Nr. 5 Demokratie und Ökologie Theoretische und historische Bemerkungen I. Die Herrschaft der Menschen über die Natur hat inzwischen eine Dimension erreicht, die in der Selbstbedrohung der Zivilisation kulminieren kann. Hans Jonas hat dies an dem durch die moderne Technik erzeugten Treibhauseffekt, der weltweit die Ozonschicht zum Nachteil der gesamten Menschheit verändert, exemplarisch demonstriert. Er vergleicht den damit eintretenden Zustand mit der Glaswand eines Treibhauses, die „die Sonnenstrahlung einläßt, aber die Wärmerückstrahlung von der Erde nicht herausläßt.“1 Die Folgen für das Klima und das menschliche Leben auf der Erde sind bedrohlich. Sie reichen vom Extrem der Polarschmelze, dem Steigen des Ozeanspiegels bis zur Überflutung großer Tieflandflächen.2 „So würde das leichtsinnig-fröhliche Menschenfest einiger industrieller Jahrhunderte vielleicht mit Jahrtausenden veränderter Erdenwelt bezahlt werden.“3 Über die alltäglichen Formen der zunehmenden Zerstörung der ersten Natur, die von der Luft- und Wasserverschmutzung über die Auslöschung tropischer Regenwälder, dem Einsatz von Pestiziden bis zum systematischen Fischsterben reicht, geht die mit der modernen Rüstungstechnologie verbundene Gefährdung der Fortexistenz der Menschheit noch weit hinaus. Die A-B-C-Waffen, die die Großmächte besitzen, würden im Falle ihrer kriegerischen Verwendung Abermillionen Menschen den Tod bringen, den Überlebenden irreparable Genschäden zufügen und sie gleichsam auf die Stufe der Steinzeit zurückwerfen. 4 Dieses Gefährdungspotential, das mit dem fortgeschrittensten Stand der technischen Destruktivkräfte verbunden ist, bekommt dadurch eine andere Dimension, dass die Großmächte nicht auf die Option des Einsatzes ihrer Massenvernichtungsmittel prinzipiell verzichtet haben und dass in der im 1 H. Jonas, Das Prinzip Verantwortung. Versuch einer Ethik für die technologische Zivilisation (1979), Frankfurt/M. 1984, S. 326 f. 2 Ebd. S. 334. 3 Ebd. 4 J. Perels, Probleme der Ahndung völkerrechtswidriger Staatsverbrechen, in: W. Wette/ G.R. Ueberschär (Hrsg.), Kriegsverbrechen im 20. Jahrhundert, Darmstadt 2001, S. 27 mwN. 1 September 2002 verkündeten Militär-Strategie der Regierung Bush der Einsatz von Kernwaffen als „normales“ Kampfmittel ausdrücklich vorgesehen ist.5 Dass völkerrechtlich durch Beschlüsse der Vereinten Nationen, vor allem aber durch ein Gutachten des Internationalen Gerichtshofs in Den Haag von 1996 die Verwendung von Atomwaffen in militärischen Auseinandersetzungen unzulässig ist und ein Kriegsverbrechen darstellt,6 Vertretungsorganen der Menschheit und zeugt davon, dass ihrer Jurisdiktion von den der durch Massenvernichtungsmittel mögliche Selbstmord der menschlichen Gattung und der Auslöschung ihrer Naturgrundlagen als eine umfassende Rechtsverletzung angesehen wird. Denn mit diesen Zerstörungsmitteln ist – wie schon die Erfahrungen mit dem amerikanischen Nuklearangriff auf Hiroshima und Nagasaki von 1945 zeigen – eine nahezu unendliche Entgrenzung der Vernichtung verbunden, die von der radioaktiven Verseuchung der Natur bis zur Aufhebung der schon in der Haager Landkriegsordnung von 1907 festgelegten Unterscheidung von Kombatanten und Nicht-Kombatanten reicht. Indem das Völkerrecht die gesellschaftlichen und ökologischen Existenzgrundlagen auf der gesamten Erde dem militärischen Vernichtungsangriff jedes Staates und insbesondere der Großmächte entzieht – ohne das freilich sicher ist, dass jene Rechtspositionen im Konfliktfall Bestand haben –, ist das internationale Recht ein Fingerzeig dafür, dass die Menschheit schon um ihrer selbst willen nicht nur die politischen Existenzformen, sondern auch die Eigensinnigkeit der ersten Natur durch strikte Verfügungsschranken grundsätzlich zu bewahren sucht. Der destruktive Umgang mit der Natur, der im Treibhauseffekt und in der Produktion von Massenvernichtungsmitteln seinen deutlichsten Ausdruck findet, ist maßgeblich von Ernst Bloch und Hans Jonas auf den Begriff gebracht worden. Bloch schreibt: „Unsere bisherige Technik steht in der Natur wie eine Besatzungsarmee in Feindesland;“ er spricht von der „naiven Übertragung des Ausbeuter- und Tierbändigerstandpunktes auf die Natur.