An Autismus denken - Deutsches Ärzteblatt

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M E D I Z I N
KURZBERICHT
Hans E. Kehrer
Ina Overesch
Brigitte Ziegler
An Autismus
denken
ZUSAMMENFASSUNG
Stichwörter: Frühkindlicher Autismus,
autistische Störung, autistisches Syndrom, Frühdiagnose
Das Erscheinungsbild des seit über 50 Jahren bekannten
frühkindlichen Autismus wird durch ein Beispiel aus der
Praxis erläutert. Eingegangen wird auf Diagnose, Differentialdiagnose, Genese, Epidemiologie, die therapeutischen
Möglichkeiten sowie die sozialen Probleme. Da durch eine
möglichst frühe Diagnose die Chancen für eine rechtzeitige spezifische
Therapie steigen und damit sich die Lebensaussichten für
diese Patienten viel besser gestalten, ist es das Anliegen des
Artikels, allen eventuell mit dem autistischen Syndrom
konfrontierten Ärzten die Frühdiagnose mit den daraus folgenden Konsequenzen nahezulegen.
Key words: Early childhood autism,
autistic disorder, autistic syndrome, early diagnosis
The symptoms of early childhood autism, which have been
known for more than 50 years are being illustrated in an
exemplary case. The significance of differential diagnosis,
genesis, epidemiology, of therapeutic possibilities and social
problems are explained. By early diagnosis
and the resulting early specific therapy, life
conditions of the patients will improve considerably. It is the
concern of this article to suggest early diagnosis and its
consequences to all doctors who may be confronted with
autistic children and youths.
D
as autistische Syndrom, auch
nach ICD die autistische
Störung, ist zwar in den Medien ein beliebter Stoff, der teils zur
Belehrung dienen soll, aber offenbar
einen großen Unterhaltungswert hat.
Dem steht die eigenartige Tatsache gegenüber, daß die Diagnose von ärztlicher Seite ausgesprochen selten und
häufig zu spät gestellt wird. Wenn Mütter nicht durch Filme, Lektüre oder
Ratschläge von Bekannten auf eigenartige Verhaltensweisen ihres Kindes
aufmerksam gemacht werden, so sind
es nach unseren Erfahrungen meist die
Erzieherinnen im Kindergarten oder
später die Lehrerinnen und Lehrer, die
den Anstoß zur fachgerechten Diagnose geben. Das liegt unter anderem daran, daß Erzieherinnen das Kind im
Kindergarten über viele Stunden des
Tages und in unterschiedlichen Situationen sehen. In der ärztlichen Sprechstunde sind auch psychisch gesunde
Kleinkinder oft verängstigt und lassen
sich nicht so leicht von psychisch gestörten Kindern unterscheiden. Hinzu
kommt die zwangsläufig kurze Beobachtungszeit in der Sprechstunde.
Das Kleinkindalter
Die autistische Störung beginnt
im Kleinkindalter, manchmal bereits
in den ersten Lebenswochen und selten – rückläufig betrachtet – nach dem
30. Lebensmonat. Manche Symptome
lassen sich erst später als erste Hinweise auf autistisches Verhalten identifizieren. Der Arzt ist also weitgehend auf die anamnestischen Angaben der Eltern, vor allem der Mütter
angewiesen.
Ein ganz wichtiges Frühsymptom ist die Gleichgültigkeit oder
sogar ablehnende Haltung des Säuglings – kein Lächeln, kein Entgegenstrecken der Ärmchen –, wenn die
Mutter sich dem Kind zuwendet. Gelegentlich kommt es sogar zum Abwenden oder Sichsteifmachen, wenn
die Mutter den Säugling auf den
Arm nimmt. Autistische Kinder gelten in diesem Alter oft als „pflegeleicht“, das heißt als wenig anspruchsvoll in der Pflege und mit sich
selbst zufrieden.
Auffallend im Säuglingsalter ist
manchmal noch der fehlende Signalcharakter des Schreiens als vorsprachliches Ausdrucksmittel des
Kindes. Das Schreien klingt monoton; die Mutter kann nicht erkennen,
ob Hunger, die volle Windel oder
Bauchschmerzen die Ursache des
Unbehagens ist, was der Mutter eines normalen Säuglings im allgemeinen möglich ist.
Institut für Autismusforschung, Klinik und Poliklinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie (Prof.
