
mit
der
Wissens(re)produktion gemacht haben und dadurch nur über eine sehr schwach
ausgeprägte Motivation verfügen, sich selbständig aktuelle Wissensbestände
anzueignen. Die Möglichkeit der Kompensation formaler Lerndefizite über den Weg
der informellen Nachqualifizierung erscheint aufgrund der offenen Motivationsfrage
eher unwahrscheinlich zu sein. Aufgrund des nach wie vor hypothetischen Charakters
und seiner starken Normativität erscheint das Konzept zwar durchaus praxistauglich
zu sein, als Analyseinstrument für den empirischen Teil dieser Arbeit nicht
hinreichend genug, um geeignet zu sein, die Praxisweisen der Jugendsozialarbeit in
den untersuchten Projekten angemessen auswerten zu können, wenngleich es dennoch
einige interessante Ansätze für die weitere Betrachtung beinhaltet.
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Kapitel 3
Bildung – Theoriefolie zur Analyse des empirischen Materials
3.2.2
Kompetenzentwicklung
Beschäftigungsfähigkeit
zwischen
einer
Sicherung
der
durch Prozesse formellen und informellen
Lernens und der Entwicklung von Persönlichkeit
Die Diskussion zum Begriff und zu Konstrukten von Kompetenz ist hingegen erst in
den letzten Jahren, vor allem im Kontext der Diskurse über informelles Lernen in der
Erwachsenen- und Weiterbildung entwickelt worden (vgl. Brödel 2004, Wittwer 2003,
Kirchhöfer 2001, Vonken 2001, Erpenbeck/Heise 1997, Arnold 1997). Oelkers (2003,
8) beschreibt, dass „die erstaunlich Karriere“ des Kompetenzbegriffs vor allem auch in
der neueren Verwaltungsliteratur im Bildungsbereich auffällig ist. Ähnlich wie bei
dem Konzept der Schlüsselqualifikationen kann auch bei dem Kompetenzbegriff,
zumindest im Kontext der Diskussionen in der Erwachsenen- und Weiterbildung, die
zusammen mit der beruflichen Bildung für eine an der Arbeitswelt orientierten
Jugendsozialarbeit insgesamt als Referenzpunkte gelten können, eine eindeutige
Ausrichtung auf den ökonomischen Nutzen identifiziert werden.
Auch wenn das Kompetenzkonzept in der häufig anzutreffenden Unterscheidung
zwischen Sachkompetenz, Methodenkompetenz, Sozialkompetenz und personaler
Kompetenz (vgl. ebd.) den Begriff der Qualifikation um Aspekte der individuellen
Persönlichkeit erweitert, weist die Verwendung des Begriffs und seiner einzelnen
Komponenten (Verfügbarkeit von Wissen, selektive Bewertung von Wissen und
Einordnung in umfassendere Wertbezüge) auf eine wirtschaftliche Verwertbarkeit,
bzw. Beschäftigungsfähigkeit hin (vgl. Wittwer 2003, 26). Ausgehend von Chomsky
und Habermas differenziert Wittwer (2003) in der Weiterentwicklung der
Überlegungen zu linguistischer, bzw. kommunikativer Kompetenz, dieses Verständnis
von Kompetenz weiter aus und versteht unter dem Begriff Kompetenz allgemein die
individuellen Stärken, bzw. Besonderheiten eines Subjekts. Dadurch wird eine
Distinktion des Kompetenzbegriffes vom Konzept der Schlüsselqualifikationen
möglich, „die gesellschaftlich definiert und somit von Subjekten unabhängig
formuliert sind“ (ebd., 28).
Ganz ähnlich argumentiert Vonken (2001), der sich in seinen Auseinandersetzungen
insbesondere auf einen Kompetenzbegriff bezieht, wie er „von den Mitgliedern der
„ARBEITSGEMEINSCHAFT QUALIFIKATIONS-ENTWICKLUNGS-MANAGEMENT“ (QUEM)
geprägt und Anfang der neunziger Jahre erneut in die erziehungswissenschaftliche
Diskussion eingebracht worden ist“ (ebd., 504, Hervorhebungen i.O.):
„Alles in allem wird daraus deutlich, dass mit diesem Kompetenzbegriff letztlich der
Mensch als ganzes gemeint ist, mit seinem Wissen, seinen Fertigkeiten, seinem
Willen, kurz: seiner Persönlichkeit. In diesem Sinne bedeutet der dazugehörige
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Kapitel 3
Bildung – Theoriefolie zur Analyse des empirischen Materials
Terminus der ‚Kompetenzentwicklung‘ die Entwicklung der Persönlichkeit des
Menschen, und in der Verwendung innerhalb der beruflichen Weiterbildung
vornehmlich zur Nutzung und Entfaltung eben dieser Persönlichkeit in ökonomischen
Zusammenhängen“ (ebd., 505). Obgleich Vonken darauf hinweist, dass der
Kompetenzbegriff sich theoretisch nicht auf die ökonomische Verwertbarkeit
beschränkt, wird er vor allem in den Feldern der beruflichen Bildung und
Weiterbildung ausschließlich in diesem engeren Verständnis diskutiert. Auch wenn in
einigen neueren Veröffentlichungen z.B. des Forums Bildung der Kompetenzbegriff
im Hinblick auf Orte informellen Lernens von Kindern und Jugendlichen allgemeiner
gefasst wird (vgl. Richter 2002), dominiert in der Debatte insgesamt die
berufsbezogene Perspektive, was sich u.a. interessanterweise in Veröffentlichungen
zum Thema soziale Kompetenz (vgl. Edinsel 1998, Faix 1991, Schlömer-Helmerking
1996) und den bereits genannten Veröffentlichungen zeigt. Insofern ist auch mit Blick
auf das Untersuchungsfeld Jugendsozialarbeit, resp. Jugendberufshilfe, die Analyse
des Begriffes aus der arbeitsweltbezogenen Perspektive angezeigt.
Eine logische Folgerung ist somit, dass die Definition von Kompetenz und dessen,
was Kompetenz ausmacht, nicht von dem Subjekt her bestimmt wird. Vonken führt
aus, dass nicht das Subjekt und subjektzentrierte Konstruktionsleistungen für die
Bestimmung von Kompetenz im Zentrum der Betrachtung stehen, sondern Kompetenz
„von den beruflichen Tätigkeiten oder Anforderungen her bzw. (bildungs-)politisch“
definiert wird (Vonken 2001, 516). Durch diese Verbindung von fachlichen
Anforderungen mit den persönlichen Fähigkeiten des Einzelne, wie sie bereits 1997
von Erpenbeck/Heyse ausgeführt wird, führt zu einer Neubestimmung der individuell
erworbenen Kenntnisse und Fähigkeiten.
Im Vordergrund des Kompetenz-Konzeptes steht damit nicht mehr die Frage nach
dem Nachweis spezifischer Qualifikationen, sondern die Frage nach der individuellen
Ausgestaltung einer Handlung eines Handelnden in bezug auf eine bestimmte
Anforderung (vgl. Wittwer 2003, 28) und kennzeichnet damit die Betrachtungsweise
des Kompetenzkonzeptes: Nicht der gesamten Persönlichkeit des Menschen wird die
zentrale Aufmerksamkeit geschenkt, sondern die personale Ausgestaltung von
Qualifikationen für spezifische Aufgaben rückt ins Zentrum des Interesses. Das
Subjekt wird in Bezug auf die Entwicklung seiner eigenen Persönlichkeit somit in den
Hintergrund gedrängt und zum Objekt von Kompetenzentwicklungsprozessen
umdefiniert. „Diese Form der Kompetenzentwicklung ist sehr stark fremdgesteuert.
Denn welche Kompetenzen (Fach-, Methoden-, Sozial- oder personale Kompetenz)
bei wem entwickelt werden, hängt von dem jeweiligen Bedarf der Wirtschaft ab“
(ebd.). Oelkers hingegen hält diese Unterscheidung insgesamt für entweder trivial oder
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Kapitel 3
Bildung – Theoriefolie zur Analyse des empirischen Materials
nicht sonderlich hilfreich, da die Standards für Kompetenzen von der Sprache und der
Kultur vorgegeben werden und grundsätzlich nicht nach diesem Muster unterschieden
werden können. Er stellt heraus, dass Kompetenzen grundsätzlich auf Aufgaben,
Leistungen oder Sachbereiche bezogen sein müssten. „Wer ‚Kompetenzen‘
psychologisch allgemein versteht, macht daraus eine abstrakte Größe, die vor jeder
fachlichen Anforderung und unabhängig davon für Schematisierungen sorgt, bei
denen unterstellt wird, es gäbe sie in der psychischen Realität als vorhandene oder
auszubildende Qualität, eben als ‚Kompetenz‘. Kompetenzen aber bilden sich nur im
Blick auf Aufgaben und Leistungen“ (Oelkers 2003, 9).
Insofern erscheint die Suche nach Antworten auf die Fragen, welche Kompetenzen
von den Individuen ausgebildet werden sollen, aus (sozial-)pädagogischer Sicht
zumindest für das Untersuchungsfeld dieser Arbeit nicht ausreichend genug zu sein,
da in der Betrachtung des Kompetenzbegriffs deutlich wurde, dass die Debatte sehr
stark von ökonomischen Verwertungsinteressen dominiert ist und letztlich für den
Einzelnen eine Verschärfung der Auslesepraktiken resp. die Notwendigkeit einer
stärkeren Profilierung des Einzelnen bedeutet. Aus pädagogischer Sicht erscheint eine
solche
Betrachtungsweise
als
unangemessen,
da
gerade
für
benachteiligte
Jugendlichen Beruflichkeit oder Arbeitstätigkeit mehr und mehr als stabilisierende
Momente der Persönlichkeitsentwicklung auszufallen drohen.
Definitionsversuche solcher Art gehen grundsätzlich nicht von der Lebensrealität
konkreter Subjekte aus und übergehen so vor allem die Gruppe benachteiligter
Jugendlicher, die zwar einerseits angeleitet werden, sich ebenfalls an diesen
Indikatoren zu messen, andererseits aber real nur sehr vereinzelt an ihnen beteiligt
sind.
Für die Analyse sozialpädagogischer Praxis im empirischen Teil hieße die Arbeit mit
einem solchen Konstrukt, dass lediglich die Qualität der Arbeit im Hinblick auf die
Entwicklung spezifischer Kompetenzen abgefragt werden könnte und damit der
Beschreibung eine status quo in der Jugendsozialarbeit entsprechen würde. Dabei
bleibt jedoch die Frage, welche Kompetenzen ausgebildet werden sollen, da dies den
Ausführungen zufolge anscheinend von Tätigkeit zu Tätigkeit, bzw. von Arbeitgeber
zu Arbeitgeber sehr speziell ausgeprägt ist und somit von den Professionellen im Feld
oder den Jugendlichen kaum antizipiert werden kann.
Weiterführend für das sozialpädagogische Handlungsfeld Jugendsozialarbeit könnte
demgegenüber eine Analyse der pädagogischen Praxis in den Projekten aus der Sicht
der Jugendlichen sein, die Aufschlüsse darüber zu geben in der Lage ist, ob
Möglichkeiten
und
Freiräume
geschaffen
werden
können,
die
zu
einer
66
Kapitel 3
Bildung – Theoriefolie zur Analyse des empirischen Materials
Auseinandersetzung mit der eigenen Person und Situation führen können und durch
die weitere Handlungsoptionen für die Jugendlichen eröffnet werden können (vgl.
Kap. 5.1).
3.3
Die
Wissen und Gesellschaft
Auseinandersetzung
mit
dem
Verhältnis
von
Wissen,
Bildung
und
Vergemeinschaftung, in dessen Rahmen Marotzki zum einen die seit Ende der 1990er
Jahre
populäre
Bezeichnung
„Wissensgesellschaft“
für
die
jüngere
Gesellschaftsentwicklung näher ausführt und zum anderen vor diesem Hintergrund die
Bedeutung von Wissen, Reflexion und Bildung expliziert, führt Marotzki zu der
These, das vor dem Hintergrund seiner Erkenntnisse die Entfaltung einer
bildungstheoretischen Perspektive für das Verstehen der Entwicklung von Selbst- und
Weltbezügen der Menschen weiter bringt, als eine rein lerntheoretische Betrachtung
(vgl. Marotzki 2004). Unter Rückgriff auf Stehr und de Hahn/Poltermann führt
Marotzki aus, dass die Bedeutung wissenschaftlichen Wissens insgesamt sowohl für
die Volkswirtschaft als auch für die Individuen zugenommen habe und – was im
Zusammenhang mit dieser empirischen Untersuchung sehr bedeutsam ist – diese
Bedeutung sich auch explizit im Bezug auf Arbeits- und Berufstätigkeit artikuliert:
„Die heranwachsende Generation wächst in eine Gesellschaft hinein, in der Arbeit (im
Sinne von Erwerbsarbeit) überwiegend nur noch auf hohem Qualifikationsniveau zu
haben sein wird. Daß dieses enorme Folgen für Fragen der sozialen Struktur einer
Gesellschaft haben wird und jetzt schon hat, liegt auf der Hand“ (ebd., 101).
Besonders im Kontext von Jugendsozialarbeit und Benachteiligung spitzt sich diese
Frage entsprechend zu: Nachdem gezeigt werden konnte, dass das Konzept von
Schlüsselqualifikationen aufgrund seiner mangelhaften theoretischen Begründung und
der Beliebigkeit der Definition von bestimmten Schlüsselqualifikationen eben nicht
mehr ist als ein Konzept zur Ausbildung bestimmter Qualifikationen und auch der
Kompetenzbegriff zwar schon weiterführender ist, aber auch hier von Seiten der
Praxis der Jugendsozialarbeit kaum antizipiert werden kann, welche Kompetenzen
ausgebildet werden sollen, stellt sich die Frage, wie das sozialpädagogische Praxisfeld
der Jugendsozialarbeit als Teil von Jugendhilfe seinen Klienten Unterstützung und
Hilfe zur Wissensbewältigung anbieten kann, wenn angenommen werden kann, dass
die Fähigkeit zum Umgang mit Wissen und Information entscheidend zur
Vergemeinschaftung
beiträgt.
Unter
Berücksichtigung
der
Reflexionen
von
Mittelstrass führt Marotzki weiter aus, dass in modernen Gesellschaften die Kluft
zwischen dem Verfügungswissen als dem Faktenwissen, durch das sich der Mensch
die Dinge der Welt angeeignet, und dem Orientierungswissen als dem Wissen, durch
67
Kapitel 3
Bildung – Theoriefolie zur Analyse des empirischen Materials
das der Mensch Orientierungen für sein alltägliches Handeln erlangt, in dem er ein
reflektiertes Verhältnis zu seinen Wissensbeständen aufbaut, größer geworden ist. „Je
reicher wir an Information und Wissen sind, desto ärmer scheinen wir an
Orientierungskompetenz zu werden. Für diese Kompetenz stand einmal der Begriff
der Bildung“ (Mittelstrass 2002 ,154 zit. nach Marotzki 2004, 102).
Auch de Haan/Poltermann rekurrieren auf einen Begriff von Bildung, wenn sie
Wissensgesellschaft konstruieren. Der Begriff Wissensgesellschaft steht für „eine
Gesellschaft von Individuen, die auf der Basis ihnen verfügbarer Kenntnisse und
Urteile bewusst und sinnhaft handeln können. Eine Wissensgesellschaft ist eine
verständnisintensive Gesellschaft. Damit ist zugleich signalisiert, dass Wissen mehr
impliziert, als die Fähigkeit zur Kommunikation, also des Austausches mit Anderen.
Bewusst und sinnhaft handeln kann man nur auf der Basis reflektierter
Auseinandersetzung mit Werten, Zielen und Visionen, die dem Handeln Orientierung
bieten. Insofern ist das Wissenskonzept auch eng mit der Idee von Bildung verbunden.
Bildung weist über Wissen hinaus, als sich mit ihr Selbstreflexivität verbindet“ (de
Haan/Poltermann 2002, 10, Hervorhebungen i.O.).
Diese Überlegungen haben mit dazu beigetragen, die Analyse und Beschreibung der
sozialpädagogischen
Praxisformen
in
der
Jugendsozialarbeit
vor
einem
bildungstheoretischen Hintergrund zu betreiben.
3.4
Informelles Lernen und informelle Bildung als konzeptionelle Entwürfe
einer flexibilisierten (Aus-)Bildung
Aktuelle Debatten zum Verständnis pädagogischer Praxis außerhalb von Schule vor
dem Hintergrund lern- oder bildungstheoretischer Betrachtungsweisen verweisen auf
die Unterscheidung zwischen formellen und informellen Lernen, resp. formeller und
informeller Bildung. So erscheint es gerade auch für die Untersuchung der Frage des
Spannungsverhältnisses von Jugendsozialarbeit und Bildung unumgänglich und
aufgrund der weiteren Verbreitung dieses Systematisierungsversuches möglicherweise
aussichtsreich,
sich
mit
Begriffsbedeutungen,
Forschungsdesideraten
und
disziplinären Bezügen des Konstruktes „informelles Lernen/informelle Bildung“
auseinander zu setzen. Diese Systematik hat bisher vor allem Widerhall im Bereich
der Erwachsenen- und Weiterbildung in Bezug auf die stärkere Berücksichtigung des
informellen Bereiches für die Qualifikation und Kompetenzentwicklung in
berufspädagogischer Hinsicht erhalten, wobei die Forschungsaktivitäten zum Thema
informelles Lernen in der Erwachsenenbildung als nicht existent erscheinen, so dass
Kreimeyer
(2004,
44)
in
ihrer
Analyse
zu
informellen
Lernen
in
der
68
Kapitel 3
Bildung – Theoriefolie zur Analyse des empirischen Materials
Erwachsenenpädagogik von informellen Lernen als „ein abgedrängtes Thema in der
Erwachsenenpädagogik“ spricht.
„Das
Lernen
im
Alltag,
etwa
am
Arbeitsplatz,
im
Rahmen
von
Multimediaanwendungen oder im Internet, in familialer Kommunikation, das
informelle Lernen in Museen oder mit Büchern und anderen Lernmaterialien oder
über Expertenbefragungen findet auch in Deutschland Eingang in bildungspolitische
Debatten. Anschließend an den ursprünglich in der Erwachsenenbildung angesiedelten
Diskurs zum lebenslangen Lernen fordern politische Instanzen, wie die Europäische
Kommission (1996), die Förderung von Schlüsselkompetenzen auch durch informelles
Lernen, arbeiten an Zertifizierungsmodi für ‚informal und prior learning‘“ (Overwien
2004, 51).
Darüber hinaus wird das Konzept informellen Lernen, bzw. informeller Bildung
spätestens
mit
dem
Erscheinen
Veröffentlichung
einer
Streitschrift
des
Bundesjugendkuratoriums mit dem Titel „Zukunftsfähigkeit sichern! Für ein neues
Verständnis von Bildung und Jugendhilfe“ (vgl. Münchmeier u.a. 2002, 159-173)
auch in Debatten in der sozialpädagogischen Disziplin im Kontext der Frage nach dem
Verhältnis von Jugendhilfe und Bildung diskutiert.
Beide Ansätze könnten für die Diskussion von Jugendsozialarbeit in dieser
Schnittstelle von Interesse sein.
Die Begriffe formelle Bildung, non-formelle Bildung, informelle Bildung und
inzidentelle Bildung stellen nach Sandhaas (1986) den Versuch dar, alle denkbaren,
menschlichen Lernaktivitäten und -situationen in einem einheitlichen Schema zu
kategorisieren und gehen auf eine von internationaler Organisationen wie UNESCO,
UNICEF und Weltbank in den frühen 70er Jahren entwickelte Terminologie zurück.
Sandhaas weist darauf hin, dass die Übersetzung der englischsprachigen Typologie in
eine deutsche Bildungsterminologie problematisch ist, da in dem englischen Begriff
„education“ die Konnotationen und Ideologiebestände des deutschen Bildungsbegriffs
nicht enthalten sind. Da die Kategorisierung von Evans (1981) zurück geht auf die
Veröffentlichung von Coombs/Ahmed (1974), „deren Erziehungsverständnis durch
die Gleichsetzung von „education“ und „learning“ charakterisiert ist“ (Sandhaas 1986,
404) erscheint die Übersetzung von „education“ mit „lernen“ am angemessensten zu
sein.
Danach vollzieht sich die Unterscheidung der Bildungsformen zunächst über die
Bedingungen und die Lokalisation von Lernen im schulischen und nicht - schulischen
Leben. Darüber hinaus gelten als Unterscheidungskriterien für die außerschulische
69
Kapitel 3
Bildung – Theoriefolie zur Analyse des empirischen Materials
Bildung die Form und Organisiertheit der Lernumgebung und die An- oder
Abwesenheit einer Lernintention.
Mit der Bezeichnung dieses Systems der internationalen Kategorisierung von
Lernformen als „ein heuristisches Begriffsinventarium für drittweltorientierte
Bildungsforscher und Bildungsplaner“ (ebd., 400), das auch der „Planung,
Entwicklung und Evaluation von Lernprozessen vor allem im nicht - schulischen
Bereich“
(ebd.,
400)
dient,
verweist
Sandhaas
auf
den
ursprünglichen
Anwendungsbezug dieser Systematik im Bereich der Entwicklung, Planung und
Evaluation
von
Lernprozessen
im
nicht-schulischen
Bereich
der
sog.
Entwicklungsländer.
Die Entstehung dieser Terminologie geht zurück auf die 1950er und 1960er Jahre, „als
vormalige Kolonien ihre Unabhängigkeit erlangten und internationale und nationale
Organisationen als Teil ihrer Entwicklungshilfe auch Bildungshilfe zu leisten
begannen“ (ebd., 401). In dieser Zeit hat sich im Kontext internationaler
Bildungsplanung eine Systematik entwickelt, die Lernaktivitäten außerhalb formaler
Bildungsinstitutionen (non-formal learning) nach dem Verhältnis des Lernenden zum
formalen Bildungssystem kategorisiert: „More accurately, the scheme classifies
activities according to the relationship which the clients have or did have with formal
schools. [...] The scheme is based on three general categories: complementary
education, which rounds out the school curriculum; supplementary education, which
adds on to schooling at a later time and place; and education which replaces
schooling.“ (Evans 1981, 19).
Diese von Evans in seinem Buch „The planning of nonformal education“
veröffentlichte Systematisierung von Lernen außerhalb von Schule macht deutlich,
dass ein konstitutives Merkmal einer solchen Kategorisierung immer eine Ausrichtung
an der Schule gewesen ist. Historisch interessant ist, dass in dieser Zeit einige
internationale Studien über den Stand von Bildung von der UNESCO veröffentlicht
wurden. So setzte sich der „Weltbildungsbericht“ von Coombs/Achmed 1969 unter
dem Titel „The world educational crisis: A system analysis“ mit statistischer Daten zu
formellen Bildungssystemen auseinander und stellte sie erstmals in dieser Form
radikal in Frage. Der wenige Jahre später erschienene Bildungsbericht der FaureKommission (vgl. UNESCO 1972) proklamierte unter dem Titel „Learning to be“ zum
einen, den Gedanken, dass Erziehung weder zeit- noch ortsgebunden sei und führte
zum anderen das Prinzip des lebenslangen Lernens („lifelong learning“) in die
internationalen
Debatten
ein,
das
zur
Erweiterung
des
Erziehungs-
und
Lernverständnisses beigetragen hat.
70
Kapitel 3
Bildung – Theoriefolie zur Analyse des empirischen Materials
In einer späteren Veröffentlichung von Coombs/Ahmed 1974 mit dem Titel
„Attacking rural poverty - How nonformal education can help“ unterteilten die
Verfasser „im Rahmen einer Untersuchung über Bildungsaktivitäten in überwiegend
ländlichen Regionen jener ‚armen Länder‘“ (Sandhaas 1986, 402) das Bildungssystem
erstmals in die drei Bereiche: formal, non-formal und informal education.
