Kapitel 3 Bildung – Theoriefolie zur Analyse des empirischen Materials Kapitel 3 3 Bildung 3.1 Theoriefolie zur Analyse des empirischen Materials Wie bereits im vorherigen Kapitel ausgeführt wurde, scheint die Jugendsozialarbeit als sozialpädagogisches Handlungsfeld aufgrund ihrer pragmatischen Entstehungsgeschichte als Selbsthilfewerk der Jugend, das auf gesellschaftliche Lebensbedingungen von Jugendlichen in der Zeit nach dem zweiten Weltkrieg reagierte, und ihrer darauf aufbauenden Professionalisierung von Anfang an eher ein Praxisfeld ohne grundlegende theoretische Fundierung zu sein. 5 Je nach Träger- und Zielgruppenspezifik lassen sich verschiedene Grundverständnisse ausmachen, die z. B. zwischen Dienstleistung und Hilfe oder zwischen Bildung und Qualifizierung divergieren. Die folgenden Ausführungen sollen dazu beitragen, das Theoriekonstrukt, das in dieser Arbeit an die sozialpädagogische Praxis in Projekten der Jugendsozialarbeit herangetragen wurde, zu entfalten. Dazu werden zunächst einige Leitkategorien in der Jugendsozialarbeit exemplarisch dargestellt, um dann im Folgenden mit den Ausführungen zum „Entwurf einer strukturalen Bildungstheorie“ von Marotzki (vgl. Marotzki 1990) weiterreichende Analyseinstrumente zur Interpretation des empirischen Datenmaterials zur Verfügung zu stellen. Dabei erscheint die biographietheoretische Auslegung des Bildungsbegriffs bei Marotzki, der in entsprechenden Arbeiten durch biographietheoretische Rekonstruktion individueller Prozesse analysiert und erfasst wird, für die Praxis in der Jugendsozialarbeit als hilfreich, für die Weiterentwicklung sozialpädagogischer Praxis in diesem Feld allerdings nicht hinreichend genug zu sein. Für ein solches Vorhaben müssten die vorhandenen Ansätze in ein bildungstheoretisches Konzept eingebunden werden, das im Sinne der Berücksichtigung kollektiver Prozesse in Gruppen zu einem Konstrukt „kollektiver Bildung“ erweitert wird, da zum einen die sozialpädagogische 5 Demgegenüber ist beispielsweise die Jugendverbandsarbeit in ihren historischen Wurzeln zwar auch eine Reaktion auf gesellschaftliche Rahmenbedingungen, und zwar auf die durch die Industrialisierung hervorgerufene Desorganisation der Familie, die zur Gründung der „Katholischen Deutschen Gesellenvereine“ (vgl. Ebel 1981, 216) und der „Hilfsvereine für Jünglinge“ (vgl. Seydel 1974) führten, nach Giesecke verfüge aber jeder, der Jugendarbeit betreibe „über einen [...] theoretischen Vorstellungszusammenhang des Komplexes von Erziehung-Jugend-Staat/Gesellschaft“ (Giesecke 1971, 129). Im Bereich der Jugendarbeit hat mit der Veröffentlichung des Buches „Was ist Jugendarbeit?“ von Müller, Kentler, Mollenhauer, Giesecke 1964 eine intensive Diskussion über die theoretische Bestimmung unterschiedlicher Formen von Jugendarbeit eingesetzt, die in einer auch nur annähernd intensiven Form von der Jugendsozialarbeit bisher nicht geführt wurde. 55 Kapitel 3 Bildung – Theoriefolie zur Analyse des empirischen Materials Praxis in diesem Feld eine Praxis der Arbeit in und mit Gruppen ist, zum anderen die Potenzialitäten von Bildung für den Einzelnen in den Projekten von der sozialen Realität und von den Orientierungsmustern der Gruppe abhängig zu sein scheinen. 3.2 Flexibilisierung der Ausbildung durch Entspezialisierung von Bildung – zur Kritik an den Begriffen und Konzepten „Schlüsselqualifikation“ und „Kompetenz“ In den Konzepten und Programmen der Jugendsozialarbeit und Jugendberufshilfe finden sich im Kontext der Frage nach den Ausbildungsprofilen und Qualifizierungsanforderungen an Jugendliche oftmals Verweise auf den Erwerb von „Schlüsselqualifikationen“ und „Kompetenzen“. 6 Der Begriff „Schlüsselqualifikationen“ ist in der Praxis der Jugendsozialarbeit in vielfacher Hinsicht präsent – geht es z.B. um die Einforderung von Medienkompetenz als zentrale Schlüsselqualifikation oder die Frage nach der Fachlichkeit in der Vorbereitung Jugendlicher auf die Arbeitswelt. Gerade auch im Kontext von Kompetenzmessungsverfahren, Potentialanalysen oder Förder-Assessment-Verfahren im Rahmen der Diagnose von Förderbedarfen auf der Seite arbeitsloser oder von Arbeitslosigkeit bedrohter Jugendlicher werden Begriffe wie Kernkompetenz, Schlüsselqualifikation, Soft-Skills oder allgemein „Fähigkeiten“ synonym verwendet 7 . Das ursprüngliche Konzept und seine Verortung ist im Feld der Jugendsozialarbeit jedoch kaum beschrieben. Ein anderes Bild bietet sich demgegenüber im Bereich der beruflichen Bildung und der Weiterbildung, in dem die Begriffe „Schlüsselqualifikation“ und „Kompetenz“ steigende Prominenz erfahren 8 insgesamt auch auf wissenschaftlicher Ebene breiter diskutiert werden. und Ziel der folgenden Ausführungen ist es, das Konzept der „Schlüsselqualifikation“ und den Kompetenzbegriff als Leitkategorie der Praxis in der Jugendsozialarbeit zu explizieren 6 vgl. Enggruber 2001, 2-8; Würfel 2001, 33-38; BMFSFJ 2002 – Modellprogramm Kompetenagenturen [http://www.news.jugendsozialarbeit.de/020121afaKompAgenturen.htm], Download: 21.01.2002 7 vgl: [http://www.news.jugendsozialarbeit.de/030929BvBAusschreibung.htm], vom 29.09.2003, Download: 28.01.04, [http://www.bildungsportal.nrw.de/BP/Ministerium/SchulzVanheyden/Reden/2003/Netzwerk Muenster.html],Rede von Staatssekretär Dr. Elmar Schulz-Vanheyden vom 02.07.2003, Download : 28.01.04, [http://www.dernordverbund.de/html/newsletter_04.htm], 04/Januar 2003, Download: 28.01.04 und Themenhefte „Schlüsselqualifikation” 01/1998 und 03/1999 der Zeitschrift „inform“ Zeitschrift für Jugendsozialarbeit des Landschaftsverbandes Rheinland. 8 Während die Debatte um Schlüsselqualifikationen in den letzten Jahren etwas abgeflacht zu sein scheint (vgl. Gonon 1996, Beck 2001) taucht der Begriff der Kompetenz in neuern Debatten verstärkt auf (vgl. Brödel 2004, Wittwer 2003, Vonken 2001). Im Kontext informellen Lernens und informeller Bildung werden diese Begriffe z.T. synonym verwendet, 56 Kapitel 3 Bildung – Theoriefolie zur Analyse des empirischen Materials und dadurch aufzuzeigen, dass dieser Begriff allenfalls als konzeptionelle Kategorie und normatives Konzept für die Praxis der Jugendsozialarbeit geeignet ist, für die Analyse von pädagogischen Prozessen der Jugendsozialarbeit aufgrund ihres hypothetischen und kaum zu operationalisierenden Charakters nicht hinreichend ist. Darüber hinaus provoziert das Konzept nach wie vor die Frage danach, welche gesellschaftlichen Akteure letztlich die als Schlüsselqualifikation beschriebenen Persönlichkeitsmerkmale bestimmen, die in der Folge dann von Jugendlichen ausgebildet werden sollen. In der Auseinandersetzung mit dem Begriff „Kompetenz“ und „Qualifikation“ bemerkt Oelkers (2003), dass den „Schlüsselkompetenzen“ oder „Schlüsselqualifikationen“ „inhaltliche Bildungsparameter abhanden gekommen sind. Derartige Qualifikationen gibt es freilich nur auf dem Papier, also in der Gestalt von Listen, für die eigentümlich ist, dass sie beliebig erweitert werden können, ohne dass auch nur basishaft abgeklärt wäre, worauf sich die einzelnen Stichworte beziehen und wie sie in eine praktisch sinnvolle Ordnung gebracht werden können“ (ebd., 10). Diese Frage verweist auf die weiterreichenden Überlegungen, was das Spezifikum von Jugendsozialarbeit im Kontext der Jugendhilfe ist und woran sie sich orientiert, bzw. auf welchen normativen Grundannahmen ihre Konzepte basieren. Es wird – auch empirisch – zu prüfen sein, ob Projekte der Jugendsozialarbeit „in ihren Konzepten und Handlungsstrategien ein Normalitätsmuster [...] konservieren, das mit den Möglichkeitsstrukturen der Klienten immer weniger zu tun hat“ (Galuske 2001, 891) und sich in ihren Handlungslogiken weitestgehend an den Anforderungen einer deutschen Arbeitsmarktpolitik und einer Gesellschaft orientieren, „deren zentrale Institutionen auf Vollbeschäftigung in Form von Normalarbeit aufbauen und in der das Muster individueller Normalbiographie auf abhängiger Arbeit beruht“ (Beck 2000, 8; zit. nach Galuske 2001, 891). Dem gegenüber stünde ein Verständnis von Jugendsozialarbeit als sozialpädagogisches Handlungsfeld im Rahmen der Jugendhilfe, dem pädagogische Leitkategorien zu Grunde liegen, die auf die Entfaltung von Subjektivität zielen (vgl. Scherr 2002c). Scherr führt als Aufgaben einer solchen als Subjektbildung verstandenen Pädagogik u.a. aus, „solche Wahrnehmungs-, Bewertungs- und Deutungsschema zugänglich zu machen, die sie sich nicht ohnehin durch das ganz normale Heranwachsen, die Sozialisation in Familien, Schulen, Betrieben und durch die Teilnahme an der massenmedialen Kommunikation erschließen. Es geht also um Bildung, d.h. um die Eröffnung neuer Horizonte des Erlebens, Denkens und Handelns“ (Scherr 2002c, 38f). bzw. in dem Terminus „Schlüsselkompetenzen“ (vgl. Karcher/Overwien 1999, Arnold/Müller 1999, Overwien 2004) kombiniert. 57 Kapitel 3 Bildung – Theoriefolie zur Analyse des empirischen Materials 3.2.1 Das Konzept der Schlüsselqualifikation Ausgehend von eigenen Thesen zur Flexiblitätsforschung am Arbeitsmarkt entwickelt Mertens, der als Volkswirt langjähriger Leiter des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) war (vgl. Beck 2001, 34), 1974 unter dem Begriff „Schlüsselqualifikation“ übergeordnete „Bildungsziele und Bildungselemente“ (Mertens 1974, 36), die einen „Schlüssel zur raschen und reibungslosen Erschließung wechselnden Spezialwissens bilden“ (ebd.) und dadurch als ein Beitrag zur „Entspezialisierung von Bildung“ betrachtet werden können. Nach Marotzki (1998), der den Begriff „Schlüsselqualifikation“ im Kontext der Ausführungen zum „Problem der Flexibilität im Hinblick auf virtuelle Lern- und Bildungsräume“ (ebd. 110) als eine erste Argumentationslinie Schlüsselqualifikationen wieder eine aufnimmt, Reaktion auf stellt die die Diskussion „erhöhte Flexibilität über der Qualifikationen, die sich durch fachübergreifende Kompetenzen auszeichnet“ dar (ebd., 111). Da die Debatte über Schlüsselqualifikationen auch gut 30 Jahre nach dem Erscheinen des Aufsatzes von Mertens 1974 noch weitergeführt wird, der Begriff in Qualifizierungskonzepten der Jugendsozialarbeit und Jugendberufshilfe nach wie vor Eingang findet und die Annahmen über die Entwicklung von Qualifikationsanforderungen auf dem Arbeitsmarkt bis heute an Aktualität kaum verloren haben, wird das Konzept mit seinen Grundaxiomen an dieser Stelle weiter ausgeführt und diskutiert. In dem häufig zitierten Aufsatz formuliert Mertens 42 „Thesen zur Schulung für eine moderne Gesellschaft“ (Mertens 1974, 36), die als Beitrag für eine Arbeitsmarkt- und Berufsforschung neben den Auswirkungen auf unterschiedliche Felder der Ausbildung, Erwachsenen- und Weiterbildung auch in der außerschulischen Jugendbildung ihren Niederschlag gefunden haben. Bodensohn (1994, 200) weist darauf hin, dass Mertens` hypothetische Denkanstöße, die er in Form von Thesen formulierte, in der Folgezeit oft fälschlicherweise als Tatsachenbehauptungen wiedergegeben wurden. Mertens selbst zeigt sich 15 Jahre nach dem Erscheinen dieser Thesen überrascht, irritiert und „nicht ganz glücklich“ (Mertens 1989, 84) über die weite Verbreitung des Konzepts, das entgegen vielfacher Annahmen über keine kultur- oder bildungspolitische Genese verfügt, sondern einen eindeutigen wirtschaftsund arbeitsmarktpolitischen Hintergrund aufweise (vgl. ebd., 79). Dabei sei es nach Mertens kaum zu antizipieren gewesen, welche Popularität dieser Begriff entfalten würde, „denn sehr handfeste und zugleich umsetzbare Konkretisierungen hatten wir eigentlich nicht zur Hand. Es ging mehr um, wenn auch gut begründete, Hypothesen 58 Kapitel 3 Bildung – Theoriefolie zur Analyse des empirischen Materials und Postulate, und ihre Verortung im gegebenen Bildungswesen war auch noch nicht durchdacht“ (ebd., 84f). Beck analysiert 2001, dass das Konzept der Schlüsselqualifikationen nach wie vor sehr unhandlich ist und eine konkrete Verortung im Bildungswesen schwierig ist. Der Begriff Schlüsselqualifikationen „scheint als suggestiver und multifunktionaler Konjunkturbegriff der Erziehungswissenschaft bildungspolitisch bedeutend, bildungstheoretisch jedoch heftig umstritten und bildungspraktisch unhandlich zu sein“ (ebd.37). Der ursprünglich bildungsökonomisch geprägte Begriff wurde vor allem durch seine spätere pädagogische Umdeutung schwierig, verwirrend und verunsichernd (vgl. ebd. 36). So bleibt zunächst festzuhalten, dass es sich bei den Überlegungen von Mertens also um Hypothesen und Postulate handelt, die allerdings weit reichende Verbreitung und Aufnahme in die Fachdebatte gefunden haben. Im Folgenden weist Beck (2001) darauf hin, dass eine Definition des Begriffs „Schlüsselqualifikationen“ zwar notwendig wäre, begriffslogisch aber problematisch ist, „denn der Begriff ‚Schlüsselqualifikationen‘ wird hauptsächlich als ‚Eigenschaftsbegriff‘ nominal oder ostensiv definiert, also entweder beschrieben durch lange Kataloge mit untergeordneten Qualifikationen oder durch Verweis auf typische Beispiele wie Methoden-, Sozial- und Selbstkompetenz. Solchen Eigenschaftsbegriffen fehlt jedoch ein theoretischer Bezug und durch ihre Kontextabhängigkeit ist ihr Wert begrenzt“ (ebd., 37). Das eine solche Unterscheidung überdies nicht besonders hilfreich ist, hat Oelkers (2003, 8) herausgearbeitet. Die Kernaussage des Konzepts stellt dennoch einen Paradigmenwechsel im Bildungsverständnis dar: das Erlernen konkreter und aktueller Fakten und Inhalte wird ersetzt durch die Vermittlung von Methoden, die ein selbständiges Erarbeiten relevanten Wissens ermöglichen sollen. „Die Bereitschaft, unterschiedliche Aufgaben und Tätigkeiten wahrzunehmen (Flexibilität), steht an erster Stelle der Anforderungen. Persönliche Einstellungen und Persönlichkeitsmerkmale haben eine hohe Bedeutung. Sie werden durchweg höher bewertet als formale Zusatzqualifikationen. Den höchsten Rang nehmen jene Eigenschaften ein, die auf eine hohe Eigenmotivation schließen lassen sowie Leistungsbereitschaft, Problemlösungsfähigkeiten, Initiative, Lernbereitschaft, Kooperationsfähigkeit und Teamfähigkeit. [...] Die Überlegungen lassen sich so zusammenfassen, daß in Zukunft nicht nur mehr gelernt werden muß, sondern vor allem auch anders. [...] Man kommt der Sache etwas näher, wenn man an die Diskussion der Umstellung von Faktenwissen auf Prinzipienwissen denkt, also die Umstellung auf das sogenannte prozedurale Wissen“ (Marotzki 1998, 111f, Hervorhebungen i.O.). 59 Kapitel 3 Bildung – Theoriefolie zur Analyse des empirischen Materials Den Boden für das Mertens`sche Konzept bildeten nach Huisinga im Wesentlichen vier Modernisierungstendenzen zu Beginn der 1970er Jahre (vgl. Huisinga 1992, 81ff): ♦ Der gesellschaftliche Umbruch der 1968er Zeit (Umbruch und Verunsicherung) ♦ Die ökonomische Krise („OPEC 1“) (ansteigende Arbeitslosigkeit) ♦ Demographische Verschiebungen (Weiterbildungsoffensive) ♦ Tendenzen einer „verwissenschaftlichten Produktion“ (Modernisierungsbedarf traditioneller Berufsqualifikationen). Als Grundlage für die „Schulung einer modernen Gesellschaft“ (Mertens 1974, 36) stellt Mertens ein Schulungskonzept vor, dass Kompetenzen zur Problembewältigung vermitteln soll und drei Dimensionen aufweist: „Schulung und Bewältigung zur Entfaltung der eigenen Persönlichkeit, Schulung zur Fundierung der beruflichen Existenz, Schulung zu gesellschaftlichen Verhalten“ (ebd., 37). Nach Mertens kann jede Art von Bildung prinzipiell diese drei Kategorien repräsentieren. Damit wird deutlich, dass seine Überlegungen zwar aus einem bildungsökonomischen Kontext entstanden sind, er selbst jedoch für diese Thesen auch in Bezug auf das System der Allgemeinbildung Gültigkeit beansprucht. Er prognostiziert, dass in dem Konzept ein „Wiederaufleben humanistischer Bildungsvorstellungen“ (ebd. 36) entdeckt werden könnte, wobei dies jedoch eindeutig aus der Perspektive des Arbeitsmarktes heraus entwickelt wurde, da es diesem im hohen Maße dienlich ist. Im Ausland gab es in der Folgezeit vergleichbare Überlegungen, als „Qualificationsclés“ in Frankreich und der Schweiz, als „core skills“ oder „key qualifications“ in England und in Kanada als „Generic Skills“ bzw. „Habilités Generiques“ (vgl. Mertens 1989, 85). Mertens geht von drei wesentlichen Hypothesen aus, die das Konzept der Schlüsselqualifikationen stützen: Grenzen der Prognostik Aufgrund der beschleunigenden Modernisierung und Technisierung der Arbeitswelt können immer seltener Prognosen erstellt werden, welche beruflichen Qualifikationen für die verschiedenen Berufe notwendig und förderlich sein können. „Statt dessen kann die Anpassungsfähigkeit an nicht Prognostizierbares selbst zum Angelpunkt bildungsplanerischer Entscheidungen werden“ (Mertens 1974, 39). 60 Kapitel 3 Bildung – Theoriefolie zur Analyse des empirischen Materials These vom Obsoleszenstempo „Es kann die Hypothese vertreten werden, daß das Obsoleszentempo (Zerfallszeit, Veraltenstempo) positiv mit ihrer Praxisnähe und negativ mit ihrem Abstraktionsniveau korreliert“ (ebd.). Je konkreter also die Bildungsinhalte auf die Praxis vorbereiten, desto schneller veralten sie. Sind die Bildungsinhalte jedoch zunehmend abstrakt, ist ihre Bedeutungsaktualität relativ lang. Omnipotenz abstrakten Wissens in modernen Gesellschaften „Je dynamischer, komplexer und unvorhersehbarer die gesellschaftliche, technische, wirtschaftliche und damit persönliche Umweltentwicklung verläuft, desto größere Bedeutung erhalten für die existentielle Bewältigung von Herausforderungen solche Bildungselemente, welche übergeordneten Charakter haben“ (Mertens 1989, 85). Mit dem Begriff „Schlüsselqualifikationen“ kennzeichnet Mertens also Bildungswege, „die dem einzelnen ein besonders breites Feld von Anwendungs- und Ausbauchancen mit vielfältigem persönlichem und gesellschaftlichen Nutzen eröffnen“ (ebd. 84). Als unabweisbare, aber anzuerkennende Denkgrundlagen formuliert er die Hypothesen (vgl. im Folgenden Mertens 1974, 40), dass „die Vermittlung spezialisierter Fertigkeiten gegenüber deren übergeordneten strukturellen Gemeinsamkeiten zurückzutreten habe“, „ein enumerativ-additives Bildungsverständnis (Fakten-, Instrumenten- und Methodendwissen) durch ein instrumentelles Bildungsverständnis (Zugriffswissen, know how to know) abzulösen ist“ und die mentale Kapazität nicht mehr als reines Speichermedium, sondern „als Schaltzentrale für intelligente Reaktionen“ zu nutzen ist. Schlüsselqualifikationen definiert Mertens als „solche Kenntnisse, Fähigkeiten und Fertigkeiten, welche nicht unmittelbaren und begrenzten Bezug zu bestimmten, disparaten praktischen Tätigkeiten erbringen, sondern vielmehr a) die Eignung für eine große Zahl von Positionen und Funktionen als alternative Optionen zum gleichen Zeitpunkt, und b) die Eignung für die Bewältigung einer Sequenz von (meist unvorhersehbaren) Änderungen von Anforderungen im Laufe des Lebens“ (ebd. 40). Damit wird deutlich, dass die Überlegungen zu einem Konzept der Vermittlung von Schlüsselqualifikationen zunächst enttäuschend sind, da diese Art der Überlegungen bereits vor der Arbeitsmarktforschung in der Erziehungswissenschaft diskutiert wurden (vgl. Mertens 1989) und Fragen gestellt wurden, die auf die Überlegungen zu den Schlüsselqualifikationen hinweisen. Mertens schränkt die Überlegungen weiter ein, indem er sich in seinem Konzept „im wesentlichen auf vermittelbare intellektuelle Fähigkeiten konzentriert“ (Mertens 1989, 61 Kapitel 3 Bildung – Theoriefolie zur Analyse des empirischen Materials 88), wenngleich klar ist, dass ein großer Teil extrafachlicher Qualifikationen, die für die Arbeitswelt eine fundamentale Bedeutung haben (z.B. emotionale und soziale Kompetenzen), dadurch nicht erfasst werden können. Mertens teilt die von ihm benannten Schlüsselqualifikationen in vier Kategorien auf (vgl. im Folgenden Mertens 1974, 41ff): Basisqualifikationen, als „Qualifikationen höherer Ordnung [...]. Sie erlauben einen vertikalen Anwendungstransfer auf die speziellen Anforderung in Beruf und Gesellschaft“. Horizontqualifikationen ermöglichen „eine möglichst effiziente Nutzung der Informationshorizonte der Gesellschaft für den einzelnen“ und bringen „vor allem horizontalen Transfer“ („Informiertheit über Informationen“). Breitenelemente stellen neben den Basisqualifikationen mit ihrem vertikalen Transfer und Horizontqualifikationen mit ihrem horizontalen Transfer die „speziellen Kenntnisse und Fertigkeiten [dar], die über breite Felder der Tätigkeitslandschaft nachweislich als praktische Anforderung am Arbeitsplatz auftreten“. Vintage-Faktoren ermöglichen vor allem durch geeignete Instrumente und Methoden in der Erwachsenenbildung einen intergenerativen Austausch. Sie tragen somit dazu bei, dass Bildungsdefizite der Erwachsenengenerationen, die durch fortschreitende Technologisierung und Weiterentwicklung des Wissensbestandes entstehen, durch den Kontakt und Transfer mit nachwachsenden Generationen aufgehoben werden können. Augenscheinlich wird bei der Darstellung des Mertens`schen Konzepts die zentrale Bedeutung des Transfers von Wissen auf unterschiedliche Anwendungsbereiche. Mertens geht davon aus, das es in Zukunft immer schwerer sein wird, Bildungsziele, die arbeitsmarktrelevant sind, zu prognostizieren und entwickelt daraus das Konzept der Vermittlung von Schlüsselqualifikationen. Landwehr 1996 versucht aufzuzeigen, „dass das Konzept der Schlüsselqualifikationen gesehen werden muss als Teil eines umfassenderen Konzeptes zur transformativen Kompetenz“ (ebd., 89) und bezeichnet diesen Ansatz als unerlässlich für ein „zeitgemäßes Bildungsverständnis in unserer Kultur des beschleunigten Wandels“ (ebd.). Das Konzept der Schlüsselqualifikationen steht für Landwehr nur für den Beginn eines epochalen Wandels des Bildungssystems (vgl. ebd., 99). Der Begriff der Transformation legt nahe, das Konzept der Schlüsselqualifikation unter bildungstheoretischer Perspektive zu betrachten (vgl. Reetz 1999). Eine solche Analyse kommt dabei allerdings über die Entwicklung spezifischer Kompetenzen, bzw. Bewältigung bestimmter „Entwicklungsaufgaben“ (ebd., 46) im Kontext von Persönlichkeitsentwicklung nicht hinaus und scheint für eine Analyse von pädagogischer Praxis nicht weiter zu bringen. 