“7 Jonas setzt hinzu: „Die 5 Ebd. S. 27; D. Deiseroth, Atomwaffen und Völkerrecht, Blätter für deutsche und internationale Politik, H. 4/2005, 437 ff.; <Autor, Titel? in:> Keesings Archiv der Gegenwart, 16. September 2002, S. 4583; O. Nassauer, Die Rückkehr der Atomkrieger, Frankfurter Rundschau v. 13. Mai 2003; I. Nagel, Ungleichheit und Terror, Frankfurter Allgemeine Zeitung v. 5. August 2003. 6 Perels (Fn. 4), S. 27; Deiseroth (Fn. 5), S. 437 ff. 7 E. Bloch, Das Prinzip Hoffnung, Frankfurt/M. 1959, S. 814, 813. 2 Katastrophengefahr … der Herrschaft über die Natur durch die wissenschaftliche Technik liegt in der Größe ihres Erfolgs.“8 II. Eine bis heute relevante (aber auch inzwischen fast vergessene) Antwort auf den Prozess der Destruktion der Naturgrundlagen hat wiederum Ernst Bloch entwickelt. Im „Prinzip Hoffnung“, das er, als Sozialist und Jude vor Hitler geflohen, im Exil in den Vereinigten Staaten geschrieben hat, entfaltet er den bereits bei Marx mit einer Umgestaltung der Gesellschaft notwendig zusammenhängenden Gedanken einer „Resurrektion der Natur“.9 Den Kern eines anderen Umgangs mit der Natur fasst er mit dem antizipatorischen Begriff eines hypothetischen Natursubjekts,10 das auf eine Fundamentaländerung des Stoffwechsels mit der Natur zielt. Auch wenn die Natur selbstredend kein menschliches Subjekt sein kann, soll sie so wahrgenommen werden, wie wenn sie Subjektqualität besäße, weil nur so ihre Eigenlogik nicht verfehlt wird. Mit dem gleichgerichteten Begriff einer „Allianztechnik“ und einer „Mitproduktivität eines möglichen Natursubjekts“11 greift Bloch auf einen Naturbegriff zurück, der vor dem Siegeszug der auf die Erforschung quantitativer Gesetze gerichteten modernen Naturwissenschaft, ausgebildet wurde: „Paracelsus … (erschien) seine Natur bereits wie eine befreundete oder auch utopisch befreundbare, ‚inwendig voller Heilmittel, voller Rezepte und eine einzige Apotheke’, ein Kosmos, in dem sich der Mensch aufschließt, so wie der Mikrokosmos Mensch die Welt zu sich kommen läßt.“12 In der Philosophie des deutschen Idealismus, die wesentlich darauf gerichtet ist, die vordem in feudal-absolutistischen Hierarchien eingegliederten Menschen zum Subjekt einer selbstbestimmten Ordnung zu machen, wird, wie Bloch zeigt, der Natur ebenfalls ein spezifischer Eigenwert zuerkannt. Bloch verweist auf Kant: „Die äußerste ‚Objektivität’, zu der es die Newtonsche Naturwissenschaft gebracht hat, erschöpft bei Kant sich nicht so, dass nicht auch Grundbegriffe 8 Jonas (Fn. 1), S. 251. K. Marx, Ökonomisch-philosophische Manuskripte (1844), in: H.-J. Lieber/ P. Furth (Hrsg.), Frühe Schriften I, Stuttgart 1962, S. 596. 10 Bloch (Fn. 7), S. 802 ff. 11 Ebd. 12 Ebd. S. 805. 9 3 weniger entfremdeter Art im Naturbild Platz hätten … Diese Grundbegriffe sind vor allem ‚die eines inneren Naturzwecks mit dem Endzweck eines Reichs vernünftiger Wesen’; das aber führt … ein denkbares Natursubjekt ein …, was in Analogie zur menschlichen Willensart ergibt, daß wir ‚die Natur als durch eigenes Vermögen technisch denken’.