Die Diskussion um den „Export“ formeller Bildungssystem in die Dritte Welt im
Sinne einer „Bildungs-Entwicklungshilfe“ wurde durch die ideologiekritsche Analyse
der zugrunde liegenden Interessen formaler Bildung durch Freire und Illich
ausgeweitet. Im Rahmen der einsetzenden Entschulungsdebatte lieferten Illich und
Freire 1973 mit dem Konzept der Netzwerke gegenseitigen Lernens die Grundlage für
die Schaffung von neuen Voraussetzungen für ein verändertes Verständnis von
Erziehung (vgl. Illich, 1973).
An diese ursprüngliche Verwendung dieser Systematisierung knüpft auch Overwien
(2000) an, der vor der begrifflichen Klärung der Bedeutung „informellen Lernens“ das
Spezifische dieses Lernens anhand der Verwendung des Adjektives „informell“ zu
verdeutlichen versucht und auf seine Verwendung im Bereich der sozialen
Beziehungen
(„informelle
Gruppen“)
und
im
Kontext
eines
„informellen
Wirtschaftssektors“ als einen nicht staatlich kontrollierten Wirtschaftsbereich in der
Dritten Welt verweist. Eine dritte Dimension wird in Form der Verwendung als
„informelles Lernen“ lediglich daneben gestellt (Overwien 2000, 138f; vgl. auch:
Kirchhof/Kreimeyer 2003, 215).
In einem frühen Definitionsversuch setzt Evans die Begriffe inzidentelles
(beiläufiges), informelles, non-formelles und formelles Lernen folgendermaßen
voneinander ab:
“Incidental education – learning which takes place without either a conscious attempt
to present on the part of the source or a conscious attempt to learn on the part of the
learner. Informal education – learning results from situations where either the learner
or the source of information has a conscious intent of promoting learning – but not
both. Nonformal (out-of-school) education – any non-school learning where both the
source and the learner have conscious intent to promote learning. Formal (school)
education – which differs from nonformal education by its location within institutions
calls schools, which are characterized by the use of age-graded classes of youth being
taught a fixed curriculum by a cadre of certified teachers using standard pedagogical
methods” (Evans 1981, 28, Hervorhebungen i.O.).
Diese erste Begriffsbestimmung verdeutlicht, dass neben der Lokalisation und den
verschiedenen Bedingungen von Lernen auch „Form und Grad der Organisiertheit der
71
Kapitel 3
Bildung – Theoriefolie zur Analyse des empirischen Materials
Lernumgebung (des Environments) sowie Vorhandensein oder Nichtvorhandensein
einer
Lernintention
bei
dem
Lernenden
und/oder
Lehrenden
als
Unterscheidungskriterien zwischen formeller, nicht-formeller, informeller und
beiläufiger Bildung“ fungieren (Sandhaas 1986, 400).
In einem Untersuchungsbericht unter dem Thema „Das informelle Lernen. Die
internationale Erschließung einer bisher vernachlässigten Grundform menschlichen
Lernens für das lebenslange Lernen aller“ im Auftrag des Bundesministeriums für
Bildung und Forschung liefert Dohmen (2001) einen umfassenden Überblick über
aktuelle Studien und internationale Forschungen zur formellen, non-formellen und
informellen Bildung. Er schlägt vor, „auf die feinsinnigen und z.T. kontroversen
Abgrenzungen zwischen einem „nicht-formalen“ und einem „informellen“ Lernen zu
verzichten und sich auf eine undifferenzierte Zusammenfassung unter dem
gemeinsamen Begriff des „informellen Lernens“ zu einigen“ (Dohmen 2001, 25), da
der Begriff des non-formellen Lernens im Deutschen ohnehin nicht geläufig sei. So
wird der Begriff des informellen Lernens „auf alles Selbstlernens bezogen, das sich in
unmittelbaren Lebens- und Erfahrungszusammenhängen außerhalb des formalen
Bildungssystems entwickelt“ (ebd.). Damit werden „die in der Praxis ohnehin
schwierigen Abgrenzungen zwischen einem mehr oder weniger geplanten, mehr oder
weniger
beabsichtigten
oder
bewussten
nicht
institutionalisierten
Lernen
vernachlässigt“ (ebd.).
Kirchhof/Kreimeyer weisen darauf hin, dass eine solche Logik, die in doppelter
Hinsicht sowohl die ursprünglichen Implikationen einer subjektbezogenen Perspektive
über die Lernintention ignoriert als auch die Subsumierung aller menschlichen
Lernaktivitäten außerhalb von Schule in einer Art Substratkategorie zusammenfasst,
einer näheren Betrachtung nicht standhält, da die formalen Bildungsinstitutionen
neben ihrer wissensvermittelnden Funktion über den Unterricht auch einen
wesentlichen „Lebens- und Erfahrungsbereich“ darstellen, der seinerseits auch „selbst
ein Ort informeller Lernprozesse“ ist (Kirchof/Kreimeyer 2003, 217). Darüber hinaus
blendet die Definition von Dohmen aus, dass menschliche Lernaktivitäten
grundsätzlich subjektgebunden und damit letztlich ortsunspezifisch sind.
Abgesehen von diesen Überlegungen erscheint die Plausibilität der Dohmen’schen
Definition mehr als dürftig zu sein, da die Unbekanntheit eines Begriff wohl kaum als
Begründung für seine faktische Abschaffung stehen kann. Durch die Bezeichnung
allen Lernens, das außerhalb von Lehrplänen stattfindet, als eine Restkategorie, die
dann informelles Lernen genannt wird, ist eine analytische Beschreibung der
vielfältigen, intendierten und nicht-intendierten Lern- und Bildungsprozesse z.B. in
der Jugend(verbands-)arbeit und Jugendbildungsarbeit, der Erwachsenenbildung,
72
Kapitel 3
Bildung – Theoriefolie zur Analyse des empirischen Materials
Berufsbildung, in Familien, peer-groups etc. kaum noch möglich und gleichfalls die
Bearbeitung der Frage nach der Relation und Vernetzung der unterschiedlichen
Bildungsformen untereinander nicht mehr denkbar.
Somit scheint die Unterteilung in formelles und informelles Lernen eher eine
pragmatische,
bildungspolitische
Bezeichnung
zu
sein.
Für
eine
Analyse
persönlichkeitsbildender Prozesse beispielsweise in der Jugendhilfe ist jedoch Skepsis
angebracht, ob diese begriffliche Bestimmung geeignet ist, neue Erkenntnisse über
Bildungsprozesse zu bringen.
Obgleich sich eine solche Verkürzung auch in anderen Definitionen im Bereich
informellen Lernens in der beruflichen Weiterbildung als Distinktionsmerkmal finden
lassen (vgl. Straka 2000), mehren sich die Versuche, den institutionellen Blick als
Unterscheidungskriterium abzuschwächen und stattdessen eher die Richtung der
Intention von Lernprozessen zu berücksichtigen (vgl. Laur-Ernst 1999, 2000) die in
der Betonung des Lernangebotes auch international anschlussfähig ist (vgl.
Livingstone 1999) 9 . Als erste Leitdifferenz für die Unterscheidung unterschiedlicher
Lern- oder Bildungsformen können anstatt einer ausschließlichen Fixierung auf den
Ort also eher die pädagogische Intention als An- oder Abwesenheit pädagogisch
strukturierter Handlungszusammenhänge gelten, die dann im Falle ihrer Anwesenheit
über den Ort in formelle und non-formelle Bildungsformen zu unterscheiden sind.
Durch eine solche Definition wird deutlich, dass insbesondere die Formen informellen
Lernens aufgrund der notwendigen intrinsischen Motivationslagen auf Seiten der
Lernenden aufgrund der fehlenden pädagogischen Handlungszusammenhänge
besonders voraussetzungsvoll sind (vgl. Kirchof/Kreimeyer 2003, 218). Dies führt zu
weiteren Fragen, die sich auf die notwendigen Voraussetzungen im sozialen Umfeld,
im Lernumfeld und in Bezug auf Zugangsmöglichkeiten zu Lernanlässen und
relevanten Informationen beziehen, damit informelles Lernen überhaupt stattfinden
kann.
3.4.1
Zum gesellschaftlichen Problem der informellen Bildung
Meder (2002) erweitert die Debatte über informelles Lernen in Richtung informeller
Bildung und kennzeichnet durch die Auseinandersetzung mit Lernen und Bildung die
informelle Bildung als gesellschaftlichen Problembegriff.
In seinen Ausführungen rekonstruiert Meder das Verhältnis formellen und informellen
Lernens in Bezug auf die Geschichte der Schule als eine Institution, die aufgrund des
73
Kapitel 3
Bildung – Theoriefolie zur Analyse des empirischen Materials
gesellschaftlichen Mangels, Lerninhalte in ausreichender Form zur Verfügung zu
stellen, zunächst als institutionalisierte Form des Unterrichts entwickelt wurde. So ist
das organisierte, formale Lernen nach Meder entstanden, da die Lebenswelt zu arm an
Lernanlässen, Lernanreizen und natürlichen Problemlagen war, die als Anlass für die
gewünschten Lernprozesse dienen konnten. Das organisierte Lernen in Form von
Schulen bereicherte also die Welt der Lernanlässe um Dinge, die im alltäglichen
Leben so nicht gelernt werden konnten. So kann formelles Lernen als eine Art
Kompensation für mangelhafte Gelegenheiten informellen Lernens verstanden
werden.
Die
aktuelle
Diskussion
verdeutlicht,
dass
sich
dieses
Kompensationsverhältnis umgedreht hat und informelles Lernen jetzt neu entdeckt
wird im Kontext der Probleme der Schule. „Wenn in den Anfängen organisiertes
Lernen als Kompensation informellen Lernens begriffen werden konnte, dann hat sich
die gesellschaftliche Lage neuerdings so verändert, dass umgekehrt informelles
Lernen als Kompensation organisierten Lernens verstanden werden muss“ (Meder
2002, 8), da die Lebenswelt komplexer geworden ist, als die organisierte Welt des
Lernens und vielfältige Lernmöglichkeiten, Lernanlässe und Lernanreize bietet, die in
dieser Form von Formen organisierten Lernens nicht geleistet werden können.
Da ihm der Lernbegriff selbst in einer weiten Schneidung als Aneignung von sozialer
und dinglicher Welt zu eng erscheint, um abzubilden, „dass auch und gerade im
informellen Lernen permanent ein neues Verhältnis zur dinglichen Welt, zur sozialen
Welt und zu sich selbst ausgebildet wird“ (ebd., 9) behandelt er die Debatte zum
informellen Lernen als Bildungsproblem, wobei sich der Bildungsbegriff in seinem
Verständnis von „neuhumanistisch normativ aufgeladene[n] Bildungsbegriffe[n]“
(ebd., 10) absetzt und nicht nur als normativer Begriff in pädagogischen
Denktraditionen auffindbar ist. Meder fasst Bildung als einen Problembegriff, d.h. als
einen gesellschaftliches Problem, wie Bildung möglich ist, und nicht als „normativ
aufgeladene erzieherische Aufgabe“ (Meder 1998, 39). Er plädiert dafür, den
Bildungsbegriff von jeglichen normativen Gehalten frei zu halten, „weil er nur so als
kritisch deskriptiver Begriff zur Analyse von Unterschieden in seiner inhaltlichen
Ausprägung Verwendung finden kann“ (ebd., 39). Meder unterscheidet somit
zwischen der Beschreibung von Bildungsprozessen als Auseinandersetzung mit der
Welt und der Bewertung der Art und Weise, wie Bildungsprozesse stattfinden, ohne
das Ziel der möglichen Bildungsprozesse zu bewerten.
„Bildung als Prozeß muß vor diesem Hintergrund als gesellschaftliches Problem
formuliert werden – nicht als normativ aufgeladene erzieherische Aufgabe. Das
9
Zu weiteren Definitionen und Forschungszusammenhängen sh. auch Overwien 2000a,176187.
74
Kapitel 3
Bildung – Theoriefolie zur Analyse des empirischen Materials
Problem, um das es geht, ist der Konflikt zwischen den Neuen und den
Alteingesessenen um die Geltung einer möglichen gemeinsamen Welt. In diesem
Widerstreit reflektiert sich die Gesellschaft in ihrem Verhältnis zur Welt. Der Ausgang
dieses Widerstreits ist kontingent. Faßt man also den Bildungsprozeß als die Lösung
dieses gesellschaftlichen Problems, dann rückt die Frage der Art und Weise der
Lösung an zweiter Stelle. Bewertungen werden zu einem sekundären Problem bzw.
erhalten eine abgetrennte Domäne“ (Meder 2000, 39).
Der Begriff Reflexion, der in einem als trainierte Verhaltensveränderung verstandenen
Lernbegriff nur hinderlich ist, erhält in dieser Konstruktion eine zentrale Bedeutung:
„Bildungsprozesse sind stets zu begreifen als Veränderungsprozesse, die Lernen
enthalten, in denen aber zugleich darum gestritten wird, was Welt und Gesellschaft ist
und sein soll und wie sich der Einzelne in Welt und Gesellschaft verortet – kurz:
Bildungsprozesse sind Prozesse der Geltungsbewährung und deshalb grundsätzlich
Reflexionsprozesse.“ (Meder 2002, 11).
In der Meder’schen Denkfigur bezeichnet (informelle)Bildung „jene Prozesse im
Einzelnen, die drei Verhältnisse ausbilden, die ihrerseits noch einmal im Verhältnis
stehen und sich somit wechselseitig beeinflussen. Diese Verhältnisse sind erstens das
Verhältnis des Einzelnen zu den Sachverhalten und Dingen unserer Welt, zweitens das
soziale Verhältnis des Einzelnen zur Gesellschaft sowie drittens das des Einzelnen zu
sich selbst“ (ebd., 12). Da sich diese Verhältnisse wiederum wechselseitig bedingen,
bilden sie ebenfalls ein Verhältnis aus, das sich zu einer Struktur zusammensetzt, was
Meder dazu führt, den von ihm ausgeführten Bildungsbegriff als einen „strukturellen
Bildungsbegriff“ zu bezeichnen (vgl. Meder 2000, 37).
Mit seinen Ausführungen macht Meder darauf aufmerksam, dass die Debatte über
informelle Bildung in dieser begrifflichen Interpretation weit mehr ist, als die Frage
nach der Ausbildung unterschiedlicher Kompetenzen, die im Kontext von
Erwerbsarbeit zur Anwendung gelangen können, wie dies in Bezug auf die
Thematisierungsformen dieser Systematik in Bereichen der beruflichen Bildung und
Weiterbildung ausgeführt wird. Vielmehr verknüpft Meder mit diesem Begriff auch
gesellschaftstheoretische
Fragen,
die
darauf
zielen,
wie
unterschiedliche
gesellschaftliche Akteure in welchen Feldern Möglichkeiten zur Aushandlung eines
Verhältnisses zur sozialen, materialen und personalen Welt entdecken, wahrnehmen
oder überhaupt zur Verfügung haben und welche Rolle dabei unterschiedliche
Institutionen einnehmen.
75
Kapitel 3
Bildung – Theoriefolie zur Analyse des empirischen Materials
3.4.2
Informelle Bildung und Kinder- und Jugendhilfe
In Bezug auf die Kinder- und Jugendhilfe werden seit einigen Jahren, ausgehend von
einigen Erkenntnissen aus internationalen Schülerleistungsstudien, diesbezüglich
intensive Debatten über die Frage von Bildung und Jugendhilfe allgemein und über
das Verhältnis informeller und formeller Bildungsprozesse geführt. Dazu liegen
mittlerweile eine Vielzahl von Veröffentlichungen vor, die aus unterschiedlichen
Perspektiven diesen Gegenstand thematisieren (vgl. Beiträge in dem Band „Bildung
und
Lebenskompetenz.
Kinder-
Münchmeier/Otto/Rabe-Kleberg
Otto/Rauschenbach
2004;
und
Jugendhilfe
2002;
Otto/Coelen
2004;
vor
neuen
Aufgaben“,
Lindner/Thole/Weber
2003;
Bundesjugendkuratorium
2004;
Müller/Schmidt/Schulz 2005).
Durch den Versuch, sämtliche menschlichen Lernprozesse in einem einheitlichen
Schema zu klassifizieren und als Kriterien dafür die Lokalisation und Intention von
Lernen auszuwählen, kann die Bedeutung informeller Lernprozesse herausgestellt
werden, was wiederum als Legitimation gelesen werden kann, diese Lernprozesse
intensiverer Forschung zu unterziehen. Im Kontext von Bildung kommt die
Beschreibung dieser Kategorien jedoch nicht über die Formulierung eines bereits
bekannten Sachverhaltes mit neuen Begrifflichkeiten heraus – für die Praxis von
Bildungsinstitutionen könnte diese Unterscheidung allerdings dazu beitragen
Anregungen zur Gestaltung von Bildungs- und Lernfeldern zu liefern und in den
Bereichen der schulischen und außerschulischen Bildungsinstitutionen zu neuen
Reflexionen des Bildungsbegriffes führen.
„Darüber hinaus bietet der informelle Bereich wie z.B. Jugendarbeit die Chance,
unabhängig von curricularen Vorgaben und orientiert an den ‚Erfahrungen, Interessen
und Lebensentwürfen Heranwachsender‘ und in Form eines ‚sozialen Arrangements,
in dem Jugendliche in ihrer Besonderheit und mit ihren Autonomiewünschen
anerkannt werden‘ sozialen und individuellen Differenzen Rechnung zu tragen (vgl.
Scherr 2002)“ (Cleppien/Kutscher 2004, 99).
Eine weiterführende Analyse dieser Systematik haben mit Bezug auf die Frage von
Bildung
als
Ermöglichung
gesellschaftlicher
Teilhabe
(vgl.
Liebau
2002)
Kessl/Kutscher/Otto/Ziegler (2005) in einer Expertise zum 8. Kinder- und
Jugendbericht des Landes Nordrhein-Westfalen vorgelegt, die insbesondere den
sozialen Kontext von Bildungsprozessen berücksichtigt.
Die Expertise zielt auf eine Rekonstruktion der Kinder- und Jugendhilfe als
Bildungsfeld
und
beschreibt
diese
abschließend
programmatisch
als
eine
„sozialraumsensible Bildungsinstanz“, die als ein „Bildungsort im Gesamtraum der
76
Kapitel 3
Bildung – Theoriefolie zur Analyse des empirischen Materials
Bildungsorte zu begreifen“ (vgl. Kessl u.a. 2005, 32, Hervorhebungen i.O.) und als
solche auszubauen ist.
Die Autoren gehen davon aus, dass im Kontext einer sich entwickelnden
Wissensgesellschaft der Wissenserwerb und die Wissensanwendung nicht mehr
ausreichend sind, um Kinder und Jugendliche zu einer selbstbestimmten
Lebensgestaltung zu befähigen. Vielmehr müssten Bildungsprozesse heute „darauf
ausgerichtet werden, Kindern und Jugendlichen Zugänge zu Informationsquellen und
zum
Erwerb
von
Kompetenzen
der
Informationsaufnahme,
der
Informationsverarbeitung und er Informationsbewertung (Medienkompetenz) bereit zu
stellen“ (ebd., 17, Hervorhebungen i.O.). Das Konzept informellen Lernens erweist
sich im Kontext des Ausgleichs von sozialen Benachteiligungen als ungeeignet, da es
zwar die Grenzen des formalen Bildungssystems in Bezug auf dort kaum
vermittelbare Schlüsselqualifikationen (vgl. Kap. 3.2.1) kompensieren kann, durch die
Formulierung der Forderung nach Selbstbildung aber informelles Lernen als
biographische Aufgabe an die Kinder und Jugendlichen gerichtet ist, wobei die ihnen
dafür zur Verfügung stehenden Mittel zum Erwerb dieser Kompetenzen durch
informelles Lernen nicht weiter berücksichtigt werden. „Solche Strategien der
Verantwortlichkeitsverlagerung auf die einzelnen Akteure, d.h. eine Umcodierung von
Bildung auf Selbstbildung, führt daher häufig dazu, dass in dieser Logik strukturell
ungleiche Möglichkeiten und Fähigkeiten übersehen oder bewusst ignoriert werden
und dem Einzelnen, unabhängig von den zur Verfügung stehenden Zugangsressourcen
und Fähigkeiten, die Verantwortung für Wissenserwerb und Wissensanwendung
übertragen wird“ (ebd., 18).
Der Prozess der sozialen Ausgrenzung durch formelle Bildung wird somit durch die
Forcierung informellen Lernens nicht aufgehoben – mehr noch: Durch eine
Verlagerung von Prozessen der Wissensaneignung in den Privatbereich sehen
Otto/Kutscher die Gefahr der weiteren Stabilisierung sozialer Ungleichheiten durch
informelles
Lernen.
Wissensgesellschaft
„Im
wird
Kontext
diese
der
öffentlich
Position
prekär
geführten
insofern,
Debatte
dass
hier
um
eine
Subjektivierung von Bildungsprozessen, eine Verschiebung von Verantwortung für
Bildung in die Sphäre des Einzelnen erfolgt, die unter der Perspektive sozialer
Stratifizierung zur Perpetuierung sozialer Ungleichheiten führt“ (Otto/Kutscher 2004,
19f).
Kessl et al. argumentieren im Anschluss an die Befunde der internationalen
Schülerleistungsstudie
PISA
und
der
Grundschulstudie
IGLU
zum
einen
kapitaltheoretisch unter Berücksichtigung der Kapitaltheorie von Gary S. Becker, der
eher marktökonomisch ausgerichtet Humankapital als Marktkapital begreift, und dem
77
Kapitel 3
Bildung – Theoriefolie zur Analyse des empirischen Materials
kulturellen Kapital, das Bourdieu in seiner Sozialtheorie als schulisches und sozial
ererbtes Kulturkapital entfaltet, und betrachten Wissen und Fähigkeiten als Kapital der
Bildungsteilhabe (vgl. ebd. 20). Während Humankapital aufgrund bewusster
Investitionsentscheidungen gebildet wird und „the knowledge, skills, competence and
other attributes embodied in individuals that are relevant to economic activity“
(OECD 2000, zit. nach Kessl u.a. 2005, 20) umfasst, bezieht sich der Begriff des
kulturellen Kapitals auf die Inkorporation von Wissen und Fähigkeiten in einem
lebenslangen Prozess. Die Verfasser verweisen darauf, dass dieser Prozess in hohem
Maße von der sozialen Herkunft, den Erfahrungen und der örtlichen Eingebundenheit
der Kinder- und Jugendlichen geprägt sei und folgern daraus, dass nicht das Ausmaß
der praktischen Beherrschung des sozial ererbten Kulturkapitals für den Schulerfolg
oder für den Erwerb von Marktwissen maßgeblich sei, sondern „dessen ‚Abstand‘ zu
den Logiken des formalen Bildungssystems“ (ebd., 21).
Gegenüber dem personengebundenen kulturellen Kapital diskutieren die Autoren im
Folgenden die Bedeutung des interpersonal eingebetteten sozialen Kapitals, das
zunächst als Begriff für die aus sozialen Beziehungen und/oder deren Ableitungen
entstehenden sozialen Unterstützungsleistungen gefasst wird, und im Folgenden in
Anlehnung an Woolcock (1998, 2000) in die Bereiche Bindungs-, Brücken- und
Verknüpfungsformen sozialen Kapitals differenziert wird.