62 Kapitel 3 Bildung – Theoriefolie zur Analyse des empirischen Materials Die von Landwehr beschriebene Transferleistung führt aber zu einem Konflikt, der von Zabeck 1991 als Schlüsselqualifikations-Dilemma bezeichnet und auf den Dubs 1996 und Beck 2001 in ihrer Kritik hinweisen: „Je allgemeiner und unspezifischer die Schlüsselqualifikationen definiert werden, desto wahrscheinlicher ist es, dass der Transfer misslingt. Je enger und situationsspezifischer sie gefasst werden, desto weiter entfernen sie sich von der ihr zugesprochenen Form“ (Dubs 1996, 51). Zabeck bezeichnet es als illusionäre Vorstellung, „die Probleme der (1) Stoffülle, (2) der Komplexität konkreter und der (3) Unbestimmtheit künftiger Anforderungen ließen sich durch die Konzentration von Erziehung und Unterricht auf wenige einfache, aber situationsadäquat kombinierbare Fähigkeiten und Fertigkeiten bewältigen“ (Zabeck 1991, 54). Das Konzept scheint darüber hinaus von einem Bild vom Menschen auszugehen, der so gebildet werden kann, dass er freiwillig und aus eigenem Antrieb über die Nutzung unterschiedlicher Informationskanäle lernt. Ungeklärt bleibt in diesem Konzept die Frage, wie Menschen, resp. Jugendliche, motiviert werden können, sich mit Hilfe evtl. ausgebildeter Schlüsselqualifikationen spezifische Fähigkeiten anzueignen. Unklar ist darüber hinaus auch, in wie weit ein solches Konzept für die Zielgruppe der Jugendsozialarbeit geeignet ist, die oftmals bereits im Bereich formalisierten Lernens erhebliche Defizite aufweisen und negative Erfahrungen mit der Wissens(re)produktion gemacht haben und dadurch nur über eine sehr schwach ausgeprägte Motivation verfügen, sich selbständig aktuelle Wissensbestände anzueignen. Die Möglichkeit der Kompensation formaler Lerndefizite über den Weg der informellen Nachqualifizierung erscheint aufgrund der offenen Motivationsfrage eher unwahrscheinlich zu sein. Aufgrund des nach wie vor hypothetischen Charakters und seiner starken Normativität erscheint das Konzept zwar durchaus praxistauglich zu sein, als Analyseinstrument für den empirischen Teil dieser Arbeit nicht hinreichend genug, um geeignet zu sein, die Praxisweisen der Jugendsozialarbeit in den untersuchten Projekten angemessen auswerten zu können, wenngleich es dennoch einige interessante Ansätze für die weitere Betrachtung beinhaltet. 63 Kapitel 3 Bildung – Theoriefolie zur Analyse des empirischen Materials 3.2.2 Kompetenzentwicklung Beschäftigungsfähigkeit zwischen einer Sicherung der durch Prozesse formellen und informellen Lernens und der Entwicklung von Persönlichkeit Die Diskussion zum Begriff und zu Konstrukten von Kompetenz ist hingegen erst in den letzten Jahren, vor allem im Kontext der Diskurse über informelles Lernen in der Erwachsenen- und Weiterbildung entwickelt worden (vgl. Brödel 2004, Wittwer 2003, Kirchhöfer 2001, Vonken 2001, Erpenbeck/Heise 1997, Arnold 1997). Oelkers (2003, 8) beschreibt, dass „die erstaunlich Karriere“ des Kompetenzbegriffs vor allem auch in der neueren Verwaltungsliteratur im Bildungsbereich auffällig ist. Ähnlich wie bei dem Konzept der Schlüsselqualifikationen kann auch bei dem Kompetenzbegriff, zumindest im Kontext der Diskussionen in der Erwachsenen- und Weiterbildung, die zusammen mit der beruflichen Bildung für eine an der Arbeitswelt orientierten Jugendsozialarbeit insgesamt als Referenzpunkte gelten können, eine eindeutige Ausrichtung auf den ökonomischen Nutzen identifiziert werden. Auch wenn das Kompetenzkonzept in der häufig anzutreffenden Unterscheidung zwischen Sachkompetenz, Methodenkompetenz, Sozialkompetenz und personaler Kompetenz (vgl. ebd.) den Begriff der Qualifikation um Aspekte der individuellen Persönlichkeit erweitert, weist die Verwendung des Begriffs und seiner einzelnen Komponenten (Verfügbarkeit von Wissen, selektive Bewertung von Wissen und Einordnung in umfassendere Wertbezüge) auf eine wirtschaftliche Verwertbarkeit, bzw. Beschäftigungsfähigkeit hin (vgl. Wittwer 2003, 26). Ausgehend von Chomsky und Habermas differenziert Wittwer (2003) in der Weiterentwicklung der Überlegungen zu linguistischer, bzw. kommunikativer Kompetenz, dieses Verständnis von Kompetenz weiter aus und versteht unter dem Begriff Kompetenz allgemein die individuellen Stärken, bzw. Besonderheiten eines Subjekts. Dadurch wird eine Distinktion des Kompetenzbegriffes vom Konzept der Schlüsselqualifikationen möglich, „die gesellschaftlich definiert und somit von Subjekten unabhängig formuliert sind“ (ebd., 28). Ganz ähnlich argumentiert Vonken (2001), der sich in seinen Auseinandersetzungen insbesondere auf einen Kompetenzbegriff bezieht, wie er „von den Mitgliedern der „ARBEITSGEMEINSCHAFT QUALIFIKATIONS-ENTWICKLUNGS-MANAGEMENT“ (QUEM) geprägt und Anfang der neunziger Jahre erneut in die erziehungswissenschaftliche Diskussion eingebracht worden ist“ (ebd., 504, Hervorhebungen i.O.): „Alles in allem wird daraus deutlich, dass mit diesem Kompetenzbegriff letztlich der Mensch als ganzes gemeint ist, mit seinem Wissen, seinen Fertigkeiten, seinem Willen, kurz: seiner Persönlichkeit. In diesem Sinne bedeutet der dazugehörige 64 Kapitel 3 Bildung – Theoriefolie zur Analyse des empirischen Materials Terminus der ‚Kompetenzentwicklung‘ die Entwicklung der Persönlichkeit des Menschen, und in der Verwendung innerhalb der beruflichen Weiterbildung vornehmlich zur Nutzung und Entfaltung eben dieser Persönlichkeit in ökonomischen Zusammenhängen“ (ebd., 505). Obgleich Vonken darauf hinweist, dass der Kompetenzbegriff sich theoretisch nicht auf die ökonomische Verwertbarkeit beschränkt, wird er vor allem in den Feldern der beruflichen Bildung und Weiterbildung ausschließlich in diesem engeren Verständnis diskutiert. Auch wenn in einigen neueren Veröffentlichungen z.B. des Forums Bildung der Kompetenzbegriff im Hinblick auf Orte informellen Lernens von Kindern und Jugendlichen allgemeiner gefasst wird (vgl. Richter 2002), dominiert in der Debatte insgesamt die berufsbezogene Perspektive, was sich u.a. interessanterweise in Veröffentlichungen zum Thema soziale Kompetenz (vgl. Edinsel 1998, Faix 1991, Schlömer-Helmerking 1996) und den bereits genannten Veröffentlichungen zeigt. Insofern ist auch mit Blick auf das Untersuchungsfeld Jugendsozialarbeit, resp. Jugendberufshilfe, die Analyse des Begriffes aus der arbeitsweltbezogenen Perspektive angezeigt. Eine logische Folgerung ist somit, dass die Definition von Kompetenz und dessen, was Kompetenz ausmacht, nicht von dem Subjekt her bestimmt wird. Vonken führt aus, dass nicht das Subjekt und subjektzentrierte Konstruktionsleistungen für die Bestimmung von Kompetenz im Zentrum der Betrachtung stehen, sondern Kompetenz „von den beruflichen Tätigkeiten oder Anforderungen her bzw. (bildungs-)politisch“ definiert wird (Vonken 2001, 516). Durch diese Verbindung von fachlichen Anforderungen mit den persönlichen Fähigkeiten des Einzelne, wie sie bereits 1997 von Erpenbeck/Heyse ausgeführt wird, führt zu einer Neubestimmung der individuell erworbenen Kenntnisse und Fähigkeiten. Im Vordergrund des Kompetenz-Konzeptes steht damit nicht mehr die Frage nach dem Nachweis spezifischer Qualifikationen, sondern die Frage nach der individuellen Ausgestaltung einer Handlung eines Handelnden in bezug auf eine bestimmte Anforderung (vgl. Wittwer 2003, 28) und kennzeichnet damit die Betrachtungsweise des Kompetenzkonzeptes: Nicht der gesamten Persönlichkeit des Menschen wird die zentrale Aufmerksamkeit geschenkt, sondern die personale Ausgestaltung von Qualifikationen für spezifische Aufgaben rückt ins Zentrum des Interesses. Das Subjekt wird in Bezug auf die Entwicklung seiner eigenen Persönlichkeit somit in den Hintergrund gedrängt und zum Objekt von Kompetenzentwicklungsprozessen umdefiniert. „Diese Form der Kompetenzentwicklung ist sehr stark fremdgesteuert. Denn welche Kompetenzen (Fach-, Methoden-, Sozial- oder personale Kompetenz) bei wem entwickelt werden, hängt von dem jeweiligen Bedarf der Wirtschaft ab“ (ebd.). Oelkers hingegen hält diese Unterscheidung insgesamt für entweder trivial oder 65 Kapitel 3 Bildung – Theoriefolie zur Analyse des empirischen Materials nicht sonderlich hilfreich, da die Standards für Kompetenzen von der Sprache und der Kultur vorgegeben werden und grundsätzlich nicht nach diesem Muster unterschieden werden können. Er stellt heraus, dass Kompetenzen grundsätzlich auf Aufgaben, Leistungen oder Sachbereiche bezogen sein müssten. „Wer ‚Kompetenzen‘ psychologisch allgemein versteht, macht daraus eine abstrakte Größe, die vor jeder fachlichen Anforderung und unabhängig davon für Schematisierungen sorgt, bei denen unterstellt wird, es gäbe sie in der psychischen Realität als vorhandene oder auszubildende Qualität, eben als ‚Kompetenz‘. Kompetenzen aber bilden sich nur im Blick auf Aufgaben und Leistungen“ (Oelkers 2003, 9). Insofern erscheint die Suche nach Antworten auf die Fragen, welche Kompetenzen von den Individuen ausgebildet werden sollen, aus (sozial-)pädagogischer Sicht zumindest für das Untersuchungsfeld dieser Arbeit nicht ausreichend genug zu sein, da in der Betrachtung des Kompetenzbegriffs deutlich wurde, dass die Debatte sehr stark von ökonomischen Verwertungsinteressen dominiert ist und letztlich für den Einzelnen eine Verschärfung der Auslesepraktiken resp. die Notwendigkeit einer stärkeren Profilierung des Einzelnen bedeutet. Aus pädagogischer Sicht erscheint eine solche Betrachtungsweise als unangemessen, da gerade für benachteiligte Jugendlichen Beruflichkeit oder Arbeitstätigkeit mehr und mehr als stabilisierende Momente der Persönlichkeitsentwicklung auszufallen drohen. Definitionsversuche solcher Art gehen grundsätzlich nicht von der Lebensrealität konkreter Subjekte aus und übergehen so vor allem die Gruppe benachteiligter Jugendlicher, die zwar einerseits angeleitet werden, sich ebenfalls an diesen Indikatoren zu messen, andererseits aber real nur sehr vereinzelt an ihnen beteiligt sind. Für die Analyse sozialpädagogischer Praxis im empirischen Teil hieße die Arbeit mit einem solchen Konstrukt, dass lediglich die Qualität der Arbeit im Hinblick auf die Entwicklung spezifischer Kompetenzen abgefragt werden könnte und damit der Beschreibung eine status quo in der Jugendsozialarbeit entsprechen würde. Dabei bleibt jedoch die Frage, welche Kompetenzen ausgebildet werden sollen, da dies den Ausführungen zufolge anscheinend von Tätigkeit zu Tätigkeit, bzw. von Arbeitgeber zu Arbeitgeber sehr speziell ausgeprägt ist und somit von den Professionellen im Feld oder den Jugendlichen kaum antizipiert werden kann. Weiterführend für das sozialpädagogische Handlungsfeld Jugendsozialarbeit könnte demgegenüber eine Analyse der pädagogischen Praxis in den Projekten aus der Sicht der Jugendlichen sein, die Aufschlüsse darüber zu geben in der Lage ist, ob Möglichkeiten und Freiräume geschaffen werden können, die zu einer 66 Kapitel 3 Bildung – Theoriefolie zur Analyse des empirischen Materials Auseinandersetzung mit der eigenen Person und Situation führen können und durch die weitere Handlungsoptionen für die Jugendlichen eröffnet werden können (vgl. Kap. 5.1). 3.3 Die Wissen und Gesellschaft Auseinandersetzung mit dem Verhältnis von Wissen, Bildung und Vergemeinschaftung, in dessen Rahmen Marotzki zum einen die seit Ende der 1990er Jahre populäre Bezeichnung „Wissensgesellschaft“ für die jüngere Gesellschaftsentwicklung näher ausführt und zum anderen vor diesem Hintergrund die Bedeutung von Wissen, Reflexion und Bildung expliziert, führt Marotzki zu der These, das vor dem Hintergrund seiner Erkenntnisse die Entfaltung einer bildungstheoretischen Perspektive für das Verstehen der Entwicklung von Selbst- und Weltbezügen der Menschen weiter bringt, als eine rein lerntheoretische Betrachtung (vgl. Marotzki 2004). Unter Rückgriff auf Stehr und de Hahn/Poltermann führt Marotzki aus, dass die Bedeutung wissenschaftlichen Wissens insgesamt sowohl für die Volkswirtschaft als auch für die Individuen zugenommen habe und – was im Zusammenhang mit dieser empirischen Untersuchung sehr bedeutsam ist – diese Bedeutung sich auch explizit im Bezug auf Arbeits- und Berufstätigkeit artikuliert: „Die heranwachsende Generation wächst in eine Gesellschaft hinein, in der Arbeit (im Sinne von Erwerbsarbeit) überwiegend nur noch auf hohem Qualifikationsniveau zu haben sein wird. Daß dieses enorme Folgen für Fragen der sozialen Struktur einer Gesellschaft haben wird und jetzt schon hat, liegt auf der Hand“ (ebd., 101). Besonders im Kontext von Jugendsozialarbeit und Benachteiligung spitzt sich diese Frage entsprechend zu: Nachdem gezeigt werden konnte, dass das Konzept von Schlüsselqualifikationen aufgrund seiner mangelhaften theoretischen Begründung und der Beliebigkeit der Definition von bestimmten Schlüsselqualifikationen eben nicht mehr ist als ein Konzept zur Ausbildung bestimmter Qualifikationen und auch der Kompetenzbegriff zwar schon weiterführender ist, aber auch hier von Seiten der Praxis der Jugendsozialarbeit kaum antizipiert werden kann, welche Kompetenzen ausgebildet werden sollen, stellt sich die Frage, wie das sozialpädagogische Praxisfeld der Jugendsozialarbeit als Teil von Jugendhilfe seinen Klienten Unterstützung und Hilfe zur Wissensbewältigung anbieten kann, wenn angenommen werden kann, dass die Fähigkeit zum Umgang mit Wissen und Information entscheidend zur Vergemeinschaftung beiträgt. Unter Berücksichtigung der Reflexionen von Mittelstrass führt Marotzki weiter aus, dass in modernen Gesellschaften die Kluft zwischen dem Verfügungswissen als dem Faktenwissen, durch das sich der Mensch die Dinge der Welt angeeignet, und dem Orientierungswissen als dem Wissen, durch 67 Kapitel 3 Bildung – Theoriefolie zur Analyse des empirischen Materials das der Mensch Orientierungen für sein alltägliches Handeln erlangt, in dem er ein reflektiertes Verhältnis zu seinen Wissensbeständen aufbaut, größer geworden ist. „Je reicher wir an Information und Wissen sind, desto ärmer scheinen wir an Orientierungskompetenz zu werden. Für diese Kompetenz stand einmal der Begriff der Bildung“ (Mittelstrass 2002 ,154 zit. nach Marotzki 2004, 102). Auch de Haan/Poltermann rekurrieren auf einen Begriff von Bildung, wenn sie Wissensgesellschaft konstruieren. Der Begriff Wissensgesellschaft steht für „eine Gesellschaft von Individuen, die auf der Basis ihnen verfügbarer Kenntnisse und Urteile bewusst und sinnhaft handeln können. Eine Wissensgesellschaft ist eine verständnisintensive Gesellschaft. Damit ist zugleich signalisiert, dass Wissen mehr impliziert, als die Fähigkeit zur Kommunikation, also des Austausches mit Anderen. Bewusst und sinnhaft handeln kann man nur auf der Basis reflektierter Auseinandersetzung mit Werten, Zielen und Visionen, die dem Handeln Orientierung bieten. Insofern ist das Wissenskonzept auch eng mit der Idee von Bildung verbunden. Bildung weist über Wissen hinaus, als sich mit ihr Selbstreflexivität verbindet“ (de Haan/Poltermann 2002, 10, Hervorhebungen i.O.). Diese Überlegungen haben mit dazu beigetragen, die Analyse und Beschreibung der sozialpädagogischen Praxisformen in der Jugendsozialarbeit vor einem bildungstheoretischen Hintergrund zu betreiben. 3.4 Informelles Lernen und informelle Bildung als konzeptionelle Entwürfe einer flexibilisierten (Aus-)Bildung Aktuelle Debatten zum Verständnis pädagogischer Praxis außerhalb von Schule vor dem Hintergrund lern- oder bildungstheoretischer Betrachtungsweisen verweisen auf die Unterscheidung zwischen formellen und informellen Lernen, resp. formeller und informeller Bildung. So erscheint es gerade auch für die Untersuchung der Frage des Spannungsverhältnisses von Jugendsozialarbeit und Bildung unumgänglich und aufgrund der weiteren Verbreitung dieses Systematisierungsversuches möglicherweise aussichtsreich, sich mit Begriffsbedeutungen, Forschungsdesideraten und disziplinären Bezügen des Konstruktes „informelles Lernen/informelle Bildung“ auseinander zu setzen. Diese Systematik hat bisher vor allem Widerhall im Bereich der Erwachsenen- und Weiterbildung in Bezug auf die stärkere Berücksichtigung des informellen Bereiches für die Qualifikation und Kompetenzentwicklung in berufspädagogischer Hinsicht erhalten, wobei die Forschungsaktivitäten zum Thema informelles Lernen in der Erwachsenenbildung als nicht existent erscheinen, so dass Kreimeyer (2004, 44) in ihrer Analyse zu informellen Lernen in der 68 Kapitel 3 Bildung – Theoriefolie zur Analyse des empirischen Materials Erwachsenenpädagogik von informellen Lernen als „ein abgedrängtes Thema in der Erwachsenenpädagogik“ spricht. „Das Lernen im Alltag, etwa am Arbeitsplatz, im Rahmen von Multimediaanwendungen oder im Internet, in familialer Kommunikation, das informelle Lernen in Museen oder mit Büchern und anderen Lernmaterialien oder über Expertenbefragungen findet auch in Deutschland Eingang in bildungspolitische Debatten. Anschließend an den ursprünglich in der Erwachsenenbildung angesiedelten Diskurs zum lebenslangen Lernen fordern politische Instanzen, wie die Europäische Kommission (1996), die Förderung von Schlüsselkompetenzen auch durch informelles Lernen, arbeiten an Zertifizierungsmodi für ‚informal und prior learning‘“ (Overwien 2004, 51). Darüber hinaus wird das Konzept informellen Lernen, bzw. informeller Bildung spätestens mit dem Erscheinen Veröffentlichung einer Streitschrift des Bundesjugendkuratoriums mit dem Titel „Zukunftsfähigkeit sichern! Für ein neues Verständnis von Bildung und Jugendhilfe“ (vgl. Münchmeier u.a. 2002, 159-173) auch in Debatten in der sozialpädagogischen Disziplin im Kontext der Frage nach dem Verhältnis von Jugendhilfe und Bildung diskutiert. Beide Ansätze könnten für die Diskussion von Jugendsozialarbeit in dieser Schnittstelle von Interesse sein. Die Begriffe formelle Bildung, non-formelle Bildung, informelle Bildung und inzidentelle Bildung stellen nach Sandhaas (1986) den Versuch dar, alle denkbaren, menschlichen Lernaktivitäten und -situationen in einem einheitlichen Schema zu kategorisieren und gehen auf eine von internationaler Organisationen wie UNESCO, UNICEF und Weltbank in den frühen 70er Jahren entwickelte Terminologie zurück. Sandhaas weist darauf hin, dass die Übersetzung der englischsprachigen Typologie in eine deutsche Bildungsterminologie problematisch ist, da in dem englischen Begriff „education“ die Konnotationen und Ideologiebestände des deutschen Bildungsbegriffs nicht enthalten sind. Da die Kategorisierung von Evans (1981) zurück geht auf die Veröffentlichung von Coombs/Ahmed (1974), „deren Erziehungsverständnis durch die Gleichsetzung von „education“ und „learning“ charakterisiert ist“ (Sandhaas 1986, 404) erscheint die Übersetzung von „education“ mit „lernen“ am angemessensten zu sein. Danach vollzieht sich die Unterscheidung der Bildungsformen zunächst über die Bedingungen und die Lokalisation von Lernen im schulischen und nicht - schulischen Leben. Darüber hinaus gelten als Unterscheidungskriterien für die außerschulische 69 Kapitel 3 Bildung – Theoriefolie zur Analyse des empirischen Materials Bildung die Form und Organisiertheit der Lernumgebung und die An- oder Abwesenheit einer Lernintention. Mit der Bezeichnung dieses Systems der internationalen Kategorisierung von Lernformen als „ein heuristisches Begriffsinventarium für drittweltorientierte Bildungsforscher und Bildungsplaner“ (ebd., 400), das auch der „Planung, Entwicklung und Evaluation von Lernprozessen vor allem im nicht - schulischen Bereich“ (ebd., 400) dient, verweist Sandhaas auf den ursprünglichen Anwendungsbezug dieser Systematik im Bereich der Entwicklung, Planung und Evaluation von Lernprozessen im nicht-schulischen Bereich der sog. Entwicklungsländer. Die Entstehung dieser Terminologie geht zurück auf die 1950er und 1960er Jahre, „als vormalige Kolonien ihre Unabhängigkeit erlangten und internationale und nationale Organisationen als Teil ihrer Entwicklungshilfe auch Bildungshilfe zu leisten begannen“ (ebd., 401). In dieser Zeit hat sich im Kontext internationaler Bildungsplanung eine Systematik entwickelt, die Lernaktivitäten außerhalb formaler Bildungsinstitutionen (non-formal learning) nach dem Verhältnis des Lernenden zum formalen Bildungssystem kategorisiert: „More accurately, the scheme classifies activities according to the relationship which the clients have or did have with formal schools. [...] The scheme is based on three general categories: complementary education, which rounds out the school curriculum; supplementary education, which adds on to schooling at a later time and place; and education which replaces schooling.“ (Evans 1981, 19). Diese von Evans in seinem Buch „The planning of nonformal education“ veröffentlichte Systematisierung von Lernen außerhalb von Schule macht deutlich, dass ein konstitutives Merkmal einer solchen Kategorisierung immer eine Ausrichtung an der Schule gewesen ist. Historisch interessant ist, dass in dieser Zeit einige internationale Studien über den Stand von Bildung von der UNESCO veröffentlicht wurden. So setzte sich der „Weltbildungsbericht“ von Coombs/Achmed 1969 unter dem Titel „The world educational crisis: A system analysis“ mit statistischer Daten zu formellen Bildungssystemen auseinander und stellte sie erstmals in dieser Form radikal in Frage. Der wenige Jahre später erschienene Bildungsbericht der FaureKommission (vgl. UNESCO 1972) proklamierte unter dem Titel „Learning to be“ zum einen, den Gedanken, dass Erziehung weder zeit- noch ortsgebunden sei und führte zum anderen das Prinzip des lebenslangen Lernens („lifelong learning“) in die internationalen Debatten ein, das zur Erweiterung des Erziehungs- und Lernverständnisses beigetragen hat. 70 Kapitel 3 Bildung – Theoriefolie zur Analyse des empirischen Materials In einer späteren Veröffentlichung von Coombs/Ahmed 1974 mit dem Titel „Attacking rural poverty - How nonformal education can help“ unterteilten die Verfasser „im Rahmen einer Untersuchung über Bildungsaktivitäten in überwiegend ländlichen Regionen jener ‚armen Länder‘“ (Sandhaas 1986, 402) das Bildungssystem erstmals in die drei Bereiche: formal, non-formal und informal education. Die Diskussion um den „Export“ formeller Bildungssystem in die Dritte Welt im Sinne einer „Bildungs-Entwicklungshilfe“ wurde durch die ideologiekritsche Analyse der zugrunde liegenden Interessen formaler Bildung durch Freire und Illich ausgeweitet. Im Rahmen der einsetzenden Entschulungsdebatte lieferten Illich und Freire 1973 mit dem Konzept der Netzwerke gegenseitigen Lernens die Grundlage für die Schaffung von neuen Voraussetzungen für ein verändertes Verständnis von Erziehung (vgl. Illich, 1973). An diese ursprüngliche Verwendung dieser Systematisierung knüpft auch Overwien (2000) an, der vor der begrifflichen Klärung der Bedeutung „informellen Lernens“ das Spezifische dieses Lernens anhand der Verwendung des Adjektives „informell“ zu verdeutlichen versucht und auf seine Verwendung im Bereich der sozialen Beziehungen („informelle Gruppen“) und im Kontext eines „informellen Wirtschaftssektors“ als einen nicht staatlich kontrollierten Wirtschaftsbereich in der Dritten Welt verweist. Eine dritte Dimension wird in Form der Verwendung als „informelles Lernen“ lediglich daneben gestellt (Overwien 2000, 138f; vgl. auch: Kirchhof/Kreimeyer 2003, 215). In einem frühen Definitionsversuch setzt Evans die Begriffe inzidentelles (beiläufiges), informelles, non-formelles und formelles Lernen folgendermaßen voneinander ab: “Incidental education – learning which takes place without either a conscious attempt to present on the part of the source or a conscious attempt to learn on the part of the learner. Informal education – learning results from situations where either the learner or the source of information has a conscious intent of promoting learning – but not both. Nonformal (out-of-school) education – any non-school learning where both the source and the learner have conscious intent to promote learning. Formal (school) education – which differs from nonformal education by its location within institutions calls schools, which are characterized by the use of age-graded classes of youth being taught a fixed curriculum by a cadre of certified teachers using standard pedagogical methods” (Evans 1981, 28, Hervorhebungen i.O.). Diese erste Begriffsbestimmung verdeutlicht, dass neben der Lokalisation und den verschiedenen Bedingungen von Lernen auch „Form und Grad der Organisiertheit der 71 Kapitel 3 Bildung – Theoriefolie zur Analyse des