“13 Ein veränderter Umgang mit der Natur ist erst auf der Basis umfassender Selbstbestimmung der gesamten Gesellschaft, die die Verfügungsgewalt über den sozialen Prozess privilegierten Gruppen entzieht, möglich. In einer großen Untersuchung, die 1961, nach Blochs schon in der DDR virulenten Abkehr von der Parteidiktatur unter dem Titel „Naturrecht und menschliche Würde“14 erschienen ist, zeigt er, anknüpfend an Karl Marx und Friedrich Engels, dass nur ein Sozialismus, der das Vernunftrecht der bürgerlichen Revolution – Souveränität des Volkes, Freiheitsrechte und Garantien gegen eine schrankenlose Staatsgewalt – in sich aufnimmt, zu einer Selbstregierung der Produzenten führen kann und gegen die Rückbildung zu einer staatlich organisierten „Fabrik der Tyrannei“15 institutionell gesichert ist. Bloch resümiert: „Erst wenn das Subjekt der Geschichte: der arbeitende Mensch, sich als Hersteller der Geschichte erfasst, folglich das Schicksal in der Geschichte aufgehoben hat, könnte er auch dem Produktionsherd in der Natur nähertreten … An Stelle des Technikers, als bloßen Überlisters oder Ausbeuters steht konkret das gesellschaftlich mit sich selbst vermittelte Subjekt, das sich mit dem Problem des Natursubjekts wachsend vermittelt.“16 Erst wenn die Unterwerfung der Natur, bedingt durch partikulare Herrschaftszwecke, wegfällt und eine umfassende demokratische Ordnung existiert, ist die Möglichkeit einer Behandlung der Natur als hypothetisches Subjekt grundsätzlich gegeben. III. Im Gegensatz zu der Idee einer Ordnung der Souveränität des Volkes, das den gesellschaftlichen Prozess durch seine Vertreter mit Wissen und Bewusstsein gerade auch im Umgang mit der Natur bestimmt, vertritt Hans Jonas die These, 13 Ebd. S. 785. E. Bloch, Naturrecht und menschliche Würde, Frankfurt/M. 1961. 15 Ebd. S. 257. 16 Bloch (Fn. 7), S. 813, 787. 14 4 dass die Demokratie wegen ihrer Bindung an kurzfristige Interessen von Wählerschichten für einschneidende und notwendige politische Entscheidungen zugunsten der Bewahrung der Natur gänzlich ungeeignet ist. Jonas spricht davon, dass für eine „Politik verantwortlicher Entsagung die Demokratie (bei der notwendig die Gegenwartsinteressen das Wort führen) mindest zeitweise untauglich ist.“17 Er fährt fort: „Unsere augenblickliche Abwägung ist, widerstrebend, zwischen verschiedenen Formen der ‚Tyrannis’.“18 Eine Tyrannis, in der die politischen Freiheitsrechte abgeschafft sind und nicht das Gesetz, sondern der schrankenlose autonome Wille des Herrschers bestimmend ist, erscheint bei Jonas als einzig probates Mittel zur Bewahrung der Natur. Er spricht von „Vorteilen der Autokratie“, die als „wohlwollend“ qualifiziert wird.19 Sie ist in der Lage, Maßnahmen umfassend in Kraft zu setzen, die „das Eigeninteresse der Betroffenen sich spontan nicht auferlegt hätte, die demnach, wenn sie gar die Majorität treffen, im demokratischen Prozeß schwer zum Beschluß gebracht werden können. Solche Maßnahmen sind aber eben das, was die drohende Zukunft verlangt und immer mehr verlangen wird.“20 Die Tyrannis als Ordnung zur Rettung der Natur lässt sich nicht zureichend begründen. Historisch waren es gerade autoritäre Systeme ohne öffentliche Kontrolle, ohne rechtsstaatliche Garantien und ohne wirksame politische Freiheitsrechte, die hinter dem Rücken der unmündig gehaltenen Gesellschaft der Natur durch willkürliche Entscheidungen irreparable Großschäden – wie etwa die Zerstörungsgeschichte des Baikal-Sees, des ökologischen Kleinods der Sowjetunion, zeigt – sinnlich sichtbar zufügten. Unerfindlich ist, warum eine Tyrannis, die die Öffentlichkeit als zentrale Wahrnehmungsinstanz für gesellschaftliche Probleme ausschaltet, von einer „richtigen Einsicht“,21 die aber gegenüber der Gesellschaft argumentativ nicht ausgewiesen werden muss, beseelt sein soll. Wenn der Tyrannis das Recht zur Verwendung unwahrer Aussagen zur Täuschung der Massen – Jonas nennt dies mit Platon eine „edle Lüge“ – 17 Jonas (Fn. 1), S. 269. Ebd. 19 Ebd. S. 262. 