Während das bindende Sozialkapital von oftmals für den Wissenserwerb redundanten
Beziehungen gekennzeichnet ist, jedoch ein hohes Maß an (sozialer) Anerkennung
vermittelt, wird das Brückenkapital als eine zivilgesellschaftliche Form informellen
Lernens charakterisiert, das sich aus der Mitgliedschaft in Vereinen oder
Freiwilligenorganisationen ergibt. Dabei merken die Autoren jedoch kritisch an, dass
Vereine und Initiativen wiederum in der Regel sozial segregiert sind, wie eine Studie
von Newton (2001) belegt. Beide Formen informellen Lernens erscheinen so zunächst
keinen nennenswerten innovativen Wissenserwerb zu ermöglichen.
Die verbindende Dimension sozialen Kapitals scheint demgegenüber in Form von
institutionellen Ausprägungen am ehesten in der Lage zu sein, „Individuen und
Gruppen aus verschiedenen sozialen Schichten und verschiedener Herkunft“ (ebd. 27)
zusammen führen zu können. Insofern gehen die Autoren davon aus, dass sowohl
Bildung in formal organisierten Strukturen als auch Bildung im informellen Bereich
der Familie und der Peers nicht hinreichend sind, um Kindern, Jugendlichen und
jungen Erwachsenen weit reichende Teilhabechancen zu ermöglichen. Demgegenüber
skizzieren sie die Kinder- und Jugendhilfe als ein institutionalisiertes System nonformaler Bildung, die eine organisierte Form der Bildung darstellt und sich
zielgerichtet an eine identifizierbare Gruppe von Nutzern richtet.
78
Kapitel 3
Bildung – Theoriefolie zur Analyse des empirischen Materials
Die Autoren der Expertise sehen in Abgrenzung zu der bereits ausgeführten
Bestimmung des Verhältnisses zwischen formaler und non-formaler Bildung bei
Evans (1981) in der Kinder- und Jugendhilfe einen eigenständigen, „bedeutsamen Ort
der Selbstbildung und –organisation in Gruppen von Gleichaltrigen, der politischen
und kulturellen Bildung sowie der Persönlichkeitsentwicklung insgesamt. Diese
Eigenständigkeit
ermöglicht
es,
nonformale
Bildung gegenüber
informellen
Bildungsprozessen zu öffnen und damit die verschiedenen Habitusdispositionen ernst
zu nehmen, ohne die sozialen Ungleichheiten, die sich aus diesen Differenzen speisen,
‚blind’ zu reifizieren [...]. Ein solcher Zugang erfordert es, an informell Bestehendem
anzusetzen“ (Kessl et al. 2005, 31). In der Reflexion und kritischen Analyse sozialer
Ausschließungslogiken liegt demnach die Bildungschance einer sich als non-formale
Bildungsinstitution verstehenden Kinder- und Jugendhilfe, aus der heraus „die
Teilhabemöglichkeiten ihrer Nutzer im Sinne dieser substanziellen Freiheiten
erhöh[t]“ werden können (ebd., 32).
Im Kontext der Auseinandersetzung mit Formen des Lernens unter informellen
Bedingungen greifen Krüger/Grunert unter Rückbezug auf DuBois-Reymond die
Bedeutung des sozialen Kontextes auf: „Lernen in der Freizeit erweist sich also vor
allem aufgrund seines selbstgesteuerten und informellen Charakters als different zum
schulischen Lernen [...]. Wie deutlich wurde, sind für die Jugendlichen vor allem die
Kontakte zu Gleichaltrigen von zentraler Bedeutung. Lernen in der Freizeit bedeutet
deshalb auch meistens Lernen von und mit Gleichaltrigen. [...] Informelles Lernen
unter und mit Peers bringt dabei spezifische Lernleistungen hervor, wie gegenseitige
Anregungen durch kritische Rückmeldungen [...], die in der heutigen Gesellschaft
zunehmend wichtiger werden“ (Krüger/Grunert 2002, 506f). Damit wird die
Bedeutung des sozialen Umfelds thematisiert, die sich im Sinne der strukturalen
Bildungstheorie zur Frage der Ermöglichung, bzw. Anregung von Bildungsprozessen
erweitern lässt.
Gleichzeitig relativieren sich dadurch auch die hohen Erwartungen an Felder
informellen Lernens und lebenslangen Lernens im informellen Kontext zumindest
insofern, als es dass es auf die Kontextbedingungen des informellen Lernens
ankommt. Damit wird klar, dass ein in der allgemeinen Wahrnehmung negativer
Kontext auch die Potentialität für informelle Lernprozesse zulässt, die in der
allgemeinen Wahrnehmung auf Ablehnung stoßen (in bestimmten Milieus werden
eben in der Regel keine allgemein anerkannten Sekundärtugenden wie Ruhe,
Pünktlichkeit und Verlässlichkeit gelernt, sondern eher rhetorische Fähigkeiten zur
Verschleierung von problematischen Handlungspraktiken oder allgemeine Kenntnisse
der Beschaffung von materiellen Ressourcen auf legalen, halblegalen und illegalen
79
Kapitel 3
Bildung – Theoriefolie zur Analyse des empirischen Materials
Wegen). Diese Möglichkeit wird in den Gruppendiskussionen an verschiedenen
Stellen von den Jugendlichen immer wieder thematisiert (vgl. Gruppendiskussion
Boden, Textsequenz 3: Versager, S. 223; Gruppendiskussion Feld, Textsequenz 3:
Familie als Lernfeld, S. 269; Gruppendiskussion Meer, Textsequenz 3: Selber denken,
S. 332).
Unter Rückgriff auf diese Überlegungen geht diese Arbeit insgesamt von der These
aus, dass Jugendsozialarbeit aufgrund ihrer Verfasstheit einen pädagogischen
Handlungsraum darstellen kann, der über den Ansatz von Kessl u.a. hinaus reicht und
dort Bildung im Sinne formellen, non-formellen und informellen Lernens stattfindet
und sucht über die Adressaten nach einem Feldzugang, um analysieren zu können,
welcher Art Bildungsprozesse in den Feldern der Jugendsozialarbeit überhaupt sind,
welche Qualität diese Bildungsprozesse haben und ob sie im Sinne der
vorangegangenen Ausführungen Querverbindungen zu den einzelnen Kategorien
ermöglichen.
Um darüber Aussagen treffen zu können, ist es also nicht nur elementar wichtig,
Bildungsprozesse in den unterschiedlichen Kategorien zu identifizieren, sondern
darüber hinausgehend ein bildungstheoretisches Konstrukt zu explizieren, das die
Vielfältigkeit von Lernen aufgreift und es ermöglicht, den Bildungsbegriff zu
operationalisieren.
So erscheint es also zunächst nötig zu sein, den Bildungsbegriff in gebotener Kürze zu
skizzieren, um im Folgenden die Operationalisierungsrichtung des Bildungsbegriffs
für den empirischen Teil dieser Arbeit darzulegen.
3.5
Stichworte zur Rekonstruktion des Bildungsbegriffs
3.5.1
Thematisisierung des Bildungsbegriffs in der Jugendsozialarbeit
In der Jugendsozialarbeit wurde der Bildungsbegriff bisher kaum diskutiert (vgl.
Fülbier/Münchmeier 2001, Enggruber 2003), obgleich aus bildungspolitischer
Perspektive die Bedeutung der Jugendsozialarbeit bereits in den Entstehungsjahren der
Jugendsozialarbeit im Kontext des Bildungssystems thematisiert wird:
„Aus all dem ergibt sich, daß die praktische Jugendsozialarbeit nicht nur einen zeitlich
begrenzten Auftrag hat, aktuelle Notstände zu beseitigen, sondern daß sie berufen ist,
in unserem Erziehungs- und Bildungswesen einen legitimen Platz neben anderen
Erziehungsträgern, wie Elternhaus und Kirche, schulischer und betrieblicher
Ausbildung einzunehmen“ (Gehring 1959, 415).
80
Kapitel 3
Bildung – Theoriefolie zur Analyse des empirischen Materials
Diese Dethematisierung von Bildung weist neben der gering ausgeprägten
theoretischen Fundierung von Jugendsozialarbeit in ihren historischen Bezügen zur
Jugendarbeit (vgl. Hermanns 2001, Münchmeier 2001, Breuer 2001), auch auf die
starke Ausdifferenzierung der Jugendberufshilfe mit Einsetzen der anhaltenden
Arbeitsmarktskrise seit Mitte der 1970er Jahre und ihrer damit verbunden
Orientierung an der inneren Logik der Strukturen des ersten Arbeitsmarktes hin (vgl.
Galuske 2001, 889, von Bothmer 1996). Bildung im Begriffsverständnis eines offenen
Prozesses, der nur angeregt und unterstützt werden kann, dessen Ziel aber offen und
unplanbar bleibt und insofern nicht durch Leistungsüberprüfungen nachvollziehbar
wird und auch keine direkt messbaren Erfolge zur Erreichung aktueller sozial- und
jugendpolitischer Ziele der Jugendsozialarbeit hervor zu bringen vermag (z.B.
Vermittlungszahlen in Arbeit, Rückgang von Straftatsdelikten etc.), wird nicht
diskutiert. So provoziert die aktuelle arbeitsmarkt- und sozialpolitische Debatte
insbesondere durch die vier Gesetze für moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt
im Kontext eines Bildungsbegriffs, der über den konkreten Verwertungsgedanken
hinausgeht (vgl. Otto u.a. 2002), die Frage, „ob überhaupt noch Ressourcen für
Bildungsprozesse im kritischen Sinne bleiben“ (Enggruber 2003, 373). Ein Anliegen
dieser Dissertation ist es, die so beschriebene Forschungslücke zu füllen und mit einer
durch Methoden der qualitativen Bildungs- und Sozialforschung fundierten Analyse
Jugendsozialarbeit als Bildungschance für benachteiligte Jugendliche im Sinne einer
kritischen Bildungstheorie zu beschreiben, bzw. zu konstruieren.
3.5.2
Thematisierungsformen von Bildung
Die Fragen danach, was Bildung ist, wie sie bestimmt werden kann oder gar ob und
wie Bildung gestaltet werden kann, bzw. ermöglicht oder behindert werden kann,
beschäftigen seit langen Jahren die pädagogische Disziplin und Profession (vgl. z.B.
Tenorth 1997, 975). Eine empirische Analyse, die Bildung im Kontext von
individueller Ausbildung von Subjektivität einer Person positioniert, durch die
Orientierung in und Auseinandersetzung des Einzelnen mit einer sich verändernden
Welt gewährleistet und ermöglicht wird, gerät aufgrund der Komplexität und
begrifflichen
Unbestimmtheit
sowie
der
konkurrierenden
begrifflichen
Bestimmungsversuche von Bildung zu einem schwierigen Unterfangen.
Ermutigt durch eine einigermaßen „respektlose“ Verwendung des Begriffs „Bildung“,
wie sie Ruhloff in einem Vortrag unter dem Titel „Ist Bildung noch aktuell?“ 2002
vorschlägt – nämlich nicht als „heiliger Begriff“, der klar umrissen sei und unter dem
ganz bestimmte Phänomene zu verstehen seien, sondern als einen Begriff der sich
81
Kapitel 3
Bildung – Theoriefolie zur Analyse des empirischen Materials
durch seine Verwendung in der sozialen Wirklichkeit wandele und vielen normativen
Vorstellungen nicht mehr gerecht werde (vgl. Ruhloff 2002, 2) – begegnet man in der
Beschäftigung mit bildungstheoretischen Diskussionen relativ schnell Warnungen,
aufgrund der normativen Aufgeladenheit des Begriffes und seiner langen Tradition
bildungstheoretischer Diskurse „lieber die Finger von diesem Begriff“ zu lassen und
Wächtern, die sich – so Bock (2004, 90) „vor allem in der philosophisch orientierten
Erziehungswissenschaft und der allgemeinen Didaktik“ finden lassen. So formuliert
Vogel (2004) die Nebenwirkungen oder impliziten Differenzen, die man sich mit dem
Begriff „Bildung“ einkaufe, und verweist darauf, dass Bildung immer auf „HöherBildung“ ausgerichtet und normativ aufgeladen sei und soziale Differenz impliziere.
Darüber hinaus könne das, was unter Formulierungen wie „informelle Bildung“
beschrieben werde, eher in der „üblichen Theoriesprache“ als „Sozialisation“
bezeichnet werden (ebd. 37) und außerdem ohnehin deshalb nicht als Bildungsprozess
beschrieben werden, da ein ungeplanter Bildungsprozess dem normativen Gerüst
widerspreche.
Demgegenüber vertritt Peukert (2000, 509) in seinen Reflexionen über Bildung die
These, „daß die Erziehungswissenschaft sich bei ihrem Begriff von Bildung nicht mit
einer historischen Rekonstruktion begnügen kann, sondern daß sie die Aufgabe hat,
diesen Begriff neu zu bestimmen, und zwar aus einer interdisziplinären Analyse der
geschichtlich-gesellschaftlichen Situation, ihrer bestimmten inneren Tendenzen und
der Lage der einzelnen in ihr.“ In Bezug auf die gesellschaftliche Bedeutung einer
„pädagogischen Bildung“ konstruiert Peukert Bildung als reflektierende Urteilskraft,
„um dadurch zu einer Verfaßtheit der Gesellschaft zu kommen, die allen
Lebensmöglichkeiten eröffnet“ (ebd., 522). Diese Frage scheint besonders in Bezug
auf die in dieser Arbeit untersuchte Zielgruppe, die aufgrund unterschiedlicher
Prozesse von Exklusion und Ausgrenzung bedroht sind, weiterführend zu sein.
Resümierend stellt Bock (2004, 93) fest, dass „die wohl schwierigsten Fragen im
Kontext des öffentlichen wie wissenschaftlichen Bildungsdiskurses [...] die Fragen
nach der Bestimmung des Bildungsbegriffes selbst [sind], d.h. was ist überhaupt
‚Bildung‘? Und was beschreibt man mit dem Begriff der Bildung – sofern er sich
charakterisieren lässt?“
Nach Tenorth (1997) weisen die Thematisierungsformen von Bildung darauf hin, dass
Bildung kein ausschließlich erziehungswissenschaftlicher oder pädagogischer Begriff
ist, sondern in zahllosen Disziplinen verwendet wird und als eine Art
„multidisziplinäre Substratkategorie“ (ebd., 975) unterschiedlichste Forschungen
provoziert. Als eine Art Zwischenergebnis seiner Überlegungen führt er aus, dass die
Verwendungsweisen des Begriffes Bildung allerdings auf ein gemeinsames Thema
82
Kapitel 3
Bildung – Theoriefolie zur Analyse des empirischen Materials
hinweisen, das seit den bildungstheoretischen Überlegungen von Humboldt die
Diskurse um Bildung durchzieht:
„Als Grenzziehung nach außen kann man neben dem Allbegriff, also der Vielfalt,
einen Inbegriff von Bildung, eher: einen Minimalbegriff erkennen, mit dem sich für
die Vielfalt der Diskurse wenn auch nicht systematische Ordnung stiften, so doch eine
Grenze ziehen läßt. Das Thema bleibt nach wie vor anscheinend das, was Wilhelm
von Humboldt interessierte, die Subjekt-Welt-Relation also; die Form der
Thematisierung nimmt auf, was ein derart breites Thema verlangt, also die Gesamtheit
der Forschungsmöglichkeiten, die sich mit der Relation von Mensch und Welt
verbinden lässt.“ (975)
Bildung dient demnach zur begrifflichen Definition des Prozesses der Ausbildung
eines individuellen Verhältnisses zwischen dem Subjekt (also der Personen) und der
Welt. In der Auseinandersetzung mit der Frage, ob die Bildungsforschung in der Lage
sei, etwas kategorial Neues in der Bildungstheorie zu entwickeln, bestimmt Ruhloff
(1998, 413) den Bildungsbegriff allgemein als „‘Veränderung oder Entwicklung des
Menschen aufgrund Sozialisation, Lernen und Erfahrungsverarbeitung‘, sei es
innerhalb oder außerhalb der dafür vorgesehenen Institutionen.“
Für Bernhard (1997) ist mit Bildung, im Gegensatz zum Begriff der Erziehung, der
ähnlich wie Bildung auf Dimensionen menschlicher Subjektwerdung rekurriert, „die
Entstehung von Bewußtsein verknüpft“ (ebd., 65). Bildung geht unter anderem aus der
Erziehung hervor (und bleibt mit ihr eng verknüpft),
bezieht sich aber auf die
kognitive Aneignung von Welt und die Veränderung von Bewusstsein. Dadurch
versetzt Bildung die Subjekte in die Lage, ihre Rollen, Funktionen und Perspektiven
innerhalb der Gesellschaft selbst zu bestimmen (vgl. 65) und wird damit zu einer
bedeutungsvollen Triebfeder von pädagogischer Arbeit in einem Verständnis von
Reflexivität der Lebensführung.
Während unser Bild von der Welt in den frühen Phasen der Subjektentwicklung
weitgehend fixiert bleibt auf den vorgegebenen Rahmen alltäglicher Abläufe,
durchstößt der Bildungsprozess diese Fixierung indem er uns mit den Kultur- und
Wissensbeständen der menschlichen Gesellschaft konfrontiert“ (ebd., 65). Der
Auffassung der traditionellen Erziehungslehre, die Erziehung und Bildung nach
Gegenstand und Absicht (Netzer 1966, 16 zit. nach Bernhard 1997, 66) unterscheidet,
hält Bernhard entgegen, dass sich Bildung nicht nur auf den Schulbereich als
Bildungsraum beschränken lässt, sondern in unterschiedlichsten, nicht didaktisch
näher bestimmten Bildungsfeldern lokalisiert.
83
Kapitel 3
Bildung – Theoriefolie zur Analyse des empirischen Materials
In seiner theoretischen Bedeutung konstruiert Tenorth (1997) den Begriff Bildung u.a.
als ein Grundbegriff in der Erziehungswissenschaft und führt als ein prominentes
Beispiel dafür das theoretische Gerüst von Benner an, das mit einer Theorie der
Bildung, einer Theorie der Erziehung und einer Theorie der Institutionen (vgl. ebd.,
979) drei Thematisierungsweisen von Bildung verbinde und dadurch „den Anschluß
an Forschungen über das Subjekt und an gesellschaftstheoretische Überlegungen“
eröffnet (ebd.). Dadurch unterscheide sich die Theorie von Benner von den
„Totalitätsansprüchen kritischer Bildungstheorie“ (ebd.).
Insgesamt erscheint der Begriff Bildung auf Grund seiner Unbestimmtheit und
Offenheit als höchst problematisch - Garz/Blömer (2002, 442) bezeichnen ihn in
einem Aufsatz zu qualitativer Bildungsforschung unter Rückgriff auf die
Ausführungen von Tenorth als „umbrella-term“, da sich „viele Lesarten, Deutungen
und auch sich widersprechende Definitionen [...] unter seiner Obhut finden und
individuell oder je nach paradimgatischer Zugehörigkeit gestalten [lassen]“ (ebd.).
Eine ähnliche Bezeichnung findet sich auch bei Lenzen (1997), der sich im mit der
Frage auseinander setzt, ob der Bildungsbegriff durch Konzepte der Selbstorganisation
- bzw. als funktional äquivalente Begriffe - der Autopoesis und der Emergenz abgelöst
werde, da diese als empirisch gehaltvoller und damit theoretisch angemessener
erscheinen, als der klassische deutsche Bildungsbegriff. Bildung wirke zunächst
„unterdeterminiert“, da der Begriff als „deutsches Container-Wort“ (ebd., 949) wie ein
pädagogisches „catch-word“ zu verstehen sei, das „in seiner mehr als 200jährigen
Geschichte eine breite Palette von semantischen Konnotationen in sich aufgenommen
und hervorgebracht“ habe (ebd.). Lässt man indes diese historisch-semantischen
Konnotationen außer acht, erscheint der Begriff im Grunde aber überdeterminiert, da
er mit unterschiedlichsten Inhalten gefüllt ist (vgl. ebd., 951). Im Folgenden
kennzeichnet Lenzen vier Dimensionen des Bildungsbegriffs, die er als individuellen
Bestand von Wissen und Kompetenz, individuelles Vermögen im Sinne von
Fähigkeiten und Vermögen, individueller Prozess im Sinne des Konzeptes von
Selbstbildung und individuelle Selbstüberschreitung und Höherbildung einer Gattung
als Selbstverwirklichung oder Überwindung, resp. Weiterentwicklung des eigenen
status quo bezeichnet.
In der Dimension von Bildung als individueller Bestand von Wissen oder Kompetenz,
das den meisten Bildungsbegriffen zu eigen ist, entsteht das Problem der Selektion
von Bildungsinhalten. Lenzen weist diesbezüglich auf eine deutsche Begriffslücke
hin: Es gibt kein Substantiv, das den Menschen bezeichnet, der sich bildet. Aufgrund
der Analogie dieser Leerstelle im Konzept von Selbstorganisation und Autopoesis
schlägt Lenzen vor, mit Luhmann an dieser Stelle die Worte Mensch, Individuum oder
84
Kapitel 3
Bildung – Theoriefolie zur Analyse des empirischen Materials
Person zu verwenden, wodurch allerdings impliziert wird, dass es im Grunde nur
Bildung gibt – und keine Handlungen, die nicht als Bildung bezeichnet werden
können: „In der Terminologie von Bildung als Bestand hieße das: Es gibt keine
Bildungsbestände, sondern nur Bildungsprozesse, solange der Organismus lebt“ (ebd.,
952). Um den Bildungsbegriff von dem Konzept der Selbstorganisation, Autopoeisis
und Emergenz abzugrenzen müsste es jedoch gelingen, zwischen einem Menschen bei
irgendeiner beliebigen Tätigkeit und einem Menschen in einem Bildungsprozess zu
unterscheiden. Das Problem der Selektion von Bildungsinhalten löst sich dadurch auf,
dass letztlich nur das Individuum selegiert und Indoktrination nur dadurch entstehen
kann, dass dem Individuum Inhalte vorenthalten werden.
Die Dimension von Bildung als individuellem Vermögen, im Sinne von Fähigkeit
oder Kompetenz, versucht, durch formale oder funktionale Bildungskonzeptionen
einen Ausweg aufzuzeigen, indem sie Bildung als einen Zustand begreift, den das
Individuum erreichen kann. Damit wäre jedoch das Erreichen dieses Zustandes (z.B.
Reife) auch das Ende von Bildung, auf den Bildung zustrebt. In der Vorstellung des
lebenslangen Lernens wird zwar die Starre dieser Perspektive aufgelockert, damit
jedoch auch der Prozess ad infinitum geführt: Der Zustand kann immer nur
annäherungsweise erreicht werden. Die daraus folgende schwerwiegende Konsequenz
dieses Bildungsdenkens ist nach Lenzen die Degenration des Menschen zu einer
„Trivialmaschine“ (ebd., 953), da der Mensch in der Konzeption von Bildung als eine
Art Regelkreismodell nie den Reifezustand erreichen kann, sondern sich ihm immer
nur annähern kann.
In der Dimension von Bildung als einen individuellen Prozess sieht Lenzen eine Nähe
zum Konzept der Bildung als Selbstbildung, die dem Begriff der Autopoiesis sehr
nahe kommt, und die von einer inneren Logik des Bildungsprozesses (=individuelle
Anlagen) ausgeht. Ein individueller Bildungstrieb wird zu einem humanen Apriori der
grundsätzlichen Bildsamkeit des Menschen. Hier wird allgemein „der Bildungsprozeß
konzipiert als ein Vorgang, der aufgrund innerer Regeln des Individuums und äußerer
Determination durch das Individuum als Handlungssubjekt vollzogen wird“ (Lenzen
1997, 954).