empirischen Materials Lernumgebung (des Environments) sowie Vorhandensein oder Nichtvorhandensein einer Lernintention bei dem Lernenden und/oder Lehrenden als Unterscheidungskriterien zwischen formeller, nicht-formeller, informeller und beiläufiger Bildung“ fungieren (Sandhaas 1986, 400). In einem Untersuchungsbericht unter dem Thema „Das informelle Lernen. Die internationale Erschließung einer bisher vernachlässigten Grundform menschlichen Lernens für das lebenslange Lernen aller“ im Auftrag des Bundesministeriums für Bildung und Forschung liefert Dohmen (2001) einen umfassenden Überblick über aktuelle Studien und internationale Forschungen zur formellen, non-formellen und informellen Bildung. Er schlägt vor, „auf die feinsinnigen und z.T. kontroversen Abgrenzungen zwischen einem „nicht-formalen“ und einem „informellen“ Lernen zu verzichten und sich auf eine undifferenzierte Zusammenfassung unter dem gemeinsamen Begriff des „informellen Lernens“ zu einigen“ (Dohmen 2001, 25), da der Begriff des non-formellen Lernens im Deutschen ohnehin nicht geläufig sei. So wird der Begriff des informellen Lernens „auf alles Selbstlernens bezogen, das sich in unmittelbaren Lebens- und Erfahrungszusammenhängen außerhalb des formalen Bildungssystems entwickelt“ (ebd.). Damit werden „die in der Praxis ohnehin schwierigen Abgrenzungen zwischen einem mehr oder weniger geplanten, mehr oder weniger beabsichtigten oder bewussten nicht institutionalisierten Lernen vernachlässigt“ (ebd.). Kirchhof/Kreimeyer weisen darauf hin, dass eine solche Logik, die in doppelter Hinsicht sowohl die ursprünglichen Implikationen einer subjektbezogenen Perspektive über die Lernintention ignoriert als auch die Subsumierung aller menschlichen Lernaktivitäten außerhalb von Schule in einer Art Substratkategorie zusammenfasst, einer näheren Betrachtung nicht standhält, da die formalen Bildungsinstitutionen neben ihrer wissensvermittelnden Funktion über den Unterricht auch einen wesentlichen „Lebens- und Erfahrungsbereich“ darstellen, der seinerseits auch „selbst ein Ort informeller Lernprozesse“ ist (Kirchof/Kreimeyer 2003, 217). Darüber hinaus blendet die Definition von Dohmen aus, dass menschliche Lernaktivitäten grundsätzlich subjektgebunden und damit letztlich ortsunspezifisch sind. Abgesehen von diesen Überlegungen erscheint die Plausibilität der Dohmen’schen Definition mehr als dürftig zu sein, da die Unbekanntheit eines Begriff wohl kaum als Begründung für seine faktische Abschaffung stehen kann. Durch die Bezeichnung allen Lernens, das außerhalb von Lehrplänen stattfindet, als eine Restkategorie, die dann informelles Lernen genannt wird, ist eine analytische Beschreibung der vielfältigen, intendierten und nicht-intendierten Lern- und Bildungsprozesse z.B. in der Jugend(verbands-)arbeit und Jugendbildungsarbeit, der Erwachsenenbildung, 72 Kapitel 3 Bildung – Theoriefolie zur Analyse des empirischen Materials Berufsbildung, in Familien, peer-groups etc. kaum noch möglich und gleichfalls die Bearbeitung der Frage nach der Relation und Vernetzung der unterschiedlichen Bildungsformen untereinander nicht mehr denkbar. Somit scheint die Unterteilung in formelles und informelles Lernen eher eine pragmatische, bildungspolitische Bezeichnung zu sein. Für eine Analyse persönlichkeitsbildender Prozesse beispielsweise in der Jugendhilfe ist jedoch Skepsis angebracht, ob diese begriffliche Bestimmung geeignet ist, neue Erkenntnisse über Bildungsprozesse zu bringen. Obgleich sich eine solche Verkürzung auch in anderen Definitionen im Bereich informellen Lernens in der beruflichen Weiterbildung als Distinktionsmerkmal finden lassen (vgl. Straka 2000), mehren sich die Versuche, den institutionellen Blick als Unterscheidungskriterium abzuschwächen und stattdessen eher die Richtung der Intention von Lernprozessen zu berücksichtigen (vgl. Laur-Ernst 1999, 2000) die in der Betonung des Lernangebotes auch international anschlussfähig ist (vgl. Livingstone 1999) 9 . Als erste Leitdifferenz für die Unterscheidung unterschiedlicher Lern- oder Bildungsformen können anstatt einer ausschließlichen Fixierung auf den Ort also eher die pädagogische Intention als An- oder Abwesenheit pädagogisch strukturierter Handlungszusammenhänge gelten, die dann im Falle ihrer Anwesenheit über den Ort in formelle und non-formelle Bildungsformen zu unterscheiden sind. Durch eine solche Definition wird deutlich, dass insbesondere die Formen informellen Lernens aufgrund der notwendigen intrinsischen Motivationslagen auf Seiten der Lernenden aufgrund der fehlenden pädagogischen Handlungszusammenhänge besonders voraussetzungsvoll sind (vgl. Kirchof/Kreimeyer 2003, 218). Dies führt zu weiteren Fragen, die sich auf die notwendigen Voraussetzungen im sozialen Umfeld, im Lernumfeld und in Bezug auf Zugangsmöglichkeiten zu Lernanlässen und relevanten Informationen beziehen, damit informelles Lernen überhaupt stattfinden kann. 3.4.1 Zum gesellschaftlichen Problem der informellen Bildung Meder (2002) erweitert die Debatte über informelles Lernen in Richtung informeller Bildung und kennzeichnet durch die Auseinandersetzung mit Lernen und Bildung die informelle Bildung als gesellschaftlichen Problembegriff. In seinen Ausführungen rekonstruiert Meder das Verhältnis formellen und informellen Lernens in Bezug auf die Geschichte der Schule als eine Institution, die aufgrund des 73 Kapitel 3 Bildung – Theoriefolie zur Analyse des empirischen Materials gesellschaftlichen Mangels, Lerninhalte in ausreichender Form zur Verfügung zu stellen, zunächst als institutionalisierte Form des Unterrichts entwickelt wurde. So ist das organisierte, formale Lernen nach Meder entstanden, da die Lebenswelt zu arm an Lernanlässen, Lernanreizen und natürlichen Problemlagen war, die als Anlass für die gewünschten Lernprozesse dienen konnten. Das organisierte Lernen in Form von Schulen bereicherte also die Welt der Lernanlässe um Dinge, die im alltäglichen Leben so nicht gelernt werden konnten. So kann formelles Lernen als eine Art Kompensation für mangelhafte Gelegenheiten informellen Lernens verstanden werden. Die aktuelle Diskussion verdeutlicht, dass sich dieses Kompensationsverhältnis umgedreht hat und informelles Lernen jetzt neu entdeckt wird im Kontext der Probleme der Schule. „Wenn in den Anfängen organisiertes Lernen als Kompensation informellen Lernens begriffen werden konnte, dann hat sich die gesellschaftliche Lage neuerdings so verändert, dass umgekehrt informelles Lernen als Kompensation organisierten Lernens verstanden werden muss“ (Meder 2002, 8), da die Lebenswelt komplexer geworden ist, als die organisierte Welt des Lernens und vielfältige Lernmöglichkeiten, Lernanlässe und Lernanreize bietet, die in dieser Form von Formen organisierten Lernens nicht geleistet werden können. Da ihm der Lernbegriff selbst in einer weiten Schneidung als Aneignung von sozialer und dinglicher Welt zu eng erscheint, um abzubilden, „dass auch und gerade im informellen Lernen permanent ein neues Verhältnis zur dinglichen Welt, zur sozialen Welt und zu sich selbst ausgebildet wird“ (ebd., 9) behandelt er die Debatte zum informellen Lernen als Bildungsproblem, wobei sich der Bildungsbegriff in seinem Verständnis von „neuhumanistisch normativ aufgeladene[n] Bildungsbegriffe[n]“ (ebd., 10) absetzt und nicht nur als normativer Begriff in pädagogischen Denktraditionen auffindbar ist. Meder fasst Bildung als einen Problembegriff, d.h. als einen gesellschaftliches Problem, wie Bildung möglich ist, und nicht als „normativ aufgeladene erzieherische Aufgabe“ (Meder 1998, 39). Er plädiert dafür, den Bildungsbegriff von jeglichen normativen Gehalten frei zu halten, „weil er nur so als kritisch deskriptiver Begriff zur Analyse von Unterschieden in seiner inhaltlichen Ausprägung Verwendung finden kann“ (ebd., 39). Meder unterscheidet somit zwischen der Beschreibung von Bildungsprozessen als Auseinandersetzung mit der Welt und der Bewertung der Art und Weise, wie Bildungsprozesse stattfinden, ohne das Ziel der möglichen Bildungsprozesse zu bewerten. „Bildung als Prozeß muß vor diesem Hintergrund als gesellschaftliches Problem formuliert werden – nicht als normativ aufgeladene erzieherische Aufgabe. Das 9 Zu weiteren Definitionen und Forschungszusammenhängen sh. auch Overwien 2000a,176187. 74 Kapitel 3 Bildung – Theoriefolie zur Analyse des empirischen Materials Problem, um das es geht, ist der Konflikt zwischen den Neuen und den Alteingesessenen um die Geltung einer möglichen gemeinsamen Welt. In diesem Widerstreit reflektiert sich die Gesellschaft in ihrem Verhältnis zur Welt. Der Ausgang dieses Widerstreits ist kontingent. Faßt man also den Bildungsprozeß als die Lösung dieses gesellschaftlichen Problems, dann rückt die Frage der Art und Weise der Lösung an zweiter Stelle. Bewertungen werden zu einem sekundären Problem bzw. erhalten eine abgetrennte Domäne“ (Meder 2000, 39). Der Begriff Reflexion, der in einem als trainierte Verhaltensveränderung verstandenen Lernbegriff nur hinderlich ist, erhält in dieser Konstruktion eine zentrale Bedeutung: „Bildungsprozesse sind stets zu begreifen als Veränderungsprozesse, die Lernen enthalten, in denen aber zugleich darum gestritten wird, was Welt und Gesellschaft ist und sein soll und wie sich der Einzelne in Welt und Gesellschaft verortet – kurz: Bildungsprozesse sind Prozesse der Geltungsbewährung und deshalb grundsätzlich Reflexionsprozesse.“ (Meder 2002, 11). In der Meder’schen Denkfigur bezeichnet (informelle)Bildung „jene Prozesse im Einzelnen, die drei Verhältnisse ausbilden, die ihrerseits noch einmal im Verhältnis stehen und sich somit wechselseitig beeinflussen. Diese Verhältnisse sind erstens das Verhältnis des Einzelnen zu den Sachverhalten und Dingen unserer Welt, zweitens das soziale Verhältnis des Einzelnen zur Gesellschaft sowie drittens das des Einzelnen zu sich selbst“ (ebd., 12). Da sich diese Verhältnisse wiederum wechselseitig bedingen, bilden sie ebenfalls ein Verhältnis aus, das sich zu einer Struktur zusammensetzt, was Meder dazu führt, den von ihm ausgeführten Bildungsbegriff als einen „strukturellen Bildungsbegriff“ zu bezeichnen (vgl. Meder 2000, 37). Mit seinen Ausführungen macht Meder darauf aufmerksam, dass die Debatte über informelle Bildung in dieser begrifflichen Interpretation weit mehr ist, als die Frage nach der Ausbildung unterschiedlicher Kompetenzen, die im Kontext von Erwerbsarbeit zur Anwendung gelangen können, wie dies in Bezug auf die Thematisierungsformen dieser Systematik in Bereichen der beruflichen Bildung und Weiterbildung ausgeführt wird. Vielmehr verknüpft Meder mit diesem Begriff auch gesellschaftstheoretische Fragen, die darauf zielen, wie unterschiedliche gesellschaftliche Akteure in welchen Feldern Möglichkeiten zur Aushandlung eines Verhältnisses zur sozialen, materialen und personalen Welt entdecken, wahrnehmen oder überhaupt zur Verfügung haben und welche Rolle dabei unterschiedliche Institutionen einnehmen. 75 Kapitel 3 Bildung – Theoriefolie zur Analyse des empirischen Materials 3.4.2 Informelle Bildung und Kinder- und Jugendhilfe In Bezug auf die Kinder- und Jugendhilfe werden seit einigen Jahren, ausgehend von einigen Erkenntnissen aus internationalen Schülerleistungsstudien, diesbezüglich intensive Debatten über die Frage von Bildung und Jugendhilfe allgemein und über das Verhältnis informeller und formeller Bildungsprozesse geführt. Dazu liegen mittlerweile eine Vielzahl von Veröffentlichungen vor, die aus unterschiedlichen Perspektiven diesen Gegenstand thematisieren (vgl. Beiträge in dem Band „Bildung und Lebenskompetenz. Kinder- Münchmeier/Otto/Rabe-Kleberg Otto/Rauschenbach 2004; und Jugendhilfe 2002; Otto/Coelen 2004; vor neuen Aufgaben“, Lindner/Thole/Weber 2003; Bundesjugendkuratorium 2004; Müller/Schmidt/Schulz 2005). Durch den Versuch, sämtliche menschlichen Lernprozesse in einem einheitlichen Schema zu klassifizieren und als Kriterien dafür die Lokalisation und Intention von Lernen auszuwählen, kann die Bedeutung informeller Lernprozesse herausgestellt werden, was wiederum als Legitimation gelesen werden kann, diese Lernprozesse intensiverer Forschung zu unterziehen. Im Kontext von Bildung kommt die Beschreibung dieser Kategorien jedoch nicht über die Formulierung eines bereits bekannten Sachverhaltes mit neuen Begrifflichkeiten heraus – für die Praxis von Bildungsinstitutionen könnte diese Unterscheidung allerdings dazu beitragen Anregungen zur Gestaltung von Bildungs- und Lernfeldern zu liefern und in den Bereichen der schulischen und außerschulischen Bildungsinstitutionen zu neuen Reflexionen des Bildungsbegriffes führen. „Darüber hinaus bietet der informelle Bereich wie z.B. Jugendarbeit die Chance, unabhängig von curricularen Vorgaben und orientiert an den ‚Erfahrungen, Interessen und Lebensentwürfen Heranwachsender‘ und in Form eines ‚sozialen Arrangements, in dem Jugendliche in ihrer Besonderheit und mit ihren Autonomiewünschen anerkannt werden‘ sozialen und individuellen Differenzen Rechnung zu tragen (vgl. Scherr 2002)“ (Cleppien/Kutscher 2004, 99). Eine weiterführende Analyse dieser Systematik haben mit Bezug auf die Frage von Bildung als Ermöglichung gesellschaftlicher Teilhabe (vgl. Liebau 2002) Kessl/Kutscher/Otto/Ziegler (2005) in einer Expertise zum 8. Kinder- und Jugendbericht des Landes Nordrhein-Westfalen vorgelegt, die insbesondere den sozialen Kontext von Bildungsprozessen berücksichtigt. Die Expertise zielt auf eine Rekonstruktion der Kinder- und Jugendhilfe als Bildungsfeld und beschreibt diese abschließend programmatisch als eine „sozialraumsensible Bildungsinstanz“, die als ein „Bildungsort im Gesamtraum der 76 Kapitel 3 Bildung – Theoriefolie zur Analyse des empirischen Materials Bildungsorte zu begreifen“ (vgl. Kessl u.a. 2005, 32, Hervorhebungen i.O.) und als solche auszubauen ist. Die Autoren gehen davon aus, dass im Kontext einer sich entwickelnden Wissensgesellschaft der Wissenserwerb und die Wissensanwendung nicht mehr ausreichend sind, um Kinder und Jugendliche zu einer selbstbestimmten Lebensgestaltung zu befähigen. Vielmehr müssten Bildungsprozesse heute „darauf ausgerichtet werden, Kindern und Jugendlichen Zugänge zu Informationsquellen und zum Erwerb von Kompetenzen der Informationsaufnahme, der Informationsverarbeitung und er Informationsbewertung (Medienkompetenz) bereit zu stellen“ (ebd., 17, Hervorhebungen i.O.). Das Konzept informellen Lernens erweist sich im Kontext des Ausgleichs von sozialen Benachteiligungen als ungeeignet, da es zwar die Grenzen des formalen Bildungssystems in Bezug auf dort kaum vermittelbare Schlüsselqualifikationen (vgl. Kap. 3.2.1) kompensieren kann, durch die Formulierung der Forderung nach Selbstbildung aber informelles Lernen als biographische Aufgabe an die Kinder und Jugendlichen gerichtet ist, wobei die ihnen dafür zur Verfügung stehenden Mittel zum Erwerb dieser Kompetenzen durch informelles Lernen nicht weiter berücksichtigt werden. „Solche Strategien der Verantwortlichkeitsverlagerung auf die einzelnen Akteure, d.h. eine Umcodierung von Bildung auf Selbstbildung, führt daher häufig dazu, dass in dieser Logik strukturell ungleiche Möglichkeiten und Fähigkeiten übersehen oder bewusst ignoriert werden und dem Einzelnen, unabhängig von den zur Verfügung stehenden Zugangsressourcen und Fähigkeiten, die Verantwortung für Wissenserwerb und Wissensanwendung übertragen wird“ (ebd., 18). Der Prozess der sozialen Ausgrenzung durch formelle Bildung wird somit durch die Forcierung informellen Lernens nicht aufgehoben – mehr noch: Durch eine Verlagerung von Prozessen der Wissensaneignung in den Privatbereich sehen Otto/Kutscher die Gefahr der weiteren Stabilisierung sozialer Ungleichheiten durch informelles Lernen. Wissensgesellschaft „Im wird Kontext diese der öffentlich Position prekär geführten insofern, Debatte dass hier um eine Subjektivierung von Bildungsprozessen, eine Verschiebung von Verantwortung für Bildung in die Sphäre des Einzelnen erfolgt, die unter der Perspektive sozialer Stratifizierung zur Perpetuierung sozialer Ungleichheiten führt“ (Otto/Kutscher 2004, 19f). Kessl et al. argumentieren im Anschluss an die Befunde der internationalen Schülerleistungsstudie PISA und der Grundschulstudie IGLU zum einen kapitaltheoretisch unter Berücksichtigung der Kapitaltheorie von Gary S. Becker, der eher marktökonomisch ausgerichtet Humankapital als Marktkapital begreift, und dem 77 Kapitel 3 Bildung – Theoriefolie zur Analyse des empirischen Materials kulturellen Kapital, das Bourdieu in seiner Sozialtheorie als schulisches und sozial ererbtes Kulturkapital entfaltet, und betrachten Wissen und Fähigkeiten als Kapital der Bildungsteilhabe (vgl. ebd. 20). Während Humankapital aufgrund bewusster Investitionsentscheidungen gebildet wird und „the knowledge, skills, competence and other attributes embodied in individuals that are relevant to economic activity“ (OECD 2000, zit. nach Kessl u.a. 2005, 20) umfasst, bezieht sich der Begriff des kulturellen Kapitals auf die Inkorporation von Wissen und Fähigkeiten in einem lebenslangen Prozess. Die Verfasser verweisen darauf, dass dieser Prozess in hohem Maße von der sozialen Herkunft, den Erfahrungen und der örtlichen Eingebundenheit der Kinder- und Jugendlichen geprägt sei und folgern daraus, dass nicht das Ausmaß der praktischen Beherrschung des sozial ererbten Kulturkapitals für den Schulerfolg oder für den Erwerb von Marktwissen maßgeblich sei, sondern „dessen ‚Abstand‘ zu den Logiken des formalen Bildungssystems“ (ebd., 21). Gegenüber dem personengebundenen kulturellen Kapital diskutieren die Autoren im Folgenden die Bedeutung des interpersonal eingebetteten sozialen Kapitals, das zunächst als Begriff für die aus sozialen Beziehungen und/oder deren Ableitungen entstehenden sozialen Unterstützungsleistungen gefasst wird, und im Folgenden in Anlehnung an Woolcock (1998, 2000) in die Bereiche Bindungs-, Brücken- und Verknüpfungsformen sozialen Kapitals differenziert wird. Während das bindende Sozialkapital von oftmals für den Wissenserwerb redundanten Beziehungen gekennzeichnet ist, jedoch ein hohes Maß an (sozialer) Anerkennung vermittelt, wird das Brückenkapital als eine zivilgesellschaftliche Form informellen Lernens charakterisiert, das sich aus der Mitgliedschaft in Vereinen oder Freiwilligenorganisationen ergibt. Dabei merken die Autoren jedoch kritisch an, dass Vereine und Initiativen wiederum in der Regel sozial segregiert sind, wie eine Studie von Newton (2001) belegt. Beide Formen informellen Lernens erscheinen so zunächst keinen nennenswerten innovativen Wissenserwerb zu ermöglichen. Die verbindende Dimension sozialen Kapitals scheint demgegenüber in Form von institutionellen Ausprägungen am ehesten in der Lage zu sein, „Individuen und Gruppen aus verschiedenen sozialen Schichten und verschiedener Herkunft“ (ebd. 27) zusammen führen zu können. Insofern gehen die Autoren davon aus, dass sowohl Bildung in formal organisierten Strukturen als auch Bildung im informellen Bereich der Familie und der Peers nicht hinreichend sind, um Kindern, Jugendlichen und jungen Erwachsenen weit reichende Teilhabechancen zu ermöglichen. Demgegenüber skizzieren sie die Kinder- und Jugendhilfe als ein institutionalisiertes System nonformaler Bildung, die eine organisierte Form der Bildung darstellt und sich zielgerichtet an eine identifizierbare Gruppe von Nutzern richtet. 78 Kapitel 3 Bildung – Theoriefolie zur Analyse des empirischen Materials Die Autoren der Expertise sehen in Abgrenzung zu der bereits ausgeführten Bestimmung des Verhältnisses zwischen formaler und non-formaler Bildung bei Evans (1981) in der Kinder- und Jugendhilfe einen eigenständigen, „bedeutsamen Ort der Selbstbildung und –organisation in Gruppen von Gleichaltrigen, der politischen und kulturellen Bildung sowie der Persönlichkeitsentwicklung insgesamt. Diese Eigenständigkeit ermöglicht es, nonformale Bildung gegenüber informellen Bildungsprozessen zu öffnen und damit die verschiedenen Habitusdispositionen ernst zu nehmen, ohne die sozialen Ungleichheiten, die sich aus diesen Differenzen speisen, ‚blind’ zu reifizieren [...]. Ein solcher Zugang erfordert es, an informell Bestehendem anzusetzen“ (Kessl et al. 2005, 31). In der Reflexion und kritischen Analyse sozialer Ausschließungslogiken liegt demnach die Bildungschance einer sich als non-formale Bildungsinstitution verstehenden Kinder- und Jugendhilfe, aus der heraus „die Teilhabemöglichkeiten ihrer Nutzer im Sinne dieser substanziellen Freiheiten erhöh[t]“ werden können (ebd., 32). Im Kontext der Auseinandersetzung mit Formen des Lernens unter informellen Bedingungen greifen Krüger/Grunert unter Rückbezug auf DuBois-Reymond die Bedeutung des sozialen Kontextes auf: „Lernen in der Freizeit erweist sich also vor allem aufgrund seines selbstgesteuerten und informellen Charakters als different zum schulischen Lernen [...]. Wie deutlich wurde, sind für die Jugendlichen vor allem die Kontakte zu Gleichaltrigen von zentraler Bedeutung. Lernen in der Freizeit bedeutet deshalb auch meistens Lernen von und mit Gleichaltrigen. [...] Informelles Lernen unter und mit Peers bringt dabei spezifische Lernleistungen hervor, wie gegenseitige Anregungen durch kritische Rückmeldungen [...], die in der heutigen Gesellschaft zunehmend wichtiger werden“ (Krüger/Grunert 2002, 506f). Damit wird die Bedeutung des sozialen Umfelds thematisiert, die sich im Sinne der strukturalen Bildungstheorie zur Frage der Ermöglichung, bzw. Anregung von Bildungsprozessen erweitern lässt. Gleichzeitig relativieren sich dadurch auch die hohen Erwartungen an Felder informellen Lernens und lebenslangen Lernens im informellen Kontext zumindest insofern, als es dass es auf die Kontextbedingungen des informellen Lernens ankommt. Damit wird klar, dass ein in der allgemeinen Wahrnehmung negativer Kontext auch die Potentialität für informelle Lernprozesse zulässt, die in der allgemeinen Wahrnehmung auf Ablehnung stoßen (in bestimmten Milieus werden eben in der Regel keine allgemein anerkannten Sekundärtugenden wie Ruhe, Pünktlichkeit und Verlässlichkeit gelernt, sondern eher rhetorische Fähigkeiten zur Verschleierung von problematischen Handlungspraktiken oder allgemeine Kenntnisse der Beschaffung von materiellen Ressourcen auf legalen, halblegalen und illegalen 79 Kapitel 3 Bildung – Theoriefolie zur Analyse des empirischen Materials Wegen). Diese Möglichkeit wird in den Gruppendiskussionen an verschiedenen Stellen von den Jugendlichen immer wieder thematisiert (vgl. Gruppendiskussion Boden, Textsequenz 3: Versager, S. 223; Gruppendiskussion Feld, Textsequenz 3: Familie als Lernfeld, S. 269; Gruppendiskussion Meer, Textsequenz 3: Selber denken, S. 332). Unter Rückgriff auf diese Überlegungen geht diese Arbeit insgesamt von der These aus, dass Jugendsozialarbeit aufgrund ihrer Verfasstheit einen pädagogischen Handlungsraum darstellen kann, der über den Ansatz von Kessl u.a. hinaus reicht und dort Bildung im Sinne formellen, non-formellen und informellen Lernens stattfindet und sucht über die Adressaten nach einem Feldzugang, um analysieren zu können, welcher Art Bildungsprozesse in den Feldern der Jugendsozialarbeit überhaupt sind, welche Qualität diese Bildungsprozesse haben und ob sie im Sinne der vorangegangenen Ausführungen Querverbindungen zu den einzelnen Kategorien ermöglichen. Um darüber Aussagen treffen zu können, ist es also nicht nur elementar wichtig, Bildungsprozesse in den unterschiedlichen Kategorien zu identifizieren, sondern darüber hinausgehend ein bildungstheoretisches Konstrukt zu explizieren, das die Vielfältigkeit von Lernen aufgreift und es ermöglicht, den Bildungsbegriff zu operationalisieren. So erscheint es also zunächst nötig zu sein, den Bildungsbegriff in gebotener Kürze zu skizzieren, um im Folgenden die Operationalisierungsrichtung des Bildungsbegriffs für den empirischen Teil dieser Arbeit darzulegen. 