M E D I Z I N KURZBERICHT Hans E. Kehrer Ina Overesch Brigitte Ziegler An Autismus denken ZUSAMMENFASSUNG Stichwörter: Frühkindlicher Autismus, autistische Störung, autistisches Syndrom, Frühdiagnose Das Erscheinungsbild des seit über 50 Jahren bekannten frühkindlichen Autismus wird durch ein Beispiel aus der Praxis erläutert. Eingegangen wird auf Diagnose, Differentialdiagnose, Genese, Epidemiologie, die therapeutischen Möglichkeiten sowie die sozialen Probleme. Da durch eine möglichst frühe Diagnose die Chancen für eine rechtzeitige spezifische Therapie steigen und damit sich die Lebensaussichten für diese Patienten viel besser gestalten, ist es das Anliegen des Artikels, allen eventuell mit dem autistischen Syndrom konfrontierten Ärzten die Frühdiagnose mit den daraus folgenden Konsequenzen nahezulegen. Key words: Early childhood autism, autistic disorder, autistic syndrome, early diagnosis The symptoms of early childhood autism, which have been known for more than 50 years are being illustrated in an exemplary case. The significance of differential diagnosis, genesis, epidemiology, of therapeutic possibilities and social problems are explained. By early diagnosis and the resulting early specific therapy, life conditions of the patients will improve considerably. It is the concern of this article to suggest early diagnosis and its consequences to all doctors who may be confronted with autistic children and youths. D as autistische Syndrom, auch nach ICD die autistische Störung, ist zwar in den Medien ein beliebter Stoff, der teils zur Belehrung dienen soll, aber offenbar einen großen Unterhaltungswert hat. Dem steht die eigenartige Tatsache gegenüber, daß die Diagnose von ärztlicher Seite ausgesprochen selten und häufig zu spät gestellt wird. Wenn Mütter nicht durch Filme, Lektüre oder Ratschläge von Bekannten auf eigenartige Verhaltensweisen ihres Kindes aufmerksam gemacht werden, so sind es nach unseren Erfahrungen meist die Erzieherinnen im Kindergarten oder später die Lehrerinnen und Lehrer, die den Anstoß zur fachgerechten Diagnose geben. Das liegt unter anderem daran, daß Erzieherinnen das Kind im Kindergarten über viele Stunden des Tages und in unterschiedlichen Situationen sehen. In der ärztlichen Sprechstunde sind auch psychisch gesunde Kleinkinder oft verängstigt und lassen sich nicht so leicht von psychisch gestörten Kindern unterscheiden. Hinzu kommt die zwangsläufig kurze Beobachtungszeit in der Sprechstunde. Das Kleinkindalter Die autistische Störung beginnt im Kleinkindalter, manchmal bereits in den ersten Lebenswochen und selten – rückläufig betrachtet – nach dem 30. Lebensmonat. Manche Symptome lassen sich erst später als erste Hinweise auf autistisches Verhalten identifizieren. Der Arzt ist also weitgehend auf die anamnestischen Angaben der Eltern, vor allem der Mütter angewiesen. Ein ganz wichtiges Frühsymptom ist die Gleichgültigkeit oder sogar ablehnende Haltung des Säuglings – kein Lächeln, kein Entgegenstrecken der Ärmchen –, wenn die Mutter sich dem Kind zuwendet. Gelegentlich kommt es sogar zum Abwenden oder Sichsteifmachen, wenn die Mutter den Säugling auf den Arm nimmt. Autistische Kinder gelten in diesem Alter oft als „pflegeleicht“, das heißt als wenig anspruchsvoll in der Pflege und mit sich selbst zufrieden. Auffallend im Säuglingsalter ist manchmal noch der fehlende Signalcharakter des Schreiens als vorsprachliches Ausdrucksmittel des Kindes. Das Schreien klingt monoton; die Mutter kann nicht