Bildung als individuelle Selbstüberschreitung und Höherbildung der Gattung
bezeichnet das Konzept, durch Bildung den eigenen status quo zu überwinden, ohne
jeweils einen höheren Status „im Sinne einer Statik“ (ebd., 954) zu erreichen. Unter
Rückgriff auf Benner (1987) bezeichnet Lenzen das Phänomen als eine „pädagogische
Grundparadoxie“, da das Selbst seinen Möglichkeiten nach immer schon da ist und
zugleich nicht. „Selbstverwirklichung steht semantisch und substantiell in der Nähe
von Selbsttätigkeit und Selbstbestimmung, unterstellt also Freiheitsgrade und die
85
Kapitel 3
Bildung – Theoriefolie zur Analyse des empirischen Materials
Unmöglichkeit einer reinen bildenden Fremdtätigkeit, und sie eröffnet in dieser
Struktur gerade die eingangs zitierte Unbestimmtheit, die den Protagonisten des
Begriffs keineswegs immer verborgen geblieben ist“ (ebd., 955). So scheint Bildung,
die auf die Entwicklung der Persönlichkeit gerichtet ist, immer nur graduell möglich
zu sein, da diese - in welcher Form auch immer – immer schon vorhanden ist.
In diesem Zusammenhang ist ein Zitat von Gadamer (1970) interessant, in der er
implizit auf die Dimensionen von Muße und freier Zeit als zwei Bedingungsfaktoren
von Bildung hinweist:
„’Bildung’ ist ein Wort, dessen organische Herkunft wir nie ganz aus dem Ohr lassen
sollten. Bildung ist etwas, was man nicht machen kann und was man nicht wollen
kann. ‚Bildungsziele’ gehören zu dem schlechtesten Jargon der Pädagogik. Bildung ist
etwas, was wachsen muß, Zeit braucht und am Ende keinen rechten überzeugenden
Ausweis zu haben scheint“ (Gadamer 1970, 24).
Bildung als Bildung der Person, des Selbst bezieht auch die Frage nach Geltung mit
ein, wenn sie, wie Sting (2002, 380) herausstellt, auf „eine Verbindung der konkreten
Individualität mit gesellschaftlichen und allgemein-universellen Bestimmungen“ zielt.
In der Lebenslauf-Perspektive als temporäre Dimension von Bildung wird sie als ein
kontinuierlicher, dynamischer, prinzipiell nicht abschließbarer (vgl. Langewand 1994)
Bildungsprozess verstanden.
Zwei
wesentliche
Bestimmungsmerkmale
des
Bildungsbegriffs
und
des
Verständnisses von Bildung sind damit bereits deutlich geworden: Bildung kann
sowohl das Ziel in Form einer „abschließenden Gestalt“ einer individuellen WeltUmwelt-Beziehung bezeichnen, als auch den Prozess („Entwicklungsgang“), der zu
diesem Status führt (vgl. Langewand 1994, 69).
3.5.3
Historische Rekonstruktion des Bildungsbegriffs
Ausgehend von einer etymologischen Bestimmung des Bildungsbegriffs expliziert
Langewand (1994), dass der Bildungsbegriff im 18. Jahrhundert seine Bedeutung in
Bezug auf die „innere Gestalt“ des Menschen entfaltet, während er anfänglich vor
allem auf die „äußere Gestalt“ bezogen war und zunächst die Bedeutungen
„Nachahmung“, „Bildnis“ oder „Nachbildung“ umfasste, die dann um den Gestalt-,
bzw. den Gestaltungsbegriff erweitert wurden. Der christliche Hintergrund dieser
Auffassung besteht vor allem in der sog. „Imago-Dei-Lehre“ (Gottesebenbildlichkeit),
die eine potenzielle Wandlung des Menschen zur „Imago Dei“ annahm und in einer
„anthropologisch optimistischen“ (Langewand 1994, 71) Lesart allgemeiner als
86
Kapitel 3
Bildung – Theoriefolie zur Analyse des empirischen Materials
‚Wandlungsfähigkeit des Menschen’ bezeichnet werden könne, die nach Langewand
die Basis für die Metaphysik von Leibniz bildet und dadurch eine herausragende
Bedeutung für die neuhumanistische Bildungstheorie des späten 18. und frühen 19.
Jahrhunderts erlangt.
In seiner historischen Herleitung expliziert Bernhard (1997), dass der Bildungsbegriff
erst im Zuge der gesellschaftlichen Arbeitsteilung zum Thema von größerem
gesellschaftlichen
„gemeinschaftlichen
und
politischen
Arbeit
von
Interesse
Menschen
wird,
Bildung
wenngleich
als
in
der
grundlegende
Gestaltungskraft“ (ebd., 63) stets schon enthalten ist, da die Arbeit, „als eine tätige
Umwandlung von Natur und Naturstoffen kein instinktgesteuerter Handlungsablauf,
sondern eine bewußte gesellschaftliche Tätigkeit ist“ (ebd., Hervorhebung i.O.), durch
die sich das „Bewusstsein“ entwickelt.
Im Übergang von der feudalistischen in die bürgerliche Gesellschaft verändert sich die
Rolle des Subjekts, das seither „zum alleinigen Motor seiner Geschichte, zum
Beweggrund seiner Aktivitäten, zur verursachenden Initiative seiner Handlungen“
(ebd., 64) geworden ist. Bernhard betont die sich dadurch letztlich entwickelnde
politische und subjektive Bedeutung von Bildung: „Einerseits ist Bildung die
Vorbereitung auf das berufliche Leben in einer neuen, von Verwertungs- und
Konkurrenzzwängen durchdrungenen Gesellschaft, andererseits wird sie zur
Voraussetzung, sich dem gesellschaftlichen Verfügungsdruck zu entziehen, indem sie
auf
„Selbstbewußtwerdung“,
„eigenständige
Handlungsfähigkeit“
und
„Selbstermächtigung“ orientiert“ ist (ebd., 64).
Dieser Doppelcharakter von Bildung und der eindeutige Bezug von Bildung auf die
tätige Arbeit findet eine interessante Entsprechung in dem sozialpädagogischen Feld
der Jugendsozialarbeit resp. der Jugendberufshilfe, die vom Auftrag her verschiedene
Perspektiven von Bildung in einem Feld vereinen soll. Während in reinen
berufsbezogenen Bildungsinstitutionen der gesellschaftliche Auftrag eindeutig in der
Vermittlung und Aneignung von berufspraktischen und theoretisch relevanten Inhalten
liegt, geht es in der Jugendsozialarbeit im Hinblick auf Bildung um eine Balance
zwischen den Interessen zur Ermöglichung gesellschaftlicher Teilhabe und Teilnahme
über die Qualifizierung zur Arbeit, gleichzeitig aber auch um das Erkennen
gesellschaftlicher Strukturen von Inklusion und Exklusion über die Bereitstellung von
Möglichkeiten zur Teilhabe und Teilnahme an Erwerbsarbeit, um diesen
Inklusionsmechanismen Alternativen entgegen setzen zu können. Bernhard führt
weiter aus, dass in der weiteren Entwicklung Bildung stärker auf seine Funktion als
Qualifizierung reduziert wurde und dadurch zu einem Mittel der Selektion und der
Allokation der Heranwachsenden wurde.
87
Kapitel 3
Bildung – Theoriefolie zur Analyse des empirischen Materials
Die Systematisierung des Bildungsgeschehens in allgemeine und „spezielle“ Bildung
geht auf das neuhumanistische Bildungsverständnis und damit das Werk Wilhelm von
Humboldts zurück, das als eine zentrale Grundlage der pädagogischen Bildungstheorie
gilt.
Humboldt eliminiert die Lehre eines Schöpfergottes und verweist auf die individuelle
Aufgabe der „Bildung des Menschen“. Das sachliche Bildungsproblem bei Humboldt
liegt nach Langewand (1994) in der Frage der Verträglichkeit zwischen dem
autonomen Selbstbezug des Menschen und der heteronomen Fremdbestimmung der
Welt. Humboldt vollzieht an dieser Stelle eine Analogie der benötigten
Bildungsinhalte zur Moraltheorie Kants: Die Bildungsinhalte müssen „allgemeine
Geltung beanspruchen können“ (ebd., 77). Die von Humboldt beschriebene
Unterscheidung von allgemeiner Bildung, durch die „der Mensch selbst gestärkt,
geläutert und geregelt“ werden soll (Humboldt 1982, 188, zit. nach Langewand 1994,
78) und spezieller Bildung, die Fertigkeiten zur reinen Anwendung vermittelt, reicht
bis in unser heutiges Bildungsverständnis hinein.
Als zentrales Dokument der neuhumanistischen Bildungstheorie gilt der 1809
entwickelte Königsberger und Litauische Schulplan, in dem Humboldt die
Unterscheidung zwischen allgemeiner und spezieller Bildung einführt. „Was das
Bedürfnis des Lebens oder eines einzelnen seiner Gewerbe erheischt, muss
abgesondert, und nach vollendetem allgemeinem Unterricht erworben werden. Wird
beides vermischt, so wird die Bildung unrein, und man erhält weder vollständige
Menschen, noch vollständige Bürger einzelner Klassen. Denn beide Bildungen – die
allgemeine und die specielle – werden durch verschiedene Grundsätze geleitet. Durch
die allgemeine sollen die Kräfte, d.h. der Mensch selbst gestärkt, geläutert und
geregelt werden; durch die specielle soll er nur Fertigkeiten zur Anwendung erhalten“
(Humboldt 1809, 188).
Im Zentrum des Humboldt’schen Bildungsverständnisses steht der sich selbst bildende
Mensch, der „ohne alle, auf irgend etwas Einzelnes gerichtete Absicht, nur die Kräfte
seiner Natur stärken und erhöhen, seinem Wesen Werth und Dauer verschaffen will“
(Humboldt o.J., 235), der also an der Vervollkommnung seiner Persönlichkeit 10
10
Nach Pongratz (2003) ist der Begriff „Person“ als Nachfolgebegriff von „Seele“ zu
verstehen, da sich in ihm erfüllt, „was im alten Seelenbegriff vorgeahnt ist“ (ebd. 2003, 1).
Bereits in der Unterüberschrift zu seinen „Persönlichkeitstheorien“ macht er deutlich, dass er
Person als „ein das Psychische und Physische übergreifendes Einheitsprinzip“ (ebd., 1) ansieht.
Der Begriff „Person“ leitet sich aus dem lateinischen Wort ‚persona’ ab, das ursprünglich die
Theatermaske, den Schauspieler und die von ihm dargestellte Charaktergestalt bedeutete.
Pongratz hält die griechische Ableitung von ‚psosopon’, die das Hindurchscheinen durch die
Maske bezeichnete, für nicht mehr vertretbar.
88
Kapitel 3
Bildung – Theoriefolie zur Analyse des empirischen Materials
arbeitet. Bildung – verstanden als allgemeine Menschenbildung - ist für Humboldt
damit an die geistig-intellektuelle Entwicklung des Menschen und an die Ausbildung
des Charakters, seiner Persönlichkeit, gekoppelt. Bildung wird folglich als prozesshaft
und unendlich angelegt und mit der gesamten Lebenserfahrung des Menschen
verknüpft. Es gilt „dem Begriff der Menschheit in unsrer Person, sowohl während der
Zeit unseres Lebens, als auch noch über dasselbe hinaus, durch die Spuren des
lebendigen Wirkens, die wir zurücklassen einen so grossen Inhalt, als möglich, zu
verschaffen“ (ebd., 235). Diese (Bildungs-)aufgabe vollzieht „sich allein durch die
Verknüpfung unseres Ichs mit der Welt zu der allgemeinsten, regesten und freiesten
Wechselwirkung“ (ebd., 235f.). Damit liegt die besondere Struktur der Lerninhalte
nicht darin, dass sie ein auf verallgemeinerbaren Gründen oder Anschauungen
begründetes konkretes Wissen zur Aneignung bringen, sondern dass sie geeignet sind,
um das Lernen selbst zu lernen. Langewand verdeutlicht diesbezüglich, dass sich die
Bildungstheorie von Humboldt auf das allgemeine Schulwesen bezieht. „Es gibt nur
Elementar-, Schul- und Universitätsunterricht, alles übrige, Spezielle, Anwendungsoder Berufsbezogene bleibt gesonderten Anstalten überlassen. Die Theorie der
Bildung
des
Menschen,
ursprünglich
eine
philosophisch-anthropologische
Spekulation, greift so auf <curriculare> und <bildungspolitische> Fragen über“
(Langewand 1994, 78). Die Auseinandersetzung mit dem Bildungskonzept von
Humboldt führt Bock für den Kontext von Jugendhilfeforschung zu zwei zentralen
Gedanken: „1. Bildung ist als Erweiterung der Weltsicht fassbar, genauer: als Prozess
der andauernden Welterweiterung, in dem das unerlässlich Medium die Sprache
darstellt. 2. Und dieser Prozess ist ein ausschließlich subjektiver Prozess, mehr noch:
Er kann nur ein subjektiver Prozess sein, der sich mindestens biographietheoretisch,
wenn nicht gar identitätstheoretisch verorten ließe“ (Bock 2004, 95).
In der deutschen Übersetzung von ‚persona’ und ‚personalitas’ zur Zeit der Scholastik prägt
sich das Wort ‚Persönlichkeit’, womit das Göttliche, das Ewige im Menschen bezeichnet wird.
„Von da an zieht das Wort ‚Persönlichkeit’ alle werthafte Besonderheit und Würde immer
mehr auf sich“ (ebd.,1).
Nach Stern wird Person zu Persönlichkeit, indem sie sich Werte aneignet und mit ihnen zu
einer Einheit wird. „Im allgemeinen hat sich heute bei den deutschsprachigen Forschern eine
wertneutrale Definition der Persönlichkeit durchgesetzt. So versteht Vetter die Persönlichkeit
als das Insgesamt des seelisch-charakterlichen Gefüges“ (Pongratz 2003, 2). Erst wenn die
Person, als menschliches Einzelwesen, das über sich selbst verfügt, in einem konkret
historischen Lebenslauf Wirklichkeit wird, spricht Revers von Persönlichkeit. Unter
Ausklammerung aller metaphysischen Personenbegriffe bezeichnet der Persönlichkeitsbegriff
alle Ereignisse, die sich zu einer individuellen Lebensgeschichte zusammen schließen.
Insgesamt wird der Persönlichkeitsbegriff begrifflich völlig unterschiedlich bestimmt – allein
eine Veröffentlichung von Allport (1937) listet fünfzig verschiedene Bestimmungen auf. In
einem allgemeinen Sinn verweist Persönlichkeit auf die einzelne Person und bezeichnet – in
unspezifischer Weise – die Ausprägung von Charaktermerkmalen einer Person.
89
Kapitel 3
Bildung – Theoriefolie zur Analyse des empirischen Materials
3.5.4
Stichpunkte zur kritischen Bildungstheorie
In der Perspektive kritischer Bildungstheorie meint Bildung nach Bernhard (1997, 68)
das „unabgeschlossene Projekt emanzipativer Selbstfindung“ und fokussiert damit den
kritischen Kern des im 17. und 18. Jahrhundert entworfenen Bildungsbegriffs (die
pädagogische Distanzierung und Reflexion der Hegemonie der Industrialisierung und
Technisierung im Leben). Bildung bezeichnet den auf Dauer gestellten Prozess der
„emanzipativen
Subjektwerdung
des
Menschen
im
widerspruchsvollen
Beziehungsgeflecht von Individualgenese und gesellschaftlichem Prozeß“ (ebd., 69),
durch
die
sie
zur
gestaltenden
Kraft
der
eigenen
Lebens-
und
Sozialisationserfahrungen wird.
Kritische Bildungstheorie fragt nach den Bedingungen von Macht und Herrschaft in
Bezug auf Bildung, die sie als „umkämpftes Kräftefeld“ begreift, in dem neben der
Herstellung von gesellschaftlich benötigten Arbeitsqualifikationen auch eine
kulturellen Hegemonie (der jeweils ausgeprägten kulturellen und gesellschaftlichen
Wert- und Weltvorstellungen) reproduziert wird. Bildung wird in diesem Sinne als
eine Art Korrektiv zur Übernahme, resp. Internalisierung von gesellschaftlichen
Routinen im Prozess der Sozialisation von Menschen konstruiert und ein
entsprechender Auftrag für eine Theorie der Bildung formuliert. „Je stärker der
Sozialisationsprozeß im Sinne der Internalisierung bestimmend bis in das Innere des
Individuums hineinwirkt, umso intensiver muß eine Theorie der Bildung die im
Inneren des Menschen aufgebauten Selbstbegrenzungen aufspüren und zu Inhalten des
Prozesses von Bildung machen“ (ebd., 69).
Bernhard markiert den mit Sozialisation als Internalisierung oder Verinnerlichung der
Gesellschaft in dem Individuum charakterisierten Prozess als den Vorgang, in dessen
Verlauf die für das Zusammenleben notwendigen Werte und Normen übernommen
werden. Insofern stellt für Bernhard Sozialisation den Ort dar, in dem sich ein Wissen
über gesellschaftliche Zusammenhänge und Bedeutungen von Kontexten aufbaut, dass
dem Menschen allerdings nicht zwingend reflexiv zur Verfügung stehen muss 11 . Im
11
Aus einer anderen Perspektive hat Müller (1996, 1996a) diesen Gedanken durch die
Anwendung der Theorie früher Objektbeziehungen von Mahler (1980) einer sich in bezug auf
Anerkennung und Subjektorientierung als Bildungsarbeit verstehenden außerschulischen
Jugendarbeit fruchtbar gemacht. Müller führt aus, dass Jugendsubkulturen, die Erwachsene
ausschließen, neben der Familie und Schule eine der zentralen Sozialisationsinstanzen des
Jugendalters darstellt – dies wurde bereits 1917 von Siegfried Bernfeld beschrieben. Des
weiteren haben die Forschungen von Piaget gezeigt, dass moralisches Lernen von Kindern und
Jugendlichen nicht aus den Normen, Wünschen und Sanktionen von Erwachsenen erwächst,
sondern im Umgang mit anderen Kindern und Jugendlichen gelernt wird (vgl. Müller 1996,
24). In diesem Zusammenhang nennt Müller das Konzept von Honneth (1992) nach dem die
moralische Entwicklung sich als dreifacher Kampf um Anerkennung entfaltet und zwar in
bezug auf die Anerkennung der eigenen Person, Anerkennung als Menschen mit gleichen
90
Kapitel 3
Bildung – Theoriefolie zur Analyse des empirischen Materials
Rahmen dieser Prozesse können auch äußere Zwänge zu inneren Zwängen
transformiert werden. „Die Gesellschaft muss sich ‚in uns organisieren’ (Durkheim
zit. nach Geueln 1980, 32), um ihren Fortbestand zu sichern“ (ebd., 70). Damit
bezeichnet Sozialisation die Unterordnung des Menschen unter gesellschaftliche
Interessen. Bernard zeigt auf, dass die Idee eines emanzipativen Subjektes Gefahr
läuft, durch die Vergesellschaftungsinteressen der Industriegesellschaft unterlaufen zu
werden. In diesem Prozess wird Bildung zur Halbbildung, die sich als schlichte
Aneinanderreihung von Information und Kenntnissen darstellt – die jedoch nicht in
die Kontinuität des Bewusstseins eingebunden werden (Adorno 1979, 112, zit. nach
Bernard 1997, 71). Emanzipative Bildung ist nur dann möglich, wenn solche prekären
Sozialisationsbedingungen reflektiert und ins Bewusstsein gehoben werden.
In einer organisierten Bildungsarbeit, in der zum einen Aufklärung und Kritik
gegenüber der Gesellschaft betrieben werden kann, könnte zum anderen das
individuelle Leiden ein möglicher Ausgangspunkt von Bildungsprozessen sein, da
darin die Strukturprinzipien der Gesellschaft mit individuellen Rahmungen verbunden
werden. In einer solchen Perspektive, die als Persönlichkeitsbildung beschrieben
werden kann, wird dann die eigene Soziogenese zu einem elementaren Bildungsinhalt.
Wie im Folgenden weiter ausgeführt wird, bezieht sich Marotzki auf die Frage der
Transformation von kontextspezifischen kulturellen Mustern, nach denen Individuen
die Welt wahrnehmen und in eine in sich stimmige Abfolge von Ereignissen und
Erfahrungen überführen, um dadurch subjektiven Sinn zu erzeugen. Insofern liefert
die
kritische
Bildungstheorie
wesentliche
Ansatzpunkte
dafür,
wie
solche
kontextspezifischen kulturellen Muster im Individuum ausgeprägt werden können,
verbleibt in der Fokussierung der Theorie allerdings zunächst beim Individuum oder
Rechten wie andere und Anerkennung der besonderen Fähigkeiten, in denen sich Menschen
unterscheiden (vgl. Honneth 1992, 148ff.). Müller fasst diese Konzepte vereinfacht zusammen,
indem er sagt, dass Kinder und Jugendliche von anderen Kindern und Jugendlichen ihre
Vorstellungen darüber beziehen, was gut und was nicht gut ist. „Ob es sich aber lohnt, gut sein
zu wollen und auch die Rechte anderer anzuerkennen (oder eher nicht), das lernen sie nur von
den Erwachsenen“ (Müller 1996, 25, Hervorhebungen i.O.).
Nach Müller besagt die „Theorie der frühen Objektbeziehungen“ (vgl. Mahler u.a. 1980), dass
die psychische Geburt erst nach der physischen erfolgt und zwar durch die Verwandlung von
Umwelterfahrungen in der frühen Kindheit in eigene „innere Objekte“. Dadurch schaffen sich
Kinder eine eigene Persönlichkeit. Dieser Prozess setzt sich auf unterschiedlichen Ebenen,
besonders im Jugendalter, weiter fort. „Die ‚inneren Objekte‘ [...] kann man gleichsam als das
Scharnier oder besser als den ‚intermediären Raum‘ (vgl. Schäfer 1986, S. 51-134) verstehen,
welcher das Verhältnis eines Menschen zu sich selbst und sein Verhältnis zu der Umwelt
zusammenhält“ (ebd., 25).
Insofern kann Jugendarbeit in persona der Mitarbeiter in der Jugendarbeit sich selbst als
Matrize für Werthaltungen anbieten, die von den Jugendlichen dann auf individuelle Weise
verarbeitet wird, da die Entwicklung in der frühen Kindheit nicht für das gesamte Leben
festlegt, sondern spätere Erfahrungen, beispielsweise im Jugendalter, Veränderungen der
„inneren Objekte“ verursachen können (und dieses im guten und im schlechten Sinne).
91
Kapitel 3
Bildung – Theoriefolie zur Analyse des empirischen Materials
bei dem relativ abstrakten Gebilde der „Gesellschaft“ ohne zu berücksichtigen, welche
Rolle die mit den Subjekten interagierenden Mitglieder von Gruppen und anderen
sozialen Beziehungen spielen.
3.5.5
Sozial(pädagogisch)e Bildung
In den Ausführungen zur Sozialpädagogik und Bildungstheorie geht Sünker (2001)
von einem komplementären Verhältnis beider Felder aus und liefert dadurch
insbesondere für die theoretische Weiterentwicklung der Sozialpädagogik wichtige
Impulse, die Auswirkungen auf die Problematik der Auseinandersetzung mit sozialer
Ungleichheit entfalten können. Zum Ende der Überlegungen kommt Sünker zu dem
Schluss, dass „Sozialpädagogik und Bildungstheorie [...] sich daher nicht in ihren
Orientierungen komplementär zueinander [verhalten], [sondern] vielmehr [...] eine
Theorie der Bildung fundierend [ist], wenn es sich in der Sozialpädagogik nicht länger
um
‚Normalisierungsarbeit‘
handelt,
sondern
um
die
Initiierung
von
Bildungsprozessen, die in die Klienten-Professionellen Beziehung übergreifen und in
der Verteidigung bzw. der Konstitution von Subjektivität ihre Aufgabe sehen“ (Sünker
2001, 168).