3.5 Stichworte zur Rekonstruktion des Bildungsbegriffs 3.5.1 Thematisisierung des Bildungsbegriffs in der Jugendsozialarbeit In der Jugendsozialarbeit wurde der Bildungsbegriff bisher kaum diskutiert (vgl. Fülbier/Münchmeier 2001, Enggruber 2003), obgleich aus bildungspolitischer Perspektive die Bedeutung der Jugendsozialarbeit bereits in den Entstehungsjahren der Jugendsozialarbeit im Kontext des Bildungssystems thematisiert wird: „Aus all dem ergibt sich, daß die praktische Jugendsozialarbeit nicht nur einen zeitlich begrenzten Auftrag hat, aktuelle Notstände zu beseitigen, sondern daß sie berufen ist, in unserem Erziehungs- und Bildungswesen einen legitimen Platz neben anderen Erziehungsträgern, wie Elternhaus und Kirche, schulischer und betrieblicher Ausbildung einzunehmen“ (Gehring 1959, 415). 80 Kapitel 3 Bildung – Theoriefolie zur Analyse des empirischen Materials Diese Dethematisierung von Bildung weist neben der gering ausgeprägten theoretischen Fundierung von Jugendsozialarbeit in ihren historischen Bezügen zur Jugendarbeit (vgl. Hermanns 2001, Münchmeier 2001, Breuer 2001), auch auf die starke Ausdifferenzierung der Jugendberufshilfe mit Einsetzen der anhaltenden Arbeitsmarktskrise seit Mitte der 1970er Jahre und ihrer damit verbunden Orientierung an der inneren Logik der Strukturen des ersten Arbeitsmarktes hin (vgl. Galuske 2001, 889, von Bothmer 1996). Bildung im Begriffsverständnis eines offenen Prozesses, der nur angeregt und unterstützt werden kann, dessen Ziel aber offen und unplanbar bleibt und insofern nicht durch Leistungsüberprüfungen nachvollziehbar wird und auch keine direkt messbaren Erfolge zur Erreichung aktueller sozial- und jugendpolitischer Ziele der Jugendsozialarbeit hervor zu bringen vermag (z.B. Vermittlungszahlen in Arbeit, Rückgang von Straftatsdelikten etc.), wird nicht diskutiert. So provoziert die aktuelle arbeitsmarkt- und sozialpolitische Debatte insbesondere durch die vier Gesetze für moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt im Kontext eines Bildungsbegriffs, der über den konkreten Verwertungsgedanken hinausgeht (vgl. Otto u.a. 2002), die Frage, „ob überhaupt noch Ressourcen für Bildungsprozesse im kritischen Sinne bleiben“ (Enggruber 2003, 373). Ein Anliegen dieser Dissertation ist es, die so beschriebene Forschungslücke zu füllen und mit einer durch Methoden der qualitativen Bildungs- und Sozialforschung fundierten Analyse Jugendsozialarbeit als Bildungschance für benachteiligte Jugendliche im Sinne einer kritischen Bildungstheorie zu beschreiben, bzw. zu konstruieren. 3.5.2 Thematisierungsformen von Bildung Die Fragen danach, was Bildung ist, wie sie bestimmt werden kann oder gar ob und wie Bildung gestaltet werden kann, bzw. ermöglicht oder behindert werden kann, beschäftigen seit langen Jahren die pädagogische Disziplin und Profession (vgl. z.B. Tenorth 1997, 975). Eine empirische Analyse, die Bildung im Kontext von individueller Ausbildung von Subjektivität einer Person positioniert, durch die Orientierung in und Auseinandersetzung des Einzelnen mit einer sich verändernden Welt gewährleistet und ermöglicht wird, gerät aufgrund der Komplexität und begrifflichen Unbestimmtheit sowie der konkurrierenden begrifflichen Bestimmungsversuche von Bildung zu einem schwierigen Unterfangen. Ermutigt durch eine einigermaßen „respektlose“ Verwendung des Begriffs „Bildung“, wie sie Ruhloff in einem Vortrag unter dem Titel „Ist Bildung noch aktuell?“ 2002 vorschlägt – nämlich nicht als „heiliger Begriff“, der klar umrissen sei und unter dem ganz bestimmte Phänomene zu verstehen seien, sondern als einen Begriff der sich 81 Kapitel 3 Bildung – Theoriefolie zur Analyse des empirischen Materials durch seine Verwendung in der sozialen Wirklichkeit wandele und vielen normativen Vorstellungen nicht mehr gerecht werde (vgl. Ruhloff 2002, 2) – begegnet man in der Beschäftigung mit bildungstheoretischen Diskussionen relativ schnell Warnungen, aufgrund der normativen Aufgeladenheit des Begriffes und seiner langen Tradition bildungstheoretischer Diskurse „lieber die Finger von diesem Begriff“ zu lassen und Wächtern, die sich – so Bock (2004, 90) „vor allem in der philosophisch orientierten Erziehungswissenschaft und der allgemeinen Didaktik“ finden lassen. So formuliert Vogel (2004) die Nebenwirkungen oder impliziten Differenzen, die man sich mit dem Begriff „Bildung“ einkaufe, und verweist darauf, dass Bildung immer auf „HöherBildung“ ausgerichtet und normativ aufgeladen sei und soziale Differenz impliziere. Darüber hinaus könne das, was unter Formulierungen wie „informelle Bildung“ beschrieben werde, eher in der „üblichen Theoriesprache“ als „Sozialisation“ bezeichnet werden (ebd. 37) und außerdem ohnehin deshalb nicht als Bildungsprozess beschrieben werden, da ein ungeplanter Bildungsprozess dem normativen Gerüst widerspreche. Demgegenüber vertritt Peukert (2000, 509) in seinen Reflexionen über Bildung die These, „daß die Erziehungswissenschaft sich bei ihrem Begriff von Bildung nicht mit einer historischen Rekonstruktion begnügen kann, sondern daß sie die Aufgabe hat, diesen Begriff neu zu bestimmen, und zwar aus einer interdisziplinären Analyse der geschichtlich-gesellschaftlichen Situation, ihrer bestimmten inneren Tendenzen und der Lage der einzelnen in ihr.“ In Bezug auf die gesellschaftliche Bedeutung einer „pädagogischen Bildung“ konstruiert Peukert Bildung als reflektierende Urteilskraft, „um dadurch zu einer Verfaßtheit der Gesellschaft zu kommen, die allen Lebensmöglichkeiten eröffnet“ (ebd., 522). Diese Frage scheint besonders in Bezug auf die in dieser Arbeit untersuchte Zielgruppe, die aufgrund unterschiedlicher Prozesse von Exklusion und Ausgrenzung bedroht sind, weiterführend zu sein. Resümierend stellt Bock (2004, 93) fest, dass „die wohl schwierigsten Fragen im Kontext des öffentlichen wie wissenschaftlichen Bildungsdiskurses [...] die Fragen nach der Bestimmung des Bildungsbegriffes selbst [sind], d.h. was ist überhaupt ‚Bildung‘? Und was beschreibt man mit dem Begriff der Bildung – sofern er sich charakterisieren lässt?“ Nach Tenorth (1997) weisen die Thematisierungsformen von Bildung darauf hin, dass Bildung kein ausschließlich erziehungswissenschaftlicher oder pädagogischer Begriff ist, sondern in zahllosen Disziplinen verwendet wird und als eine Art „multidisziplinäre Substratkategorie“ (ebd., 975) unterschiedlichste Forschungen provoziert. Als eine Art Zwischenergebnis seiner Überlegungen führt er aus, dass die Verwendungsweisen des Begriffes Bildung allerdings auf ein gemeinsames Thema 82 Kapitel 3 Bildung – Theoriefolie zur Analyse des empirischen Materials hinweisen, das seit den bildungstheoretischen Überlegungen von Humboldt die Diskurse um Bildung durchzieht: „Als Grenzziehung nach außen kann man neben dem Allbegriff, also der Vielfalt, einen Inbegriff von Bildung, eher: einen Minimalbegriff erkennen, mit dem sich für die Vielfalt der Diskurse wenn auch nicht systematische Ordnung stiften, so doch eine Grenze ziehen läßt. Das Thema bleibt nach wie vor anscheinend das, was Wilhelm von Humboldt interessierte, die Subjekt-Welt-Relation also; die Form der Thematisierung nimmt auf, was ein derart breites Thema verlangt, also die Gesamtheit der Forschungsmöglichkeiten, die sich mit der Relation von Mensch und Welt verbinden lässt.“ (975) Bildung dient demnach zur begrifflichen Definition des Prozesses der Ausbildung eines individuellen Verhältnisses zwischen dem Subjekt (also der Personen) und der Welt. In der Auseinandersetzung mit der Frage, ob die Bildungsforschung in der Lage sei, etwas kategorial Neues in der Bildungstheorie zu entwickeln, bestimmt Ruhloff (1998, 413) den Bildungsbegriff allgemein als „‘Veränderung oder Entwicklung des Menschen aufgrund Sozialisation, Lernen und Erfahrungsverarbeitung‘, sei es innerhalb oder außerhalb der dafür vorgesehenen Institutionen.“ Für Bernhard (1997) ist mit Bildung, im Gegensatz zum Begriff der Erziehung, der ähnlich wie Bildung auf Dimensionen menschlicher Subjektwerdung rekurriert, „die Entstehung von Bewußtsein verknüpft“ (ebd., 65). Bildung geht unter anderem aus der Erziehung hervor (und bleibt mit ihr eng verknüpft), bezieht sich aber auf die kognitive Aneignung von Welt und die Veränderung von Bewusstsein. Dadurch versetzt Bildung die Subjekte in die Lage, ihre Rollen, Funktionen und Perspektiven innerhalb der Gesellschaft selbst zu bestimmen (vgl. 65) und wird damit zu einer bedeutungsvollen Triebfeder von pädagogischer Arbeit in einem Verständnis von Reflexivität der Lebensführung. Während unser Bild von der Welt in den frühen Phasen der Subjektentwicklung weitgehend fixiert bleibt auf den vorgegebenen Rahmen alltäglicher Abläufe, durchstößt der Bildungsprozess diese Fixierung indem er uns mit den Kultur- und Wissensbeständen der menschlichen Gesellschaft konfrontiert“ (ebd., 65). Der Auffassung der traditionellen Erziehungslehre, die Erziehung und Bildung nach Gegenstand und Absicht (Netzer 1966, 16 zit. nach Bernhard 1997, 66) unterscheidet, hält Bernhard entgegen, dass sich Bildung nicht nur auf den Schulbereich als Bildungsraum beschränken lässt, sondern in unterschiedlichsten, nicht didaktisch näher bestimmten Bildungsfeldern lokalisiert. 83 Kapitel 3 Bildung – Theoriefolie zur Analyse des empirischen Materials In seiner theoretischen Bedeutung konstruiert Tenorth (1997) den Begriff Bildung u.a. als ein Grundbegriff in der Erziehungswissenschaft und führt als ein prominentes Beispiel dafür das theoretische Gerüst von Benner an, das mit einer Theorie der Bildung, einer Theorie der Erziehung und einer Theorie der Institutionen (vgl. ebd., 979) drei Thematisierungsweisen von Bildung verbinde und dadurch „den Anschluß an Forschungen über das Subjekt und an gesellschaftstheoretische Überlegungen“ eröffnet (ebd.). Dadurch unterscheide sich die Theorie von Benner von den „Totalitätsansprüchen kritischer Bildungstheorie“ (ebd.). Insgesamt erscheint der Begriff Bildung auf Grund seiner Unbestimmtheit und Offenheit als höchst problematisch - Garz/Blömer (2002, 442) bezeichnen ihn in einem Aufsatz zu qualitativer Bildungsforschung unter Rückgriff auf die Ausführungen von Tenorth als „umbrella-term“, da sich „viele Lesarten, Deutungen und auch sich widersprechende Definitionen [...] unter seiner Obhut finden und individuell oder je nach paradimgatischer Zugehörigkeit gestalten [lassen]“ (ebd.). Eine ähnliche Bezeichnung findet sich auch bei Lenzen (1997), der sich im mit der Frage auseinander setzt, ob der Bildungsbegriff durch Konzepte der Selbstorganisation - bzw. als funktional äquivalente Begriffe - der Autopoesis und der Emergenz abgelöst werde, da diese als empirisch gehaltvoller und damit theoretisch angemessener erscheinen, als der klassische deutsche Bildungsbegriff. Bildung wirke zunächst „unterdeterminiert“, da der Begriff als „deutsches Container-Wort“ (ebd., 949) wie ein pädagogisches „catch-word“ zu verstehen sei, das „in seiner mehr als 200jährigen Geschichte eine breite Palette von semantischen Konnotationen in sich aufgenommen und hervorgebracht“ habe (ebd.). Lässt man indes diese historisch-semantischen Konnotationen außer acht, erscheint der Begriff im Grunde aber überdeterminiert, da er mit unterschiedlichsten Inhalten gefüllt ist (vgl. ebd., 951). Im Folgenden kennzeichnet Lenzen vier Dimensionen des Bildungsbegriffs, die er als individuellen Bestand von Wissen und Kompetenz, individuelles Vermögen im Sinne von Fähigkeiten und Vermögen, individueller Prozess im Sinne des Konzeptes von Selbstbildung und individuelle Selbstüberschreitung und Höherbildung einer Gattung als Selbstverwirklichung oder Überwindung, resp. Weiterentwicklung des eigenen status quo bezeichnet. In der Dimension von Bildung als individueller Bestand von Wissen oder Kompetenz, das den meisten Bildungsbegriffen zu eigen ist, entsteht das Problem der Selektion von Bildungsinhalten. Lenzen weist diesbezüglich auf eine deutsche Begriffslücke hin: Es gibt kein Substantiv, das den Menschen bezeichnet, der sich bildet. Aufgrund der Analogie dieser Leerstelle im Konzept von Selbstorganisation und Autopoesis schlägt Lenzen vor, mit Luhmann an dieser Stelle die Worte Mensch, Individuum oder 84 Kapitel 3 Bildung – Theoriefolie zur Analyse des empirischen Materials Person zu verwenden, wodurch allerdings impliziert wird, dass es im Grunde nur Bildung gibt – und keine Handlungen, die nicht als Bildung bezeichnet werden können: „In der Terminologie von Bildung als Bestand hieße das: Es gibt keine Bildungsbestände, sondern nur Bildungsprozesse, solange der Organismus lebt“ (ebd., 952). Um den Bildungsbegriff von dem Konzept der Selbstorganisation, Autopoeisis und Emergenz abzugrenzen müsste es jedoch gelingen, zwischen einem Menschen bei irgendeiner beliebigen Tätigkeit und einem Menschen in einem Bildungsprozess zu unterscheiden. Das Problem der Selektion von Bildungsinhalten löst sich dadurch auf, dass letztlich nur das Individuum selegiert und Indoktrination nur dadurch entstehen kann, dass dem Individuum Inhalte vorenthalten werden. Die Dimension von Bildung als individuellem Vermögen, im Sinne von Fähigkeit oder Kompetenz, versucht, durch formale oder funktionale Bildungskonzeptionen einen Ausweg aufzuzeigen, indem sie Bildung als einen Zustand begreift, den das Individuum erreichen kann. Damit wäre jedoch das Erreichen dieses Zustandes (z.B. Reife) auch das Ende von Bildung, auf den Bildung zustrebt. In der Vorstellung des lebenslangen Lernens wird zwar die Starre dieser Perspektive aufgelockert, damit jedoch auch der Prozess ad infinitum geführt: Der Zustand kann immer nur annäherungsweise erreicht werden. Die daraus folgende schwerwiegende Konsequenz dieses Bildungsdenkens ist nach Lenzen die Degenration des Menschen zu einer „Trivialmaschine“ (ebd., 953), da der Mensch in der Konzeption von Bildung als eine Art Regelkreismodell nie den Reifezustand erreichen kann, sondern sich ihm immer nur annähern kann. In der Dimension von Bildung als einen individuellen Prozess sieht Lenzen eine Nähe zum Konzept der Bildung als Selbstbildung, die dem Begriff der Autopoiesis sehr nahe kommt, und die von einer inneren Logik des Bildungsprozesses (=individuelle Anlagen) ausgeht. Ein individueller Bildungstrieb wird zu einem humanen Apriori der grundsätzlichen Bildsamkeit des Menschen. Hier wird allgemein „der Bildungsprozeß konzipiert als ein Vorgang, der aufgrund innerer Regeln des Individuums und äußerer Determination durch das Individuum als Handlungssubjekt vollzogen wird“ (Lenzen 1997, 954). Bildung als individuelle Selbstüberschreitung und Höherbildung der Gattung bezeichnet das Konzept, durch Bildung den eigenen status quo zu überwinden, ohne jeweils einen höheren Status „im Sinne einer Statik“ (ebd., 954) zu erreichen. Unter Rückgriff auf Benner (1987) bezeichnet Lenzen das Phänomen als eine „pädagogische Grundparadoxie“, da das Selbst seinen Möglichkeiten nach immer schon da ist und zugleich nicht. „Selbstverwirklichung steht semantisch und substantiell in der Nähe von Selbsttätigkeit und Selbstbestimmung, unterstellt also Freiheitsgrade und die 85 Kapitel 3 Bildung – Theoriefolie zur Analyse des empirischen Materials Unmöglichkeit einer reinen bildenden Fremdtätigkeit, und sie eröffnet in dieser Struktur gerade die eingangs zitierte Unbestimmtheit, die den Protagonisten des Begriffs keineswegs immer verborgen geblieben ist“ (ebd., 955). So scheint Bildung, die auf die Entwicklung der Persönlichkeit gerichtet ist, immer nur graduell möglich zu sein, da diese - in welcher Form auch immer – immer schon vorhanden ist. In diesem Zusammenhang ist ein Zitat von Gadamer (1970) interessant, in der er implizit auf die Dimensionen von Muße und freier Zeit als zwei Bedingungsfaktoren von Bildung hinweist: „’Bildung’ ist ein Wort, dessen organische Herkunft wir nie ganz aus dem Ohr lassen sollten. Bildung ist etwas, was man nicht machen kann und was man nicht wollen kann. ‚Bildungsziele’ gehören zu dem schlechtesten Jargon der Pädagogik. Bildung ist etwas, was wachsen muß, Zeit braucht und am Ende keinen rechten überzeugenden Ausweis zu haben scheint“ (Gadamer 1970, 24). Bildung als Bildung der Person, des Selbst bezieht auch die Frage nach Geltung mit ein, wenn sie, wie Sting (2002, 380) herausstellt, auf „eine Verbindung der konkreten Individualität mit gesellschaftlichen und allgemein-universellen Bestimmungen“ zielt. In der Lebenslauf-Perspektive als temporäre Dimension von Bildung wird sie als ein kontinuierlicher, dynamischer, prinzipiell nicht abschließbarer (vgl. Langewand 1994) Bildungsprozess verstanden. Zwei wesentliche Bestimmungsmerkmale des Bildungsbegriffs und des Verständnisses von Bildung sind damit bereits deutlich geworden: Bildung kann sowohl das Ziel in Form einer „abschließenden Gestalt“ einer individuellen WeltUmwelt-Beziehung bezeichnen, als auch den Prozess („Entwicklungsgang“), der zu diesem Status führt (vgl. Langewand 1994, 69). 3.5.3 Historische Rekonstruktion des Bildungsbegriffs Ausgehend von einer etymologischen Bestimmung des Bildungsbegriffs expliziert Langewand (1994), dass der Bildungsbegriff im 18. Jahrhundert seine Bedeutung in Bezug auf die „innere Gestalt“ des Menschen entfaltet, während er anfänglich vor allem auf die „äußere Gestalt“ bezogen war und zunächst die Bedeutungen „Nachahmung“, „Bildnis“ oder „Nachbildung“ umfasste, die dann um den Gestalt-, bzw. den Gestaltungsbegriff erweitert wurden. Der christliche Hintergrund dieser Auffassung besteht vor allem in der sog. „Imago-Dei-Lehre“ (Gottesebenbildlichkeit), die eine potenzielle Wandlung des Menschen zur „Imago Dei“ annahm und in einer „anthropologisch optimistischen“ (Langewand 1994, 71) Lesart allgemeiner als 86 Kapitel 3 Bildung – Theoriefolie zur Analyse des empirischen Materials ‚Wandlungsfähigkeit des Menschen’ bezeichnet werden könne, die nach Langewand die Basis für die Metaphysik von Leibniz bildet und dadurch eine herausragende Bedeutung für die neuhumanistische Bildungstheorie des späten 18. und frühen 19. Jahrhunderts erlangt. In seiner historischen Herleitung expliziert Bernhard (1997), dass der Bildungsbegriff erst im Zuge der gesellschaftlichen Arbeitsteilung zum Thema von größerem gesellschaftlichen „gemeinschaftlichen und politischen Arbeit von Interesse Menschen wird, Bildung wenngleich als in der grundlegende Gestaltungskraft“ (ebd., 63) stets schon enthalten ist, da die Arbeit, „als eine tätige Umwandlung von Natur und Naturstoffen kein instinktgesteuerter Handlungsablauf, sondern eine bewußte gesellschaftliche Tätigkeit ist“ (ebd., Hervorhebung i.O.), durch die sich das „Bewusstsein“ entwickelt. Im Übergang von der feudalistischen in die bürgerliche Gesellschaft verändert sich die Rolle des Subjekts, das seither „zum alleinigen Motor seiner Geschichte, zum Beweggrund seiner Aktivitäten, zur verursachenden Initiative seiner Handlungen“ (ebd., 64) geworden ist. Bernhard betont die sich dadurch letztlich entwickelnde politische und subjektive Bedeutung von Bildung: „Einerseits ist Bildung die Vorbereitung auf das berufliche Leben in einer neuen, von Verwertungs- und Konkurrenzzwängen durchdrungenen Gesellschaft, andererseits wird sie zur Voraussetzung, sich dem gesellschaftlichen Verfügungsdruck zu entziehen, indem sie auf „Selbstbewußtwerdung“, „eigenständige Handlungsfähigkeit“ und „Selbstermächtigung“ orientiert“ ist (ebd., 64). Dieser Doppelcharakter von Bildung und der eindeutige Bezug von Bildung auf die tätige Arbeit findet eine interessante Entsprechung in dem sozialpädagogischen Feld der Jugendsozialarbeit resp. der Jugendberufshilfe, die vom Auftrag her verschiedene Perspektiven von Bildung in einem Feld vereinen soll. Während in reinen berufsbezogenen Bildungsinstitutionen der gesellschaftliche Auftrag eindeutig in der Vermittlung und Aneignung von berufspraktischen und theoretisch relevanten Inhalten liegt, geht es in der Jugendsozialarbeit im Hinblick auf Bildung um eine Balance zwischen den Interessen zur Ermöglichung gesellschaftlicher Teilhabe und Teilnahme über die Qualifizierung zur Arbeit, gleichzeitig aber auch um das Erkennen gesellschaftlicher Strukturen von Inklusion und Exklusion über die Bereitstellung von Möglichkeiten zur Teilhabe und Teilnahme an Erwerbsarbeit, um diesen Inklusionsmechanismen Alternativen entgegen setzen zu können. Bernhard führt weiter aus, dass in der weiteren Entwicklung Bildung stärker auf seine Funktion als Qualifizierung reduziert wurde und dadurch zu einem Mittel der Selektion und der Allokation der Heranwachsenden wurde. 87 Kapitel 3 Bildung – Theoriefolie zur Analyse des empirischen Materials Die Systematisierung des Bildungsgeschehens in allgemeine und „spezielle“ Bildung geht auf das neuhumanistische Bildungsverständnis und damit das Werk Wilhelm von Humboldts zurück, das als eine zentrale Grundlage der pädagogischen Bildungstheorie gilt. Humboldt eliminiert die Lehre eines Schöpfergottes und verweist auf die individuelle Aufgabe der „Bildung des Menschen“. Das sachliche Bildungsproblem bei Humboldt liegt nach Langewand (1994) in der Frage der Verträglichkeit zwischen dem autonomen Selbstbezug des Menschen und der heteronomen Fremdbestimmung der Welt. Humboldt vollzieht an dieser Stelle eine Analogie der benötigten Bildungsinhalte zur Moraltheorie Kants: Die Bildungsinhalte müssen „allgemeine Geltung beanspruchen können“ (ebd., 77). Die von Humboldt beschriebene Unterscheidung von allgemeiner Bildung, durch die „der Mensch selbst gestärkt, geläutert und geregelt“ werden soll (Humboldt 1982, 188, zit. nach Langewand 1994, 78) und spezieller Bildung, die Fertigkeiten zur reinen Anwendung vermittelt, reicht bis in unser heutiges Bildungsverständnis hinein. Als zentrales Dokument der neuhumanistischen Bildungstheorie gilt der 1809 entwickelte Königsberger und Litauische Schulplan, in dem Humboldt die Unterscheidung zwischen allgemeiner und spezieller Bildung einführt. „Was das Bedürfnis des Lebens oder eines einzelnen seiner Gewerbe erheischt, muss abgesondert, und nach vollendetem allgemeinem Unterricht erworben werden. Wird beides vermischt, so wird die Bildung unrein, und man erhält weder vollständige Menschen, noch vollständige Bürger einzelner Klassen. Denn beide Bildungen – die allgemeine und die specielle – werden durch verschiedene Grundsätze geleitet. Durch die allgemeine sollen die Kräfte, d.h. der Mensch selbst gestärkt, geläutert und geregelt werden; durch die specielle soll er nur Fertigkeiten zur Anwendung erhalten“ (Humboldt 1809, 188). Im Zentrum des Humboldt’schen Bildungsverständnisses steht der sich selbst bildende Mensch, der „ohne alle, auf irgend etwas Einzelnes gerichtete Absicht, nur die Kräfte seiner Natur stärken und erhöhen, seinem Wesen Werth und Dauer verschaffen will“ (Humboldt o.J., 235), der also an der Vervollkommnung seiner Persönlichkeit 10 10 Nach Pongratz (2003) ist der Begriff „Person“ als Nachfolgebegriff von „Seele“ zu verstehen, da sich in ihm erfüllt, „was im alten Seelenbegriff vorgeahnt ist“ (ebd. 2003, 1). Bereits in der Unterüberschrift zu seinen „Persönlichkeitstheorien“ macht er deutlich, dass er Person als „ein das Psychische und Physische übergreifendes Einheitsprinzip“ (ebd., 1) ansieht. Der Begriff „Person“ leitet sich aus dem lateinischen Wort ‚persona’ ab, das ursprünglich die Theatermaske, den Schauspieler und die von ihm dargestellte Charaktergestalt bedeutete. Pongratz hält die griechische Ableitung von ‚psosopon’, die das Hindurchscheinen durch die Maske bezeichnete, für nicht mehr vertretbar. 