Dr. med. Tilmann Fürniss) der Westfälischen
Wilhelms-Universität Münster
SUMMARY
Ein typisch
autistisches Kind
Hier ein Beispiel: Ein Kind, bei
dem die für eine möglichst frühzeitig
einsetzende Therapie so wichtige
Diagnose „autistische Störung“ zu
spät gestellt wurde.
Der acht Jahre und drei Monate
alte Martin wurde von seinen Eltern
in unserer Ambulanz vorgestellt.
Diese gaben zur Anamnese an: Blutungen im vierten Schwangerschaftsmonat, Wachstumsstillstand gegen
Ende der Schwangerschaft, Steißlage und Geburt durch Sectio eine Woche vor dem errechneten Termin.
Die Mutter berichtete nun auf Befragen: Das Baby schien keinen Wert
auf den Kontakt mit ihr zu legen und
wehrte sich gegen Zärtlichkeit. Auffallend für die Eltern war das monotone Schreien, das während des
ganzen Kleinkindalters anhielt und
keinen Signalcharakter hatte. Die
Ernährung war insofern schwierig,
als der Säugling anfangs immer an
der Brust einschlief, weswegen auf
die Flasche umgestellt werden mußte. Auch die Umstellung auf feste
Kost verlief nicht problemlos. Es fiel
und fällt auf, daß Martin Milch oder
Milchprodukte ablehnt. Er bemerkt
selbst kleine Mengen in einer Speise,
zum Beispiel im Pudding, und weist
sie zurück. Später entwickelte er sich
zu einem sehr guten Esser, der mehr
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Wert auf scharfe Speisen als auf
Süßigkeiten legt.
Als Besonderheiten der Wahrnehmung fiel auf, daß der Junge an
Dingen gerochen hat, die normalerweise keinen Geruch ausströmen,
daß sein Schmerzempfinden offenbar vermindert ist und daß er im allgemeinen sehr geräuschempfindlich
ist, andererseits laute Techno-Musik
gern hört. Er ist feinmotorisch recht
geschickt, liebt es, Gegenstände –
vor allem Dosendeckel – in kreiselnde Bewegung zu versetzen. Er tastet
Flächen mit den Fingern ab und
berührt häufig Gegenstände mit den
Lippen. Es fällt Martin schwer, seine
Kraft richtig zu dosieren; er greift
oft hart zu, so daß es dem Partner
manchmal weh tut.
Die motorische Entwicklung
des Jungen war mäßig verzögert:
Sein Gang ist auch heute noch etwas
unsicher. Seine Selbständigkeit ist
nicht altersgerecht entwickelt, er ist
mit seinen acht Jahren noch nicht
sauber und trocken. Seine Sprache
hat sich spät entwickelt. Er begann
erst mit drei Jahren einzelne Silben,
dann „Mama, Papa“ ohne Bedeutung zu sprechen. Sinnvolle Wörter
und kurze Sätze spricht er erst seit
seinem sechsten Lebensjahr, wobei
sein Sprachverständnis besser zu
sein scheint. Es kommen auch
Echolalie und Neologismen vor.
Martin führt oft Selbstgespräche, so
zum Beispiel abends im Bett; dabei
lacht er viel. Die Artikulation ist
ziemlich schlecht.
Der anfangs stark gestörte Kontakt zur Mutter hat sich gebessert. Es
kommt vor, daß sich der Junge den
Eltern von sich aus zuwendet und
auf ungeschickte Weise mit ihnen
schmusen will. Streicheln schätzt er
allerdings nicht, lieber will er fest angefaßt werden. Die Beziehung zur
dreieinhalbjährigen Schwester ist
schlecht. Martin spielt kaum mit ihr;
sie streiten sich viel. Auch im Kindergarten und später in der Schule
nimmt und nahm er kaum Kontakt
zu Gleichaltrigen auf, beschäftigt
sich viel, manchmal stundenlang, allein.
Die Mutter klagt darüber, daß
sie nie wisse, wie sie mit Martin
umgehen soll, er sei ganz unberechenbar. Er zeige keine Empathie,
lache, wenn die Schwester unwillig
sei oder wenn ihr etwas mißlinge.