Wenn Sozialpädagogik als eine Form von institutionalisierter Bildung verstanden
wird, könnte dies ein Beitrag dazu sein, das allgemeine Problem der Konstitution und
Reproduktion sozialer Ungleichheit zu bearbeiten.
Bildungstheoretisch greift Sünker auf die kritische Theorie der Bildung von HeinzJoachim Heydorn zurück, der die Interdependenzen der Verfasstheit einer Gesellschaft
und ihrer Institution Bildung analysiert. „Heydorn geht von einem „Widerspruch von
Bildung und Herrschaft" aus, der auf eine gesellschaftliche Veränderung in Richtung
humanen Menschseins hin gelöst werden könne“ (Bernhard 1997, 69).
Im Zentrum der für seine Analyse von ihm neu entwickelten Kategorien steht ein
mäeutischer Begriff von Bildung, der von einer bereits vollzogenen Emanzipation des
Subjektes und seiner Selbsttätigkeit ausgeht. Das Ziel der Bildungstheorie liegt in der
Selbstverfügung und Mündigkeit der Subjekte (vgl. Sünker 2001, 165), das nach
Heydorn nicht auf Spontanität beruht, „sondern auf der Vermittlung von Mündigkeit
und Bedingung“ (Heydorn 1979: 322, zit. nach Sünker 2001, 165).
Besonders interessant und (bildungs-)politisch aktuell werden diese Überlegungen
durch die gegenwärtige Prioritätensetzung in der Spannung des Verhältnisses von
Produktions- und Bewusstseinsbildung (vgl. Humboldt: Specielle und allgemeine
Bildung;
Bernard:
Qualifikation
und
Selbstbewußtwerdung),
die
dadurch
92
Kapitel 3
Bildung – Theoriefolie zur Analyse des empirischen Materials
gekennzeichnet ist, dass die Frage der Qualifikation eine stärkere Bedeutung bekommt
(vgl. für den Kontext Jugendsozialarbeit dazu auch: Enggruber 2003).
Im Kontext des Widerspruches von Bildung und Herrschaft (vgl. ebd. 163) erscheint
Bildung, verstanden als allgemeine Bildung im Humboldt’schen Sinne, durch die „der
Mensch selbst gestärkt, geläutert und geregelt werden“ soll (Humboldt 1964, 188 zit.
nach Sünker 2001, 164) in einem Raum anzusiedeln zu sein, der sich dem Eingriff und
Zugriff, sowie der Verregelung durch Herrschaft entzieht. In wie weit solche
pädagogischen Felder in der Jugendsozialarbeit und Jugendberufshilfe aufgrund der
hochkomplexen finanziellen Förderungsstrukturen auf Länder- Bundes- und
Europaebene
durch
unterschiedliche
Fachministerien
mit
divergierenden
Handlungslogiken und Interessenlagen überhaupt existent sind, darf aufgrund des
hohen Anteils von Hauptamtlichkeit und damit finanzieller Abhängigkeit dieses
Feldes der Jugendhilfe von politischen Entscheidungen bezweifelt werden. Die
Klärung der Frage, ob in diesen Feldern neben den „förderungswürdigen“
Qualifikationsprozessen überhaupt noch Raum bleibt für Bildungsprozesse im Sinne
einer kritischen Bildungstheorie bleibt u.a. Aufgabe des empirischen Teils dieser
Arbeit.
Ausgehend von dem Prozesscharakter von Bildung, der in den klassischen
Bildungstheorien
herausgestellt
wird,
und
der
die
Möglichkeiten
formaler
Bildungsinstitutionen wie der Schule übersteigt, sucht Sting (2002) nach
Anschlussmöglichkeiten für ein sozialpädagogisch orientiertes Bildungsverständnis
(vgl. ebd., 383) und bezieht sich dabei auf die Bedeutung des sozialen Kontextes von
Bildung. In Bezug auf mögliche Perspektiven einer so beschriebenen „sozialen
Bildung“ legt Sting (2002a) dar, dass es nötig ist, insbesondere in sozialpädagogischen
Zusammenhängen „auf die soziale Kontextualität und die soziale Verortung von
Bildungsprozessen in einem gesellschaftlichen Horizont jenseits der Schule
hinzuweisen“ (ebd., 213; vgl. auch: Sting 2004). Neben der Geselligkeitsdimension
und der sozial differenzierenden Dimension verlangt Bildung als lebenslanger
Selbstbildungsprozess „eine Berücksichtigung der biographischen Dimension, die
individuelle Lebensverläufe im Spannungsfeld von Selbststabilisierung und Offenheit,
von Kohärenz-Bildung und Transformationsfähigkeit des Selbst beschreibt“ (Sting
2002, 383); im Hinblick auf soziale Ungleichheit und soziale Selektion darf nicht eine
Bildungsform gesellschaftlich bevorzugt werden, denn durch die Pluralität von
Bildung können die Abweichungen und Ausgrenzungen möglichst gering bleiben (vgl.
383).
Die zentrale Bezugsgröße sozialer Bildung ist nach Sting die „Qualifizierung der
Lebenspraxis“ (ebd., 384) und eröffnet dadurch Perspektiven für den Bereich der
93
Kapitel 3
Bildung – Theoriefolie zur Analyse des empirischen Materials
Kinder- und Jugendhilfe, die – zumindest in Bezug auf die Jugendarbeit und
Jugendverbandsarbeit
Sozialisationsprozesse
–
ein
solches
liefern
dabei
Ziel u.a.
nach
als
Sting
ihren
die
Auftrag
ansieht.
individuellen
und
kontextbezogenen Rahmenbedingungen von Bildungsprozessen. Sting beschreibt drei
Dimensionen sozialer Bildung sieht in der „Geselligkeitsdimenion von Bildung“ (ebd.,
385) einen umfassenden, lebensweltorientierten Ansatz, der über kompensatorische
und
qualifikationsbildende
Maßnahmen,
wie
sie
klassischerweise
in
der
Jugendberufshilfe durchgeführt werden, hinausgeht und dessen Aufgabe es ist,
Bildungsanlässe zu initiieren, die den Selbstbildungsprozess der Subjekte anregen
sollen. Die zentralen thematischen Bezugspunkte einer als Bildung verstandenen
Kinder- und Jugendhilfe arrangieren sich insgesamt um den zentralen Begriff der
Auseinandersetzung mit „differierenden Lebensoptionen und – stilen“ (ebd., 386).
Der Bildungsauftrag der Kinder- und Jugendhilfe könnte nach Sting „demnach in der
subjektiv passenden Initiierung von Bildungsprozessen durch die Ermöglichung neuer
Erfahrungshorizonte und den Anstoß zu Selbstreflexionsprozessen bestehen“ (ebd.,
388).
In Bezug auf die auch durch neuere Schulstudien nachgewiesene Funktion der
sozialen Selektivität des deutschen Schulwesens kann Bildung nicht auf einem
abstraktem „Wissensbetrieb“ basieren, sondern konkretisiert sich in „Abhängigkeit
von der sozialen Situation und den Chancen für den Erwerb sozialer Anerkennung“
(ebd., 388). Zentrale Kategorien eines so verstandenen Bildungsbegriffs sind Muße
und freie Zeit, die einen Abstand zur alltäglichen Welt schafft und Reflexion des
Selbst ermöglicht, die im Sinne einer sozial reflexiven Bildungsarbeit akzeptiert und
gestärkt werden muss.
So stellt sich die zentrale bildungsmäßige Herausforderung der Kinder- und
Jugendhilfe als Bereitstellung des Privilegs „Muße“ als Freiheit vom Druck der
Lebensbewältigung dar, um „wenigstens partielle und punktuelle Freisetzungen aus
den sozialen, psychischen und physischen Belastungen zu erreichen, um auf diese
Weise Rahmenbedingungen für Bildungsprozesse zu schaffen, die Strategien der
Lebensbewältigung in Bildungsbewegungen der Lebensgestaltung und -qualifizierung
zu transformieren“ (ebd., 390). Mit diesen Ausführungen gibt Sting bereits
bildungstheoretische Anknüpfungspunkte für eine sozialpädagogisch konturierte
Bildungstheorie, wobei insbesondere der Hinweis auf die Entfaltung von
Selbstbildung im interaktiven Geschehen in konkreten Gruppenkontexten (vgl. Sting
2002a, 238) für die weiteren Überlegungen in dieser Arbeit sehr hilfreich sind. Als
Instrument für eine analytische Betrachtung der pädagogischen Prozesse in einem
sozialpädagogischen Feld der Jugendhilfe scheint sie allerdings für weitere Arbeit
94
Kapitel 3
Bildung – Theoriefolie zur Analyse des empirischen Materials
aufgrund
ihres
hohen
normativen
Impetus
kaum
Möglichkeiten
zur
Operationalisierung des Bildungsbegriffs zu bieten.
3.5.6
Zusammenfassung
Aufgrund der bisherigen Ausführungen zu bildungstheoretischen Konstruktionen und
aktuellen Auseinandersetzungen mit dem Begriff Bildung kann an dieser Stelle
zusammenfassend festgehalten werden, dass Bildung auf den Ort verweist, an dem
Lernprozesse, verstanden als Prozesse der Aneignung von materieller, sozialer und
intrasubjektiver Welt durch Auseinandersetzung und Reflexion des Subjekts mit ihnen
zu einer Positionierung des Subjekts zu der Welt transformiert werden. Die
Auseinandersetzung vollzieht sich in Form der Verhandlung von Geltung, d.h. es wird
individuell ausgehandelt, welche Geltung die dingliche, soziale und intrasubjektive
Welt
für
das
Subjekt
hat
und
wie
es
sich
–
als
Ergebnis
dieses
Auseinandersetzungsprozesse – ihnen gegenüber verhält und Relationen konstruiert.
Folglich sind Bildungsprozesse immer auch Veränderungsprozesse, die demnach
Lernen beinhalten, bzw. daraus hervorgehen.
3.6
Bildung als Prozess der Transformation von Rahmungen
Als ein weiterreichendes Analyseraster für die empirische Untersuchung von
Bildungsprozessen im sozialpädagogischen Handlungsfeld „Jugendsozialarbeit“ als
die vor allem auf der Ebene der Praxis und der Konzepte diskutierten Begriffe der
Schlüsselqualifikationen und Kompetenzen erscheint vor allem im Hinblick auf die
theoretische Konstruktion von Jugendsozialarbeit als Feld subjektorientierter
Pädagogik erscheint der von Marotzki (1990) ausgearbeitete „Entwurf einer
strukturalen
Bildungstheorie“
insgesamt
aussichtsreicher,
da
er
zahlreiche
Anknüpfungsmöglichkeiten für die Entwicklung von Fähigkeiten zur Selbstreflexion
und Selbstvergewisserung bietet und durch die weitere Ausarbeitung des
Operationalisierungsproblems
eines
so
verstandenen
Bildungsbegriffs
Bildungspotenziale einer Jugendsozialarbeit beschreibbar macht.
Im Sinne der Bestimmung des Bildungsbegriffs in der Perspektive der Kritischen
Bildungstheorie, die sich nach Bernhard (1997, 65) auf die kognitive Aneignung von
Welt, sowie den Aufbau und die Veränderung von Bewusstsein bezieht und im Kern
„die
emanzipative
Subjektwerdung
des
Menschen
im
widerspruchsvollen
Beziehungsgeflecht von Individualgenese und gesellschaftlichem Prozeß“ zum
Gegenstand hat (ebd., 69), erscheint der Entwurf einer strukturalen Bildungstheorie
95
Kapitel 3
Bildung – Theoriefolie zur Analyse des empirischen Materials
für die empirische Erfassung von Bildung besonders geeignet. Diese Theorie erlaubt
die Analyse gerade solcher Bildungsprozesse, die nicht darauf angelegt sind, Wissen
zu vermehren und sich Informationen verfügbar anzueignen, wie dies oftmals in
formalisierten Lernsituationen, z.B. in der Schule, institutionalisiert ist, sondern die
auf die Frage der Interaktion des Subjektes mit der Welt, der Reflexion von Selbst und
Welt und seiner Interpretationen zielen. Die Thematisierung von Bildung im Kontext
eines outcome-orientierten, naturwissenschaftlich-technischen Begriffsverständnisses,
das über kognitive Wissensbestände oder auszubildende Fähigkeiten definiert wird 12 ,
und damit die Frage nach der
Intentionalität und Normativität von organisierter
Bildung durch Pädagogen berührt, kritisiert Marotzki – ähnlich wie Lyotard im
philosophischen Kontext 13 – indem er anmahnt: „Die erziehungswissenschaftliche
Diskussion des Bildungsbegriffs hat hier m.E. eine Korrekturleistung zu erbringen. So
ist aus meiner Sicht systematisch bei der Diskussion des Bildungsbegriffs das
Verhältnis von kognitiven und nichtkognitiven, von diskursiven und nichtdiskursiven,
von reflexiven und nichtreflexiven Gehalten in das Zentrum zu rücken“(Marotzki
1988, 311) 14 . Ebenso deutlich kritisiert er im Kontext der Ausarbeitung seiner
zentralen
biographietheoretischen
Wandlungsprozesse
reformuliert
These,
werden
dass
können,
Bildungsprozesse
die
als
traditionellen
bildungstheoretischen Reflexionen und Argumentationen, die zu vorschnell eine
12
Ähnliches hat Hornstein 1971 bereits in seiner Kritik an den deutschen Bildungsgesamtplan
formuliert: „Man tut den Berichten, insbesondere auch dem Strukturplan, kein Unrecht an,
wenn man zusammenfassend festhält, daß sich in ihnen ein außerordentlich schwach
entwickeltes Problembewusstsein hinsichtlich der sozialpädagogischen Probleme der
Bildungsmobilisierung dokumentiert, daß das Problem der Bildungsmobilisierung hier vor
allem als Problem der Behebung des Informationsdefizits [...] dargestellt wird“ (Hornstein
1971, 289). Nach Hornstein gehe es im Bildungsgesamtplan nicht um die Frage, ob und wie
Bildung in unterschiedlichen Strukturen und Disziplinen organisiert und institutionalisiert
werden kann, sondern lediglich um die Optimierung von Schulstrukturen zur Erhöhung des
Outcomes. So sei das Etikett Bildungsgesamtplan insofern irreführend, „als auch er nur das
staatliche Bildungswesen innerhalb des in Strukturplan und Bildungsbericht abgesteckten
Rahmens behandeln wird“ (ebd., 304).
13
Im postmodernen Denken Lyotards erscheinen aus bildungstheoretischer Perspektive drei
Aspekte besonders relevant zu sein. Zum einen arbeitet Lyotard heraus, dass aufgrund des
Verlustes von Rahmenerzählungen, im Sinne zusammenhängender und das Wissen
organisierender Strukturmomente, die Annahme eines Telos (zum Teleologieproblem vgl. auch
Marotzki 1990, 226) für die Geschichte immer weniger plausibel ist (vgl. Marotzki 1990, 58;
Brüdigam 2001, 50). Zum anderen könne Bildung aufgrund der Diversifizierung und
weltweiten Verfügung von Wissen nicht weiterhin kumulativ im Sinne einer materialen
Bildungstheorie verstanden werden, die als Anhäufung von Informationen gedacht werden
könne. Unter den Bedingungen der Postmoderne komme es vielmehr darauf an, dass eine
Fähigkeit zu kreativem Umgang mit Wissen herausgebildet werde, um neue Verknüpfungen
und Bezüge herzustellen. Darüber hinaus sei die Postmoderne von einer irreduziblen Vielfalt
unterschiedlichster Kulturen, Lebens- und Subjektivitätsformen gekennzeichnet, die in sich
jeweils eine eigene Legitimität aufwiesen und nicht auf die Integration in ein Gesamtsystem
verwiesen seien. Dementsprechend bedeute dies für eine Bildungstheorie, dass sie
Heterogenität, Pluralismus und Diversifizität anerkennen müsse (vgl. Brüdigam 2001, 50).
96
Kapitel 3
Bildung – Theoriefolie zur Analyse des empirischen Materials
institutionelle Eingrenzung des Bildungsbegriffs auf die Schule vorgenommen hätten
(Marotzki 1990, 116). Marotzki geht in seinem 1988 veröffentlichten Artikel mit dem
Titel „Bildung als Herstellung von Bestimmtheit und Ermöglichung von
Unbestimmtheit“ zunächst von der These aus, dass im Kontext der Entwicklung der
Gesellschaft von einer Industrie- zu einer Informationsgesellschaft wahrscheinlich
neue Kompetenzen der Gesellschaftsmitglieder ausgebildet werden müssen. So stellt
er die Frage danach, „welche Fähigkeiten der Einzelne in einer solchen
Informationsgesellschaft zum Aufbau einer persönlich, sozial und politisch
verantwortlichen Existenz benötigt“ (Marotzki 1988, 311) ins Zentrum seiner
bildungstheoretischen Überlegungen auch der folgenden Jahre. 15
Ausgehend von den gesellschaftlichen Problemlagen, den antizipierten ökonomischen
und gesellschaftlichen Wandlungsprozessen der 1990er Jahre und den Konsequenzen
aus der unter dem Begriff „Individualisierung“ populär gewordenen Debatte attestiert
Marotzki – die Korrektheit der Prognosen und Analysen vorraussetzend – „daß ein
Bildungsbegriff diesen Sachverhalten systematisch Rechnung tragen muß, um eine
Dauerüberforderung,
eine
Strapazierung
des
einzelnen
in
hochkomplexen
Gesellschaften zu verhindern. Der zunehmende Druck auf das Subjekt nötigt in immer
mehr Bereichen, auf dauerhafte, ein ganzes Leben umfassende Planungen und
Festlegungen zu verzichten und immer mehr Unbestimmtheiten ins Kalkül
einzubeziehen“ (ebd., 322) 16 . Auf der Basis dieser gesellschaftstheoretischen
14
Zur Rezeption der Postmoderne – Konzeption im Kontext der Weiterentwicklung, bzw.
Reformulierung des Bildungsbegriffs vgl. auch: Fernandez: Bildung und Selbstbildung. Zur
Kritik postmoderner Vorstellungen von der Bildung des Subjekts. Hamburg, 2003.
15
Die relative Nähe des bildungstheoretischen Diskurses von Marotzki und den Debatten in
der beruflichen Bildung und der Weiterbildung werden besonders in diesem Kontext der
individuellen Kompetenzentwicklung deutlich, in dem Marotzki die Frage nach neuen
subjektiven Kompetenzen stellt, die Gesellschaftsmitglieder ausbilden müssen, um in sich
verändernden Kontexten Orientierung zu erlangen. In den Diskursen der Weiterbildung (vgl.
Wittwer 2003, Frank 2003, Staudt/Kley 2001, Becker/Rother 1998, Arnold 1997,
Erpenbeck/Heyse 1997, ABWF-Reihe Kompetenzentwicklung) findet eine Kopplung dieser
Frage mit Überlegungen statt, inwiefern diese Kompetenzen arbeitsmarktrelevante und –
verwertbare Funktionen besitzen und entsprechend erfasst und anerkannt werden können. In
den Veröffentlichungen wird diese inhaltliche Nähe jedoch nicht thematisiert und der
Kompetenzbegriff nicht ausdrücklich problematisiert. In neueren Veröffentlichungen stützt
Marotzki (vgl. Marotzki 2003) sich eher auf die von Mittelstrass (vgl. Mittelstrass
1982;1989;2001) eingeführten Begriffe Orientierungs- und Verfügungswissen, wobei dieser
den Begriff „Orientierungskompetenz“ mit dem Bildungsbegriff gleichsetzt. (vgl. Mittelstrass
2002, 154). Für den Bereich der Jugendsozialarbeit wird aber eben diese Frage besonders
interessant, da die Doppelfunktion von Bildung in der Dialektik von Bestimmtheit und
Unbestimmtheit in der Praxis unterschiedlicher Handlungs- und Interventionsformen
außerordentlich evident wird (vgl. Kap. 3.2.2)
16
In dieser Lesart der Beck’schen Individualisierungsthese bleibt jedoch offen, ob die
Konsequenzen aus der beschriebenen Individualisierung und Kontingenzsteigerung
gleichermaßen für alle sozialen Milieus gelten, oder ob nicht gerade die unteren Milieus (vgl.
Sinus-Milieus) von der Logik der zunehmenden Freiheit und Selbstverantwortung durch
politische Steuerungs- und Repressionsstrategien formal ausgeschlossen sind und ob sich
dadurch nicht die im aktuellen Diskurs paradoxe Situation ergibt, dass einerseits durch diese
97
Kapitel 3
Bildung – Theoriefolie zur Analyse des empirischen Materials
Überlegungen und den psychoanalytisch-lerntheoretischen Ausarbeitungen von
Mitscherlich (1963) entwickelt Marotzki ein Bildungsverständnis, dass sich gegen
einen Begriff von Bildung als die lineare Aneignung von Welt durch den Erwerb oder
die Vermehrung von affirmativem Wissen oder festgelegten Verhaltensmodi wendet.
Er begreift Bildung als den Prozess der Aneignung selbst und impliziert damit die
Relativität des angeeigneten Inhaltes. Damit folgt er der Auffassung Mitscherlichs,
dass Bildung im Gegensatz zu Wachstum, das als Entwicklungsprogramm einem
ontogenetischen Programm folgt, „zwar ebenfalls Aneignung einer Gestalt, als der
Habitus einer Gruppe oder Gesamtgesellschaft [bezeichnet], aber diese Gestalt [...]
keineswegs in sich als Ziel arteigentümlich festgelegt [ist]. Die Konstante ist demnach
die Aneignung, nicht der angeeignete Inhalt“ (Mitscherlich 1963, 25, Hervorhebungen
i. O.). Die weitere Beschreibung des Bildungsbegriffs bei Mitscherlich verdeutlicht,
dass Bildung sowohl Inhalte umfasse, zugleich aber auch „eine Fähigkeit [ist], sich
nicht nur passiv bilden zu lassen, sondern sich selbst zu bilden“ (ebd., Hervorhebung i.
O.). Bildung beziehe sich auf die Person, somit auf die Ich-Instanz und ihre Stärkung
und verweist durch die Beschreibung ihres dynamischen Elementes auf die drei
verschiedenen Ebenen Sachbildung, Affektbildung und Sozialbildung (vgl. ebd., 31ff).
Damit konzentriert Marotzki aus der Perspektive der Konstitutionsproblematik von
Subjektivität in gesellschaftlichen Wandlungsprozessen „die Aufmerksamkeit stärker
auf
die
Struktur,
Beschaffenheit
und
Voraussetzungen
von
Lern-
und
Bildungsprozessen“ (Marotzki 1990, 30).
Marotzki bestimmt den Ort der Mitscherlich‘schen Gesellschaftskritik an der für ihn
systematisch bedeutsamen Stelle, in der Mitscherlich - davon ausgehend, dass der
Mensch eine habituelle Ich-Schwäche gegenüber gesellschaftlichen Zwängen und
eigenen Triebforderungen habe – argumentiert, der Mensch müsse befähigt werden,
mit Konflikten zu leben. Dazu sei eine besondere Form der Erziehung nötig, die das
Ich – und nicht das Über-Ich – stärke (vgl. Marotzki 1988, 313).