88 Kapitel 3 Bildung – Theoriefolie zur Analyse des empirischen Materials arbeitet. Bildung – verstanden als allgemeine Menschenbildung - ist für Humboldt damit an die geistig-intellektuelle Entwicklung des Menschen und an die Ausbildung des Charakters, seiner Persönlichkeit, gekoppelt. Bildung wird folglich als prozesshaft und unendlich angelegt und mit der gesamten Lebenserfahrung des Menschen verknüpft. Es gilt „dem Begriff der Menschheit in unsrer Person, sowohl während der Zeit unseres Lebens, als auch noch über dasselbe hinaus, durch die Spuren des lebendigen Wirkens, die wir zurücklassen einen so grossen Inhalt, als möglich, zu verschaffen“ (ebd., 235). Diese (Bildungs-)aufgabe vollzieht „sich allein durch die Verknüpfung unseres Ichs mit der Welt zu der allgemeinsten, regesten und freiesten Wechselwirkung“ (ebd., 235f.). Damit liegt die besondere Struktur der Lerninhalte nicht darin, dass sie ein auf verallgemeinerbaren Gründen oder Anschauungen begründetes konkretes Wissen zur Aneignung bringen, sondern dass sie geeignet sind, um das Lernen selbst zu lernen. Langewand verdeutlicht diesbezüglich, dass sich die Bildungstheorie von Humboldt auf das allgemeine Schulwesen bezieht. „Es gibt nur Elementar-, Schul- und Universitätsunterricht, alles übrige, Spezielle, Anwendungsoder Berufsbezogene bleibt gesonderten Anstalten überlassen. Die Theorie der Bildung des Menschen, ursprünglich eine philosophisch-anthropologische Spekulation, greift so auf <curriculare> und <bildungspolitische> Fragen über“ (Langewand 1994, 78). Die Auseinandersetzung mit dem Bildungskonzept von Humboldt führt Bock für den Kontext von Jugendhilfeforschung zu zwei zentralen Gedanken: „1. Bildung ist als Erweiterung der Weltsicht fassbar, genauer: als Prozess der andauernden Welterweiterung, in dem das unerlässlich Medium die Sprache darstellt. 2. Und dieser Prozess ist ein ausschließlich subjektiver Prozess, mehr noch: Er kann nur ein subjektiver Prozess sein, der sich mindestens biographietheoretisch, wenn nicht gar identitätstheoretisch verorten ließe“ (Bock 2004, 95). In der deutschen Übersetzung von ‚persona’ und ‚personalitas’ zur Zeit der Scholastik prägt sich das Wort ‚Persönlichkeit’, womit das Göttliche, das Ewige im Menschen bezeichnet wird. „Von da an zieht das Wort ‚Persönlichkeit’ alle werthafte Besonderheit und Würde immer mehr auf sich“ (ebd.,1). Nach Stern wird Person zu Persönlichkeit, indem sie sich Werte aneignet und mit ihnen zu einer Einheit wird. „Im allgemeinen hat sich heute bei den deutschsprachigen Forschern eine wertneutrale Definition der Persönlichkeit durchgesetzt. So versteht Vetter die Persönlichkeit als das Insgesamt des seelisch-charakterlichen Gefüges“ (Pongratz 2003, 2). Erst wenn die Person, als menschliches Einzelwesen, das über sich selbst verfügt, in einem konkret historischen Lebenslauf Wirklichkeit wird, spricht Revers von Persönlichkeit. Unter Ausklammerung aller metaphysischen Personenbegriffe bezeichnet der Persönlichkeitsbegriff alle Ereignisse, die sich zu einer individuellen Lebensgeschichte zusammen schließen. Insgesamt wird der Persönlichkeitsbegriff begrifflich völlig unterschiedlich bestimmt – allein eine Veröffentlichung von Allport (1937) listet fünfzig verschiedene Bestimmungen auf. In einem allgemeinen Sinn verweist Persönlichkeit auf die einzelne Person und bezeichnet – in unspezifischer Weise – die Ausprägung von Charaktermerkmalen einer Person. 89 Kapitel 3 Bildung – Theoriefolie zur Analyse des empirischen Materials 3.5.4 Stichpunkte zur kritischen Bildungstheorie In der Perspektive kritischer Bildungstheorie meint Bildung nach Bernhard (1997, 68) das „unabgeschlossene Projekt emanzipativer Selbstfindung“ und fokussiert damit den kritischen Kern des im 17. und 18. Jahrhundert entworfenen Bildungsbegriffs (die pädagogische Distanzierung und Reflexion der Hegemonie der Industrialisierung und Technisierung im Leben). Bildung bezeichnet den auf Dauer gestellten Prozess der „emanzipativen Subjektwerdung des Menschen im widerspruchsvollen Beziehungsgeflecht von Individualgenese und gesellschaftlichem Prozeß“ (ebd., 69), durch die sie zur gestaltenden Kraft der eigenen Lebens- und Sozialisationserfahrungen wird. Kritische Bildungstheorie fragt nach den Bedingungen von Macht und Herrschaft in Bezug auf Bildung, die sie als „umkämpftes Kräftefeld“ begreift, in dem neben der Herstellung von gesellschaftlich benötigten Arbeitsqualifikationen auch eine kulturellen Hegemonie (der jeweils ausgeprägten kulturellen und gesellschaftlichen Wert- und Weltvorstellungen) reproduziert wird. Bildung wird in diesem Sinne als eine Art Korrektiv zur Übernahme, resp. Internalisierung von gesellschaftlichen Routinen im Prozess der Sozialisation von Menschen konstruiert und ein entsprechender Auftrag für eine Theorie der Bildung formuliert. „Je stärker der Sozialisationsprozeß im Sinne der Internalisierung bestimmend bis in das Innere des Individuums hineinwirkt, umso intensiver muß eine Theorie der Bildung die im Inneren des Menschen aufgebauten Selbstbegrenzungen aufspüren und zu Inhalten des Prozesses von Bildung machen“ (ebd., 69). Bernhard markiert den mit Sozialisation als Internalisierung oder Verinnerlichung der Gesellschaft in dem Individuum charakterisierten Prozess als den Vorgang, in dessen Verlauf die für das Zusammenleben notwendigen Werte und Normen übernommen werden. Insofern stellt für Bernhard Sozialisation den Ort dar, in dem sich ein Wissen über gesellschaftliche Zusammenhänge und Bedeutungen von Kontexten aufbaut, dass dem Menschen allerdings nicht zwingend reflexiv zur Verfügung stehen muss 11 . Im 11 Aus einer anderen Perspektive hat Müller (1996, 1996a) diesen Gedanken durch die Anwendung der Theorie früher Objektbeziehungen von Mahler (1980) einer sich in bezug auf Anerkennung und Subjektorientierung als Bildungsarbeit verstehenden außerschulischen Jugendarbeit fruchtbar gemacht. Müller führt aus, dass Jugendsubkulturen, die Erwachsene ausschließen, neben der Familie und Schule eine der zentralen Sozialisationsinstanzen des Jugendalters darstellt – dies wurde bereits 1917 von Siegfried Bernfeld beschrieben. Des weiteren haben die Forschungen von Piaget gezeigt, dass moralisches Lernen von Kindern und Jugendlichen nicht aus den Normen, Wünschen und Sanktionen von Erwachsenen erwächst, sondern im Umgang mit anderen Kindern und Jugendlichen gelernt wird (vgl. Müller 1996, 24). In diesem Zusammenhang nennt Müller das Konzept von Honneth (1992) nach dem die moralische Entwicklung sich als dreifacher Kampf um Anerkennung entfaltet und zwar in bezug auf die Anerkennung der eigenen Person, Anerkennung als Menschen mit gleichen 90 Kapitel 3 Bildung – Theoriefolie zur Analyse des empirischen Materials Rahmen dieser Prozesse können auch äußere Zwänge zu inneren Zwängen transformiert werden. „Die Gesellschaft muss sich ‚in uns organisieren’ (Durkheim zit. nach Geueln 1980, 32), um ihren Fortbestand zu sichern“ (ebd., 70). Damit bezeichnet Sozialisation die Unterordnung des Menschen unter gesellschaftliche Interessen. Bernard zeigt auf, dass die Idee eines emanzipativen Subjektes Gefahr läuft, durch die Vergesellschaftungsinteressen der Industriegesellschaft unterlaufen zu werden. In diesem Prozess wird Bildung zur Halbbildung, die sich als schlichte Aneinanderreihung von Information und Kenntnissen darstellt – die jedoch nicht in die Kontinuität des Bewusstseins eingebunden werden (Adorno 1979, 112, zit. nach Bernard 1997, 71). Emanzipative Bildung ist nur dann möglich, wenn solche prekären Sozialisationsbedingungen reflektiert und ins Bewusstsein gehoben werden. In einer organisierten Bildungsarbeit, in der zum einen Aufklärung und Kritik gegenüber der Gesellschaft betrieben werden kann, könnte zum anderen das individuelle Leiden ein möglicher Ausgangspunkt von Bildungsprozessen sein, da darin die Strukturprinzipien der Gesellschaft mit individuellen Rahmungen verbunden werden. In einer solchen Perspektive, die als Persönlichkeitsbildung beschrieben werden kann, wird dann die eigene Soziogenese zu einem elementaren Bildungsinhalt. Wie im Folgenden weiter ausgeführt wird, bezieht sich Marotzki auf die Frage der Transformation von kontextspezifischen kulturellen Mustern, nach denen Individuen die Welt wahrnehmen und in eine in sich stimmige Abfolge von Ereignissen und Erfahrungen überführen, um dadurch subjektiven Sinn zu erzeugen. Insofern liefert die kritische Bildungstheorie wesentliche Ansatzpunkte dafür, wie solche kontextspezifischen kulturellen Muster im Individuum ausgeprägt werden können, verbleibt in der Fokussierung der Theorie allerdings zunächst beim Individuum oder Rechten wie andere und Anerkennung der besonderen Fähigkeiten, in denen sich Menschen unterscheiden (vgl. Honneth 1992, 148ff.). Müller fasst diese Konzepte vereinfacht zusammen, indem er sagt, dass Kinder und Jugendliche von anderen Kindern und Jugendlichen ihre Vorstellungen darüber beziehen, was gut und was nicht gut ist. „Ob es sich aber lohnt, gut sein zu wollen und auch die Rechte anderer anzuerkennen (oder eher nicht), das lernen sie nur von den Erwachsenen“ (Müller 1996, 25, Hervorhebungen i.O.). Nach Müller besagt die „Theorie der frühen Objektbeziehungen“ (vgl. Mahler u.a. 1980), dass die psychische Geburt erst nach der physischen erfolgt und zwar durch die Verwandlung von Umwelterfahrungen in der frühen Kindheit in eigene „innere Objekte“. Dadurch schaffen sich Kinder eine eigene Persönlichkeit. Dieser Prozess setzt sich auf unterschiedlichen Ebenen, besonders im Jugendalter, weiter fort. „Die ‚inneren Objekte‘ [...] kann man gleichsam als das Scharnier oder besser als den ‚intermediären Raum‘ (vgl. Schäfer 1986, S. 51-134) verstehen, welcher das Verhältnis eines Menschen zu sich selbst und sein Verhältnis zu der Umwelt zusammenhält“ (ebd., 25). Insofern kann Jugendarbeit in persona der Mitarbeiter in der Jugendarbeit sich selbst als Matrize für Werthaltungen anbieten, die von den Jugendlichen dann auf individuelle Weise verarbeitet wird, da die Entwicklung in der frühen Kindheit nicht für das gesamte Leben festlegt, sondern spätere Erfahrungen, beispielsweise im Jugendalter, Veränderungen der „inneren Objekte“ verursachen können (und dieses im guten und im schlechten Sinne). 91 Kapitel 3 Bildung – Theoriefolie zur Analyse des empirischen Materials bei dem relativ abstrakten Gebilde der „Gesellschaft“ ohne zu berücksichtigen, welche Rolle die mit den Subjekten interagierenden Mitglieder von Gruppen und anderen sozialen Beziehungen spielen. 3.5.5 Sozial(pädagogisch)e Bildung In den Ausführungen zur Sozialpädagogik und Bildungstheorie geht Sünker (2001) von einem komplementären Verhältnis beider Felder aus und liefert dadurch insbesondere für die theoretische Weiterentwicklung der Sozialpädagogik wichtige Impulse, die Auswirkungen auf die Problematik der Auseinandersetzung mit sozialer Ungleichheit entfalten können. Zum Ende der Überlegungen kommt Sünker zu dem Schluss, dass „Sozialpädagogik und Bildungstheorie [...] sich daher nicht in ihren Orientierungen komplementär zueinander [verhalten], [sondern] vielmehr [...] eine Theorie der Bildung fundierend [ist], wenn es sich in der Sozialpädagogik nicht länger um ‚Normalisierungsarbeit‘ handelt, sondern um die Initiierung von Bildungsprozessen, die in die Klienten-Professionellen Beziehung übergreifen und in der Verteidigung bzw. der Konstitution von Subjektivität ihre Aufgabe sehen“ (Sünker 2001, 168). Wenn Sozialpädagogik als eine Form von institutionalisierter Bildung verstanden wird, könnte dies ein Beitrag dazu sein, das allgemeine Problem der Konstitution und Reproduktion sozialer Ungleichheit zu bearbeiten. Bildungstheoretisch greift Sünker auf die kritische Theorie der Bildung von HeinzJoachim Heydorn zurück, der die Interdependenzen der Verfasstheit einer Gesellschaft und ihrer Institution Bildung analysiert. „Heydorn geht von einem „Widerspruch von Bildung und Herrschaft" aus, der auf eine gesellschaftliche Veränderung in Richtung humanen Menschseins hin gelöst werden könne“ (Bernhard 1997, 69). Im Zentrum der für seine Analyse von ihm neu entwickelten Kategorien steht ein mäeutischer Begriff von Bildung, der von einer bereits vollzogenen Emanzipation des Subjektes und seiner Selbsttätigkeit ausgeht. Das Ziel der Bildungstheorie liegt in der Selbstverfügung und Mündigkeit der Subjekte (vgl. Sünker 2001, 165), das nach Heydorn nicht auf Spontanität beruht, „sondern auf der Vermittlung von Mündigkeit und Bedingung“ (Heydorn 1979: 322, zit. nach Sünker 2001, 165). Besonders interessant und (bildungs-)politisch aktuell werden diese Überlegungen durch die gegenwärtige Prioritätensetzung in der Spannung des Verhältnisses von Produktions- und Bewusstseinsbildung (vgl. Humboldt: Specielle und allgemeine Bildung; Bernard: Qualifikation und Selbstbewußtwerdung), die dadurch 92 Kapitel 3 Bildung – Theoriefolie zur Analyse des empirischen Materials gekennzeichnet ist, dass die Frage der Qualifikation eine stärkere Bedeutung bekommt (vgl. für den Kontext Jugendsozialarbeit dazu auch: Enggruber 2003). Im Kontext des Widerspruches von Bildung und Herrschaft (vgl. ebd. 163) erscheint Bildung, verstanden als allgemeine Bildung im Humboldt’schen Sinne, durch die „der Mensch selbst gestärkt, geläutert und geregelt werden“ soll (Humboldt 1964, 188 zit. nach Sünker 2001, 164) in einem Raum anzusiedeln zu sein, der sich dem Eingriff und Zugriff, sowie der Verregelung durch Herrschaft entzieht. In wie weit solche pädagogischen Felder in der Jugendsozialarbeit und Jugendberufshilfe aufgrund der hochkomplexen finanziellen Förderungsstrukturen auf Länder- Bundes- und Europaebene durch unterschiedliche Fachministerien mit divergierenden Handlungslogiken und Interessenlagen überhaupt existent sind, darf aufgrund des hohen Anteils von Hauptamtlichkeit und damit finanzieller Abhängigkeit dieses Feldes der Jugendhilfe von politischen Entscheidungen bezweifelt werden. Die Klärung der Frage, ob in diesen Feldern neben den „förderungswürdigen“ Qualifikationsprozessen überhaupt noch Raum bleibt für Bildungsprozesse im Sinne einer kritischen Bildungstheorie bleibt u.a. Aufgabe des empirischen Teils dieser Arbeit. Ausgehend von dem Prozesscharakter von Bildung, der in den klassischen Bildungstheorien herausgestellt wird, und der die Möglichkeiten formaler Bildungsinstitutionen wie der Schule übersteigt, sucht Sting (2002) nach Anschlussmöglichkeiten für ein sozialpädagogisch orientiertes Bildungsverständnis (vgl. ebd., 383) und bezieht sich dabei auf die Bedeutung des sozialen Kontextes von Bildung. In Bezug auf mögliche Perspektiven einer so beschriebenen „sozialen Bildung“ legt Sting (2002a) dar, dass es nötig ist, insbesondere in sozialpädagogischen Zusammenhängen „auf die soziale Kontextualität und die soziale Verortung von Bildungsprozessen in einem gesellschaftlichen Horizont jenseits der Schule hinzuweisen“ (ebd., 213; vgl. auch: Sting 2004). Neben der Geselligkeitsdimension und der sozial differenzierenden Dimension verlangt Bildung als lebenslanger Selbstbildungsprozess „eine Berücksichtigung der biographischen Dimension, die individuelle Lebensverläufe im Spannungsfeld von Selbststabilisierung und Offenheit, von Kohärenz-Bildung und Transformationsfähigkeit des Selbst beschreibt“ (Sting 2002, 383); im Hinblick auf soziale Ungleichheit und soziale Selektion darf nicht eine Bildungsform gesellschaftlich bevorzugt werden, denn durch die Pluralität von Bildung können die Abweichungen und Ausgrenzungen möglichst gering bleiben (vgl. 383). Die zentrale Bezugsgröße sozialer Bildung ist nach Sting die „Qualifizierung der Lebenspraxis“ (ebd., 384) und eröffnet dadurch Perspektiven für den Bereich der 93 Kapitel 3 Bildung – Theoriefolie zur Analyse des empirischen Materials Kinder- und Jugendhilfe, die – zumindest in Bezug auf die Jugendarbeit und Jugendverbandsarbeit Sozialisationsprozesse – ein solches liefern dabei Ziel u.a. nach als Sting ihren die Auftrag ansieht. individuellen und kontextbezogenen Rahmenbedingungen von Bildungsprozessen. Sting beschreibt drei Dimensionen sozialer Bildung sieht in der „Geselligkeitsdimenion von Bildung“ (ebd., 385) einen umfassenden, lebensweltorientierten Ansatz, der über kompensatorische und qualifikationsbildende Maßnahmen, wie sie klassischerweise in der Jugendberufshilfe durchgeführt werden, hinausgeht und dessen Aufgabe es ist, Bildungsanlässe zu initiieren, die den Selbstbildungsprozess der Subjekte anregen sollen. Die zentralen thematischen Bezugspunkte einer als Bildung verstandenen Kinder- und Jugendhilfe arrangieren sich insgesamt um den zentralen Begriff der Auseinandersetzung mit „differierenden Lebensoptionen und – stilen“ (ebd., 386). Der Bildungsauftrag der Kinder- und Jugendhilfe könnte nach Sting „demnach in der subjektiv passenden Initiierung von Bildungsprozessen durch die Ermöglichung neuer Erfahrungshorizonte und den Anstoß zu Selbstreflexionsprozessen bestehen“ (ebd., 388). In Bezug auf die auch durch neuere Schulstudien nachgewiesene Funktion der sozialen Selektivität des deutschen Schulwesens kann Bildung nicht auf einem abstraktem „Wissensbetrieb“ basieren, sondern konkretisiert sich in „Abhängigkeit von der sozialen Situation und den Chancen für den Erwerb sozialer Anerkennung“ (ebd., 388). Zentrale Kategorien eines so verstandenen Bildungsbegriffs sind Muße und freie Zeit, die einen Abstand zur alltäglichen Welt schafft und Reflexion des Selbst ermöglicht, die im Sinne einer sozial reflexiven Bildungsarbeit akzeptiert und gestärkt werden muss. So stellt sich die zentrale bildungsmäßige Herausforderung der Kinder- und Jugendhilfe als Bereitstellung des Privilegs „Muße“ als Freiheit vom Druck der Lebensbewältigung dar, um „wenigstens partielle und punktuelle Freisetzungen aus den sozialen, psychischen und physischen Belastungen zu erreichen, um auf diese Weise Rahmenbedingungen für Bildungsprozesse zu schaffen, die Strategien der Lebensbewältigung in Bildungsbewegungen der Lebensgestaltung und -qualifizierung zu transformieren“ (ebd., 390). Mit diesen Ausführungen gibt Sting bereits bildungstheoretische Anknüpfungspunkte für eine sozialpädagogisch konturierte Bildungstheorie, wobei insbesondere der Hinweis auf die Entfaltung von Selbstbildung im interaktiven Geschehen in konkreten Gruppenkontexten (vgl. Sting 2002a, 238) für die weiteren Überlegungen in dieser Arbeit sehr hilfreich sind. Als Instrument für eine analytische Betrachtung der pädagogischen Prozesse in einem sozialpädagogischen Feld der Jugendhilfe scheint sie allerdings für weitere Arbeit 94 Kapitel 3 Bildung – Theoriefolie zur Analyse des empirischen Materials aufgrund ihres hohen normativen Impetus kaum Möglichkeiten zur Operationalisierung des Bildungsbegriffs zu bieten. 3.5.6 Zusammenfassung Aufgrund der bisherigen Ausführungen zu bildungstheoretischen Konstruktionen und aktuellen Auseinandersetzungen mit dem Begriff Bildung kann an dieser Stelle zusammenfassend festgehalten werden, dass Bildung auf den Ort verweist, an dem Lernprozesse, verstanden als Prozesse der Aneignung von materieller, sozialer und intrasubjektiver Welt durch Auseinandersetzung und Reflexion des Subjekts mit ihnen zu einer Positionierung des Subjekts zu der Welt transformiert werden. Die Auseinandersetzung vollzieht sich in Form der Verhandlung von Geltung, d.h. es wird individuell ausgehandelt, welche Geltung die dingliche, soziale und intrasubjektive Welt für das Subjekt hat und wie es sich – als Ergebnis dieses Auseinandersetzungsprozesse – ihnen gegenüber verhält und Relationen konstruiert. Folglich sind Bildungsprozesse immer auch Veränderungsprozesse, die demnach Lernen beinhalten, bzw. daraus hervorgehen. 3.6 Bildung als Prozess der Transformation von Rahmungen Als ein weiterreichendes Analyseraster für die empirische Untersuchung von Bildungsprozessen im sozialpädagogischen Handlungsfeld „Jugendsozialarbeit“ als die vor allem auf der Ebene der Praxis und der Konzepte diskutierten Begriffe der Schlüsselqualifikationen und Kompetenzen erscheint vor allem im Hinblick auf die theoretische Konstruktion von Jugendsozialarbeit als Feld subjektorientierter Pädagogik erscheint der von Marotzki (1990) ausgearbeitete „Entwurf einer strukturalen Bildungstheorie“ insgesamt aussichtsreicher, da er zahlreiche Anknüpfungsmöglichkeiten für die Entwicklung von Fähigkeiten zur Selbstreflexion und Selbstvergewisserung bietet und durch die weitere Ausarbeitung des Operationalisierungsproblems eines so verstandenen Bildungsbegriffs Bildungspotenziale einer Jugendsozialarbeit beschreibbar macht. Im Sinne der Bestimmung des Bildungsbegriffs in der Perspektive der Kritischen Bildungstheorie, die sich nach Bernhard (1997, 65) auf die kognitive Aneignung von Welt, sowie den Aufbau und die Veränderung von Bewusstsein bezieht und im Kern „die emanzipative Subjektwerdung des Menschen im widerspruchsvollen Beziehungsgeflecht von Individualgenese und gesellschaftlichem Prozeß“ zum Gegenstand hat (ebd., 69), erscheint der Entwurf einer strukturalen Bildungstheorie 95 Kapitel 3 Bildung – Theoriefolie zur Analyse des empirischen Materials für die empirische Erfassung von Bildung besonders geeignet. Diese Theorie erlaubt die Analyse gerade solcher Bildungsprozesse, die nicht darauf angelegt sind, Wissen zu vermehren und sich Informationen verfügbar anzueignen, wie dies oftmals in formalisierten Lernsituationen, z.B. in der Schule, institutionalisiert ist, sondern die auf die Frage der Interaktion des Subjektes mit der Welt, der Reflexion von Selbst und Welt und seiner Interpretationen zielen. Die Thematisierung von Bildung im Kontext eines outcome-orientierten, naturwissenschaftlich-technischen Begriffsverständnisses, das über kognitive Wissensbestände oder auszubildende Fähigkeiten definiert wird 12 , und damit die Frage nach der Intentionalität und Normativität von organisierter Bildung durch Pädagogen berührt, kritisiert Marotzki – ähnlich wie Lyotard im philosophischen Kontext 13 – indem er anmahnt: „Die erziehungswissenschaftliche Diskussion des Bildungsbegriffs hat hier m.E. eine Korrekturleistung zu erbringen. So ist aus meiner Sicht systematisch bei der Diskussion des Bildungsbegriffs das Verhältnis von kognitiven und nichtkognitiven, von diskursiven und nichtdiskursiven, von reflexiven und nichtreflexiven Gehalten in das Zentrum zu rücken“(Marotzki 1988, 311) 14 . Ebenso deutlich kritisiert er im Kontext der Ausarbeitung seiner zentralen biographietheoretischen Wandlungsprozesse reformuliert These, werden dass können, Bildungsprozesse die als traditionellen bildungstheoretischen Reflexionen und Argumentationen, die zu vorschnell eine 12 Ähnliches hat Hornstein 1971 bereits in seiner Kritik an den deutschen Bildungsgesamtplan formuliert: „Man tut den Berichten, insbesondere auch dem Strukturplan, kein Unrecht an, wenn man zusammenfassend festhält, daß sich in ihnen ein außerordentlich schwach entwickeltes Problembewusstsein hinsichtlich der sozialpädagogischen Probleme der Bildungsmobilisierung dokumentiert, daß das Problem der Bildungsmobilisierung hier vor allem als Problem der Behebung des Informationsdefizits [...] dargestellt wird“ (Hornstein 1971, 289). Nach Hornstein gehe es im Bildungsgesamtplan nicht um die Frage, ob und wie Bildung in unterschiedlichen Strukturen und Disziplinen organisiert und institutionalisiert werden kann, sondern lediglich um die Optimierung von Schulstrukturen zur Erhöhung des Outcomes. So sei das Etikett Bildungsgesamtplan insofern irreführend, „als auch er nur das staatliche Bildungswesen innerhalb des in Strukturplan und Bildungsbericht abgesteckten Rahmens behandeln wird“ (ebd., 304). 