Der Junge scheint zwanghaft auf bestimmte Abläufe oder Themen festgelegt zu sein. Seit einiger Zeit sind
das Waschstraßen für Autos. Zum
wechselt: Er scheint manchmal ohne
ersichtlichen Grund traurig zu sein
und zeigt einen weinerlichen Gesichtsausdruck. Seine Stimmung ist
aber schwer zu beurteilen, weil er
gleichzeitig lacht.
Tabelle
Differentialdiagnose der autistischen Störung
Im Vordergrund stehende Symptome
Ursachen
Verlauf
frühkindliche
Deprivation
Besserung in
günstigem
Milieu
soziale Isolation
der Familie,
Sprachfehler,
Mehrsprachigkeit
Besserung
durch
intensive
Psychotherapie
3. „Einfache“ geistige Behinderung:
Gleichmäßiger Entwicklungsrückstand auf fast allen Gebieten
(Psychomotorik, Sprache,
Intellekt)
Hirnkrankheit,
Hirnschaden,
Vererbung
Besserung
durch pädagogische Maßnahmen,
Verhaltenstherapie
4. Kindliche Schizophrenie:
Psychotische Erscheinungen
(zum Beispiel Wahn,
Halluzinationen), jenseits
des 4. bis 5. Lebensjahres
beginnend
familiäre
Disposition,
Beziehungsprobleme
Verlauf in
Schüben,
eventuell Übergang in Hebephrenie
frühkindlicher
Hirnschaden bei
familiärer
Disposition
keine Progredienz, keine
Heilung,
Besserung durch
Spezialtherapie
1. Deprivationssyndrom:
Gleichmäßiger Entwicklungsrückstand auf fast allen Gebieten
(Psychomotorik, Sprache,
Intellekt)
2. Elektiver Mutismus:
Mutismus außerhalb der eigenen
Familie bei sonst normaler
Entwicklung
5. Autistische Störung:
Kontaktprobleme beginnend
zwischen Geburt und drittem
Jahr, gestörte Wahrnehmungsverarbeitung, Selbststimulation,
Stereotypien, oft intellektueller
Rückstand
6. Neurotische Kontaktstörung:
Meist nach Kleinkindalter
mangelnder Kontakt zu
bestimmten Personen, die
Angst auslösen
7. Spätentwickler:
Verspätetes Sprechen bei fast
normaler motorischer Entwicklung,
fehlende Hinweise auf
intellektuellen Rückstand
Beispiel weiß er bei Ferienreisen an
einen ihm von früher bekannten Ort
ganz genau, wo sich eine solche befindet, und kann den Weg dorthin
zeigen. Es ist sein größtes Vergnügen, an einer Autoreinigung teilzunehmen. Er spricht oft davon und
baut mit einfachen Spielmitteln eine
Waschstraße. – Martins Stimmung
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negative ErfahBesserung
rungen im Umgang, durch Psychomeist mit Fremden therapie
gewisse familiäre
Tendenz
Aufholen des
Rückstandes
ohne besondere
Maßnahmen
Für die Genese des autistischen
Syndroms bei diesem Patienten muß
als organischer Ursachenfaktor eine
Risikogeburt angenommen werden.
Das im Alter von anderthalb Jahren
angefertigte Gehirn-Computertomogramm ergab neben einer Erweiterung der Seitenventrikel eine leichte
Aplasie oder Hypoplasie des Klein-
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hirnwurms. Die Untersuchung der
Chromosomen ergab ein Fragil-XSyndrom
(Martin-Bell-Syndrom),
das auch bei der Mutter und deren
Vater vorliegt, ohne sich symptomatisch zu äußern. In dem an die Eltern
gerichteten Brief des Humangenetischen Instituts wird zu dem damaligen Störungsbild des Jungen nur insofern Stellung genommen, als daß
dieser körperlich recht gut entwickelt
sei, zwar noch nicht spreche, aber seine Umwelt interessiert betrachte und
keinen stark geschädigten Eindruck
mache. Wegen der Förderung sollten
die Eltern sich an die Lebenshilfe
wenden.
Die Betreuung durch die Lebenshilfe bestand aus Frühförderung
im Alter von anderthalb bis vier Jahren. Daran anschließend besuchte er
bis zum sechsten Lebensjahr einen
heilpädagogischen
Kindergarten.