erkennen, ob Hunger, die volle Windel oder Bauchschmerzen die Ursache des Unbehagens ist, was der Mutter eines normalen Säuglings im allgemeinen möglich ist. Institut für Autismusforschung, Klinik und Poliklinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie (Prof. Dr. med. Tilmann Fürniss) der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster SUMMARY Ein typisch autistisches Kind Hier ein Beispiel: Ein Kind, bei dem die für eine möglichst frühzeitig einsetzende Therapie so wichtige Diagnose „autistische Störung“ zu spät gestellt wurde. Der acht Jahre und drei Monate alte Martin wurde von seinen Eltern in unserer Ambulanz vorgestellt. Diese gaben zur Anamnese an: Blutungen im vierten Schwangerschaftsmonat, Wachstumsstillstand gegen Ende der Schwangerschaft, Steißlage und Geburt durch Sectio eine Woche vor dem errechneten Termin. Die Mutter berichtete nun auf Befragen: Das Baby schien keinen Wert auf den Kontakt mit ihr zu legen und wehrte sich gegen Zärtlichkeit. Auffallend für die Eltern war das monotone Schreien, das während des ganzen Kleinkindalters anhielt und keinen Signalcharakter hatte. Die Ernährung war insofern schwierig, als der Säugling anfangs immer an der Brust einschlief, weswegen auf die Flasche umgestellt werden mußte. Auch die Umstellung auf feste Kost verlief nicht problemlos. Es fiel und fällt auf, daß Martin Milch oder Milchprodukte ablehnt. Er bemerkt selbst kleine Mengen in einer Speise, zum Beispiel im Pudding, und weist sie zurück. Später entwickelte er sich zu einem sehr guten Esser, der mehr Deutsches Ärzteblatt 95, Heft 31–32, 3. August 1998 (41) A-1913 M E D I Z I N KURZBERICHT Wert auf scharfe Speisen als auf Süßigkeiten legt. Als Besonderheiten der Wahrnehmung fiel auf, daß der Junge an Dingen gerochen hat, die normalerweise keinen Geruch ausströmen, daß sein Schmerzempfinden offenbar vermindert ist und daß er im allgemeinen sehr geräuschempfindlich ist, andererseits laute Techno-Musik gern hört. Er ist feinmotorisch recht geschickt, liebt es, Gegenstände – vor allem Dosendeckel – in kreiselnde Bewegung zu versetzen. Er tastet Flächen mit den Fingern ab und berührt häufig Gegenstände mit den Lippen. Es fällt Martin schwer, seine Kraft richtig zu dosieren; er greift oft hart zu, so daß es dem Partner manchmal weh tut. Die motorische Entwicklung des Jungen war mäßig verzögert: Sein Gang ist auch heute noch etwas unsicher. Seine Selbständigkeit ist nicht altersgerecht entwickelt, er ist mit seinen acht Jahren noch nicht sauber und trocken. Seine Sprache hat sich spät entwickelt. Er begann erst mit drei Jahren einzelne Silben, dann „Mama, Papa“ ohne Bedeutung zu sprechen. Sinnvolle Wörter und kurze Sätze spricht er erst seit seinem sechsten Lebensjahr, wobei sein Sprachverständnis besser zu sein scheint. Es kommen auch Echolalie und Neologismen vor. Martin führt oft Selbstgespräche, so zum Beispiel abends im Bett; dabei lacht er viel. Die Artikulation ist ziemlich schlecht. Der anfangs stark gestörte Kontakt zur Mutter hat sich gebessert. Es kommt vor, daß sich der Junge den Eltern von sich aus zuwendet und auf ungeschickte Weise mit ihnen schmusen will. Streicheln schätzt er allerdings nicht, lieber will er fest angefaßt werden. Die Beziehung zur dreieinhalbjährigen Schwester ist schlecht. Martin spielt kaum mit ihr; sie streiten sich viel. Auch im Kindergarten und später in der Schule nimmt und nahm er kaum Kontakt zu Gleichaltrigen auf, beschäftigt sich viel, manchmal stundenlang, allein. Die