13 Im postmodernen Denken Lyotards erscheinen aus bildungstheoretischer Perspektive drei Aspekte besonders relevant zu sein. Zum einen arbeitet Lyotard heraus, dass aufgrund des Verlustes von Rahmenerzählungen, im Sinne zusammenhängender und das Wissen organisierender Strukturmomente, die Annahme eines Telos (zum Teleologieproblem vgl. auch Marotzki 1990, 226) für die Geschichte immer weniger plausibel ist (vgl. Marotzki 1990, 58; Brüdigam 2001, 50). Zum anderen könne Bildung aufgrund der Diversifizierung und weltweiten Verfügung von Wissen nicht weiterhin kumulativ im Sinne einer materialen Bildungstheorie verstanden werden, die als Anhäufung von Informationen gedacht werden könne. Unter den Bedingungen der Postmoderne komme es vielmehr darauf an, dass eine Fähigkeit zu kreativem Umgang mit Wissen herausgebildet werde, um neue Verknüpfungen und Bezüge herzustellen. Darüber hinaus sei die Postmoderne von einer irreduziblen Vielfalt unterschiedlichster Kulturen, Lebens- und Subjektivitätsformen gekennzeichnet, die in sich jeweils eine eigene Legitimität aufwiesen und nicht auf die Integration in ein Gesamtsystem verwiesen seien. Dementsprechend bedeute dies für eine Bildungstheorie, dass sie Heterogenität, Pluralismus und Diversifizität anerkennen müsse (vgl. Brüdigam 2001, 50). 96 Kapitel 3 Bildung – Theoriefolie zur Analyse des empirischen Materials institutionelle Eingrenzung des Bildungsbegriffs auf die Schule vorgenommen hätten (Marotzki 1990, 116). Marotzki geht in seinem 1988 veröffentlichten Artikel mit dem Titel „Bildung als Herstellung von Bestimmtheit und Ermöglichung von Unbestimmtheit“ zunächst von der These aus, dass im Kontext der Entwicklung der Gesellschaft von einer Industrie- zu einer Informationsgesellschaft wahrscheinlich neue Kompetenzen der Gesellschaftsmitglieder ausgebildet werden müssen. So stellt er die Frage danach, „welche Fähigkeiten der Einzelne in einer solchen Informationsgesellschaft zum Aufbau einer persönlich, sozial und politisch verantwortlichen Existenz benötigt“ (Marotzki 1988, 311) ins Zentrum seiner bildungstheoretischen Überlegungen auch der folgenden Jahre. 15 Ausgehend von den gesellschaftlichen Problemlagen, den antizipierten ökonomischen und gesellschaftlichen Wandlungsprozessen der 1990er Jahre und den Konsequenzen aus der unter dem Begriff „Individualisierung“ populär gewordenen Debatte attestiert Marotzki – die Korrektheit der Prognosen und Analysen vorraussetzend – „daß ein Bildungsbegriff diesen Sachverhalten systematisch Rechnung tragen muß, um eine Dauerüberforderung, eine Strapazierung des einzelnen in hochkomplexen Gesellschaften zu verhindern. Der zunehmende Druck auf das Subjekt nötigt in immer mehr Bereichen, auf dauerhafte, ein ganzes Leben umfassende Planungen und Festlegungen zu verzichten und immer mehr Unbestimmtheiten ins Kalkül einzubeziehen“ (ebd., 322) 16 . Auf der Basis dieser gesellschaftstheoretischen 14 Zur Rezeption der Postmoderne – Konzeption im Kontext der Weiterentwicklung, bzw. Reformulierung des Bildungsbegriffs vgl. auch: Fernandez: Bildung und Selbstbildung. Zur Kritik postmoderner Vorstellungen von der Bildung des Subjekts. Hamburg, 2003. 15 Die relative Nähe des bildungstheoretischen Diskurses von Marotzki und den Debatten in der beruflichen Bildung und der Weiterbildung werden besonders in diesem Kontext der individuellen Kompetenzentwicklung deutlich, in dem Marotzki die Frage nach neuen subjektiven Kompetenzen stellt, die Gesellschaftsmitglieder ausbilden müssen, um in sich verändernden Kontexten Orientierung zu erlangen. In den Diskursen der Weiterbildung (vgl. Wittwer 2003, Frank 2003, Staudt/Kley 2001, Becker/Rother 1998, Arnold 1997, Erpenbeck/Heyse 1997, ABWF-Reihe Kompetenzentwicklung) findet eine Kopplung dieser Frage mit Überlegungen statt, inwiefern diese Kompetenzen arbeitsmarktrelevante und – verwertbare Funktionen besitzen und entsprechend erfasst und anerkannt werden können. In den Veröffentlichungen wird diese inhaltliche Nähe jedoch nicht thematisiert und der Kompetenzbegriff nicht ausdrücklich problematisiert. In neueren Veröffentlichungen stützt Marotzki (vgl. Marotzki 2003) sich eher auf die von Mittelstrass (vgl. Mittelstrass 1982;1989;2001) eingeführten Begriffe Orientierungs- und Verfügungswissen, wobei dieser den Begriff „Orientierungskompetenz“ mit dem Bildungsbegriff gleichsetzt. (vgl. Mittelstrass 2002, 154). Für den Bereich der Jugendsozialarbeit wird aber eben diese Frage besonders interessant, da die Doppelfunktion von Bildung in der Dialektik von Bestimmtheit und Unbestimmtheit in der Praxis unterschiedlicher Handlungs- und Interventionsformen außerordentlich evident wird (vgl. Kap. 3.2.2) 16 In dieser Lesart der Beck’schen Individualisierungsthese bleibt jedoch offen, ob die Konsequenzen aus der beschriebenen Individualisierung und Kontingenzsteigerung gleichermaßen für alle sozialen Milieus gelten, oder ob nicht gerade die unteren Milieus (vgl. Sinus-Milieus) von der Logik der zunehmenden Freiheit und Selbstverantwortung durch politische Steuerungs- und Repressionsstrategien formal ausgeschlossen sind und ob sich dadurch nicht die im aktuellen Diskurs paradoxe Situation ergibt, dass einerseits durch diese 97 Kapitel 3 Bildung – Theoriefolie zur Analyse des empirischen Materials Überlegungen und den psychoanalytisch-lerntheoretischen Ausarbeitungen von Mitscherlich (1963) entwickelt Marotzki ein Bildungsverständnis, dass sich gegen einen Begriff von Bildung als die lineare Aneignung von Welt durch den Erwerb oder die Vermehrung von affirmativem Wissen oder festgelegten Verhaltensmodi wendet. Er begreift Bildung als den Prozess der Aneignung selbst und impliziert damit die Relativität des angeeigneten Inhaltes. Damit folgt er der Auffassung Mitscherlichs, dass Bildung im Gegensatz zu Wachstum, das als Entwicklungsprogramm einem ontogenetischen Programm folgt, „zwar ebenfalls Aneignung einer Gestalt, als der Habitus einer Gruppe oder Gesamtgesellschaft [bezeichnet], aber diese Gestalt [...] keineswegs in sich als Ziel arteigentümlich festgelegt [ist]. Die Konstante ist demnach die Aneignung, nicht der angeeignete Inhalt“ (Mitscherlich 1963, 25, Hervorhebungen i. O.). Die weitere Beschreibung des Bildungsbegriffs bei Mitscherlich verdeutlicht, dass Bildung sowohl Inhalte umfasse, zugleich aber auch „eine Fähigkeit [ist], sich nicht nur passiv bilden zu lassen, sondern sich selbst zu bilden“ (ebd., Hervorhebung i. O.). Bildung beziehe sich auf die Person, somit auf die Ich-Instanz und ihre Stärkung und verweist durch die Beschreibung ihres dynamischen Elementes auf die drei verschiedenen Ebenen Sachbildung, Affektbildung und Sozialbildung (vgl. ebd., 31ff). Damit konzentriert Marotzki aus der Perspektive der Konstitutionsproblematik von Subjektivität in gesellschaftlichen Wandlungsprozessen „die Aufmerksamkeit stärker auf die Struktur, Beschaffenheit und Voraussetzungen von Lern- und Bildungsprozessen“ (Marotzki 1990, 30). Marotzki bestimmt den Ort der Mitscherlich‘schen Gesellschaftskritik an der für ihn systematisch bedeutsamen Stelle, in der Mitscherlich - davon ausgehend, dass der Mensch eine habituelle Ich-Schwäche gegenüber gesellschaftlichen Zwängen und eigenen Triebforderungen habe – argumentiert, der Mensch müsse befähigt werden, mit Konflikten zu leben. Dazu sei eine besondere Form der Erziehung nötig, die das Ich – und nicht das Über-Ich – stärke (vgl. Marotzki 1988, 313). Mitscherlichs’ These ist, dass die Gesellschaft gezielt eher schwache Ich-Strukturen bei den Subjekten ausbilde, damit sie die Menschen besser regieren kann. „Die im Sozialisationsprozeß erzielte Ichreifung ist durchschnittlich gering, die Widerstandsschwelle des Ichs gegen die Überflutung durch innere Triebansprüche und Diktat von außen bleibt niedrig. Den Grund dafür suche man aber nicht in der Natur [...] sondern in den Bedingungen, welche die gesellschaftlichen Steuerungsmechanismen versucht wird, die Selbststeuerungskraft der Adressaten zu „aktivieren“, andererseits gerade diese Mechanismen eine Steigerung von Subjektivität im Sinne bildungstheoretischer Postulate wie sie unter anderem von Marotzki ausgearbeitet 98 Kapitel 3 Bildung – Theoriefolie zur Analyse des empirischen Materials Herrschaftsverhältnisse von der typischen Familienstruktur bis zu den im größten Stil administrativen Befehlverbänden einer Ichentwicklung stellen. [...] Er [der Mensch, A.B.] wird auch kritikschwach gehalten, damit ihm befohlen werden kann. Eine andere Form des Zusammenlebens stößt schon in der Phantasie auf Abwehr; sie sich vorzustellen heißt, an die heiligsten Güter der Menschheit rühren, zum Beispiel an dieses, daß der Mächtige das Recht hat, den Schwachen auszubeuten, ihn der eigenen Vorherrschaft anzupassen.“ (Mitscherlich 1963, 160, Hervorhebungen im Original). Durch eine – wie Marotzki einführt - exemplarische Auseinandersetzung mit dem Kant’schen Bildungsbegriff verdeutlicht er die Verortung der Mitscherlichschen Argumentation in der Tradition der Aufklärung und gelangt zu der Auffassung, dass bei Kant und Freud gleichermaßen die Selbsttätigkeit des Subjekts für die Bildung einen zentralen Stellenwert einnimmt. Bei Kant gehe es im Sinne des Autonomiepostulates darum, eine Welthaltung zu ermöglichen und zwar sowohl in der Perspektive propositionaler Gehalte (inhaltliche Beziehungen zur Welt), als auch durch reflexive Gehalte (inhaltliche Beziehungen zu sich selbst). „Im Vordergrund steht bei Kant der Erwerb einer solchen kritischen Mündigkeit, bei Mitscherlich der Erwerb einer solchen kritischen Ich-Leistung. Die reflexive Komponente, die bei beiden da ist, bewirkt auch, daß der einzelne sich als Urheber vielfältiger Weltentwürfe kennenlernen und sich somit seiner Selbstbestimmungskraft bewußt werden kann“ (Marotzki 1988, 320). Die hier beschriebene reflexive Komponente stellt einen Lernschritt spezifischer Qualität dar, die von Marotzki in der von ihm kurze Zeit später veröffentlichten „Strukturalen Bildungstheorie“ als Bildung bezeichnet wird. Aus der Verbindung der Beck’schen Individualisierungsthese und daraus abgeleiteten Konsequenzen für das Subjekt und der Argumentation von Mitscherlich entwickelt Marotzki skizzenhaft die Richtung einer Operationalisierung des Bildungsbegriffs für Forschungen, die dem qualitativen Paradigma folgen und auf „Schlüsselprobleme gegenwärtiger Subjektivitätskonstruktion zielen“ (ebd., 321). Diese vorläufige Annäherung kennzeichnet er durch Bearbeitung der Stichwörter ‚Suchbewegung’, ‚Ertragen von Unsicherheit’, ‚Förderung der Kritikfähigkeit’ in lerntheoretischer Perspektive. 17 wurden, verhindern und bestenfalls zu einer Anpassung an staatliche Vorgaben führen, die vom Gedanken einer Bildung von Mündigkeit und Autonomie weit entfernt sind. 17 Diese Operationalisierungsrichtung ermöglicht nicht nur weitergehende Überlegungen qualitativer Bildungsforschung, sondern auch interessante konzeptionelle Anschlüsse für die Praxis der Jugendsozialarbeit, inwieweit z.B. die Konzepte der Jugendsozialarbeit geeignet erscheinen, diese Stichworte tatsächlich praktisch lernend zu bearbeiten. Diese Betrachtung steht jedoch nicht im Zentrum dieser Arbeit und kann dementsprechend an dieser Stelle nicht weiter verfolgt werden. 99 Kapitel 3 Bildung – Theoriefolie zur Analyse des empirischen Materials Marotzki entwickelt durch die Auseinandersetzung mit diesem psychoanalytischen Rahmen zwei grundlegende Prämissen seines Bildungsverständnisses: Zum einen wendet er sich gegen ein affirmatives Bildungsverständnis im Sinne der Aneignung von Welt und versteht Bildung als einen individuellen, aktiven, offenen Prozess, der sich durch die „Suche nach Wissen und nach den Methoden, Erfahrung zu prüfen [auszeichnet]. Bildung beinhalte prinzipiell die Einsicht in die Realtivität und die grundsätzliche Revidierbarkeit von Wissen, vermittle gleichsam ein Gespür für die Zeitlichkeit von Wissen und von Orientierungen. Schon von diesem Blickwinkel aus wird deutlich, daß Bildung nicht hinreichend über Wissensbestände definiert werden kann“ (ebd., 312). Die dialektische Logik im Bildungsbegriff von Mitscherlich sei die grundlegende Ambivalenz von Bildung, die zum einen Lernprozesse zum Einüben in die Gesellschaft, zum anderen jedoch Kritik gegenüber stereotypen Denkens und Handeln initiieren will. Bereits 15 Jahre vor Mitscherlich, darauf weist Sünker (1998) in dem Aufsatz „Lob der Abweichung – Bildung, Erziehung und belastete Lebenslagen Jugendlicher“ hin, kennzeichnet der kritische Philosoph Leonhard Nelson (1948, 30) aus der Perspektive pädagogischen Handelns die von Marotzki unter Rückgriff auf die psychoanalytischen Überlegungen bei Mitscherlich als grundlegende Ambivalenz gekennzeichnete dialektische Logik des Bildungsbegriffs als eine fundamentale Paradoxie des Erziehungsbegriffs, wenn er fragt, wie Erziehung überhaupt möglich sei: „Ist das Ziel der Erziehung vernünftige Selbstbestimmung, d.h. ein Zustand, in dem der Mensch sich nicht durch äußere Einwirkung bestimmen lässt, vielmehr aus eigener Einsicht beurteilt und handelt, - so entsteht die Frage, wie es möglich ist, durch äußere Einwirkung einen Menschen zu bestimmen, sich nicht durch äußere Einwirkung bestimmen zu lassen.“ Diese zentrale Paradoxie, die ebenso auch für den Bildungsbegriff zu gelten scheint, lässt sich nur durch den Einbezug von Reflexivität des Subjektes in bezug auf die zur Verfügung stehenden Informationen auflösen. Dieser Anspruch von Reflexivität wird von Marotzki ebenso wie von Meder (vgl. Kap. 3.4.1) ausdrücklich immer wieder in ihren bildungstheoretischen Überlegungen reklamiert. So bezeichnet Bildung nach Marotzki (1999, 58) den reflexiven Modus des „menschlichen In-der-Welt-seins“ und setzt damit konsequent auf die Figur der Reflexivität. „Bildungstheorie beschäftigt sich mit der zentralen reflexiven Verortung des Menschen in der Welt, und zwar in einem zweifachen Sinne: zum einen hinsichtlich der Bezüge, die er zu sich selbst entwickelt (Selbstreferenz) und zum anderen hinsichtlich der Bezüge, die er auf die Welt entwickelt (Weltreferenz). [...] Die Kraft der Reflexion ist die einer Selbstvergewisserung und Orientierung in 100 Kapitel 3 Bildung – Theoriefolie zur Analyse des empirischen Materials gesellschaftlichen Verhältnissen“ (ebd. 59). An anderer Stelle führt Marotzki aus, dass durch die Form der Reflexion „ein differenziertes, gesteigertes und reflektiertes Selbstverhältnis“ (Marotzki 1991, 123) entwickelt werden kann, in dem sich das Subjekt in seiner intersubjektiven Vermitteltheit als Akteur begreifen kann. So ist der Bildungsbegriff traditionell an die Fähigkeit der Selbstreflexion gekoppelt und trägt – das wird vor allem in neueren Stellungnahmen deutlich – dazu bei, den Selbstbezug zu steigern (vgl. Marotzki 2003a). Für den Kontext von Biographisierungsprozessen nimmt Marotzki dabei eine Untergliederung in Prozesse in einem diachronen und einem synchronen Reflexionsformat vor. Dabei versteht er unter einem diachronen Reflexionsformat die „Initiierung historischer Sinnbildungsprozesse“ (ebd., 63) und verdeutlicht damit, dass in dieser Lesart die Reflexion der eigenen Lebensgeschichte auf einer Zeitachse beschrieben wird. Die menschliche Identität vollzieht sich seiner Auffassung nach als eine Art Konstruktionsleistung des Individuums selbst, die kontinuierlich über das Entwerfen und Erzählungen von Geschichten über sich selbst entwickelt wird. Eindrücklich schildert er dieses Phänomen aus der gegenläufigen Perspektive, die vor allem bei Menschen mit demenziellen Erkrankungen studiert werden kann: „Wenn uns unsere Lebensgeschichte abhanden kommt (z.B. durch Gedächtnisverlust) kommen wir uns gleichsam selbst abhanden“ (ebd., 63). Neben einer individuellen Geschichte weisen Menschen durch ihre Einbindung in soziale Gruppierungen und historischen Gebilde, ebenso auch eine kollektive Geschichte auf, in der sie sich auf Gruppen, Gemeinschaften und Kollektive beziehen. Im Gegensatz zur Reflexion auf einer linearen Zeitachse in die Vergangenheit bezeichnet das synchrone Reflexionsformat die Vergewisserung im Hier und Jetzt. Unter Rückgriff auf die Ausführungen zur Kränkung des Menschen nach Freud bezieht Marotzki das synchrone Reflexionsformat auf die Intersubjektivität und damit auf die Frage der Anerkennung des Individuums durch die aktuell anwesenden anderen Subjekte. „Bildung, in diesem Sinne verstanden, wäre dann das Antworten auf die Infragestellung meiner Selbst durch den Anderen, die Ausbildung einer ‚responsiblen Vernunft‘ (von Wohlzogen 1997). Das ist der Kern des synchronen Reflexionsformats: der Kampf um Anerkennung. [...] Menschen brauchen nicht nur eine Geschichte, die sie fort- und umschreiben können, sie brauchen auch Anerkennung im Hier und Jetzt“ (Marotzki 1999, 64). Damit kennzeichnet Marotzki eine zentrale Figur der Aushandlungsprozesse, die im Zusammenhang mit der empirischen Untersuchung dieser Arbeit vor allem in der Frage der Orientierung an unterschiedlichen Welten der Jugendlichen immer wieder Thema wurde. Auf die Frage nach der Bedeutung von Anerkennung für die sozialpädagogische Praxis in der 101 Kapitel 3 Bildung – Theoriefolie zur Analyse des empirischen Materials Jugendsozialarbeit wurde bereits an anderer Stelle hingewiesen (vgl. Kap. 2.6.2, S. 47ff). Diese Ausführungen weisen bereits auf die Analyseeinstellung von Bildungsprozessen als strukturelle Gegebenheiten hin, die Marotzki in der strukturalen Bildungstheorie näher ausführt. Die besondere Qualität der Strukturalen Bildungstheorie von Marotzki und zugleich ein zentrales Unterscheidungskriterium von anderen bildungstheoretischen Entwürfen liegt darin, dass sie Bildungsprozesse zunächst phänomenologisch als Lernprozesse einer spezifischen Qualität ansieht. Gerade in neueren Veröffentlichungen in Bezug auf die Frage nach virtuellen Lern- und Bildungsräumen verdeutlicht Marotzki, dass eine reine lerntheoretische Betrachtung des Phänomens zu kurz greift, da sie immer auch die Relation des Menschen zu selbst und der Welt thematisieren. Der wesentliche Gehalt von Lerntheorien liegt nach Marotzki (1990, 1998, 2003) nicht nur darin, über die Gesetzmäßigkeiten, Typen und Muster menschlichen Lernens Aussagen machen zu können, sondern „Aussagen über die Beziehungen des Menschen zur Welt (also über Welthaltungen)“ (vgl. Marotzki 1998, 116, Hervorhebung i.O.), ihre Entwicklung und deren mögliche Veränderungen Aussagen zu machen und über Interpretationen von und Haltungen zur Welt sowie deren mögliche Modifikationen Auskunft geben zu können. Desweiteren gehe es darum, Aussagen über die Relation des „Menschen zu sich selbst, also Selbsthaltungen, im weitesten Sinne zu machen. Wenn man diese Ebenen in der Betrachtung fokussiert, dann befindet man sich automatisch im Terrain der Bildungstheorie. Insofern kann man sagen, daß jede Lerntheorie aus erziehungswissenschaftlicher Sicht bildungstheoretisch fundiert ist.[...] Bildungstheorie ist die größere Menge, die als Teilmenge Lerntheorie enthält“ (ebd., Hervorhebungen i.O.). Menschliches Verhalten in der Welt, bzw. Wahrnehmung, Aneignung und Interpretation von Welt vollzieht sich nach Marotzki immer in einem Prozess des Lernens. „Lernend verhalten wir uns zur Welt und wir verhalten uns immer zur Welt, insofern wir lernen. In philosophischer Terminologie kann man also sagen, daß Lerntheorien eine spezifische Explikationsebene von Subjekt-Objekt-Beziehungen darstellen“ (Marotzki 1990, 32). Diese Beziehungen werden in Form von sozialen und kognitiven Organisationsprinzipien gelernt, so dass kontextspezifische kognitive Muster (Interpunktionsweisen) entstehen, die unterschiedliche Arten darstellen, die Welt aufzuordnen. Unter dem Begriff der „Aufordnung“ fasst Marotzki (1998, 118f) im weitesten Sinne das Selbst- und Weltbild eines Menschen: 102 Kapitel 3 Bildung – Theoriefolie zur Analyse des empirischen Materials „Menschen haben kulturelle Schemata entwickelt, die es erlauben, Erfahrungen zu sortieren und zu bewerten, die ihnen aber zugleich die Mittel an die Hand geben, zu sagen, wer sie sind und wie sie die Welt sehen“. Analytisch geht es also darum, dass die Prinzipien nach denen oder durch die kontextspezifische Verhaltensmuster ausgebildet wurden, gelernt werden (vgl. Kap. 3.5.4, S. 90) und es dadurch dem Menschen grundsätzlich ermöglicht wird, sich anders zu verhalten, da er selbst die Prinzipien seiner eigenen (Verhaltens-)muster durchschauen kann. „Indem sich der Mensch selbst die Prinzipien seines Verhaltens bewußt machen kann, macht er sich die Welt auf andere Weise zugänglich“ (ebd. 120). Gesellschaftstheoretisch gewendet hat nach Hitzler (1999, 83) diese Transformation im Grunde schon stattgefunden: „Die Normalität des sozialen Lebens wird – ceteris paribus – vermutlich weniger aus harten, unausweichlichen und unauflösbaren Antagonismen bestehen als aus einer Vielzahl trivialer Handlungsprobleme aufgrund kleiner, im alltäglichen Umgang aber sozusagen permanenter Querelen, Schikanen und Kompromisse, die sich zwangsläufig entwickeln im Aufeinandertreffen und Aneinanderreiben kulturell vielfältiger Orientierungsmöglichkeiten und individueller Relevanzsysteme“. Der Mensch sei also durch die gesellschaftliche Entwicklung in der Moderne dazu befreit worden, zu entscheiden, wie er sein individuelles Selbst- und Weltverhältnis konstruiert, gleichzeitig sei es aber im Gegenzug nicht möglich, auf diese Entscheidung zu verzichten, da fraglose Konventionen nicht mehr existent sind. „Im Extremfall kann der Handelnde alle seine Lebensgewohnheiten zum Gegenstand seiner Entscheidungen machen, sie also dergestalt mental vom Fraglosen ins Verfügbare transformieren“ (ebd., 86). Bildung ist dann dementsprechend nur der reflexive Prozess des individuellen Nachvollzugs einer kollektiven Entwicklung, die das Fraglose in das Verfügbare transformiert hat und in dem der Einzelne individuelle Biographiekonzepte konstituiert, wobei Hitzler davon ausgeht, dass der Mensch in bestimmter Hinsicht nicht einmal Konstrukteur der eigenen Biographie ist im Sinne des Aufbaus einer geplanten, geordneten Struktur, sondern „das je eigene Leben [...] vom individualisierten Akteur typischerweise zusammengebastelt [wird] aus vielfältigen, kontingenten und oft widersprüchlichen Entscheidungen, Entschlüssen und aus dem, was praktisch aus diesen Entscheidungen und Entschlüssen folgt“ (ebd., 87). Bildung im Sinne einer Reflexion von internalisierten Weltaufordnungsschemata erscheint damit einigermaßen voraussetzungsvoll und möglicherweise an eine 103 Kapitel 3 Bildung – Theoriefolie zur Analyse des empirischen Materials besondere intellektuelle Konstitution gebunden. Diese These erscheint insbesondere vor dem Hintergrund der Zielgruppe „Adressaten von Jugendsozialarbeit im Kontext von Jugendhilfe“ im empirischen Teil dieser Arbeit zu überprüfen zu sein (vgl. Kap. 7.8, S. 408). 