Die Frühförderung während der
Schulzeit bestand aus dem Besuch
einer integrativen Grundschule, die
noch durch die Begleitung des Jungen durch einen Ersatzdienstleistenden ergänzt wurde. Es kamen noch
therapeutisches Reiten und ein Jahr
lang logopädische Behandlung hinzu.
Die Diagnose
Die Krankengeschichte dieses
Jungen ist für das autistische Syndrom oder die autistische Störung
(ICD-10, F84.0) absolut typisch. Das
gilt sowohl für die Symptomatik als
auch für die kausalen Voraussetzungen. Man weiß seit längerer Zeit, daß
unter einer Population mit fragilem
X-Chromosom Autismus häufig vorkommt (2). Auch daß Hypoplasien
des Kleinhirns, nämlich des Wurms
und der Kleinhirnrinde mit zu geringer Zahl der Purkinje-Zellen bei Autisten nicht selten sind, ist seit mindestens zehn Jahren bekannt (1, 6).
Die Diagnose „autistisches Syndrom“ wurde bei diesem Jungen bis
zum Alter von acht Jahren und drei
Monaten ärztlicherseits nicht gestellt und erst in unserer Ambulanz
als solche erkannt. Die Mutter stieß
zufällig auf ein populäres Buch, in
dem die Lebensgeschichte eines autistischen Kindes geschildert wurde.
Sie stellte fest, daß viele der beschriebenen eigenartigen Verhaltensweisen für ihren Sohn zuträfen,
und meldete sich in unserer Ambulanz an. Nunmehr wurde eine autismusspezifische Therapie in einer
Wo findet autismusspezifische
heilpädagogische
Behandlung statt?
Autismusspezifische
Therapie
wird in Deutschland von 30 Ambulanzen angeboten, die über die
Bundesländer verteilt sind. Die
Adressen sind über den Bundesverband „Hilfe für das autistische
Kind“, Bebelallee 114, 22297 Hamburg zu erfahren.
Therapie-Ambulanz „Hilfe für das
autistische Kind“ empfohlen.
Warum wurde die eindeutige
Diagnose „Frühkindlicher Autismus“ oder „autistische Störung“
nicht früher gestellt? Schon mit anderthalb Jahren mußte beim heutigen
Stand des Wissens zumindest der Verdacht auf Autismus aufkommen. Man
hätte bereits damals mit entsprechenden therapeutischen Maßnahmen beginnen können. Spätestens mit vier
bis fünf Jahren hätte eigentlich ein
Arzt aus den damals massiven Verhaltensstörungen die richtige Diagnose stellen können. Bei pädiatrischen und humangenetischen Diagnosen des Patienten wurden sowohl
die organischen Befunde als auch die
psychischen Defizite zutreffend beschrieben. Es fehlten jedoch die notwendigen Konsequenzen.
Warum wird Autismus
so selten diagnostiziert?
Daß in unserem Fall und in ähnlichen Fällen die Diagnose „Autismus“
nicht gestellt wird – wie es leider immer noch ziemlich häufig vorkommt
–, scheint zwei Gründe zu haben:
Œ Unkenntnis der geschilderten Zusammenhänge bei den Ärzten, denen die Eltern ihre verhaltensgestörten Kinder vorstellen,
 eine gewisse Scheu, die Verhaltensstörungen mit dem Wort Autismus zu belegen.
In Laienkreisen und in den Medien ist Autismus etwas ganz Geläufiges. Nach dem Film „Rain Man“
mit Dustin Hoffman und den Bestseller-Büchern von Birger Sellin beschäftigen sich viele Menschen mit
dem Thema Autismus. Auch in der
Politik ist „autistisch“ offenbar ein
vertrauter Ausdruck. Aber auch die
Pädagogen, vor allem die Sonderpädagogen, erkennen oft autistische
Verhaltensweisen bei ihnen anvertrauten Kindern. Am schwersten mit
Autismus tun sich offenbar die Mediziner. Immer wieder erfahren wir
von den Eltern solcher Kinder, daß
sie schon bei mehreren Ärzten waren, die unter anderem von der Lehrerin vermutetes autistisches Verhalten als mehr oder weniger normal
ansehen, das Kind als Spätentwickler bezeichneten oder die Symptome
als einer geistigen Behinderung zugehörig oder als Erziehungsfehler
auffaßten. Die Feststellung einer
geistigen Behinderung oder mentalen Retardierung bei solchen Kindern mag durchaus zutreffend sein.