Mutter klagt darüber, daß sie nie wisse, wie sie mit Martin umgehen soll, er sei ganz unberechenbar. Er zeige keine Empathie, lache, wenn die Schwester unwillig sei oder wenn ihr etwas mißlinge. Der Junge scheint zwanghaft auf bestimmte Abläufe oder Themen festgelegt zu sein. Seit einiger Zeit sind das Waschstraßen für Autos. Zum wechselt: Er scheint manchmal ohne ersichtlichen Grund traurig zu sein und zeigt einen weinerlichen Gesichtsausdruck. Seine Stimmung ist aber schwer zu beurteilen, weil er gleichzeitig lacht. Tabelle Differentialdiagnose der autistischen Störung Im Vordergrund stehende Symptome Ursachen Verlauf frühkindliche Deprivation Besserung in günstigem Milieu soziale Isolation der Familie, Sprachfehler, Mehrsprachigkeit Besserung durch intensive Psychotherapie 3. „Einfache“ geistige Behinderung: Gleichmäßiger Entwicklungsrückstand auf fast allen Gebieten (Psychomotorik, Sprache, Intellekt) Hirnkrankheit, Hirnschaden, Vererbung Besserung durch pädagogische Maßnahmen, Verhaltenstherapie 4. Kindliche Schizophrenie: Psychotische Erscheinungen (zum Beispiel Wahn, Halluzinationen), jenseits des 4. bis 5. Lebensjahres beginnend familiäre Disposition, Beziehungsprobleme Verlauf in Schüben, eventuell Übergang in Hebephrenie frühkindlicher Hirnschaden bei familiärer Disposition keine Progredienz, keine Heilung, Besserung durch Spezialtherapie 1. Deprivationssyndrom: Gleichmäßiger Entwicklungsrückstand auf fast allen Gebieten (Psychomotorik, Sprache, Intellekt) 2. Elektiver Mutismus: Mutismus außerhalb der eigenen Familie bei sonst normaler Entwicklung 5. Autistische Störung: Kontaktprobleme beginnend zwischen Geburt und drittem Jahr, gestörte Wahrnehmungsverarbeitung, Selbststimulation, Stereotypien, oft intellektueller Rückstand 6. Neurotische Kontaktstörung: Meist nach Kleinkindalter mangelnder Kontakt zu bestimmten Personen, die Angst auslösen 7. Spätentwickler: Verspätetes Sprechen bei fast normaler motorischer Entwicklung, fehlende Hinweise auf intellektuellen Rückstand Beispiel weiß er bei Ferienreisen an einen ihm von früher bekannten Ort ganz genau, wo sich eine solche befindet, und kann den Weg dorthin zeigen. Es ist sein größtes Vergnügen, an einer Autoreinigung teilzunehmen. Er spricht oft davon und baut mit einfachen Spielmitteln eine Waschstraße. – Martins Stimmung A-1914 (42) Deutsches Ärzteblatt 95, Heft 31–32, 3. August 1998 negative ErfahBesserung rungen im Umgang, durch Psychomeist mit Fremden therapie gewisse familiäre Tendenz Aufholen des Rückstandes ohne besondere Maßnahmen Für die Genese des autistischen Syndroms bei diesem Patienten muß als organischer Ursachenfaktor eine Risikogeburt angenommen werden. Das im Alter von anderthalb Jahren angefertigte Gehirn-Computertomogramm ergab neben einer Erweiterung der Seitenventrikel eine leichte Aplasie oder Hypoplasie des Klein- M E D I Z I N KURZBERICHT hirnwurms. Die Untersuchung der Chromosomen ergab ein Fragil-XSyndrom (Martin-Bell-Syndrom), das auch bei der Mutter und deren Vater vorliegt, ohne sich symptomatisch zu äußern. In dem an die Eltern gerichteten Brief des Humangenetischen Instituts wird zu dem damaligen Störungsbild des Jungen nur insofern Stellung genommen, als daß dieser körperlich recht gut entwickelt sei, zwar noch nicht spreche, aber seine Umwelt interessiert betrachte und keinen stark geschädigten Eindruck mache. Wegen der Förderung sollten die Eltern sich an die Lebenshilfe wenden. Die Betreuung durch die Lebenshilfe bestand