3.6.1 Zur Phänomenologie des Lernens In der Weiterentwicklung des lerntheoretischen Modells von Bateson (1942, 1964/1971, 1969), das in Adaption der logischen Typenlehre von Whitehead und Russel entwickelt wurde, versucht Marotzki die Phänomenologie der Lernprozesse zu verorten und sieht „Lernen“ als einen nicht immer schon auf den Menschen oder eine bestimmte Institution hin entwickelten und beschriebenen Begriff 18 . So entwickelt die Strukturale Bildungstheorie den Bildungsbegriff als eine analytisch-deskriptive Kategorie und schafft dadurch eine Matrix, in der die subjektive Haltung des einzelnen zu sich selbst und zu der Welt analysiert und diskutiert werden kann (vgl. auch Brüdigam 2001). Im Zuge der Auseinandersetzung mit der Frage, ob Lern- oder Bildungsprozesse als identische oder zu unterscheidende Prozesse verstanden werden können, erscheint Marotzki diese Theorie menschlichen Lernens geeignet zu sein, um „jenen Punkt zu markieren, an dem menschliches Lernen in einen Prozess umschlägt, der als Bildungsprozeß angesprochen werden kann“ (Marotzki 1990, 32) 19 . Marotzki liefert damit eine Argumentationsfigur, die es erlaubt, den Bildungsbegriff zu operationalisieren und als analytischen Begriff zu verwenden. Die Differenzierung des Lernbegriffs aufgrund der unterschiedlichen Qualitäten menschlichen Lernens und die Verwendung des bildungstheoretischen Rahmens für Lernprozesse höherer Ordnung bietet sich nach Marotzki zur Bearbeitung des Problemrahmens deshalb an, „weil innerhalb dieses Rahmens traditionell das Verhältnis des Subjekts zu sich selbst wie auch zur Welt thematisiert wird“ (Marotzki 1990, 31). Bateson versteht den Menschen in seiner Lerntheorie grundsätzlich als lernendes Subjekt in der Interaktion 20 , der durch das Lernen in einem „bestimmten Modus der 18 Eine umfassendere Einführung in das Werk und das Denken von Gregory Bateson findet sich bei Lutterer 2000, 2002. 19 Die Verwendung des Ebenenmodells von Bateson ist nicht ganz unproblematisch, da Marotzki in späteren Veröffentlichungen die einzelnen von Bateson beschriebenen Ebenen neu durchnummeriert (vgl. Marotzki 1998, 117; 2003, 18), was in der Rezeption zu Missverständnissen führt (z.B. Brüdigam 2001, 66). In der hier gewählten Darstellung des Typenmodells menschlichen Lernens folge ich der ursprünglichen Kategorisierung von Bateson (1964/1971) in fünf Ebenen, beginnend bei der Stufe Null. 20 Der Gedanke, dass sich Bildung auf zwischenmenschliches Handeln bezieht, findet sich auch in der Pointe der Bestimmung des Bildungsbegriffs bei Benner: Bildung mache nicht nur die 104 Kapitel 3 Bildung – Theoriefolie zur Analyse des empirischen Materials Erfahrungsstrukturierung“ (Marotzki 1990, 33), einer spezifischen Weise der Wirklichkeitswahrnehmung und Erfahrungsverarbeitung eine Beziehung zur Welt aufbaut, die Bateson „Interpunktionsweisen“ oder „Rahmungen“ nennt. Mit dem Begriff „Interpunktionsweise“ beschreibt Bateson die Gewohnheiten, durch die Sinneseindrücke, Sinneswahrnehmungen strukturiert werden und somit Anweisungen geben, Informationen im Kontext eines spezifischen Rahmens zu verstehen. Es gehe darum, so Bateson, durch „Gewohnheiten den Strom der Erfahrungen so zu interpunktieren, dass er die eine oder andere Art der Kohärenz annimmt“ (Bateson 1942, 224). Insofern werde durch erlernte (kulturelle) Muster und Gewohnheiten der Strom der Erfahrung in einer spezifischen Weise strukturiert und interpretiert. Am Beispiel von Kindern verdeutlicht Bateson, dass solche Gewohnheiten letztlich als „Nebenprodukt des Lernprozesses“ (ebd., 225) gelten können und auf Erfahrungen im alltäglichen Lebensvollzug zurückgehen. „Sie werden diese Erfahrung in ihre gesamte Lebensanschauung einbauen; sie wird alles ihre zukünftigen Einstellungen gegenüber der Autorität prägen. Immer wenn sie bestimmte Arten von Kontexten antreffen, werden sie dazu neigen, diese Kontexte als nach einem früheren Familienmuster strukturiert anzusehen“ (ebd., 225). Diese Form des Lernens ist von Bateson in der frühen Phase der Entwicklung seiner Lerntheorie als Deutero-Lernen bezeichnet worden. In Bezug auf die Bedeutung von Erwachsenen für das Aufwachsen und die Persönlichkeitsentwicklung von Kindern und Jugendlichen führt Müller (1996) die psychoanalytische Theorie der frühen Objektbeziehungen nach Mahler (1980) aus, die von ähnlichen Grundprämissen ausgeht und aufgrund ihrer Bedeutung für die empirische Analyse an anderer Stelle ausgeführt wurde (vgl. Kap. 3.5.4, S. 90). Diese Muster, nach denen die Welt aufgeordnet und gedeutet wird, bezeichnen nach Marotzki durch kognitive Organisationsprinzipien gesteuerte Denk- und Erfahrungsgewohnheiten, die sich in der Sozialisation herausgebildet haben. Der Kern der Bateson’schen Lerntheorie, deren theoretische Beweisführung auf der logischen Typenlehre von Whitehead und Russel (1910-1913) 21 basiert, besteht aus der Beschreibung menschlichen Lernens als einem Modell mit fünf logischen Typen, Beschaffenheit individueller Subjektivität aus, sondern beziehe „sich auf das zwischenmenschliche Handeln [...], das unter den doppelten Anspruch einer gegenseitigen Achtung der handelnden Personen sowie einer gemeinsamen Anerkennung des menschlicher Willkür unverfügbaren Sinnes von Wirklichkeit steht“ (Benner 1982, 75) 21 Nach Bateson besagt die Theorie der logischen Typenlehre, dass „keine Menge in der formalen Logik oder im mathematischen Diskurs Element ihrer selbst sein kann; daß eine Menge von Mengen nicht eine der Mengen sein kann, die ihre Elemente sind [...und] daß eine Menge nicht eine jener Einheiten sein kann, die zutreffend als ihre Nichtelemente klassifiziert werden“ (Bateson 1964, 363). 105 Kapitel 3 Bildung – Theoriefolie zur Analyse des empirischen Materials oder Ebenen, deren verbindende Logik die zunehmende Flexibilität auf den einzelnen Stufen ist, die ich im folgenden näher beschreiben werde. 22 Insgesamt erinnert die Pointe der Bateson’schen Lerntheorie von einer zunehmenden Flexibilität bei steigenden Lerntypus an die von Sennet (1998) in seinem Essay „The Corrosion of Character“ (dt.: Der flexible Mensch) aufgeworfenen Fragen nach den grundsätzlichen Auswirkungen einer durch veränderte globale Bedingungen der Arbeitswelt, die er mit dem Terminus „flexibler Kapitalismus“ kennzeichnet, modernisierten Gesellschaft, auf den Charakter als langfristiger „Aspekt unserer emotionalen Erfahrung“ (ebd., 11) des Menschen. Dieser sei eher auf langfristige Ziele, Kontinuität und Sicherheit angewiesen und stehe in einem konfliktuösen Verhältnis zum flexiblen Kapitalismus, der durch kurzfristige Arbeitsverhältnisse und flache Hierarchien eine neue Freiheit suggeriert, das Leben selbst zu gestalten, und Flexibilität vom Menschen verlangt, anstatt einer linearen Kanalisierung der Anstrengungen (=Karriere) im alten Sinne zu folgen. Ausgehend von der Geschichte und Bedeutung des Wortes „Flexibilität“ analysiert Sennet die Versuche der heutigen Gesellschaft, die vermeintlich wahrgenommenen negativen Folgen von Routine durch Flexibilität zu mildern. Der moderne Gebrauch des Wortes „Flexibilisierung“, das für Smith noch synonym mit „Freiheit“ war, steht nach Sennet für ein Machtsystem, das aus den drei Elementen diskontinuierlicher Umbau, flexible Spezialisierung der Produktion und Konzentration der Macht ohne Zentralisierung (vgl. 59) besteht. Dementsprechend stellt sich gesellschaftstheoretisch die Frage, ob das Konzept einer zunehmenden Flexibilität der Selbst- und Weltaufordnungen des Menschen im Sinne des Entwurfs einer strukturalen Bildungstheorie von Marotzki als ein kritischer Gegenentwurf zu ökonomischen Notwendigkeiten im Sinne Mitscherlichs (1963, 129) gelesen werden kann oder lediglich eine Anpassungsleistung des Menschen an veränderte Bedingungen des „flexiblen Kapitalismus“ darstellt. Da ein strukturaler Bildungsbegriff potentiell beide Funktionen erfüllen kann, bleibt empirisch zu klären, welche Prozesse tatsächlich ablaufen. In Bezug auf diese Arbeit heißt das zu klären, welche Möglichkeiten zu Bildung sich in den von den Adressaten thematisierten Inhalten im Sinne einer Rekonstruktion von Praxis in einem sozialpädagogischen Handlungsfeld dokumentieren. 22 Da im empirischen Teil dieser Arbeit durch die Beschreibung von Bildungsprozessen implizit auf die unterschiedlichen Qualitäten der Lernprozesse von benachteiligten Jugendlichen in Projekten der Jugendsozialarbeit Bezug genommen wird, erfolgt an dieser Stelle eine relativ ausführliche Beschreibung der einzelnen Stufen des Lernens nach Bateson. 106 Kapitel 3 Bildung – Theoriefolie zur Analyse des empirischen Materials 3.6.2 Die logischen Kategorien des Lernens Den Ausführungen zu den einzelnen logischen Kategorien des Lernens nach Bateson soll an dieser Stelle vorangestellt werden, dass er in seinen umfangreichen Analysen nachweist, dass Interaktionen aus komplexen Kommunikationsfiguren bestehen, „die sich dadurch auszeichnen, daß in der Regel eine Vielzahl von Lernebenen in enger oder wechselseitiger Verschlingung auftritt“ (Marotzki 1991, 122). 23 Lernen Null: Der Theorie der logischen Typenlehre folgend, kennzeichnet Bateson die unterste Stufe, die er als Lernen Null bezeichnet, als reines Reiz-Reaktions-Lernen, in dem gewissermaßen als „Sonderfall der Reaktion“ (Bateson 1964, 367) der Lernprozess im Reaktionsmuster bereits abgeschlossen ist, sich Gewöhnung zeigt, das L Lernen Null Lernen I Lernen II Lernen III Lernen IV Abb.4: Stufen des Lernens nach Bateson (1964) Reaktionsmuster durch genetische Faktoren determiniert ist oder in einfachen elektrischen Schaltungen sich die Reaktion aus der Schaltungsstruktur ergibt, die 23 Diese Anmerkung hat mich letztlich dazu inspiriert von der gängigen Darstellung des Bateson’schen Lernebenenmodells in Form einer Pyramide abzuweichen (vgl. Marotzki 1998, 117) und stattdessen durch die elliptische Form der einzelnen Typen anzudeuten, dass in der Realität die einzelnen Typen nicht in Reinform auftreten, sondern wechselseitig verschlungen erscheinen. 107 Kapitel 3 Bildung – Theoriefolie zur Analyse des empirischen Materials ihrerseits selbst keinen Veränderungen unterworfen wird. Auf dieser Ebene sind also nur starre Reiz-Reaktions-Mechanismen wirksam, die wenn überhaupt nur ein sehr eingeschränktes Lernen ermöglichen, d.h. aufgrund eines Reizes wird eine Reaktion erlernt, die unabhängig von der Situation immer wieder abrufbar und produzierbar ist. Aus dieser kurzen Darstellung wird bereits deutlich, dass Bateson den Vorgang des Lernens von der Phänomenologie her analysiert und damit ein nicht-menschliches Lernen mit einschließt. So stellt sich Bateson beispielsweise nicht die Frage, ob Maschinen lernen können, sondern welche Ebenen oder Ordnungen des Lernens von Maschinen erreicht werden können (vgl. Bateson 1964, 368). Der Theorie der logischen Typenbildung folgend bezeichnet die formal nächst höhere Stufe die Veränderungen auf der jeweils vorherigen Stufe. Folgt man der Vorstellung, dass alles Lernen, außer dem auf der Ebene Null, stochastisch ist und damit Teile von Versuch und Irrtum beinhaltet, „dann folgt, daß eine Ordnung der Lernprozesse auf eine hierarchische Klassifizierung der Irrtumstypen gestützt werden kann, die in den vielfältigen L3ernprozessen korrigiert werden sollen. >Lernen Null< wird dann zur Bezeichnung für die unmittelbare Grundlage all jener (einfachen und komplexen) Akte, die nicht der Berichtigung durch Versuch und Irrtum unterworfen sind“ (ebd., 371). Entsprechend der Theorielogik bezieht sich dann Lernen I auf die Wahl eines Elementes aus der Menge oder Klasse von Alternativen, Lernen II auf die Menge oder Klasse der Alternativen als solche und so fort. Lernen I Entsprechend der formalen Analogie finden sich auf der nächst höheren Ebene, nach Bateson Lernen I, insbesondere solche Fälle, in denen in zeitlicher Perspektive unterschiedliche Reaktionen möglich sind. Die Lernprozesse auf dieser Ebene werden überwiegend von den klassischen Lerntheorien erfasst (z.B. Pawlow’sche Konditionierung) und weisen auf die Annahme einer Bedeutung des (sozialen) Kontextes für Lernen hin. Die Aneignung von Wissen ist abhängig von den Kontextbedingungen, bzw. bezieht diese in den Lernprozess mit ein. Eine Person reagiert in unterschiedlichen Kontexten demnach verschieden auf den gleichen Reiz, bzw. eignet sich Wissen unter der Berücksichtigung des aktuellen Kontextes an, in dem die Information repräsentiert wird. Das setzt jedoch voraus, dass der Organismus durch Kontextmarkierungen in die Lage versetzt wird, Kontexte voneinander zu unterscheiden. Nach Bateson werden Kontextmarkierungen dadurch charakterisiert, dass sie Informationsquellen für den Organismus darstellen, die es erlauben, unterschiedliche Kontexte zu klassifizieren. Das gilt für die Ebene menschlichen Lernens auch für die „Markierung von Kontexten von Kontexten“ (vgl. Bateson 1964, 375). Marotzki weist darauf hin, dass er im Kontext menschlichen Lernens die 108 Kapitel 3 Bildung – Theoriefolie zur Analyse des empirischen Materials sprachliche Verwendung der Begriffe Reiz und Reaktion reinterpretiert als Problem (Reiz) und Problembearbeitung (Reaktion) (vgl. Marotzki 1998, 118). Durch das Lernen in unterschiedlichen Kontexten bilden sich „kognitive Schemata“ (Marotzki 1990, 35), („Interpunktionsweisen“ oder „Rahmungen“) aus. In den weiteren Ausführungen verwendet Marotzki den Begriff Kontext für soziale Situationen, während er von Rahmen im Sinne kognitiver Schemata spricht (vgl. Marotzki 1998, 118). Lernen II Die dritte Ebene (Lernen II) ist gekennzeichnet durch die „Veränderung im Prozeß des Lernens I, z.B. eine korrigierende Veränderung in der Menge von Alternativen, unter denen eine Auswahl getroffen wird, oder es ist eine Veränderung in der Art und Weise, wie die Abfolge der Erfahrung interpunktiert wird“ (Bateson 1964, 379). Bezog sich Lernen I noch auf die – je nach Priorität bestimmte – Auswahl eines spezifischen Elementes aus einer Menge, so bezieht sich Lernen II auf die Modifikation dieser Mengen und verändert damit die Form des Lernens: Der Prozess des Lernens selbst wird erlernt. „Indem das Subjekt nun die Menge verändert, aus der es Reaktionsmöglichkeiten auswählt, ändert es die Gewohnheiten seines Verhaltens, ändert es die Art und Weise, seine Erfahrungen zu interpunktieren“ (Marotzki 1990, 38). Auf dieser Stufe werden nach Marotzki die „Konstruktionsprinzipien der Weltaufordnung gelernt“ (Marotzki 1998, 119), die an das Subjekt gebunden sind und nicht mehr an der Realität überprüfbar sind. Mit anderen Worten werden auf dieser Stufe des Lernens die an das Subjekt gebundenen Alternativen zu Gewohnheiten und Routinen erlernt, die eine Veränderung des Welt- und - damit wechselseitig verbunden – des Selbstbezuges bewirkt und bewusstseinszentriert und egologisch zur Geltung kommt (vgl. Marotzki 1990, 46). Auf dieser Ebene ist somit die Möglichkeit zur Veränderung der „Interpunktionsweisen“ oder „Rahmungen“ gegeben. Bateson charakterisiert die inhaltliche Füllung dieser Stufe folgendermaßen: „Kurz gesagt, ich glaube, daß alle Phänomene des Lernens II unter der Rubrik von Veränderungen in der Art, wie der Handlungs- und Erfahrungsstrom zusammen mit den Veränderungen in der Verwendung von Kontext-Markierungen in Kontexte unterteilt und interpunktiert zusammengefaßt werden kann“ (ebd., 379). Bateson führt aus – und das ist vor allem für die Bedeutung der folgenden entwickelten Stufen wichtig – dass Lernen II vor allem in der frühen Kindheit entwickelt wird und über eine große Dominanz späterer Lernprozesse verfügt. Es erhält den Charakter einer selbstbestätigenden Instanz, die für das Subjekt eine existentielle Bedeutung besitzt. „Es folgt, daß Lernen II, wie es in der Kindheit erworben wird, sich tendenziell im ganzen Leben durchhält. Umgekehrt müssen wir damit rechnen, daß viele der 109 Kapitel 3 Bildung – Theoriefolie zur Analyse des empirischen Materials wichtigen Charakteristika der Interpunktion von Erwachsenen ihre Wurzeln in der frühen Kindheit haben. Im Hinblick auf die Unbewußtheit dieser Interpunktionsgewohnheiten beobachten wir, daß das „Unbewußte“ nicht nur unterdrücktes Material, sondern auch die meisten Prozesse und Gewohnheiten der Gestaltwahrnehmung einschließt. Subjektiv sind wir uns unserer „Abhängigkeit“ bewußt, aber unfähig, klar zu sagen, wie dieses Muster zustande kam oder welche Hilfsmittel wir bei seiner Erschaffung verwendet haben“ (Bateson 1964, 389) 24 . Daraus folgt, dass die von Therapeuten und Erziehern initiierten Lernprozesse, in denen Gewohnheiten verändert werden, letztlich nur durch neue Gewohnheiten ersetzt werden, die wiederum die Rolle der Selbstbestätigung des Charakters übernehmen. Marotzki bezeichnet diese Stufe des Lernens als „Bildung“, da sich der konkrete Bezug der Lernprozesse auf dieser Stufe auf „die Konstruktionsprinzipien der Selbstund Weltaufordnung“ (Marotzki 1998, 118) richtet, also auf ein Weltverhältnis des Subjektes und auch auf ein Selbstverhältnis des Subjektes (vgl. Marotzki 1990, 41) und die Modifikation von Rahmungen („Interpunktionsweisen“) ermöglicht. In diesem Sinne entwirft Marotzki also diejenigen Lernprozesse als Bildungsprozesse, die sich „auf die Veränderung von Interpunktionsprinzipien von Erfahrung und damit auf die Konstruktionsprinzipien der Weltaufordnung beziehen [...]. Als erstes Bestimmungsmoment ergibt sich dann, daß sich Bildungsprozesse [...] auf ein Weltverhältnis des Subjektes beziehen. Das zweite Bestimmungsmoment [...] besteht darin, daß sich Bildungsprozesse, durch das Weltverhältnis bedingt, auch auf das Selbstverhältnis der Subjekte beziehen“ (ebd., 41). Marotzki greift dabei explizit auf die Begriffsauffassung Peukerts zurück, der ebenfalls zwischen Lernen und Bildung unterscheidet, in dem er davon ausgeht, dass der Lernprozess die Vermehrung von Wissen in festen Schemata bezeichne, während der Bildungsprozess auf die Veränderung der Schemata selbst hinweise. Der Bildungsprozess sei ein Spezifikum des Menschen und führe zu der Ausprägung eines neuen Selbst- und Weltverhältnisses (vgl. ebd.). Mit anderen Worten bekräftigt Marotzki mit dieser Feststellung den Zusammenhang zwischen Welt- und Selbstaufordnung – ändert sich die Interpunktion für das Verständnis von Welt, so ändert sich ebenfalls die Interpunktion des Selbstverständnisses und umgekehrt. Daraus schließt Marotzki (1990, 42), dass „Bildungsprozesse [...] also, das trifft sowohl für Dilthey als auch für Bateson zu, nicht inhaltlich, sondern – das wäre meine These – nur strukturtheoretisch bestimmbar [sind]“. 24 Vgl. auch: Habituskonstruktion bei Boudieu , Kap. 3.6.3, S.115, und Kap. 4.3.3, S. 133) 110 Kapitel 3 Bildung – Theoriefolie zur Analyse des empirischen Materials Lernen III Die nun folgende Stufe, die Bateson als Lernen III bezeichnet (bei Marotzki Bildung II), zeichnet sich dadurch aus, dass sich das Subjekt selbst als Akteur wahrnimmt und folglich Rahmungen nicht als Teile einer phylogenetisch vorfindbaren Menge identifizierbar sind, sondern durch ihn selbst als kreativ Handelnder und Konstrukteur entwickelt werden. Das Subjekt nimmt sich dadurch als einzigartig in seiner spezifischen Art mit einer unverwechselbaren Weise die Welt aufzuordnen wahr und steigert – wie Marotzki es ausdrückt – so den Selbstbezug seiner Rahmungen. Aufgrund seiner interaktiven Vermitteltheit begreift das Subjekt sich selbst als Aktor, d.h. er lernt sich selbst als denjenigen kennen, „der die Welt immer schon in einer spezifischen Weise aufordnet“ (Marotzki 1990, 44). Formal führt Bateson diesen Typ analog der Typenlehre von Whitehead und Russel folgendermaßen ein: „Lernen III ist Veränderung im Prozeß des Lernens II, z.B. eine korrigierende Veränderung im System der Mengen von Alternativen, unter denen eine Auswahl getroffen wird.“ (Bateson 1964, 379). Insofern Lernen III einen Lernen über das Lernen II darstellt kann es entweder zur Steigerung des Freiheitsgrades, also einer Verstärkung des Lernens II führen, oder gerade jene Prozesse des Lernens II reduzieren, da die neu gewonnene Freiheit durch Lernen III die Notwendigkeit einer Neudefinition des Selbst aufzeigt. „Wenn ich auf der Ebene des Lernens II stehenbleibe, bin „ich“ die Gesamtheit meiner Charakteristika, die ich als meinen „Charakter“ bezeichne. „Ich“ bin meine Gewohnheiten, im Kontext zu handeln und die Kontexte zu gestalten und wahrzunehmen, in denen ich handle. Individualität ist ein Resultat oder eine Ansammlung aus Lernen II. In dem Maße, wie ein Mensch Lernen III erreicht und es lernt, im Rahmen der Kontexte von Kontexten wahrzunehmen und zu handeln, wird sein „Selbst“ eine Art Irrelevanz annehmen. Der Begriff „Selbst“ wird nicht mehr als ein zentrales Argument in der Interpunktion der Erfahrung fungieren.