Mitscherlichs’ These ist, dass die Gesellschaft gezielt eher schwache Ich-Strukturen
bei den Subjekten ausbilde, damit sie die Menschen besser regieren kann. „Die im
Sozialisationsprozeß
erzielte
Ichreifung
ist
durchschnittlich
gering,
die
Widerstandsschwelle des Ichs gegen die Überflutung durch innere Triebansprüche und
Diktat von außen bleibt niedrig. Den Grund dafür suche man aber nicht in der Natur
[...]
sondern
in
den
Bedingungen,
welche
die
gesellschaftlichen
Steuerungsmechanismen versucht wird, die Selbststeuerungskraft der Adressaten zu
„aktivieren“, andererseits gerade diese Mechanismen eine Steigerung von Subjektivität im
Sinne bildungstheoretischer Postulate wie sie unter anderem von Marotzki ausgearbeitet
98
Kapitel 3
Bildung – Theoriefolie zur Analyse des empirischen Materials
Herrschaftsverhältnisse von der typischen Familienstruktur bis zu den im größten Stil
administrativen Befehlverbänden einer Ichentwicklung stellen. [...] Er [der Mensch,
A.B.] wird auch kritikschwach gehalten, damit ihm befohlen werden kann. Eine
andere Form des Zusammenlebens stößt schon in der Phantasie auf Abwehr; sie sich
vorzustellen heißt, an die heiligsten Güter der Menschheit rühren, zum Beispiel an
dieses, daß der Mächtige das Recht hat, den Schwachen auszubeuten, ihn der eigenen
Vorherrschaft anzupassen.“ (Mitscherlich 1963, 160, Hervorhebungen im Original).
Durch eine – wie Marotzki einführt - exemplarische Auseinandersetzung mit dem
Kant’schen Bildungsbegriff verdeutlicht er die Verortung der Mitscherlichschen
Argumentation in der Tradition der Aufklärung und gelangt zu der Auffassung, dass
bei Kant und Freud gleichermaßen die Selbsttätigkeit des Subjekts für die Bildung
einen zentralen Stellenwert einnimmt. Bei Kant gehe es im Sinne des
Autonomiepostulates darum, eine Welthaltung zu ermöglichen und zwar sowohl in der
Perspektive propositionaler Gehalte (inhaltliche Beziehungen zur Welt), als auch
durch reflexive Gehalte (inhaltliche Beziehungen zu sich selbst). „Im Vordergrund
steht bei Kant der Erwerb einer solchen kritischen Mündigkeit, bei Mitscherlich der
Erwerb einer solchen kritischen Ich-Leistung. Die reflexive Komponente, die bei
beiden da ist, bewirkt auch, daß der einzelne sich als Urheber vielfältiger
Weltentwürfe kennenlernen und sich somit seiner Selbstbestimmungskraft bewußt
werden kann“ (Marotzki 1988, 320). Die hier beschriebene reflexive Komponente
stellt einen Lernschritt spezifischer Qualität dar, die von Marotzki in der von ihm
kurze Zeit später veröffentlichten „Strukturalen Bildungstheorie“ als Bildung
bezeichnet wird. Aus der Verbindung der Beck’schen Individualisierungsthese und
daraus abgeleiteten Konsequenzen für das Subjekt und der Argumentation von
Mitscherlich entwickelt Marotzki skizzenhaft die Richtung einer Operationalisierung
des Bildungsbegriffs für Forschungen, die dem qualitativen Paradigma folgen und auf
„Schlüsselprobleme gegenwärtiger Subjektivitätskonstruktion zielen“ (ebd., 321).
Diese vorläufige Annäherung kennzeichnet er durch Bearbeitung der Stichwörter
‚Suchbewegung’, ‚Ertragen von Unsicherheit’, ‚Förderung der Kritikfähigkeit’ in
lerntheoretischer Perspektive. 17
wurden, verhindern und bestenfalls zu einer Anpassung an staatliche Vorgaben führen, die
vom Gedanken einer Bildung von Mündigkeit und Autonomie weit entfernt sind.
17
Diese Operationalisierungsrichtung ermöglicht nicht nur weitergehende Überlegungen
qualitativer Bildungsforschung, sondern auch interessante konzeptionelle Anschlüsse für die
Praxis der Jugendsozialarbeit, inwieweit z.B. die Konzepte der Jugendsozialarbeit geeignet
erscheinen, diese Stichworte tatsächlich praktisch lernend zu bearbeiten. Diese Betrachtung
steht jedoch nicht im Zentrum dieser Arbeit und kann dementsprechend an dieser Stelle nicht
weiter verfolgt werden.
99
Kapitel 3
Bildung – Theoriefolie zur Analyse des empirischen Materials
Marotzki entwickelt durch die Auseinandersetzung mit diesem psychoanalytischen
Rahmen zwei grundlegende Prämissen seines Bildungsverständnisses: Zum einen
wendet er sich gegen ein affirmatives Bildungsverständnis im Sinne der Aneignung
von Welt und versteht Bildung als einen individuellen, aktiven, offenen Prozess, der
sich durch die „Suche nach Wissen und nach den Methoden, Erfahrung zu prüfen
[auszeichnet]. Bildung beinhalte prinzipiell die Einsicht in die Realtivität und die
grundsätzliche Revidierbarkeit von Wissen, vermittle gleichsam ein Gespür für die
Zeitlichkeit von Wissen und von Orientierungen. Schon von diesem Blickwinkel aus
wird deutlich, daß Bildung nicht hinreichend über Wissensbestände definiert werden
kann“ (ebd., 312). Die dialektische Logik im Bildungsbegriff von Mitscherlich sei die
grundlegende Ambivalenz von Bildung, die zum einen Lernprozesse zum Einüben in
die Gesellschaft, zum anderen jedoch Kritik gegenüber stereotypen Denkens und
Handeln initiieren will.
Bereits 15 Jahre vor Mitscherlich, darauf weist Sünker (1998) in dem Aufsatz „Lob
der Abweichung – Bildung, Erziehung und belastete Lebenslagen Jugendlicher“ hin,
kennzeichnet der kritische Philosoph Leonhard Nelson (1948, 30) aus der Perspektive
pädagogischen Handelns die von Marotzki unter Rückgriff auf die psychoanalytischen
Überlegungen bei Mitscherlich als grundlegende Ambivalenz gekennzeichnete
dialektische Logik des Bildungsbegriffs als eine fundamentale Paradoxie des
Erziehungsbegriffs, wenn er fragt, wie Erziehung überhaupt möglich sei: „Ist das Ziel
der Erziehung vernünftige Selbstbestimmung, d.h. ein Zustand, in dem der Mensch
sich nicht durch äußere Einwirkung bestimmen lässt, vielmehr aus eigener Einsicht
beurteilt und handelt, - so entsteht die Frage, wie es möglich ist, durch äußere
Einwirkung einen Menschen zu bestimmen, sich nicht durch äußere Einwirkung
bestimmen zu lassen.“
Diese zentrale Paradoxie, die ebenso auch für den Bildungsbegriff zu gelten scheint,
lässt sich nur durch den Einbezug von Reflexivität des Subjektes in bezug auf die zur
Verfügung stehenden Informationen auflösen. Dieser Anspruch von Reflexivität wird
von Marotzki ebenso wie von Meder (vgl. Kap. 3.4.1) ausdrücklich immer wieder in
ihren bildungstheoretischen Überlegungen reklamiert.
So bezeichnet Bildung nach Marotzki (1999, 58) den reflexiven Modus des
„menschlichen In-der-Welt-seins“ und setzt damit konsequent auf die Figur der
Reflexivität. „Bildungstheorie beschäftigt sich mit der zentralen reflexiven Verortung
des Menschen in der Welt, und zwar in einem zweifachen Sinne: zum einen
hinsichtlich der Bezüge, die er zu sich selbst entwickelt (Selbstreferenz) und zum
anderen hinsichtlich der Bezüge, die er auf die Welt entwickelt (Weltreferenz). [...]
Die Kraft der Reflexion ist die einer Selbstvergewisserung und Orientierung in
100
Kapitel 3
Bildung – Theoriefolie zur Analyse des empirischen Materials
gesellschaftlichen Verhältnissen“ (ebd. 59). An anderer Stelle führt Marotzki aus, dass
durch die Form der Reflexion „ein differenziertes, gesteigertes und reflektiertes
Selbstverhältnis“ (Marotzki 1991, 123) entwickelt werden kann, in dem sich das
Subjekt in seiner intersubjektiven Vermitteltheit als Akteur begreifen kann. So ist der
Bildungsbegriff traditionell an die Fähigkeit der Selbstreflexion gekoppelt und trägt –
das wird vor allem in neueren Stellungnahmen deutlich – dazu bei, den Selbstbezug zu
steigern (vgl. Marotzki 2003a).
Für den Kontext von Biographisierungsprozessen nimmt Marotzki dabei eine
Untergliederung in Prozesse in einem diachronen und einem synchronen
Reflexionsformat vor. Dabei versteht er unter einem diachronen Reflexionsformat die
„Initiierung historischer Sinnbildungsprozesse“ (ebd., 63) und verdeutlicht damit, dass
in dieser Lesart die Reflexion der eigenen Lebensgeschichte auf einer Zeitachse
beschrieben wird. Die menschliche Identität vollzieht sich seiner Auffassung nach als
eine Art Konstruktionsleistung des Individuums selbst, die kontinuierlich über das
Entwerfen und Erzählungen von Geschichten über sich selbst entwickelt wird.
Eindrücklich schildert er dieses Phänomen aus der gegenläufigen Perspektive, die vor
allem bei Menschen mit demenziellen Erkrankungen studiert werden kann: „Wenn uns
unsere Lebensgeschichte abhanden kommt (z.B. durch Gedächtnisverlust) kommen
wir uns gleichsam selbst abhanden“ (ebd., 63). Neben einer individuellen Geschichte
weisen Menschen durch ihre Einbindung in soziale Gruppierungen und historischen
Gebilde, ebenso auch eine kollektive Geschichte auf, in der sie sich auf Gruppen,
Gemeinschaften und Kollektive beziehen.
Im Gegensatz zur Reflexion auf einer linearen Zeitachse in die Vergangenheit
bezeichnet das synchrone Reflexionsformat die Vergewisserung im Hier und Jetzt.
Unter Rückgriff auf die Ausführungen zur Kränkung des Menschen nach Freud
bezieht Marotzki das synchrone Reflexionsformat auf die Intersubjektivität und damit
auf die Frage der Anerkennung des Individuums durch die aktuell anwesenden
anderen Subjekte. „Bildung, in diesem Sinne verstanden, wäre dann das Antworten
auf die Infragestellung meiner Selbst durch den Anderen, die Ausbildung einer
‚responsiblen Vernunft‘ (von Wohlzogen 1997). Das ist der Kern des synchronen
Reflexionsformats: der Kampf um Anerkennung. [...] Menschen brauchen nicht nur
eine Geschichte, die sie fort- und umschreiben können, sie brauchen auch
Anerkennung im Hier und Jetzt“ (Marotzki 1999, 64). Damit kennzeichnet Marotzki
eine zentrale Figur der Aushandlungsprozesse, die im Zusammenhang mit der
empirischen Untersuchung dieser Arbeit vor allem in der Frage der Orientierung an
unterschiedlichen Welten der Jugendlichen immer wieder Thema wurde. Auf die
Frage nach der Bedeutung von Anerkennung für die sozialpädagogische Praxis in der
101
Kapitel 3
Bildung – Theoriefolie zur Analyse des empirischen Materials
Jugendsozialarbeit wurde bereits an anderer Stelle hingewiesen (vgl. Kap. 2.6.2, S.
47ff).
Diese Ausführungen weisen bereits auf die Analyseeinstellung von Bildungsprozessen
als strukturelle Gegebenheiten hin, die Marotzki in der strukturalen Bildungstheorie
näher ausführt. Die besondere Qualität der Strukturalen Bildungstheorie von Marotzki
und
zugleich
ein
zentrales
Unterscheidungskriterium
von
anderen
bildungstheoretischen Entwürfen liegt darin, dass sie Bildungsprozesse zunächst
phänomenologisch als Lernprozesse einer spezifischen Qualität ansieht. Gerade in
neueren Veröffentlichungen in Bezug auf die Frage nach virtuellen Lern- und
Bildungsräumen verdeutlicht Marotzki, dass eine reine lerntheoretische Betrachtung
des Phänomens zu kurz greift, da sie immer auch die Relation des Menschen zu selbst
und der Welt thematisieren.
Der wesentliche Gehalt von Lerntheorien liegt nach Marotzki (1990, 1998, 2003)
nicht nur darin, über die Gesetzmäßigkeiten, Typen und Muster menschlichen Lernens
Aussagen machen zu können, sondern „Aussagen über die Beziehungen des
Menschen zur Welt (also über Welthaltungen)“ (vgl. Marotzki 1998, 116,
Hervorhebung i.O.), ihre Entwicklung und deren mögliche Veränderungen Aussagen
zu machen und über Interpretationen von und Haltungen zur Welt sowie deren
mögliche Modifikationen Auskunft geben zu können. Desweiteren gehe es darum,
Aussagen über die Relation des „Menschen zu sich selbst, also Selbsthaltungen, im
weitesten Sinne zu machen. Wenn man diese Ebenen in der Betrachtung fokussiert,
dann befindet man sich automatisch im Terrain der Bildungstheorie. Insofern kann
man
sagen,
daß
jede
Lerntheorie
aus
erziehungswissenschaftlicher
Sicht
bildungstheoretisch fundiert ist.[...] Bildungstheorie ist die größere Menge, die als
Teilmenge Lerntheorie enthält“ (ebd., Hervorhebungen i.O.). Menschliches Verhalten
in der Welt, bzw. Wahrnehmung, Aneignung und Interpretation von Welt vollzieht
sich nach Marotzki immer in einem Prozess des Lernens. „Lernend verhalten wir uns
zur Welt und wir verhalten uns immer zur Welt, insofern wir lernen. In
philosophischer Terminologie kann man also sagen, daß Lerntheorien eine spezifische
Explikationsebene von Subjekt-Objekt-Beziehungen darstellen“ (Marotzki 1990, 32).
Diese
Beziehungen
werden
in
Form
von
sozialen
und
kognitiven
Organisationsprinzipien gelernt, so dass kontextspezifische kognitive Muster
(Interpunktionsweisen) entstehen, die unterschiedliche Arten darstellen, die Welt
aufzuordnen. Unter dem Begriff der „Aufordnung“ fasst Marotzki (1998, 118f) im
weitesten Sinne das Selbst- und Weltbild eines Menschen:
102
Kapitel 3
Bildung – Theoriefolie zur Analyse des empirischen Materials
„Menschen haben kulturelle Schemata entwickelt, die es erlauben, Erfahrungen zu
sortieren und zu bewerten, die ihnen aber zugleich die Mittel an die Hand geben, zu
sagen, wer sie sind und wie sie die Welt sehen“.
Analytisch geht es also darum, dass die Prinzipien nach denen oder durch die
kontextspezifische Verhaltensmuster ausgebildet wurden, gelernt werden (vgl. Kap.
3.5.4, S. 90) und es dadurch dem Menschen grundsätzlich ermöglicht wird, sich
anders zu verhalten, da er selbst die Prinzipien seiner eigenen (Verhaltens-)muster
durchschauen kann. „Indem sich der Mensch selbst die Prinzipien seines Verhaltens
bewußt machen kann, macht er sich die Welt auf andere Weise zugänglich“ (ebd.
120).
Gesellschaftstheoretisch gewendet hat nach Hitzler (1999, 83) diese Transformation
im Grunde schon stattgefunden: „Die Normalität des sozialen Lebens wird – ceteris
paribus – vermutlich weniger aus harten, unausweichlichen und unauflösbaren
Antagonismen bestehen als aus einer Vielzahl trivialer Handlungsprobleme aufgrund
kleiner, im alltäglichen Umgang aber sozusagen permanenter Querelen, Schikanen
und Kompromisse, die sich zwangsläufig entwickeln im Aufeinandertreffen und
Aneinanderreiben kulturell vielfältiger Orientierungsmöglichkeiten und individueller
Relevanzsysteme“.
Der Mensch sei also durch die gesellschaftliche Entwicklung in der Moderne dazu
befreit worden, zu entscheiden, wie er sein individuelles Selbst- und Weltverhältnis
konstruiert, gleichzeitig sei es aber im Gegenzug nicht möglich, auf diese
Entscheidung zu verzichten, da fraglose Konventionen nicht mehr existent sind. „Im
Extremfall kann der Handelnde alle seine Lebensgewohnheiten zum Gegenstand
seiner Entscheidungen machen, sie also dergestalt mental vom Fraglosen ins
Verfügbare transformieren“ (ebd., 86).
Bildung ist dann dementsprechend nur der reflexive Prozess des individuellen
Nachvollzugs einer kollektiven Entwicklung, die das Fraglose in das Verfügbare
transformiert hat und in dem der Einzelne individuelle Biographiekonzepte
konstituiert, wobei Hitzler davon ausgeht, dass der Mensch in bestimmter Hinsicht
nicht einmal Konstrukteur der eigenen Biographie ist im Sinne des Aufbaus einer
geplanten, geordneten Struktur, sondern „das je eigene Leben [...] vom
individualisierten Akteur typischerweise zusammengebastelt [wird] aus vielfältigen,
kontingenten und oft widersprüchlichen Entscheidungen, Entschlüssen und aus dem,
was praktisch aus diesen Entscheidungen und Entschlüssen folgt“ (ebd., 87).
Bildung im Sinne einer Reflexion von internalisierten Weltaufordnungsschemata
erscheint damit einigermaßen voraussetzungsvoll und möglicherweise an eine
103
Kapitel 3
Bildung – Theoriefolie zur Analyse des empirischen Materials
besondere intellektuelle Konstitution gebunden. Diese These erscheint insbesondere
vor dem Hintergrund der Zielgruppe „Adressaten von Jugendsozialarbeit im Kontext
von Jugendhilfe“ im empirischen Teil dieser Arbeit zu überprüfen zu sein (vgl. Kap.
7.8, S. 408).
3.6.1
Zur Phänomenologie des Lernens
In der Weiterentwicklung des lerntheoretischen Modells von Bateson (1942,
1964/1971, 1969), das in Adaption der logischen Typenlehre von Whitehead und
Russel entwickelt wurde, versucht Marotzki die Phänomenologie der Lernprozesse zu
verorten und sieht „Lernen“ als einen nicht immer schon auf den Menschen oder eine
bestimmte Institution hin entwickelten und beschriebenen Begriff 18 . So entwickelt die
Strukturale Bildungstheorie den Bildungsbegriff als eine analytisch-deskriptive
Kategorie und schafft dadurch eine Matrix, in der die subjektive Haltung des
einzelnen zu sich selbst und zu der Welt analysiert und diskutiert werden kann (vgl.
auch Brüdigam 2001).
Im Zuge der Auseinandersetzung mit der Frage, ob Lern- oder Bildungsprozesse als
identische oder zu unterscheidende Prozesse verstanden werden können, erscheint
Marotzki diese Theorie menschlichen Lernens geeignet zu sein, um „jenen Punkt zu
markieren, an dem menschliches Lernen in einen Prozess umschlägt, der als
Bildungsprozeß angesprochen werden kann“ (Marotzki 1990, 32) 19 . Marotzki liefert
damit
eine
Argumentationsfigur,
die
es
erlaubt,
den
Bildungsbegriff
zu
operationalisieren und als analytischen Begriff zu verwenden. Die Differenzierung
des Lernbegriffs aufgrund der unterschiedlichen Qualitäten menschlichen Lernens und
die Verwendung des bildungstheoretischen Rahmens für Lernprozesse höherer
Ordnung bietet sich nach Marotzki zur Bearbeitung des Problemrahmens deshalb an,
„weil innerhalb dieses Rahmens traditionell das Verhältnis des Subjekts zu sich selbst
wie auch zur Welt thematisiert wird“ (Marotzki 1990, 31).
Bateson versteht den Menschen in seiner Lerntheorie grundsätzlich als lernendes
Subjekt in der Interaktion 20 , der durch das Lernen in einem „bestimmten Modus der
18
Eine umfassendere Einführung in das Werk und das Denken von Gregory Bateson findet
sich bei Lutterer 2000, 2002.
19
Die Verwendung des Ebenenmodells von Bateson ist nicht ganz unproblematisch, da
Marotzki in späteren Veröffentlichungen die einzelnen von Bateson beschriebenen Ebenen neu
durchnummeriert (vgl. Marotzki 1998, 117; 2003, 18), was in der Rezeption zu
Missverständnissen führt (z.B. Brüdigam 2001, 66). In der hier gewählten Darstellung des
Typenmodells menschlichen Lernens folge ich der ursprünglichen Kategorisierung von
Bateson (1964/1971) in fünf Ebenen, beginnend bei der Stufe Null.
20
Der Gedanke, dass sich Bildung auf zwischenmenschliches Handeln bezieht, findet sich auch
in der Pointe der Bestimmung des Bildungsbegriffs bei Benner: Bildung mache nicht nur die
104
Kapitel 3
Bildung – Theoriefolie zur Analyse des empirischen Materials
Erfahrungsstrukturierung“ (Marotzki 1990, 33), einer spezifischen Weise der
Wirklichkeitswahrnehmung und Erfahrungsverarbeitung eine Beziehung zur Welt
aufbaut, die Bateson „Interpunktionsweisen“ oder „Rahmungen“ nennt. Mit dem
Begriff „Interpunktionsweise“ beschreibt Bateson die Gewohnheiten, durch die
Sinneseindrücke, Sinneswahrnehmungen strukturiert werden und somit Anweisungen
geben, Informationen im Kontext eines spezifischen Rahmens zu verstehen. Es gehe
darum, so Bateson, durch „Gewohnheiten den Strom der Erfahrungen so zu
interpunktieren, dass er die eine oder andere Art der Kohärenz annimmt“ (Bateson
1942, 224). Insofern werde durch erlernte (kulturelle) Muster und Gewohnheiten der
Strom der Erfahrung in einer spezifischen Weise strukturiert und interpretiert. Am
Beispiel von Kindern verdeutlicht Bateson, dass solche Gewohnheiten letztlich als
„Nebenprodukt des Lernprozesses“ (ebd., 225) gelten können und auf Erfahrungen im
alltäglichen Lebensvollzug zurückgehen. „Sie werden diese Erfahrung in ihre gesamte
Lebensanschauung einbauen; sie wird alles ihre zukünftigen Einstellungen gegenüber
der Autorität prägen. Immer wenn sie bestimmte Arten von Kontexten antreffen,
werden sie dazu neigen, diese Kontexte als nach einem früheren Familienmuster
strukturiert anzusehen“ (ebd., 225). Diese Form des Lernens ist von Bateson in der
frühen Phase der Entwicklung seiner Lerntheorie als Deutero-Lernen bezeichnet
worden.
In Bezug auf die Bedeutung von Erwachsenen für das Aufwachsen und die
Persönlichkeitsentwicklung von Kindern und Jugendlichen führt Müller (1996) die
psychoanalytische Theorie der frühen Objektbeziehungen nach Mahler (1980) aus, die
von ähnlichen Grundprämissen ausgeht und aufgrund ihrer Bedeutung für die
empirische Analyse an anderer Stelle ausgeführt wurde (vgl. Kap. 3.5.4, S. 90).
Diese Muster, nach denen die Welt aufgeordnet und gedeutet wird, bezeichnen nach
Marotzki
durch
kognitive
Organisationsprinzipien
gesteuerte
Denk-
und
Erfahrungsgewohnheiten, die sich in der Sozialisation herausgebildet haben.
Der Kern der Bateson’schen Lerntheorie, deren theoretische Beweisführung auf der
logischen Typenlehre von Whitehead und Russel (1910-1913) 21 basiert, besteht aus
der Beschreibung menschlichen Lernens als einem Modell mit fünf logischen Typen,
Beschaffenheit individueller Subjektivität aus, sondern beziehe „sich auf das
zwischenmenschliche Handeln [...], das unter den doppelten Anspruch einer gegenseitigen
Achtung der handelnden Personen sowie einer gemeinsamen Anerkennung des menschlicher
Willkür unverfügbaren Sinnes von Wirklichkeit steht“ (Benner 1982, 75)
21
Nach Bateson besagt die Theorie der logischen Typenlehre, dass „keine Menge in der
formalen Logik oder im mathematischen Diskurs Element ihrer selbst sein kann; daß eine
Menge von Mengen nicht eine der Mengen sein kann, die ihre Elemente sind [...und] daß eine
Menge nicht eine jener Einheiten sein kann, die zutreffend als ihre Nichtelemente klassifiziert
werden“ (Bateson 1964, 363).