aus Frühförderung im Alter von anderthalb bis vier Jahren. Daran anschließend besuchte er bis zum sechsten Lebensjahr einen heilpädagogischen Kindergarten. Die Frühförderung während der Schulzeit bestand aus dem Besuch einer integrativen Grundschule, die noch durch die Begleitung des Jungen durch einen Ersatzdienstleistenden ergänzt wurde. Es kamen noch therapeutisches Reiten und ein Jahr lang logopädische Behandlung hinzu. Die Diagnose Die Krankengeschichte dieses Jungen ist für das autistische Syndrom oder die autistische Störung (ICD-10, F84.0) absolut typisch. Das gilt sowohl für die Symptomatik als auch für die kausalen Voraussetzungen. Man weiß seit längerer Zeit, daß unter einer Population mit fragilem X-Chromosom Autismus häufig vorkommt (2). Auch daß Hypoplasien des Kleinhirns, nämlich des Wurms und der Kleinhirnrinde mit zu geringer Zahl der Purkinje-Zellen bei Autisten nicht selten sind, ist seit mindestens zehn Jahren bekannt (1, 6). Die Diagnose „autistisches Syndrom“ wurde bei diesem Jungen bis zum Alter von acht Jahren und drei Monaten ärztlicherseits nicht gestellt und erst in unserer Ambulanz als solche erkannt. Die Mutter stieß zufällig auf ein populäres Buch, in dem die Lebensgeschichte eines autistischen Kindes geschildert wurde. Sie stellte fest, daß viele der beschriebenen eigenartigen Verhaltensweisen für ihren Sohn zuträfen, und meldete sich in unserer Ambulanz an. Nunmehr wurde eine autismusspezifische Therapie in einer Wo findet autismusspezifische heilpädagogische Behandlung statt? Autismusspezifische Therapie wird in Deutschland von 30 Ambulanzen angeboten, die über die Bundesländer verteilt sind. Die Adressen sind über den Bundesverband „Hilfe für das autistische Kind“, Bebelallee 114, 22297 Hamburg zu erfahren. Therapie-Ambulanz „Hilfe für das autistische Kind“ empfohlen. Warum wurde die eindeutige Diagnose „Frühkindlicher Autismus“ oder „autistische Störung“ nicht früher gestellt? Schon mit anderthalb Jahren mußte beim heutigen Stand des Wissens zumindest der Verdacht auf Autismus aufkommen. Man hätte bereits damals mit entsprechenden therapeutischen Maßnahmen beginnen können. Spätestens mit vier bis fünf Jahren hätte eigentlich ein Arzt aus den damals massiven Verhaltensstörungen die richtige Diagnose stellen können. Bei pädiatrischen und humangenetischen Diagnosen des Patienten wurden sowohl die organischen Befunde als auch die psychischen Defizite zutreffend beschrieben. Es fehlten jedoch die notwendigen Konsequenzen. Warum wird Autismus so selten diagnostiziert? Daß in unserem Fall und in ähnlichen Fällen die Diagnose „Autismus“ nicht gestellt wird – wie es leider immer noch ziemlich häufig vorkommt –, scheint zwei Gründe zu haben: Unkenntnis der geschilderten Zusammenhänge bei den Ärzten, denen die Eltern ihre verhaltensgestörten Kinder vorstellen, eine gewisse Scheu, die Verhaltensstörungen mit dem Wort Autismus zu belegen. In Laienkreisen und in den Medien ist Autismus etwas ganz Geläufiges. Nach dem Film „Rain Man“ mit Dustin Hoffman und den Bestseller-Büchern von Birger Sellin beschäftigen sich viele Menschen mit dem Thema Autismus. Auch in der Politik ist „autistisch“ offenbar ein vertrauter Ausdruck. Aber auch die Pädagogen, vor allem die Sonderpädagogen, erkennen oft autistische Verhaltensweisen bei ihnen anvertrauten Kindern. Am schwersten mit Autismus tun sich offenbar die Mediziner. Immer wieder erfahren wir von den Eltern solcher Kinder, daß sie schon bei mehreren Ärzten waren, die