“ (Bateson 1964, 393). In dieser Darstellung wird deutlich, dass auf der Stufe Lernen III (Bildung II) die Geltung einer bewusstseinszentrierten und egologischen menschlichen Subjektivität zurücktritt und ein „stärker an den Strukturen ökologischer Kreisläufe orientiertes Subjekt zum Zuge [kommt]“ (Marotzki 1990, 46) 25 . Marotzki weist darauf hin, dass 25 In dieser Hinsicht interpretiere ich auch das Zitat von Kierkegaard, das dieser Arbeit voransteht: Grundsätzlich ist der Mensch in der Lage, einen Zustand zu erreichen, in dem er sich in einem solchen Maße von seinem eigenen Charakter (seinen Selbst- und Weltaufordnungen) lösen kann und sie als eine Möglichkeit unter anderen wahrnimmt, dass er seinen Charakter transzendiert und seine Umgebung spiegelt. Das diese Phänomene vielleicht nicht grundsätzlich so selten sind, wie Bateson oder Marotzki annehmen, sondern vielmehr in 111 Kapitel 3 Bildung – Theoriefolie zur Analyse des empirischen Materials zwischen Individualität und Subjektivität deutlich unterschieden werden müsse. Subjektivität, als Resultat des Lernens auf Stufe III im Sinne der Steigerung des Selbstbezuges, sei nach Marotzki gekennzeichnet durch die Überwindung von der auf Lernen II entwickelten Individualität. Auf der Stufe Lernen III liege die Möglichkeit, nicht nur unterschiedliche Gewohnheiten der Weltaufordnung zu lernen, sondern sich selbst als Konstrukteur dieser Gewohnheiten wahrzunehmen. Damit spricht Marotzki das zentrale Moment der Mündigkeit an und verweist dazu auf die Auffassung Heydorns (1980), (vgl. Kap. 3.5.5, S. 92). Bateson fasst das lernende Subjekt nicht nur als rationales System der Informationsverarbeitung auf, sondern legt den Schwerpunkt auf die unbewussten, nicht-rationalen Strukturen, die bei Freud unter dem Begriff der Primärprozesse zusammengefasst sind, und die es – so Bateson weiter – im Kontext von Lernprozessen verstärkt zu mobilisieren gilt. Die Steigerung des Selbstbezuges drückt somit also nicht aus, dass es auf dieser Ebene des Lernens zu einer verstärkten Abgrenzung von sozialen Kontexten im Sinne der Entwicklung von gesteigertem Egoismus kommt, sondern dass der Mensch die aktuellen Modi der Welt- und Selbstaufordnung als eine Möglichkeit unter anderen Möglichkeiten sieht und im Gegensatz zur Stufe Lernen II, in der es um die Ausbildung neuer Rahmungen ging, d.h. von einer Gewohnheit in eine neue gewechselt wurde, in der folgenden Stufe Lernen III etwas darüber lernt, wie überhaupt Rahmungen, Gewohnheiten individuell ausgebildet werden. Durch Lernen III erreicht das Subjekt eine gesteigerte Flexibilität des Umgangs mit den in Lernen II erworbenen Verhaltensweisen und sieht sich damit in die Lage versetzt, „mit verschiedenen Weisen der Weltaufordnung und der eigenen Identitätskonzepte spielerisch umgehen zu können“ (Marotzki 1998, 120). Einen solchen spielerischen Umgang mit Identitätskonstruktionen erlauben zunehmend digitale Räume im zunehmenden Lebensalter abnehmen, da die Selbstbestätigungsfunktion von Lernen II mit steigendem Alter manifester wird, kann vielleicht an Beispielen aus der Beobachtung von Kindern deutlich werden: Kinder können sich so sehr in eine Aktivität, eine Umwelt „verlieren“ (im wahrsten Sinne des Wortes), dass sie „selbstvergessen“ Zeit und Raum überwinden und sich der aktuellen Interpretation ihrer gegenwärtigen Welt hingeben und sich von selbst-entwickelten kognitiven Schemata lösen können. Einschränkend stellt sich jedoch die Frage, ob das Erreichen der Stufe Lernen III gewissermaßen einen zu erreichenden Endzustand darstellt, oder ob – wie in dem Beispiel des spielenden Kindes – bereits die „kontemplative“ Vertiefung in die umgebende Umwelt im Sinne eines Oszillierens zwischen den Stufen II und III als solches den Prozess eines gesteigerten Selbstbezuges kennzeichnet. Im Gegensatz spricht Bateson von einer „tiefgreifende[n] Umstrukturierung des Charakters“ (Bateson 1964, 390), z.B. in therapeutischen Situationen, religiösen Bekehrungen und anderen Sequenzen, die für eine Lesart der Stufe III als Telos sprechen und einer Bestimmung wie Marotzki sie favorisiert im Sinne eines spielerischen Umgangs mit Identitätskonzepten und Welt- und Selbstaufordnungen relativ wenig Raum lässt. 112 Kapitel 3 Bildung – Theoriefolie zur Analyse des empirischen Materials Cyberspace - darauf verweist Marotzki in späteren Veröffentlichungen (vgl. 1998, 122; 2000, 247) unter Rekurs auf Turkle (1995, 180): „The Internet has become a significant social laboratory for experimenting with the constructions and reconstructions of self that characterize postmodern life. In it’s virtual reality, we selffashion and self-create“ (zit. nach Marotzki 2000, 247). Solche neuen sozialen Räume bieten Jugendlichen die Möglichkeit, unterschiedliche Identitäten in OnlineCommunities anzunehmen und mit diesen Identitäten in einen interaktiven Prozess einzutreten. Dieser Effekt des Lernens kann – wie Bateson (1964) ausführt – unterschiedliche Formen annehmen und birgt auch Gefahren in sich, da er im Falle eines Scheiterns ins Pathologische abgleiten kann: „Schon der Versuch, auf die Ebene III zu gelangen kann gefährlich sein, und einige werden dabei scheitern. Diese werden von der Psychiatrie oft als psychotisch etikettiert, und viele von ihnen sehen sich daran gehindert, das Pronomen der ersten Person zu benutzen“ (ebd., 395). Marotzki (1998) sieht demgegenüber auf dieser Stufe den oft in der Bildungstheorie beschriebenen Status, im Zuge dessen sich der Mensch über die Änderung der Modi der eigenen Selbst- und Weltaufordnung habhaft wird repräsentiert und verweist dabei auf Heydorn, der diesen Zustand als Mündigkeit im Sinne einer „Selbstfindung des Menschen, der Prozeß seiner Habhaftwerdung, seines wahren Bewußtseins von sich selber. Bildung ist ein entschiedenes Mittel dieses Prozesses“ (Heydorn 1980, 97, zit. nach Marotzki 1998, 121) fasst. Marotzki versteht im Gegensatz zu Heydorn Bildung bereits als den Prozess der Habhaftwerdung des Menschen über sein Bewusstsein, der – um einer möglichen Bedrohung durch Kontingenz- oder Komplexitätssteigerungen nicht zu erliegen, „für jedermann zu einer unverzichtbaren, ja lebensnotwendigen Fähigkeit wird“ (Marotzki 1990, 48). Lernen IV Fasst man die Logik der unterschiedlichen Lernebenen als Zuwachs an Flexibilität des Subjekts auf, durch die immer komplexere Informations- und Problemeinheiten bearbeitbar werden (vgl. Marotzki 1990, 51), so kann in der Weiterführung der logischen Typenlehre nach Whitehead und Russel mit Bateson die formal folgende Lernebene noch identifiziert werden: „Lernen IV wäre die Veränderung im Lernen III, kommt aber vermutlich bei keinem ausgewachsenen lebenden Organismus auf dieser Erde vor. Der Evolutionsprozeß hat jedoch Organismen hervorgebracht, deren Ontogenese sie zum Lernen III bringt. Die Verbindung von Ontogenese und Phylogenese erreicht in der Tat Lernen IV“ (Bateson 1964, 379). 113 Kapitel 3 Bildung – Theoriefolie zur Analyse des empirischen Materials Dieser logischen Ebenen des Lernens folgend ist es möglich, Lernprozesse zu klassifizieren in solche, „die auf der Basis fester Lernvoraussetzungen (Schemata, Rahmen, Muster) Wissen vermehren und solchen Lernprozessen, die die zugrundeliegenden Lernvoraussetzungen (Schemata, Rahmen, Muster) transformieren“ (Marotzki 1998, 123). Letztere bezeichnet Marotzki aufgrund der Veränderung des Selbst- und Weltverhältnisses als Bildung. Marotzki weist darauf hin, dass die Veränderung des Weltbezuges, die er im Rahmen der Auseinandersetzung mit Bateson als Bildung bezeichnet, der Sache nach auch als Weltanschauungsveränderung verstanden werden kann. So argumentiert er an dieser Stelle auch mit Dilthey (1982), der Weltanschauung als „das in den Verhaltensweisen gegründete Erfahren [zusammen genommen] zu einer objektiven gegenständlichen Einheit“ versteht, die im Sinne eines Orientierungsrahmens für das Subjekt die spezifischen Erfahrungen organisiert. Diese Weltanschauungen stellen also lediglich einen Interpretationsrahmen für ein Selbst-und Weltverhältnis bereit, der jedoch kein praktisches Verhalten einschließen muss. (vgl. Dilthey 1982, 380). Darin begründet sich die These von Marotzki, dass es letztlich keine allgemeine Definition von Bildung geben kann (vgl. Menze 1983, 350), sondern Bildung lediglich strukturtheoretisch bestimmbar ist. Die strukturale Bestimmung von Bildung in der Rekonstruktion dieses lerntheoretischen Modells ermöglicht es, den Bildungsbegriff über den Begriff „Lernen“ zu operationalisieren und damit einer empirischen Untersuchung zugänglich zu machen. Dabei orientiert sich Bildungsforschung, als eine auf das Subjekt gerichtete Biographieforschung, jedoch notwendigerweise immer an der Individualität des Einzelnen und blendet in dieser „mikrologischen Perspektive“ (Marotzki 1998, 125) notwendigerweise die soziale Strukturiertheit der Einstellungen und Weltaufordnungen aus. Auch wenn Marotzki das menschliche Lernen grundsätzlich als ein interaktionsbezogenes Lernen kennzeichnet (vgl. Marotzki 1990, 52), so steigt nach Batesons‘ Einsicht von Stufe zu Stufe das Komplexitätsniveau und gleichzeitig auch das Niveau individueller Freiheit kontinuierlich an. Gleichzeitig muss dies allerdings nicht bedeuten, dass eine solche Auseinandersetzung wie in Stufe Lernen III beschrieben, individualisiert und isoliert stattfinden muss, sondern durchaus auch pädagogisch gestaltete Settings eine solche Ebene befördern oder behindern können. Die Strukturale Bildungstheorie bietet also einen theoretischen Rahmen, der als Erkenntniswerkzeug die biographischen Entwicklungsprozesse von Individuen im Kontext bildungstheoretischer Überlegungen empirisch operationalisierbar macht und eine biographische Rekonstruktion ermöglicht. So ist sie eine Theorie biographischer Prozessverläufe, die als Bildungs- oder Lernprozesse empirisch durch Methoden der 114 Kapitel 3 Bildung – Theoriefolie zur Analyse des empirischen Materials qualitativen Bildungs- und Sozialforschung rekonstruiert werden können. Sie liefert darüber hinaus aber auch Ansatzpunkte für die Weiterentwicklung eines Bildungsbegriffs als Theorie der Beschaffenheit seiner Phänomene – dabei stützt sie sich jedoch einseitig auf die individuelle Perspektive der Individuen und lokalisiert Bildung letztlich als ein intra-individuelles Phänomen. Wird Bildung nun demgegenüber als kollektives Phänomen verstanden, in dem Individuen auf eine bestimmte Art und Weise in einer Gruppe handeln, so lassen sich Anforderungen beschreiben, die auf den Begriff der Bildung verweisen. Die Rahmungen, mit denen Marotzki in Anlehnung an Bateson die Interpunktionsweisen thematisiert, nach denen Individuen die Welt aufordnen, interpretieren und in einen für sie sinnvollen Zusammenhang bringen, sind in der Strukturalen Bildungstheorie – zumindest was ihre Entstehungsgeschichte angeht – bislang unzureichend beschrieben worden. Es entsteht der Eindruck, als würden diese Rahmungen individuell generiert werden, ohne dass der soziale Raum, die sozialen Felder einen Einfluss auf diese Rahmungen haben. Auch wenn es zunächst nachvollziehbar und logisch erscheinen mag, dass – folgt man dem postmodernen Diskurs – Menschen mehr und mehr zum Gestalter der eigenen Biographie werden, so vollzieht sich diese Individualisierung aber in einem gesellschaftlichen – d.h. sozialen Rahmen und nicht ausschließlich als reines Merkmal einer Persönlichkeit. Das Individuum ist aufgrund gesellschaftlicher Abhängigkeiten je nach Milieuzugehörigkeit dennoch immer mehr oder weniger stark eingebettet in gesellschaftliche Strukturen Gestaltungsmöglichkeiten der und Zwänge, eigenen die Biographie einen haben Einfluss und auf die die diese Individualisierung und Wahlmöglichkeit (Flexibilität), so die These, - wenn vielleicht auch nicht für alle – aber zumindest für die Menschen, die von gesellschaftlichen Ausgrenzungstendenzen der Arbeitslosigkeit, Armut oder Benachteiligung betroffen sind, reglementieren und beschränken. 3.6.3 Strukturale Bildung und sozialer Bezug In der Praxis der so genannten Bildungsarbeit, die es im engeren Sinne der Strukturalen Bildungstheorie von Marotzki in dieser Bezeichnung für das an dieser Stelle angesprochene Feld der pädagogischen Arbeit eigentlich gar nicht geben kann, sondern die vielmehr „Bildungsangebotsarbeit“ oder „Bildungsermöglichungsarbeit“ heißen müsste, scheint es – nimmt man die unterschiedlichen Angebotsformen einmal zusammen – neben praktischen, pragmatischen und von ökonomischen Gründen geleiteten Erwägungen eine diffuse Vorstellung davon zu geben, dass auch die 115 Kapitel 3 Bildung – Theoriefolie zur Analyse des empirischen Materials Bedeutung des konkreten sozialen Umfeldes für die Bildung des Einzelnen bedeutungsvoll ist: In vielen pädagogischen Feldern wird – gerade in der Bildungsarbeit, die in Schulen stattfindet, oder in außerschulischen Feldern der Jugendarbeit, der Jugendverbandsarbeit und der Jugendsozialarbeit und den vorschulischen Feldern des Kindergartens, der Kindertagesstätten oder der Schulkindergärten mit Gruppen gearbeitet. Auch wenn eine solche Argumentation im Sinne einer empirischen Überprüfbarkeit der Gründe für die pädagogische Gruppenarbeit einigermaßen problematisch ist, kann dennoch auf die Auseinandersetzung mit dem sozialen Feld des Individuums in Bezug auf seine Bedeutung für die Ausbildung von Rahmungen und die Auseinandersetzung mit Rahmungen nicht verzichtet werden. Das Selbst- und Weltverhältnis ist dagegen, wie deutlich wurde, kontextabhängig und nicht nur individuell strukturiert und basiert nicht nur auf der individuell-kritischen Auseinandersetzung mit sich selbst und der Welt. Die Kontextabhängigkeit verdeutlicht, dass die Rahmungen von Gruppen und Kollektiven, sowie von den materiellen und kulturellen Ressourcen der Adressaten massiv beeinflusst werden (vgl. Weyers 2002). Eine mögliche Aufgabe wissenschaftlich - empirischer sozialer Arbeit könnte es somit sein, sich mit den Kontextbedingungen auseinanderzusetzen, die Bildung im Sinne einer Veränderung von Rahmungen ermöglichen. Mit Blick auf die Sprache und Kultur eines Landes als eine entscheidende Kontextmarkierung für die Welt- und Selbstansicht der Subjekte kennzeichnet Bock (2004, 103) Lebensweltanalysen und ethnomethodologische Fragen als Fragenkomplex einer bildungstheoretischen Perspektive in der Kinder- und Jugendhilfeforschung. Augenscheinlich reicht es nicht aus, nur zu untersuchen, ob Veränderungen biographisch rekonstruiert werden können – vielmehr müsste es darum gehen, die Bedingungen einer kollektiven Praxis zu rekonstruieren, die Bildung als einen subjektiven, individuellen Prozess erst ermöglichen. So ist eine Aufgabe dieser Untersuchung auch, herauszuarbeiten, ob Jugendsozialarbeit, als ein Praxisfeld Sozialer Arbeit, im Sinne einer Bildungschancenanalyse (vgl. Herz/Jäger 1999) rekonstruiert werden kann und ob Faktoren für die Gestaltung des Feldes zur Steigerung der Potentialität von informeller Bildung beschrieben werden können. Aus den bisherigen Ausführungen zur strukturalen Bildungstheorie und zum Konzept informellen Lernens, bzw. informeller Bildung wird deutlich, dass das Konzept des informellen Lernens rein reaktiv in der Beschreibung von Lernprozessen außerhalb von Schule als Institution formalisierten Lernens ist und darüber hinaus sich als Handlungskonzept für die Gestaltung von Sozialer Arbeit als ungeeignet erscheint, 116 Kapitel 3 Bildung – Theoriefolie zur Analyse des empirischen Materials wenn es nicht um die Perspektive des sozialen Raumes oder des Habitus erweitert wird. Bildung im Verständnis einer Veränderung von Rahmungen und Auseinandersetzung mit Orientierungsmöglichkeiten, die an ein Individuum z. B. durch institutionelle Gegebenheiten (z.B. Jugendsozialarbeit), politische Entscheidungen oder Erfahrungsräume und Zusammenhänge, in denen die Individuen eingebunden sind, herangetragen werden weist eine soziale, resp. kollektive Komponente auf. Der Umgang mit den Orientierungsmöglichkeiten wird nicht - wie dies bei Marotzki und vielen anderen Bildungstheorien angenommen wird – ausschließlich individuell geistig geklärt, sondern durch soziale Aushandlungsprozesse mitbestimmt. Die sozialen Bezüge des Einzelnen in Form von Gruppen oder anderen Formationen erhalten eine entscheidende Bedeutung bei der Frage, in welche Richtung eine mögliche Veränderung von Rahmungen, Interpunktionsweisen, die Welt auf eine bestimmte Art und Weise aufzuordnen, gehen wird. Die Strukturale Bildungstheorie wird in der Dissertation dazu verwandt 26 , die von Bohnsack/Nohl (1998) beschriebenen Typen der Sphärenorientierung im Kontext eines Bildungsbegriffs zu thematisieren. Eine solche Thematisierung findet sich zum einen nicht in der strukturalen Bildungstheorie, da diese durch die ihr inhärente Logik der von Stufe zu Stufe zunehmenden Freiheit und Flexibilität des Subjektes die Prozesse des Einzelnen zu beschreiben in der Lage ist, zum anderen wurde der Bildungsbegriff in der Frage der Auseinandersetzung mit den Spannungen zwischen einer inneren und einer äußeren Sphäre bei Bohnsack/Nohl nicht weiter expliziert. An dieser Stelle versucht die Arbeit, anhand von empirischen Daten aus Gruppendiskussionen mit benachteiligten Jugendlichen in Projekten der Jugendsozialarbeit heraus zu arbeiten, dass die Herausforderung für Bildungsprozesse in der Jugendsozialarbeit im Sinne der Explikation eines Bildungsbegriffes in der strukturalen Bildungstheorie in der Auseinandersetzung mit einer inneren und äußeren Sphäre liegt, die sich bei Jugendlichen nicht nur individuell vollzieht, so wie es die strukturale Bildungstheorie annimmt, sondern, dass Bildungsprozesse immer auch Aushandlungsprozesse in einem sozialen Feld sind, die zwar individuell vollzogen sind, jedoch gesellschaftlich vermittelt werden. Der Begriff der inneren Sphäre erinnert sehr den Begriff des Habitus wie er von Bourdieu ausgearbeitet wurde, da die Existenzweise der inneren Sphäre „an die über die Herkunftsfamilie vermittelte soziale Identität des Geschlechts und der sozialen und 117 Kapitel 3 Bildung – Theoriefolie zur Analyse des empirischen Materials kulturellen Herkunft gebunden [ist] und [...] als solche ihren Fokus in den familialen und verwandtschaftlichen Beziehungen [hat]“ (Bohnsack 2002, 131). Da weder Marotzki noch Bohnsack/Nohl der Frage nachgehen, wie Rahmungen, bzw. innere Sphären entstehen, könnte es an dieser Stelle aussichtsreich sein, die von Kessl u.a. 2005 im Kontext der Konstruktion von Jugendhilfe als non-formeller Bildung unter Berücksichtigung des sozialräumlichen Kontextes (vgl. Kap. 3.4.2, S. 76ff) ausgeführten Prämissen für ein Bildungsverständnis sozialpädagogischer Praxis um die Frage des sozialen Kontextes für die Entwicklung und die Transformation von Rahmungen zu erweitern. In diesem Zusammenhang liefert Bourdieu einen entscheidenden Ansatz, wenn die Phänomene der inneren Sphäre oder der kognitiven Rahmung mit dem Konzept des Habitus gleichgesetzt werden. Insofern kann auf der Grund der Wirkmächtigkeit der inneren Sphäre angezweifelt werden, ob ihre Konstruktion als eine Art familiär vermittelter Orientierungsrahmen, der durch erfolgreiche Auseinandersetzung konserviert, transformiert oder negiert werden kann und somit lediglich eine Orientierung unter möglichen anderen Orientierungen, die austauschbar ist, aufrecht erhalten werden kann. In der Auseinandersetzung mit Wissen und Habitus führt Maasen (1999,36) aus, dass es Bourdieu mit dem Konzept des Habitus „um die Produktion und Reproduktion ‚kulturellen Kapitals‘ [geht], um die (auch antizipatorische) Internalisierung seiner Inhalte sowie deren Funktion für die Distinktion und die soziale Schließung soziokultureller Milieus“. Dabei bezeichnet das kulturelle Kapital „die Gesamtheit der Fähigkeiten, Gewohnheiten und Stile, die sich Kinder und Jugendliche wie Erwachsene im Laufe ihres Lebens aneignen“ (Kessl u.a. 2005, 21). Das dafür notwendige handlungsleitende Wissen wird von Bourdieu als „praktisches Wissen“ gefasst. „Dieses praktische Wissen, das den Akteuren selbst nicht gegenwärtig ist, im Gegenteil, der Verkennung unterliegt [...] bezeichnet Bourdieu als Doxa“ (Maasen 1999, 36f.). Bourdieu bezeichnet den Habitus – ausgehend von den Überlegungen aus der Scholastik von Thomas von Aquin über die Arbeiten von Panofski – als „System dauerhafter und übertragbarer Dispositionen“, die als „Erzeugungs- und Ordnungsgrundlage für Praktiken und Vorstellungen“ fungieren (Bourdieu 1987: 98 nach: Krais/Gebauer 2002, 5) und zwar im Sinne einer „Spontaneität ohne Wissen und Bewußtsein“ (ebd.). „Als einverleibte, zur Natur gewordene und damit als solche vergessene Geschichte ist der Habitus wirkende Präsenz der gesamten Vergangenheit, 26 Ganz im Sinne eines Bourdieu’schen Theorieverständnisses, der Theorien als Erkenntniswerkzeuge zum Begreifen der gesellschaftlichen Wirklichkeit begreift (vgl. Krais/Gebauer 2002, 14) 118 Kapitel 3 Bildung – Theoriefolie zur Analyse des empirischen Materials die ihn erzeugt hat.“ (ebd., 105). Der Habitus ist im Unterschied zu determinierenden Konstrukten wie „Charakter“ „ein sozial konstituiertes System von strukturierten und strukturierenden Dispositionen, das durch Praxis erworben wird und konstant auf praktische Funktionen ausgerichtet ist“ (Bourdieu/Wacquant 1996b, 154; zit. nach Krais/Gebauer 2002, 5). Da der Habitus demnach auf individuellen und kollektiven Erfahrungen beruht, lassen sich nach Schwingel (2003) „an den Dispositionen des Habitus drei Aspekte analytisch auseinander halten: 1. Die Wahrnehmungsschemata, welche die alltägliche Wahrnehmung der sozialen Welt strukturieren (man könnte auch, um sie vom nächsten Punkt abzugrenzen, vom sensuellen Aspekt der praktischen Erkenntnis sprechen), 2. die Denkschemata, zu denen (a) die ‚Alltagstheorien‘ und Klassifikationsmuster zu rechnen sind, mit deren Hilfe die Akteure die soziale Welt interpretieren und kognitiv ordnen, (b) ihre impliziten ethischen Normen zur Beurteilung gesellschaftlicher Handlungen, d.h. ihr ‚Ethos‘ [...], und (c) ihre ästhetischen Maßstäbe zur Bewertung kultureller Objekte und Praktiken, kurz ihr ‚Geschmack‘ [...], 3. schließlich die Handlungsschemata, welche die (individuellen oder kollektiven) Praktiken der Akteure hervorbringen“ (Schwingel 2003, 62). Auch wenn durch die intensive Beschreibung des Habitus der Eindruck entsteht, dass die habituellen Dispositionen auf eine sehr fundamentale Art und Weise im Individuum verankert erscheinen, so das sie sogar auf der Ebene Körperlichkeit ihre Entsprechung beispielsweise in der Motorik und Sprache finden und so eine Veränderung oder Weiterentwicklung der Denk-, Wahrnehmungs- und Handlungsschemata nur kaum möglich zu sein scheinen, verweist gerade die Entwicklung des Habitus in Form der Inkorporation von Handlungs- und Denkschemata des sozialen Umfelds darauf, dass der Habitus in kontinuierlichem Wandel begriffen ist (vgl. ebd., 66). Im Konzept der Sozialtheorie nach Bourdieu würde es in bildungstheoretischer Perspektive darum gehen, heraus zu arbeiten, dass Bildung in einer Art Anpassungsbzw. Auseinandersetzungsleistung besteht, wenn der ausgebildete Habitus nicht mehr zu den Erfordernissen im sozialen Feld passt, bzw. aufgrund gesellschaftlich vermittelter Handlungspraktiken und Handlungslogiken transformiert werden muss. Obgleich Bremer (2005) für den erwachsenenpädagogischen Kontext eines Lehr-LernBetriebes im non-formellen Bildungssektor betont, dass der Habitus aufgrund seiner Disposition als „einverleibtes“ und „verinnerlichtes“ Wissen kaum mehr reflexiv verfügbar ist, verweist er ebenso darauf, dass mögliche Veränderungen „des Habitus [...] nicht fundamental [sind]; er ist nicht unendlich dehnbar, sondern verfügt über „Integrationsstufen“ [...]. Die Spielräume sind gerahmt [...], so dass die Möglichkeiten 119 Kapitel 3 Bildung – Theoriefolie zur Analyse des empirischen Materials pädagogisch instruierter Veränderungen relativiert sind“ (Bremer 2005, 56f). Gleichwohl geht es zu reflektieren, dass die Jugendsozialarbeit als ein Feld pädagogischer Praxis über die Annahme der strukturalistischen Konstruktionsarbeit (vgl. ebd., 57) des Habitus immer auch schon in diese Vorgänge involviert ist. Maasen weist darauf hin, dass „erst dissonante Erfahrungen [...] zu Reflexion und Problematisierung“ der Doxa Anlass geben (Maasen 1999, 37), womit die Bedeutung eines Feldes pädagogischer Interaktion in doppelter Hinsicht herausgestellt wird. Zum einen ist es als konstitutives Element der Habitusarbeit bereits grundsätzlich in die Konstruktion involviert, zum anderen kann es über das Erzeugen von Dissonanzen Einfluss die Notwendigkeit der Reflexion erzeugen und über angeleitete Prozesse der Selbstreflexion und Auseinandersetzung im Sinne einer Bildungsarbeit pädagogisch aktiv werden. So wird in dieser Arbeit zunächst davon ausgegangen, dass die Entwicklung und Transformation solcher kognitiven Schemata zur Weltaufordnung durch konjunktive Erfahrungsräume mitbestimmt werden und sich somit auch in konjunktiv geteilten Erfahrungsräumen rekonstruieren lassen, was in er Interpretation des Datenmaterials durch die dokumentarische Methode (vgl. Bohnsack u.a. 2001, Bohnsack 2001a, 2001b) empirisch herausgearbeitet werden soll. 120