Daß aber auch typisch autistische
Symptome vorliegen, darf nicht
übersehen werden, denn es hat eine
spezifische, oft sehr hilfreiche Therapie zur Konsequenz. Man kann also die Diagnose „mentale Retardierung mit autistischen Symptomen
oder Zügen“ stellen und dann eine
spezifische Therapie einleiten.
Ein anderer Grund dafür, daß
die Diagnose Autismus manchmal
nicht gestellt wird, ist die teilweise
noch verbreitete Ansicht, autistische
Kinder seien die „Schwachsinnigen“
der Reichen und Intellektuellen. Die
zuerst von Leo Kanner 1943 beschriebenen elf autistischen Kinder
hatten fast alle Wissenschaftler, vorwiegend Naturwissenschaftler, als
Eltern. Die Beschäftigung mit Autisten in unserer Ambulanz in den
letzten 15 bis 20 Jahren hat fast das
Gegenteil gezeigt. Die Patienten
kommen eher aus der unteren und
mittleren Gesellschaftsschicht. Es
sind manchmal auch Kinder von
Gastarbeitern. Die Angehörigen der
höheren Schichten neigen dazu, ihre
Kinder im Ausland, oft in den USA
oder bei wissenschaftlichen Außenseitern mit ausländischem Flair, vorzustellen, auf die sie von Bekannten
Deutsches Ärzteblatt 95, Heft 31–32, 3. August 1998 (43) A-1915
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aufmerksam gemacht worden sind.
Ein Argument für die Zurückhaltung bei der Diagnose „Autismus“
könnte auch sein, daß man die Kinder mit dieser Diagnose nicht als unheilbar Behinderte abstempeln wolle. Sind sie das als geistig Behinderte
ohne autistische Symptomatik nicht?
Eine eindeutige Heilung ist beim autistischen Syndrom zwar nicht möglich, aber erhebliche Besserungen
lassen sich durch eine gezielte Therapie meistens erreichen. Und für
diese Therapie ist es notwendig, daß
die Diagnose „Autismus“ frühzeitig
gestellt wird, denn damit kann der
Verlauf eindeutig günstiger gestaltet
werden. Bereits in den Frühstadien
lassen sich durch verhaltenstherapeutische Programme die soziale
Kompetenz positiv beeinflussen und
auch etliche autistische Symptome
bessern. Viele heilpädagogische Maßnahmen sind dazu geeignet, wenn sie
in ein solches Programm eingebaut
werden.
Häufigkeit des
Autismus
In diesem Zusammenhang soll
auch noch erwähnt werden, daß die
autistische Störung doch häufiger
vorkommt, als allgemein angenommen wird.
Es gibt seit 1966 eine Reihe von
Zählungen und Schätzungen über die
Zahl der autistischen Kinder und Jugendlichen. Man hat im allgemeinen
ihre Zahl mit vier bis fünf pro 10 000
geschätzt oder errechnet. Diese Zahlen gelten meist für die Altersgruppe
der Drei- bis 14- oder 18jährigen. Das
bedeutet, daß zu dem Zeitpunkt der
Berechnung älter gewordene Autisten nicht mitgezählt wurden. Auf
10 000 Menschen kommen 3,9 bis
11,6 Autisten, in Japan sogar 13,8. Im
neuesten internationalen Zahlenvergleich (7), der sich über 37 Länder erstreckt, werden für Deutschland bei
einer Bevölkerung von 77,8 Millionen 35 000 Autisten angenommen.
Diese Zahlen sind natürlich nur
Hochrechnungen; sie weisen aber
eindrücklich auf die Bedeutung des
Autismus als klar definierte seelischgeistige Krankheit und gesellschaftliches Problem hin.