105
Kapitel 3
Bildung – Theoriefolie zur Analyse des empirischen Materials
oder Ebenen, deren verbindende Logik die zunehmende Flexibilität auf den einzelnen
Stufen ist, die ich im folgenden näher beschreiben werde. 22
Insgesamt erinnert die Pointe der Bateson’schen Lerntheorie von einer zunehmenden
Flexibilität bei steigenden Lerntypus an die von Sennet (1998) in seinem Essay „The
Corrosion of Character“ (dt.: Der flexible Mensch) aufgeworfenen Fragen nach den
grundsätzlichen Auswirkungen einer durch veränderte globale Bedingungen der
Arbeitswelt, die er mit dem Terminus „flexibler Kapitalismus“ kennzeichnet,
modernisierten Gesellschaft, auf den Charakter als langfristiger „Aspekt unserer
emotionalen Erfahrung“ (ebd., 11) des Menschen. Dieser sei eher auf langfristige
Ziele, Kontinuität und Sicherheit angewiesen und stehe in einem konfliktuösen
Verhältnis zum flexiblen Kapitalismus, der durch kurzfristige Arbeitsverhältnisse und
flache Hierarchien eine neue Freiheit suggeriert, das Leben selbst zu gestalten, und
Flexibilität vom Menschen verlangt, anstatt einer linearen Kanalisierung der
Anstrengungen (=Karriere) im alten Sinne zu folgen.
Ausgehend von der Geschichte und Bedeutung des Wortes „Flexibilität“ analysiert
Sennet die Versuche der heutigen Gesellschaft, die vermeintlich wahrgenommenen
negativen Folgen von Routine durch Flexibilität zu mildern. Der moderne Gebrauch
des Wortes „Flexibilisierung“, das für Smith noch synonym mit „Freiheit“ war, steht
nach Sennet für ein Machtsystem, das aus den drei Elementen diskontinuierlicher
Umbau, flexible Spezialisierung der Produktion und Konzentration der Macht ohne
Zentralisierung (vgl. 59) besteht. Dementsprechend stellt sich gesellschaftstheoretisch
die Frage, ob das Konzept einer zunehmenden Flexibilität der Selbst- und
Weltaufordnungen des Menschen im Sinne des Entwurfs einer strukturalen
Bildungstheorie von Marotzki als ein kritischer Gegenentwurf zu ökonomischen
Notwendigkeiten im Sinne Mitscherlichs (1963, 129) gelesen werden kann oder
lediglich eine Anpassungsleistung des Menschen an veränderte Bedingungen des
„flexiblen Kapitalismus“ darstellt. Da ein strukturaler Bildungsbegriff potentiell beide
Funktionen erfüllen kann, bleibt empirisch zu klären, welche Prozesse tatsächlich
ablaufen. In Bezug auf diese Arbeit heißt das zu klären, welche Möglichkeiten zu
Bildung sich in den von den Adressaten thematisierten Inhalten im Sinne einer
Rekonstruktion
von
Praxis
in
einem
sozialpädagogischen
Handlungsfeld
dokumentieren.
22
Da im empirischen Teil dieser Arbeit durch die Beschreibung von Bildungsprozessen
implizit auf die unterschiedlichen Qualitäten der Lernprozesse von benachteiligten
Jugendlichen in Projekten der Jugendsozialarbeit Bezug genommen wird, erfolgt an dieser
Stelle eine relativ ausführliche Beschreibung der einzelnen Stufen des Lernens nach Bateson.
106
Kapitel 3
Bildung – Theoriefolie zur Analyse des empirischen Materials
3.6.2
Die logischen Kategorien des Lernens
Den Ausführungen zu den einzelnen logischen Kategorien des Lernens nach Bateson
soll an dieser Stelle vorangestellt werden, dass er in seinen umfangreichen Analysen
nachweist, dass Interaktionen aus komplexen Kommunikationsfiguren bestehen, „die
sich dadurch auszeichnen, daß in der Regel eine Vielzahl von Lernebenen in enger
oder wechselseitiger Verschlingung auftritt“ (Marotzki 1991, 122). 23
Lernen Null:
Der Theorie der logischen Typenlehre folgend, kennzeichnet Bateson die unterste
Stufe, die er als Lernen Null bezeichnet, als reines Reiz-Reaktions-Lernen, in dem
gewissermaßen als „Sonderfall der Reaktion“ (Bateson 1964, 367) der Lernprozess im
Reaktionsmuster
bereits
abgeschlossen
ist,
sich
Gewöhnung
zeigt,
das
L
Lernen Null
Lernen I
Lernen II
Lernen III
Lernen IV
Abb.4: Stufen des Lernens nach Bateson (1964)
Reaktionsmuster durch genetische Faktoren determiniert ist oder in einfachen
elektrischen Schaltungen sich die Reaktion aus der Schaltungsstruktur ergibt, die
23
Diese Anmerkung hat mich letztlich dazu inspiriert von der gängigen Darstellung des
Bateson’schen Lernebenenmodells in Form einer Pyramide abzuweichen (vgl. Marotzki 1998,
117) und stattdessen durch die elliptische Form der einzelnen Typen anzudeuten, dass in der
Realität die einzelnen Typen nicht in Reinform auftreten, sondern wechselseitig verschlungen
erscheinen.
107
Kapitel 3
Bildung – Theoriefolie zur Analyse des empirischen Materials
ihrerseits selbst keinen Veränderungen unterworfen wird. Auf dieser Ebene sind also
nur starre Reiz-Reaktions-Mechanismen wirksam, die wenn überhaupt nur ein sehr
eingeschränktes Lernen ermöglichen, d.h. aufgrund eines Reizes wird eine Reaktion
erlernt, die unabhängig von der Situation immer wieder abrufbar und produzierbar ist.
Aus dieser kurzen Darstellung wird bereits deutlich, dass Bateson den Vorgang des
Lernens von der Phänomenologie her analysiert und damit ein nicht-menschliches
Lernen mit einschließt. So stellt sich Bateson beispielsweise nicht die Frage, ob
Maschinen lernen können, sondern welche Ebenen oder Ordnungen des Lernens von
Maschinen erreicht werden können (vgl. Bateson 1964, 368). Der Theorie der
logischen Typenbildung folgend bezeichnet die formal nächst höhere Stufe die
Veränderungen auf der jeweils vorherigen Stufe. Folgt man der Vorstellung, dass alles
Lernen, außer dem auf der Ebene Null, stochastisch ist und damit Teile von Versuch
und Irrtum beinhaltet, „dann folgt, daß eine Ordnung der Lernprozesse auf eine
hierarchische Klassifizierung der Irrtumstypen gestützt werden kann, die in den
vielfältigen L3ernprozessen korrigiert werden sollen. >Lernen Null< wird dann zur
Bezeichnung für die unmittelbare Grundlage all jener (einfachen und komplexen)
Akte, die nicht der Berichtigung durch Versuch und Irrtum unterworfen sind“ (ebd.,
371). Entsprechend der Theorielogik bezieht sich dann Lernen I auf die Wahl eines
Elementes aus der Menge oder Klasse von Alternativen, Lernen II auf die Menge
oder Klasse der Alternativen als solche und so fort.
Lernen I
Entsprechend der formalen Analogie finden sich auf der nächst höheren Ebene, nach
Bateson Lernen I, insbesondere solche Fälle, in denen in zeitlicher Perspektive
unterschiedliche Reaktionen möglich sind. Die Lernprozesse auf dieser Ebene werden
überwiegend
von
den
klassischen
Lerntheorien
erfasst
(z.B.
Pawlow’sche
Konditionierung) und weisen auf die Annahme einer Bedeutung des (sozialen)
Kontextes für Lernen hin. Die Aneignung von Wissen ist abhängig von den
Kontextbedingungen, bzw. bezieht diese in den Lernprozess mit ein. Eine Person
reagiert in unterschiedlichen Kontexten demnach verschieden auf den gleichen Reiz,
bzw. eignet sich Wissen unter der Berücksichtigung des aktuellen Kontextes an, in
dem die Information repräsentiert wird. Das setzt jedoch voraus, dass der Organismus
durch Kontextmarkierungen in die Lage versetzt wird, Kontexte voneinander zu
unterscheiden. Nach Bateson werden Kontextmarkierungen dadurch charakterisiert,
dass sie Informationsquellen für den Organismus darstellen, die es erlauben,
unterschiedliche Kontexte zu klassifizieren. Das gilt für die Ebene menschlichen
Lernens auch für die „Markierung von Kontexten von Kontexten“ (vgl. Bateson 1964,
375). Marotzki weist darauf hin, dass er im Kontext menschlichen Lernens die
108
Kapitel 3
Bildung – Theoriefolie zur Analyse des empirischen Materials
sprachliche Verwendung der Begriffe Reiz und Reaktion reinterpretiert als Problem
(Reiz) und Problembearbeitung (Reaktion) (vgl. Marotzki 1998, 118). Durch das
Lernen in unterschiedlichen Kontexten bilden sich „kognitive Schemata“ (Marotzki
1990, 35),
(„Interpunktionsweisen“ oder „Rahmungen“) aus. In den weiteren
Ausführungen verwendet Marotzki den Begriff Kontext für soziale Situationen,
während er von Rahmen im Sinne kognitiver Schemata spricht (vgl. Marotzki 1998,
118).
Lernen II
Die dritte Ebene (Lernen II) ist gekennzeichnet durch die „Veränderung im Prozeß des
Lernens I, z.B. eine korrigierende Veränderung in der Menge von Alternativen, unter
denen eine Auswahl getroffen wird, oder es ist eine Veränderung in der Art und
Weise, wie die Abfolge der Erfahrung interpunktiert wird“ (Bateson 1964, 379).
Bezog sich Lernen I noch auf die – je nach Priorität bestimmte – Auswahl eines
spezifischen Elementes aus einer Menge, so bezieht sich Lernen II auf die
Modifikation dieser Mengen und verändert damit die Form des Lernens: Der Prozess
des Lernens selbst wird erlernt. „Indem das Subjekt nun die Menge verändert, aus der
es Reaktionsmöglichkeiten auswählt, ändert es die Gewohnheiten seines Verhaltens,
ändert es die Art und Weise, seine Erfahrungen zu interpunktieren“ (Marotzki 1990,
38). Auf dieser Stufe werden nach Marotzki die „Konstruktionsprinzipien der
Weltaufordnung gelernt“ (Marotzki 1998, 119), die an das Subjekt gebunden sind und
nicht mehr an der Realität überprüfbar sind. Mit anderen Worten werden auf dieser
Stufe des Lernens die an das Subjekt gebundenen Alternativen zu Gewohnheiten und
Routinen erlernt, die eine Veränderung des Welt- und - damit wechselseitig verbunden
– des Selbstbezuges bewirkt und bewusstseinszentriert und egologisch zur Geltung
kommt (vgl. Marotzki 1990, 46). Auf dieser Ebene ist somit die Möglichkeit zur
Veränderung der „Interpunktionsweisen“ oder „Rahmungen“ gegeben. Bateson
charakterisiert die inhaltliche Füllung dieser Stufe folgendermaßen:
„Kurz gesagt, ich glaube, daß alle Phänomene des Lernens II unter der Rubrik von
Veränderungen in der Art, wie der Handlungs- und Erfahrungsstrom zusammen mit
den Veränderungen in der Verwendung von Kontext-Markierungen in Kontexte
unterteilt und interpunktiert zusammengefaßt werden kann“ (ebd., 379). Bateson führt
aus – und das ist vor allem für die Bedeutung der folgenden entwickelten Stufen
wichtig – dass Lernen II vor allem in der frühen Kindheit entwickelt wird und über
eine große Dominanz späterer Lernprozesse verfügt. Es erhält den Charakter einer
selbstbestätigenden Instanz, die für das Subjekt eine existentielle Bedeutung besitzt.
„Es folgt, daß Lernen II, wie es in der Kindheit erworben wird, sich tendenziell im
ganzen Leben durchhält. Umgekehrt müssen wir damit rechnen, daß viele der
109
Kapitel 3
Bildung – Theoriefolie zur Analyse des empirischen Materials
wichtigen Charakteristika der Interpunktion von Erwachsenen ihre Wurzeln in der
frühen
Kindheit
haben.
Im
Hinblick
auf
die
Unbewußtheit
dieser
Interpunktionsgewohnheiten beobachten wir, daß das „Unbewußte“ nicht nur
unterdrücktes Material, sondern auch die meisten Prozesse und Gewohnheiten der
Gestaltwahrnehmung einschließt. Subjektiv sind wir uns unserer „Abhängigkeit“
bewußt, aber unfähig, klar zu sagen, wie dieses Muster zustande kam oder welche
Hilfsmittel wir bei seiner Erschaffung verwendet haben“ (Bateson 1964, 389) 24 .
Daraus folgt, dass die von Therapeuten und Erziehern initiierten Lernprozesse, in
denen Gewohnheiten verändert werden, letztlich nur durch neue Gewohnheiten ersetzt
werden, die wiederum die Rolle der Selbstbestätigung des Charakters übernehmen.
Marotzki bezeichnet diese Stufe des Lernens als „Bildung“, da sich der konkrete
Bezug der Lernprozesse auf dieser Stufe auf „die Konstruktionsprinzipien der Selbstund Weltaufordnung“ (Marotzki 1998, 118) richtet, also auf ein Weltverhältnis des
Subjektes und auch auf ein Selbstverhältnis des Subjektes (vgl. Marotzki 1990, 41)
und die Modifikation von Rahmungen („Interpunktionsweisen“) ermöglicht. In diesem
Sinne entwirft Marotzki also diejenigen Lernprozesse als Bildungsprozesse, die sich
„auf die Veränderung von Interpunktionsprinzipien von Erfahrung und damit auf die
Konstruktionsprinzipien
der
Weltaufordnung
beziehen
[...].
Als
erstes
Bestimmungsmoment ergibt sich dann, daß sich Bildungsprozesse [...] auf ein
Weltverhältnis des Subjektes beziehen. Das zweite Bestimmungsmoment [...] besteht
darin, daß sich Bildungsprozesse, durch das Weltverhältnis bedingt, auch auf das
Selbstverhältnis der Subjekte beziehen“ (ebd., 41). Marotzki greift dabei explizit auf
die Begriffsauffassung Peukerts zurück, der ebenfalls zwischen Lernen und Bildung
unterscheidet, in dem er davon ausgeht, dass der Lernprozess die Vermehrung von
Wissen in festen Schemata bezeichne, während der Bildungsprozess auf die
Veränderung der Schemata selbst hinweise. Der Bildungsprozess sei ein Spezifikum
des Menschen und führe zu der Ausprägung eines neuen Selbst- und Weltverhältnisses
(vgl. ebd.).
Mit anderen Worten bekräftigt Marotzki mit dieser Feststellung den Zusammenhang
zwischen Welt- und Selbstaufordnung – ändert sich die Interpunktion für das
Verständnis
von
Welt,
so
ändert
sich
ebenfalls
die
Interpunktion
des
Selbstverständnisses und umgekehrt. Daraus schließt Marotzki (1990, 42), dass
„Bildungsprozesse [...] also, das trifft sowohl für Dilthey als auch für Bateson zu,
nicht inhaltlich, sondern – das wäre meine These – nur strukturtheoretisch bestimmbar
[sind]“.
24
Vgl. auch: Habituskonstruktion bei Boudieu , Kap. 3.6.3, S.115, und Kap. 4.3.3, S. 133)
110
Kapitel 3
Bildung – Theoriefolie zur Analyse des empirischen Materials
Lernen III
Die nun folgende Stufe, die Bateson als Lernen III bezeichnet (bei Marotzki Bildung
II), zeichnet sich dadurch aus, dass sich das Subjekt selbst als Akteur wahrnimmt und
folglich Rahmungen nicht als Teile einer phylogenetisch vorfindbaren Menge
identifizierbar sind, sondern durch ihn selbst als kreativ Handelnder und Konstrukteur
entwickelt werden. Das Subjekt nimmt sich dadurch als einzigartig in seiner
spezifischen Art mit einer unverwechselbaren Weise die Welt aufzuordnen wahr und
steigert – wie Marotzki es ausdrückt – so den Selbstbezug seiner Rahmungen.
Aufgrund seiner interaktiven Vermitteltheit begreift das Subjekt sich selbst als Aktor,
d.h. er lernt sich selbst als denjenigen kennen, „der die Welt immer schon in einer
spezifischen Weise aufordnet“ (Marotzki 1990, 44).
Formal führt Bateson diesen Typ analog der Typenlehre von Whitehead und Russel
folgendermaßen ein:
„Lernen III ist Veränderung im Prozeß des Lernens II, z.B. eine korrigierende
Veränderung im System der Mengen von Alternativen, unter denen eine Auswahl
getroffen wird.“ (Bateson 1964, 379). Insofern Lernen III einen Lernen über das
Lernen II darstellt kann es entweder zur Steigerung des Freiheitsgrades, also einer
Verstärkung des Lernens II führen, oder gerade jene Prozesse des Lernens II
reduzieren, da die neu gewonnene Freiheit durch Lernen III die Notwendigkeit einer
Neudefinition des Selbst aufzeigt.
„Wenn ich auf der Ebene des Lernens II stehenbleibe, bin „ich“ die Gesamtheit meiner
Charakteristika, die ich als meinen „Charakter“ bezeichne. „Ich“ bin meine
Gewohnheiten, im Kontext zu handeln und die Kontexte zu gestalten und
wahrzunehmen, in denen ich handle. Individualität ist ein Resultat oder eine
Ansammlung aus Lernen II. In dem Maße, wie ein Mensch Lernen III erreicht und es
lernt, im Rahmen der Kontexte von Kontexten wahrzunehmen und zu handeln, wird
sein „Selbst“ eine Art Irrelevanz annehmen. Der Begriff „Selbst“ wird nicht mehr als
ein zentrales Argument in der Interpunktion der Erfahrung fungieren.“ (Bateson 1964,
393). In dieser Darstellung wird deutlich, dass auf der Stufe Lernen III (Bildung II) die
Geltung einer bewusstseinszentrierten und egologischen menschlichen Subjektivität
zurücktritt und ein „stärker an den Strukturen ökologischer Kreisläufe orientiertes
Subjekt zum Zuge [kommt]“ (Marotzki 1990, 46) 25 . Marotzki weist darauf hin, dass
25
In dieser Hinsicht interpretiere ich auch das Zitat von Kierkegaard, das dieser Arbeit
voransteht: Grundsätzlich ist der Mensch in der Lage, einen Zustand zu erreichen, in dem er
sich in einem solchen Maße von seinem eigenen Charakter (seinen Selbst- und
Weltaufordnungen) lösen kann und sie als eine Möglichkeit unter anderen wahrnimmt, dass er
seinen Charakter transzendiert und seine Umgebung spiegelt. Das diese Phänomene vielleicht
nicht grundsätzlich so selten sind, wie Bateson oder Marotzki annehmen, sondern vielmehr in
111
Kapitel 3
Bildung – Theoriefolie zur Analyse des empirischen Materials
zwischen Individualität und
Subjektivität deutlich unterschieden werden müsse.
Subjektivität, als Resultat des Lernens auf Stufe III im Sinne der Steigerung des
Selbstbezuges, sei nach Marotzki gekennzeichnet durch die Überwindung von der auf
Lernen II entwickelten Individualität. Auf der Stufe Lernen III liege die Möglichkeit,
nicht nur unterschiedliche Gewohnheiten der Weltaufordnung zu lernen, sondern sich
selbst als Konstrukteur dieser Gewohnheiten wahrzunehmen. Damit spricht Marotzki
das zentrale Moment der Mündigkeit an und verweist dazu auf die Auffassung
Heydorns (1980), (vgl. Kap. 3.5.5, S. 92).
Bateson fasst das lernende Subjekt nicht nur als rationales System der
Informationsverarbeitung auf, sondern legt den Schwerpunkt auf die unbewussten,
nicht-rationalen Strukturen, die bei Freud unter dem Begriff der Primärprozesse
zusammengefasst sind, und die es – so Bateson weiter – im Kontext von
Lernprozessen verstärkt zu mobilisieren gilt.
Die Steigerung des Selbstbezuges drückt somit also nicht aus, dass es auf dieser Ebene
des Lernens zu einer verstärkten Abgrenzung von sozialen Kontexten im Sinne der
Entwicklung von gesteigertem Egoismus kommt, sondern dass der Mensch die
aktuellen Modi der Welt- und Selbstaufordnung als eine Möglichkeit unter anderen
Möglichkeiten sieht und im Gegensatz zur Stufe Lernen II, in der es um die
Ausbildung neuer Rahmungen ging, d.h. von einer Gewohnheit in eine neue
gewechselt wurde, in der folgenden Stufe Lernen III etwas darüber lernt, wie
überhaupt Rahmungen, Gewohnheiten individuell ausgebildet werden. Durch Lernen
III erreicht das Subjekt eine gesteigerte Flexibilität des Umgangs mit den in Lernen II
erworbenen Verhaltensweisen und sieht sich damit in die Lage versetzt, „mit
verschiedenen Weisen der Weltaufordnung und der eigenen Identitätskonzepte
spielerisch umgehen zu können“ (Marotzki 1998, 120). Einen solchen spielerischen
Umgang
mit Identitätskonstruktionen erlauben zunehmend digitale Räume im
zunehmenden Lebensalter abnehmen, da die Selbstbestätigungsfunktion von Lernen II mit
steigendem Alter manifester wird, kann vielleicht an Beispielen aus der Beobachtung von
Kindern deutlich werden: Kinder können sich so sehr in eine Aktivität, eine Umwelt
„verlieren“ (im wahrsten Sinne des Wortes), dass sie „selbstvergessen“ Zeit und Raum
überwinden und sich der aktuellen Interpretation ihrer gegenwärtigen Welt hingeben und sich
von selbst-entwickelten kognitiven Schemata lösen können. Einschränkend stellt sich jedoch
die Frage, ob das Erreichen der Stufe Lernen III gewissermaßen einen zu erreichenden
Endzustand darstellt, oder ob – wie in dem Beispiel des spielenden Kindes – bereits die
„kontemplative“ Vertiefung in die umgebende Umwelt im Sinne eines Oszillierens zwischen
den Stufen II und III als solches den Prozess eines gesteigerten Selbstbezuges kennzeichnet. Im
Gegensatz spricht Bateson von einer „tiefgreifende[n] Umstrukturierung des Charakters“
(Bateson 1964, 390), z.B. in therapeutischen Situationen, religiösen Bekehrungen und anderen
Sequenzen, die für eine Lesart der Stufe III als Telos sprechen und einer Bestimmung wie
Marotzki sie favorisiert im Sinne eines spielerischen Umgangs mit Identitätskonzepten und
Welt- und Selbstaufordnungen relativ wenig Raum lässt.
112
Kapitel 3
Bildung – Theoriefolie zur Analyse des empirischen Materials
Cyberspace - darauf verweist Marotzki in späteren Veröffentlichungen (vgl. 1998,
122; 2000, 247) unter Rekurs auf Turkle (1995, 180): „The Internet has become a
significant social laboratory for experimenting with the constructions and
reconstructions of self that characterize postmodern life. In it’s virtual reality, we selffashion and self-create“ (zit. nach Marotzki 2000, 247). Solche neuen sozialen Räume
bieten Jugendlichen die Möglichkeit, unterschiedliche Identitäten in OnlineCommunities anzunehmen und mit diesen Identitäten in einen interaktiven Prozess
einzutreten.