unter anderem von der Lehrerin vermutetes autistisches Verhalten als mehr oder weniger normal ansehen, das Kind als Spätentwickler bezeichneten oder die Symptome als einer geistigen Behinderung zugehörig oder als Erziehungsfehler auffaßten. Die Feststellung einer geistigen Behinderung oder mentalen Retardierung bei solchen Kindern mag durchaus zutreffend sein. Daß aber auch typisch autistische Symptome vorliegen, darf nicht übersehen werden, denn es hat eine spezifische, oft sehr hilfreiche Therapie zur Konsequenz. Man kann also die Diagnose „mentale Retardierung mit autistischen Symptomen oder Zügen“ stellen und dann eine spezifische Therapie einleiten. Ein anderer Grund dafür, daß die Diagnose Autismus manchmal nicht gestellt wird, ist die teilweise noch verbreitete Ansicht, autistische Kinder seien die „Schwachsinnigen“ der Reichen und Intellektuellen. Die zuerst von Leo Kanner 1943 beschriebenen elf autistischen Kinder hatten fast alle Wissenschaftler, vorwiegend Naturwissenschaftler, als Eltern. Die Beschäftigung mit Autisten in unserer Ambulanz in den letzten 15 bis 20 Jahren hat fast das Gegenteil gezeigt. Die Patienten kommen eher aus der unteren und mittleren Gesellschaftsschicht. Es sind manchmal auch Kinder von Gastarbeitern. Die Angehörigen der höheren Schichten neigen dazu, ihre Kinder im Ausland, oft in den USA oder bei wissenschaftlichen Außenseitern mit ausländischem Flair, vorzustellen, auf die sie von Bekannten Deutsches Ärzteblatt 95, Heft 31–32, 3. August 1998 (43) A-1915 M E D I Z I N KURZBERICHT aufmerksam gemacht worden sind. Ein Argument für die Zurückhaltung bei der Diagnose „Autismus“ könnte auch sein, daß man die Kinder mit dieser Diagnose nicht als unheilbar Behinderte abstempeln wolle. Sind sie das als geistig Behinderte ohne autistische Symptomatik nicht? Eine eindeutige Heilung ist beim autistischen Syndrom zwar nicht möglich, aber erhebliche Besserungen lassen sich durch eine gezielte Therapie meistens erreichen. Und für diese Therapie ist es notwendig, daß die Diagnose „Autismus“ frühzeitig gestellt wird, denn damit kann der Verlauf eindeutig günstiger gestaltet werden. Bereits in den Frühstadien lassen sich durch verhaltenstherapeutische Programme die soziale Kompetenz positiv beeinflussen und auch etliche autistische Symptome bessern. Viele heilpädagogische Maßnahmen sind dazu geeignet, wenn sie in ein solches Programm eingebaut werden. Häufigkeit des Autismus In diesem Zusammenhang soll auch noch erwähnt werden, daß die autistische Störung doch häufiger vorkommt, als allgemein angenommen wird. Es gibt seit 1966 eine Reihe von Zählungen und Schätzungen über die Zahl der autistischen Kinder und Jugendlichen. Man hat im allgemeinen ihre Zahl mit vier bis fünf pro 10 000 geschätzt oder errechnet. Diese Zahlen gelten meist für die Altersgruppe der Drei- bis 14- oder 18jährigen. Das bedeutet, daß zu dem Zeitpunkt der Berechnung älter gewordene Autisten nicht mitgezählt wurden. Auf 10 000 Menschen kommen 3,9 bis 11,6 Autisten, in Japan sogar 13,8. Im neuesten internationalen Zahlenvergleich (7), der sich über 37 Länder erstreckt, werden für Deutschland bei einer Bevölkerung von 77,8 Millionen 35 000 Autisten angenommen. Diese Zahlen sind natürlich nur Hochrechnungen; sie weisen aber eindrücklich auf die Bedeutung des Autismus als klar definierte seelischgeistige Krankheit und gesellschaftliches Problem hin. Diagnose so früh wie möglich Wie aus der eingangs geschilderten Krankengeschichte ersichtlich, ist