Diagnose so
früh wie möglich
Wie aus der eingangs geschilderten Krankengeschichte ersichtlich, ist
die Frühdiagnose der autistischen
Störung besonders wichtig, wenn die
gezielte Therapie so früh wie möglich
einsetzen soll. Schon in den ersten
Wochen und Monaten des Lebens bemerken die Eltern, daß sich das Kind
anders verhält als zum Beispiel die
Geschwister in dieser Zeit. Es ist
überhaupt ein Charakteristikum des
Autismus, daß diese Kinder sich in
ihrem Verhalten qualitativ von der
Norm unterscheiden, während quantitative Defizite, also zum Beispiel intellektuelle Rückstände, zwar auch
oft anzutreffen, aber nicht typisch
sind. Manche Mütter haben das zwar,
als es akut war, bemerkt, haben dem
aber kaum Bedeutung beigemessen
und berichten darüber erst nachträglich, wenn man sie gezielt danach
fragt. Diese Besonderheiten der
Frühzeit sind die Ablehnung des
Kontakts mit der Mutter oder die Indifferenz diesem Kontakt gegenüber.
Auch das Schreien des Säuglings im
ersten Lebensjahr ist insofern anders
als gewohnt, als es für die Mutter keinen Signalcharakter hat. Auch das,
was man als Eigenwilligkeit des Kindes bezeichnen könnte, bemerken
viele Mütter bereits in den ersten Lebensmonaten.
Wie sich die autistische Störung
von anderen Verhaltensauffälligkeiten des Kindesalters unterscheidet,
ist aus der Tabelle ersichtlich. Ich habe hier die grundsätzlichen differentialdiagnostischen Merkmale zusammengestellt. Es kann hier nicht über
die geschilderte Kasuistik hinaus die
ganze recht variable und vielschichtige Symptomatik des autistischen Syndroms beschrieben werden. Die Ausprägung ist unterschiedlich. Dennoch
zeichnen sich ganz typische Verläufe
ab. Jeder Arzt ist angesprochen, dem
ein Kind mit Autismus oder mit dem
Verdacht auf eine solche Störung vorgestellt wird. Ist man einmal zu dieser
Diagnose gekommen, so stehen in
Deutschland und auch in der Schweiz
und Österreich zahlreiche TherapieAmbulanzen zur Verfügung. Sie
führen ein breites Spektrum von heilpädagogischen Maßnahmen durch.
A-1916 (44) Deutsches Ärzteblatt 95, Heft 31–32, 3. August 1998
Therapie
Die wirkungsvollste Behandlungsweise ist gut geplante Verhaltenstherapie. Sie muß ganz individuell konzipiert sein und sich über Kotherapeuten auf die ganze natürliche
Umgebung des Kindes, also auf die
Familie, den Kindergarten, die Schule und eventuell das Heim erstrecken. Die zahlreichen angebotenen Außenseitermethoden sind in
Einzelfällen auch nicht unwirksam,
aber nicht autismusspezifisch. Bei
vielen autistischen Kindern und Jugendlichen ist es erforderlich, beruhigende Medikamente zu geben. Diese
sorgen dafür, daß der Patient für die
über die Psyche wirksamen Behandlungsmethoden zugänglicher wird.
Zitierweise dieses Beitrags:
Dt Ärztebl 1998; 95: A-1913–1916
[Heft 31-32]
Literatur
1. Baumann M, Kemper TI: Histoanatomic
observations of the brain in early infantile
autism. Neurology 1985; 35: 866–873.
2. Gillberg CH, Wahlström J: Chromosomal
abnormalities in infantile autism and other
childhood psychoses. Developmental Med
Child Neurol 1985; 27: 293–304.
3. Kehrer HE: Autismus. 5. Aufl. Heidelberg:
Asanger Verlag, 1995.
4. Kehrer HE: Geistige Behinderung und
Autismus. Stuttgart: Trias Verlag, 1995.
5. Kehrer HE: Praktische Verhaltenstherapie
bei geistig Behinderten. Dortmund: Verlag
Modernes Lernen, 1997.
6. Ritvo ER et al.: Lower Purkinje cell counts
in the cerebella of four autistic subjects.
Amer J Psychiatry 1986; 143: 863–866.
7. Trevarthen, Colwyn et al.: Children with
autism. London and Bristol, Pennsylvania:
Jessica Kingsley Publishers, 1996.
Anschrift für die Verfasser
Prof. Dr. med. Hans E. Kehrer
Hittorfstraße 46
48149 Münster
Berichtigung
In dem Artikel „Antisense-Oligonukleotide“ in Heft 24 vom 12. Juni 1998 wurde fäschlicherweise
die Bezeichnung „Guanidin“ für
eine der vier Basen der DNA verwendet. Der korrekte Name dieses DNA-Bausteins lautet „Guanin“.
DÄ/MWR
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