20 Ebd. 21 Ebd. 18 5 zugesprochen wird,22 fällt das Konstrukt einer aufgeklärten autokratischen Elite als Bewahrerin der Natur in sich zusammen. IV. An einem bemerkenswerten Exempel, das freilich eine systematisch-historische Untersuchung nicht ersetzen kann, lässt sich zeigen, wie die Transformation einer staatswirtschaftlichen Diktatur die Grundlagen dafür legte, dass in einem zentralen Bereich der Prozess des Raubbaus an der Natur unterbunden wurde. In der mit dem Namen Michael Gorbatschows verbundenen Umgestaltungsperiode der Sowjetunion – er war 1985 zum Ersten Sekretär der KPdSU gewählt worden – wurde die Konstituierung einer umfassenden politischen Öffentlichkeit (Glasnost) zum wichtigsten Instrument, um den Arkanbereich politbürokratischer Abschottung der Entscheidungsträger schrittweise zurückzudrängen und am Ende zu überwinden.23 Tatsächlich wirkte die vielfach lawinenartig sich ausbreitende Meinungsfreiheit, die jahrzehntelang durch die staatliche Zensur blockiert wurde, als das wirkungsvollste Vehikel, um tabuisierte Probleme des alten Herrschaftssystems – von der bürokratisch-hierarchischen Organisation der Wirtschaft, dem angemessenen Umgang mit den Verbrechen der Stalin-Ära bis zu Fragen einer humanisierenden Umgestaltung der Rechtsordnung – zum öffentlichen Thema werden zu lassen. So konnte auch die überkommene autokratische Politik der technischen Unterwerfung und Umformung der Natur umfassend zum Gegenstand der Kritik in Zeitungen, auf Kongressen und in Sammelbänden werden. Die UdSSR, durch die Monopolisierung des politischen Erkenntnis- und Entscheidungsprozesses charakterisiert,24 wurde durch eine galoppierende Zerstörung ihrer Naturbasis beherrscht. In der Ära Gorbatschow wurde das Ausmaß dieser Schäden öffentlich. In sowjetischen Expertisen über die ökologische Situation hieß es beispielsweise: „1987 war die Luft über 104 großen Städten der Sowjetunion … durch Schadstoffe in einer Konzentration verseucht, die den höchstzulässigen Grenzwert … um mehr als das zehnfache überstieg … 22 Ebd. S. 266. J. Perels, Öffentlichkeit als Produktivkraft?, in: ders., Demokratie und soziale Emanzipation, Hamburg 1988, S. 210 ff.; in diesem Band unter dem Titel: Von der Verstaatlichung zur Vergesellschaftung, S. XX. 24 R. Bahro, Die Alternative. Zur Kritik des real existierenden Sozialismus, Köln 1977. 23 6 Infolge der unsachgemäßen Führung der Landwirtschaft … sind viele Millionen Hektar Land für die landwirtschaftliche Nutzung verloren gegangen … Einigen Berechnungen zufolge geht heutzutage der Landwirtschaft mehr Boden verloren, als die Melioration erschließt.“25 Kurz: „Die … Organe, denen der Naturschutz obliegt, sind … die Hauptzerstörer der Natur. Was sind … ‚Kontrollziffern’ … für den Schutz der Wasserressourcen wert, wenn das Wasserwirtschaftsministerium statt einer Verringerung des Wasserverbrauchs eine Vergrößerung der Wasserentnahme plant … Wie kann man sich beim Naturschutz von den ‚Kontrollziffern’ des Staatlichen Agrar-Industrie-Komitees leiten lassen, wenn diese Behörde, statt der Erholung, Konservierung und Sanierung der durch Erosion zerstörten Böden eine andauernde Erweiterung der Ackerbauflächen projektiert?