Dieser Effekt des Lernens kann – wie Bateson (1964) ausführt – unterschiedliche
Formen annehmen und birgt auch Gefahren in sich, da er im Falle eines Scheiterns ins
Pathologische abgleiten kann: „Schon der Versuch, auf die Ebene III zu gelangen
kann gefährlich sein, und einige werden dabei scheitern. Diese werden von der
Psychiatrie oft als psychotisch etikettiert, und viele von ihnen sehen sich daran
gehindert, das Pronomen der ersten Person zu benutzen“ (ebd., 395).
Marotzki (1998) sieht demgegenüber auf dieser Stufe den oft in der Bildungstheorie
beschriebenen Status, im Zuge dessen sich der Mensch über die Änderung der Modi
der eigenen Selbst- und Weltaufordnung habhaft wird repräsentiert und verweist dabei
auf Heydorn, der diesen Zustand als Mündigkeit im Sinne einer „Selbstfindung des
Menschen, der Prozeß seiner Habhaftwerdung, seines wahren Bewußtseins von sich
selber. Bildung ist ein entschiedenes Mittel dieses Prozesses“ (Heydorn 1980, 97, zit.
nach Marotzki 1998, 121) fasst. Marotzki versteht im Gegensatz zu Heydorn Bildung
bereits als den Prozess der Habhaftwerdung des Menschen über sein Bewusstsein, der
– um einer möglichen Bedrohung durch Kontingenz- oder Komplexitätssteigerungen
nicht zu erliegen, „für jedermann zu einer unverzichtbaren, ja lebensnotwendigen
Fähigkeit wird“ (Marotzki 1990, 48).
Lernen IV
Fasst man die Logik der unterschiedlichen Lernebenen als Zuwachs an Flexibilität des
Subjekts auf, durch die immer komplexere Informations- und Problemeinheiten
bearbeitbar werden (vgl. Marotzki 1990, 51), so kann in der Weiterführung der
logischen Typenlehre nach Whitehead und Russel mit Bateson die formal folgende
Lernebene noch identifiziert werden: „Lernen IV wäre die Veränderung im Lernen III,
kommt aber vermutlich bei keinem ausgewachsenen lebenden Organismus auf dieser
Erde vor. Der Evolutionsprozeß hat jedoch Organismen hervorgebracht, deren
Ontogenese sie zum Lernen III bringt. Die Verbindung von Ontogenese und
Phylogenese erreicht in der Tat Lernen IV“ (Bateson 1964, 379).
113
Kapitel 3
Bildung – Theoriefolie zur Analyse des empirischen Materials
Dieser logischen Ebenen des Lernens folgend ist es möglich, Lernprozesse zu
klassifizieren in solche, „die auf der Basis fester Lernvoraussetzungen (Schemata,
Rahmen, Muster) Wissen vermehren und solchen Lernprozessen, die die
zugrundeliegenden
Lernvoraussetzungen
(Schemata,
Rahmen,
Muster)
transformieren“ (Marotzki 1998, 123). Letztere bezeichnet Marotzki aufgrund der
Veränderung des Selbst- und Weltverhältnisses als Bildung. Marotzki weist darauf
hin,
dass
die
Veränderung
des
Weltbezuges,
die
er
im
Rahmen
der
Auseinandersetzung mit Bateson als Bildung bezeichnet, der Sache nach auch als
Weltanschauungsveränderung verstanden werden kann. So argumentiert er an dieser
Stelle auch mit Dilthey (1982), der Weltanschauung als „das in den Verhaltensweisen
gegründete Erfahren [zusammen genommen] zu einer objektiven gegenständlichen
Einheit“ versteht, die im Sinne eines Orientierungsrahmens für das Subjekt die
spezifischen Erfahrungen organisiert. Diese Weltanschauungen stellen also lediglich
einen Interpretationsrahmen für ein Selbst-und Weltverhältnis bereit, der jedoch kein
praktisches Verhalten einschließen muss. (vgl. Dilthey 1982, 380). Darin begründet
sich die These von Marotzki, dass es letztlich keine allgemeine Definition von
Bildung geben kann (vgl. Menze 1983, 350), sondern Bildung lediglich
strukturtheoretisch bestimmbar ist.
Die
strukturale
Bestimmung
von
Bildung
in
der
Rekonstruktion
dieses
lerntheoretischen Modells ermöglicht es, den Bildungsbegriff über den Begriff
„Lernen“ zu operationalisieren und damit einer empirischen Untersuchung zugänglich
zu machen. Dabei orientiert sich Bildungsforschung, als eine auf das Subjekt
gerichtete Biographieforschung, jedoch notwendigerweise immer an der Individualität
des Einzelnen und blendet in dieser „mikrologischen Perspektive“ (Marotzki 1998,
125)
notwendigerweise
die
soziale
Strukturiertheit
der
Einstellungen
und
Weltaufordnungen aus. Auch wenn Marotzki das menschliche Lernen grundsätzlich
als ein interaktionsbezogenes Lernen kennzeichnet (vgl. Marotzki 1990, 52), so steigt
nach Batesons‘ Einsicht von Stufe zu Stufe das Komplexitätsniveau und gleichzeitig
auch das Niveau individueller Freiheit kontinuierlich an. Gleichzeitig muss dies
allerdings nicht bedeuten, dass eine solche Auseinandersetzung wie in Stufe Lernen III
beschrieben, individualisiert und isoliert stattfinden muss, sondern durchaus auch
pädagogisch gestaltete Settings eine solche Ebene befördern oder behindern können.
Die Strukturale Bildungstheorie bietet also einen theoretischen Rahmen, der als
Erkenntniswerkzeug die biographischen Entwicklungsprozesse von Individuen im
Kontext bildungstheoretischer Überlegungen empirisch operationalisierbar macht und
eine biographische Rekonstruktion ermöglicht. So ist sie eine Theorie biographischer
Prozessverläufe, die als Bildungs- oder Lernprozesse empirisch durch Methoden der
114
Kapitel 3
Bildung – Theoriefolie zur Analyse des empirischen Materials
qualitativen Bildungs- und Sozialforschung rekonstruiert werden können. Sie liefert
darüber hinaus aber auch Ansatzpunkte für die Weiterentwicklung eines
Bildungsbegriffs als Theorie der Beschaffenheit seiner Phänomene – dabei stützt sie
sich jedoch einseitig auf die individuelle Perspektive der Individuen und lokalisiert
Bildung letztlich als ein intra-individuelles Phänomen. Wird Bildung nun
demgegenüber als kollektives Phänomen verstanden, in dem Individuen auf eine
bestimmte Art und Weise in einer Gruppe handeln, so lassen sich Anforderungen
beschreiben, die auf den Begriff der Bildung verweisen.
Die
Rahmungen,
mit
denen
Marotzki
in
Anlehnung
an
Bateson
die
Interpunktionsweisen thematisiert, nach denen Individuen die Welt aufordnen,
interpretieren und in einen für sie sinnvollen Zusammenhang bringen, sind in der
Strukturalen Bildungstheorie – zumindest was ihre Entstehungsgeschichte angeht –
bislang unzureichend beschrieben worden. Es entsteht der Eindruck, als würden diese
Rahmungen individuell generiert werden, ohne dass der soziale Raum, die sozialen
Felder einen Einfluss auf diese Rahmungen haben.
Auch wenn es zunächst nachvollziehbar und logisch erscheinen mag, dass – folgt man
dem postmodernen Diskurs – Menschen mehr und mehr zum Gestalter der eigenen
Biographie werden, so vollzieht sich diese Individualisierung aber in einem
gesellschaftlichen – d.h. sozialen Rahmen und nicht ausschließlich als reines Merkmal
einer Persönlichkeit. Das Individuum ist aufgrund gesellschaftlicher Abhängigkeiten
je nach Milieuzugehörigkeit dennoch immer mehr oder weniger stark eingebettet in
gesellschaftliche
Strukturen
Gestaltungsmöglichkeiten
der
und
Zwänge,
eigenen
die
Biographie
einen
haben
Einfluss
und
auf
die
die
diese
Individualisierung und Wahlmöglichkeit (Flexibilität), so die These, - wenn vielleicht
auch nicht für alle – aber zumindest für die Menschen, die von gesellschaftlichen
Ausgrenzungstendenzen der Arbeitslosigkeit, Armut oder Benachteiligung betroffen
sind, reglementieren und beschränken.
3.6.3
Strukturale Bildung und sozialer Bezug
In der Praxis der so genannten Bildungsarbeit, die es im engeren Sinne der
Strukturalen Bildungstheorie von Marotzki in dieser Bezeichnung für das an dieser
Stelle angesprochene Feld der pädagogischen Arbeit eigentlich gar nicht geben kann,
sondern die vielmehr „Bildungsangebotsarbeit“ oder „Bildungsermöglichungsarbeit“
heißen müsste, scheint es – nimmt man die unterschiedlichen Angebotsformen einmal
zusammen – neben praktischen, pragmatischen und von ökonomischen Gründen
geleiteten Erwägungen eine diffuse Vorstellung davon zu geben, dass auch die
115
Kapitel 3
Bildung – Theoriefolie zur Analyse des empirischen Materials
Bedeutung des konkreten sozialen Umfeldes für die Bildung des Einzelnen
bedeutungsvoll ist: In vielen pädagogischen Feldern wird – gerade in der
Bildungsarbeit, die in Schulen stattfindet, oder in außerschulischen Feldern der
Jugendarbeit, der Jugendverbandsarbeit und der Jugendsozialarbeit und den
vorschulischen Feldern des Kindergartens, der Kindertagesstätten oder der
Schulkindergärten mit Gruppen gearbeitet.
Auch wenn eine solche Argumentation im Sinne einer empirischen Überprüfbarkeit
der Gründe für die pädagogische Gruppenarbeit einigermaßen problematisch ist, kann
dennoch auf die Auseinandersetzung mit dem sozialen Feld des Individuums in Bezug
auf seine Bedeutung für die Ausbildung von Rahmungen und die Auseinandersetzung
mit Rahmungen nicht verzichtet werden.
Das Selbst- und Weltverhältnis ist dagegen, wie deutlich wurde, kontextabhängig und
nicht nur individuell strukturiert und basiert nicht nur auf der individuell-kritischen
Auseinandersetzung mit sich selbst und der Welt. Die Kontextabhängigkeit
verdeutlicht, dass die Rahmungen von Gruppen und Kollektiven, sowie von den
materiellen und kulturellen Ressourcen der Adressaten massiv beeinflusst werden
(vgl. Weyers 2002). Eine mögliche Aufgabe wissenschaftlich - empirischer sozialer
Arbeit könnte es somit sein, sich mit den Kontextbedingungen auseinanderzusetzen,
die Bildung im Sinne einer Veränderung von Rahmungen ermöglichen. Mit Blick auf
die Sprache und Kultur eines Landes als eine entscheidende Kontextmarkierung für
die Welt- und Selbstansicht der Subjekte
kennzeichnet Bock (2004, 103)
Lebensweltanalysen und ethnomethodologische Fragen als Fragenkomplex einer
bildungstheoretischen Perspektive in der Kinder- und Jugendhilfeforschung.
Augenscheinlich reicht es nicht aus, nur zu untersuchen, ob Veränderungen
biographisch rekonstruiert werden können – vielmehr müsste es darum gehen, die
Bedingungen einer kollektiven Praxis zu rekonstruieren, die Bildung als einen
subjektiven, individuellen Prozess erst ermöglichen. So ist eine Aufgabe dieser
Untersuchung auch, herauszuarbeiten, ob Jugendsozialarbeit, als ein Praxisfeld
Sozialer Arbeit, im Sinne einer Bildungschancenanalyse (vgl. Herz/Jäger 1999)
rekonstruiert werden kann und ob Faktoren für die Gestaltung des Feldes zur
Steigerung der Potentialität von informeller Bildung beschrieben werden können.
Aus den bisherigen Ausführungen zur strukturalen Bildungstheorie und zum Konzept
informellen Lernens, bzw. informeller Bildung wird deutlich, dass das Konzept des
informellen Lernens rein reaktiv in der Beschreibung von Lernprozessen außerhalb
von Schule als Institution formalisierten Lernens ist und darüber hinaus sich als
Handlungskonzept für die Gestaltung von Sozialer Arbeit als ungeeignet erscheint,
116
Kapitel 3
Bildung – Theoriefolie zur Analyse des empirischen Materials
wenn es nicht um die Perspektive des sozialen Raumes oder des Habitus erweitert
wird.
Bildung im Verständnis einer Veränderung von Rahmungen und Auseinandersetzung
mit Orientierungsmöglichkeiten, die an ein Individuum z. B. durch institutionelle
Gegebenheiten
(z.B.
Jugendsozialarbeit),
politische
Entscheidungen
oder
Erfahrungsräume und Zusammenhänge, in denen die Individuen eingebunden sind,
herangetragen werden weist eine soziale, resp. kollektive Komponente auf. Der
Umgang mit den Orientierungsmöglichkeiten wird nicht - wie dies bei Marotzki und
vielen anderen Bildungstheorien angenommen wird – ausschließlich individuell
geistig geklärt, sondern durch soziale Aushandlungsprozesse mitbestimmt.
Die sozialen Bezüge des Einzelnen in Form von Gruppen oder anderen Formationen
erhalten eine entscheidende Bedeutung bei der Frage, in welche Richtung eine
mögliche Veränderung von Rahmungen, Interpunktionsweisen, die Welt auf eine
bestimmte Art und Weise aufzuordnen, gehen wird. Die Strukturale Bildungstheorie
wird in der Dissertation dazu verwandt 26 , die von Bohnsack/Nohl (1998)
beschriebenen Typen der Sphärenorientierung im Kontext eines Bildungsbegriffs zu
thematisieren. Eine solche Thematisierung findet sich zum einen nicht in der
strukturalen Bildungstheorie, da diese durch die ihr inhärente Logik der von Stufe zu
Stufe zunehmenden Freiheit und Flexibilität des Subjektes die Prozesse des Einzelnen
zu beschreiben in der Lage ist, zum anderen wurde der Bildungsbegriff in der Frage
der Auseinandersetzung mit den Spannungen zwischen einer inneren und einer
äußeren Sphäre bei Bohnsack/Nohl nicht weiter expliziert.
An dieser Stelle versucht die Arbeit, anhand von empirischen Daten aus
Gruppendiskussionen
mit
benachteiligten
Jugendlichen
in
Projekten
der
Jugendsozialarbeit heraus zu arbeiten, dass die Herausforderung für Bildungsprozesse
in der Jugendsozialarbeit im Sinne der Explikation eines Bildungsbegriffes in der
strukturalen Bildungstheorie in der Auseinandersetzung mit einer inneren und äußeren
Sphäre liegt, die sich bei Jugendlichen nicht nur individuell vollzieht, so wie es die
strukturale Bildungstheorie annimmt, sondern, dass Bildungsprozesse immer auch
Aushandlungsprozesse in einem sozialen Feld sind, die zwar individuell vollzogen
sind, jedoch gesellschaftlich vermittelt werden.
Der Begriff der inneren Sphäre erinnert sehr den Begriff des Habitus wie er von
Bourdieu ausgearbeitet wurde, da die Existenzweise der inneren Sphäre „an die über
die Herkunftsfamilie vermittelte soziale Identität des Geschlechts und der sozialen und
117
Kapitel 3
Bildung – Theoriefolie zur Analyse des empirischen Materials
kulturellen Herkunft gebunden [ist] und [...] als solche ihren Fokus in den familialen
und verwandtschaftlichen Beziehungen [hat]“ (Bohnsack 2002, 131). Da weder
Marotzki noch Bohnsack/Nohl der Frage nachgehen, wie Rahmungen, bzw. innere
Sphären entstehen, könnte es an dieser Stelle aussichtsreich sein, die von Kessl u.a.
2005 im Kontext der Konstruktion von Jugendhilfe als non-formeller Bildung unter
Berücksichtigung des sozialräumlichen Kontextes (vgl. Kap. 3.4.2, S. 76ff)
ausgeführten Prämissen für ein Bildungsverständnis sozialpädagogischer Praxis um
die Frage des sozialen Kontextes für die Entwicklung und die Transformation von
Rahmungen zu erweitern. In diesem Zusammenhang liefert Bourdieu einen
entscheidenden Ansatz, wenn die Phänomene der inneren Sphäre oder der kognitiven
Rahmung mit dem Konzept des Habitus gleichgesetzt werden. Insofern kann auf der
Grund der Wirkmächtigkeit der inneren Sphäre angezweifelt werden, ob ihre
Konstruktion als eine Art familiär vermittelter Orientierungsrahmen, der durch
erfolgreiche Auseinandersetzung konserviert, transformiert oder negiert werden kann
und somit lediglich eine Orientierung unter möglichen anderen Orientierungen, die
austauschbar ist, aufrecht erhalten werden kann.
In der Auseinandersetzung mit Wissen und Habitus führt Maasen (1999,36) aus, dass
es Bourdieu mit dem Konzept des Habitus „um die Produktion und Reproduktion
‚kulturellen Kapitals‘ [geht], um die (auch antizipatorische) Internalisierung seiner
Inhalte sowie deren Funktion für die Distinktion und die soziale Schließung
soziokultureller Milieus“. Dabei bezeichnet das kulturelle Kapital „die Gesamtheit der
Fähigkeiten, Gewohnheiten und Stile, die sich Kinder und Jugendliche wie
Erwachsene im Laufe ihres Lebens aneignen“ (Kessl u.a. 2005, 21).
Das dafür notwendige handlungsleitende Wissen wird von Bourdieu als „praktisches
Wissen“ gefasst. „Dieses praktische Wissen, das den Akteuren selbst nicht
gegenwärtig ist, im Gegenteil, der Verkennung unterliegt [...] bezeichnet Bourdieu als
Doxa“ (Maasen 1999, 36f.).
Bourdieu bezeichnet den Habitus – ausgehend von den Überlegungen aus der
Scholastik von Thomas von Aquin über die Arbeiten von Panofski – als „System
dauerhafter
und
übertragbarer
Dispositionen“,
die
als
„Erzeugungs-
und
Ordnungsgrundlage für Praktiken und Vorstellungen“ fungieren (Bourdieu 1987: 98
nach: Krais/Gebauer 2002, 5) und zwar im Sinne einer „Spontaneität ohne Wissen und
Bewußtsein“ (ebd.). „Als einverleibte, zur Natur gewordene und damit als solche
vergessene Geschichte ist der Habitus wirkende Präsenz der gesamten Vergangenheit,
26
Ganz im Sinne eines Bourdieu’schen Theorieverständnisses, der Theorien als
Erkenntniswerkzeuge zum Begreifen der gesellschaftlichen Wirklichkeit begreift (vgl.
Krais/Gebauer 2002, 14)
118
Kapitel 3
Bildung – Theoriefolie zur Analyse des empirischen Materials
die ihn erzeugt hat.“ (ebd., 105). Der Habitus ist im Unterschied zu determinierenden
Konstrukten wie „Charakter“ „ein sozial konstituiertes System von strukturierten und
strukturierenden Dispositionen, das durch Praxis erworben wird und konstant auf
praktische Funktionen ausgerichtet ist“ (Bourdieu/Wacquant 1996b, 154; zit. nach
Krais/Gebauer 2002, 5). Da der Habitus demnach auf individuellen und kollektiven
Erfahrungen beruht, lassen sich nach Schwingel (2003) „an den Dispositionen des
Habitus drei Aspekte analytisch auseinander halten: 1. Die Wahrnehmungsschemata,
welche die alltägliche Wahrnehmung der sozialen Welt strukturieren (man könnte
auch, um sie vom nächsten Punkt abzugrenzen, vom sensuellen Aspekt der
praktischen Erkenntnis sprechen), 2. die Denkschemata, zu denen (a) die
‚Alltagstheorien‘ und Klassifikationsmuster zu rechnen sind, mit deren Hilfe die
Akteure die soziale Welt interpretieren und kognitiv ordnen, (b) ihre impliziten
ethischen Normen zur Beurteilung gesellschaftlicher Handlungen, d.h. ihr ‚Ethos‘
[...], und (c) ihre ästhetischen Maßstäbe zur Bewertung kultureller Objekte und
Praktiken, kurz ihr ‚Geschmack‘ [...], 3. schließlich die Handlungsschemata, welche
die (individuellen oder kollektiven) Praktiken der Akteure hervorbringen“ (Schwingel
2003, 62).
Auch wenn durch die intensive Beschreibung des Habitus der Eindruck entsteht, dass
die habituellen Dispositionen auf eine sehr fundamentale Art und Weise im
Individuum verankert erscheinen, so das sie sogar auf der Ebene Körperlichkeit ihre
Entsprechung beispielsweise in der Motorik und Sprache finden und so eine
Veränderung
oder
Weiterentwicklung
der
Denk-,
Wahrnehmungs-
und
Handlungsschemata nur kaum möglich zu sein scheinen, verweist gerade die
Entwicklung des Habitus in Form der Inkorporation von Handlungs- und
Denkschemata des sozialen Umfelds darauf, dass der Habitus in kontinuierlichem
Wandel begriffen ist (vgl. ebd., 66).
Im Konzept der Sozialtheorie nach Bourdieu würde es in bildungstheoretischer
Perspektive darum gehen, heraus zu arbeiten, dass Bildung in einer Art Anpassungsbzw. Auseinandersetzungsleistung besteht, wenn der ausgebildete Habitus nicht mehr
zu den Erfordernissen im sozialen Feld passt, bzw. aufgrund gesellschaftlich
vermittelter Handlungspraktiken und Handlungslogiken transformiert werden muss.
Obgleich Bremer (2005) für den erwachsenenpädagogischen Kontext eines Lehr-LernBetriebes im non-formellen Bildungssektor betont, dass der Habitus aufgrund seiner
Disposition als „einverleibtes“ und „verinnerlichtes“ Wissen kaum mehr reflexiv
verfügbar ist, verweist er ebenso darauf, dass mögliche Veränderungen „des Habitus
[...] nicht fundamental [sind]; er ist nicht unendlich dehnbar, sondern verfügt über
„Integrationsstufen“ [...]. Die Spielräume sind gerahmt [...], so dass die Möglichkeiten
119
Kapitel 3
Bildung – Theoriefolie zur Analyse des empirischen Materials
pädagogisch instruierter Veränderungen relativiert sind“ (Bremer 2005, 56f).
Gleichwohl geht es zu reflektieren, dass die Jugendsozialarbeit als ein Feld
pädagogischer Praxis über die Annahme der strukturalistischen Konstruktionsarbeit
(vgl. ebd., 57) des Habitus immer auch schon in diese Vorgänge involviert ist. Maasen
weist darauf hin, dass „erst dissonante Erfahrungen [...] zu Reflexion und
Problematisierung“ der Doxa Anlass geben (Maasen 1999, 37), womit die Bedeutung
eines Feldes pädagogischer Interaktion in doppelter Hinsicht herausgestellt wird. Zum
einen ist es als konstitutives Element der Habitusarbeit bereits grundsätzlich in die
Konstruktion involviert, zum anderen kann es über das Erzeugen von Dissonanzen
Einfluss die Notwendigkeit der Reflexion erzeugen und über angeleitete Prozesse der
Selbstreflexion und Auseinandersetzung im Sinne einer Bildungsarbeit pädagogisch
aktiv werden.
So wird in dieser Arbeit zunächst davon ausgegangen, dass die Entwicklung und
Transformation solcher kognitiven Schemata zur Weltaufordnung durch konjunktive
Erfahrungsräume mitbestimmt werden und sich somit auch in konjunktiv geteilten
Erfahrungsräumen rekonstruieren lassen, was in er Interpretation des Datenmaterials
durch die dokumentarische Methode (vgl. Bohnsack u.a. 2001, Bohnsack 2001a,
2001b) empirisch herausgearbeitet werden soll.
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