“26 Auf einem Baikal-Treffen sowjetischer und japanischer Schriftsteller und Wissenschaftler vom August 1987 wurden die ökologische Katastrophen öffentlich und konkret benannt: „Der Zustand des Baikals … wird von Jahr zu Jahr durch die Eutrophierung – die Verschmutzung durch Biogene als Folge industrieller und menschlicher Aktivität – komplizierter; dies veranlasst dazu, das Problem nicht isoliert zu betrachten, sondern als einen Teil der Zerstörung der Einheitlichkeit der Umwelt.“27 Für die vorherrschende staatliche Umgangsweise mit der Natur wird der Begriff des „ökologischen Abenteurertums“ eingeführt, der die unkontrollierte Dominanz der ressortmäßigen Interessen der Einzelministerien über die langfristigen ökologischen Entwicklungserfordernisse des Landes bezeichnet.28 Die Ausbildung einer systemverändernden politischen Öffentlichkeit, die die Zerstörungsformen der Natur in den Blick rückte, konnte zwar nicht die Macht der Bürokratie in vollem Maße aufheben,29 ihr Gewicht nahm jedoch durch die umfassende Thematisierung ökologischer Fragen in zentralen Bereichen ab. Durch Entscheidungen der für demokratische Prozesse zugänglichen Parteiführung unter Gorbatschow, die sich öffentlich formulierte Einwände zu 25 A. Jablokow, Ökologische Ignoranz und ökologisches Abenteurertum, in: J. Afanassjew (Hrsg.), Es gibt keine Alternative zur Perestroika, Nördlingen 1988, S. 308. 26 M. Lemeschew, Wirtschaftsinteressen und Naturnutzung, in: Afanassjew (Fn. 25), S. 340. 27 Erklärung der Teilnehmer des „Baikal-Treffens“, in: F. Hitzer (Hrsg.), Zeitzeichen aus der Ferne, Glasnost, Neues Denken in der Sowjetunion, Hamburg 1987, S. 475. 28 Jablokow (Fn. 25), S. 317 f. 29 J. Perels, Demokratische Legitimität als Instrument der Perestroika?, in: J. Seifert/ H. Thörmer/ K. Wettig (Hrsg.), Soziale oder sozialistische Demokratie? Freundesgabe für Peter von Oertzen, Marburg 1989, S. 245. 7 naturzerstörenden Projekten zu Eigen machte, wurden ökologische Prinzipien zum Inhalt der praktischen Politik. Das wichtigste Beispiel ist die Entscheidung, das an Größenwahn grenzende Projekts der Umleitung der nördlichen Flüsse der Sowjetunion, das vom Ministerium für Wasserwirtschaft und vom staatlichen Forschungsinstitut für die Verteilung nördlicher und sibirischer Flüsse und dem Institut für Wasserprobleme der Akademie der Wissenschaften systematisch betrieben wurde,30 definitiv einzustellen. Am 16. März 1986 fasste das Politbüro der KPdSU folgenden Beschluss: „Nach der Prüfung von Fragen der Realisierung der Projektierungsarbeiten ..., die mit der Umleitung eines Teils des Wassers nördlicher und sibirischer Flüsse in südliche Landesgebiete zusammenhängen sowie im Hinblick auf die Notwendigkeit, ökologische und ökonomische Aspekte dieses Problems … zu studieren, wofür auch breite Kreise der Öffentlichkeit plädieren, hält es das Politbüro für zweckmäßig, die erwähnten Arbeiten einzustellen. Ein über diese Frage gefasster Beschluss des Zentralkomitees der KPdSU und des Ministerrats der UdSSR sieht vor, die Hauptaufmerksamkeit vor allem auf eine wirtschaftlich wirksamere Nutzung der vorhandenen Wasservorräte … zu konzentrieren.“31 Die mit dieser Entscheidung verbundene Perspektive des angemesseneren Umgangs mit der Natur ist auf dem schon erwähnten Baikal-Treffen von Intellektuellen auf einen Begriff gebracht worden, der sich mit der Idee eines hypothetischen Natursubjekts berührt. Der Zielgedanke einer prinzipiellen Vorgegebenheit der Natur wird in diese Worte gefasst: „Die Süßwasserseen und alle Trinkwasserquellen sind gemeinsames Gut der Völker der Welt, ein vernünftiger Umgang mit ihnen und ihr Schutz sind Sache der gesamten Menschheit.“32 30 S. Salygin, Die Umkehr. Lehren einer Diskussion, in: W. Kabanow (Hrsg.), Perestroika in der Diskussion, München 1989, S. 204. 31 Ebd. S. 203. 32 Erklärung der Teilnehmer des „Baikal-Treffens“ (Fn. 27), S. 476. 8