die Frühdiagnose der autistischen Störung besonders wichtig, wenn die gezielte Therapie so früh wie möglich einsetzen soll. Schon in den ersten Wochen und Monaten des Lebens bemerken die Eltern, daß sich das Kind anders verhält als zum Beispiel die Geschwister in dieser Zeit. Es ist überhaupt ein Charakteristikum des Autismus, daß diese Kinder sich in ihrem Verhalten qualitativ von der Norm unterscheiden, während quantitative Defizite, also zum Beispiel intellektuelle Rückstände, zwar auch oft anzutreffen, aber nicht typisch sind. Manche Mütter haben das zwar, als es akut war, bemerkt, haben dem aber kaum Bedeutung beigemessen und berichten darüber erst nachträglich, wenn man sie gezielt danach fragt. Diese Besonderheiten der Frühzeit sind die Ablehnung des Kontakts mit der Mutter oder die Indifferenz diesem Kontakt gegenüber. Auch das Schreien des Säuglings im ersten Lebensjahr ist insofern anders als gewohnt, als es für die Mutter keinen Signalcharakter hat. Auch das, was man als Eigenwilligkeit des Kindes bezeichnen könnte, bemerken viele Mütter bereits in den ersten Lebensmonaten. Wie sich die autistische Störung von anderen Verhaltensauffälligkeiten des Kindesalters unterscheidet, ist aus der Tabelle ersichtlich. Ich habe hier die grundsätzlichen differentialdiagnostischen Merkmale zusammengestellt. Es kann hier nicht über die geschilderte Kasuistik hinaus die ganze recht variable und vielschichtige Symptomatik des autistischen Syndroms beschrieben werden. Die Ausprägung ist unterschiedlich. Dennoch zeichnen sich ganz typische Verläufe ab. Jeder Arzt ist angesprochen, dem ein Kind mit Autismus oder mit dem Verdacht auf eine solche Störung vorgestellt wird. Ist man einmal zu dieser Diagnose gekommen, so stehen in Deutschland und auch in der Schweiz und Österreich zahlreiche TherapieAmbulanzen zur Verfügung. Sie führen ein breites Spektrum von heilpädagogischen Maßnahmen durch. A-1916 (44) Deutsches Ärzteblatt 95, Heft 31–32, 3. August 1998 Therapie Die wirkungsvollste Behandlungsweise ist gut geplante Verhaltenstherapie. Sie muß ganz individuell konzipiert sein und sich über Kotherapeuten auf die ganze natürliche Umgebung des Kindes, also auf die Familie, den Kindergarten, die Schule und eventuell das Heim erstrecken. Die zahlreichen angebotenen Außenseitermethoden sind in Einzelfällen auch nicht unwirksam, aber nicht autismusspezifisch. Bei vielen autistischen Kindern und Jugendlichen ist es erforderlich, beruhigende Medikamente zu geben. Diese sorgen dafür, daß der Patient für die über die Psyche wirksamen Behandlungsmethoden zugänglicher wird. Zitierweise dieses Beitrags: Dt Ärztebl 1998; 95: A-1913–1916 [Heft 31-32] Literatur 1. Baumann M, Kemper TI: Histoanatomic observations of the brain in early infantile autism. Neurology 1985; 35: 866–873. 2. Gillberg CH, Wahlström J: Chromosomal abnormalities in infantile autism and other childhood psychoses. Developmental Med Child Neurol 1985; 27: 293–304. 3. Kehrer HE: Autismus. 5. Aufl. Heidelberg: Asanger Verlag, 1995. 4. Kehrer HE: Geistige Behinderung und Autismus. Stuttgart: Trias Verlag, 1995. 5. Kehrer HE: Praktische Verhaltenstherapie bei geistig Behinderten. Dortmund: Verlag Modernes Lernen, 1997. 6. Ritvo ER et al.: Lower Purkinje cell counts in the cerebella of four autistic subjects. Amer J Psychiatry 1986; 143: 863–866. 7. Trevarthen, Colwyn et al.: Children with autism. London and Bristol, Pennsylvania: Jessica Kingsley Publishers, 1996. Anschrift für die Verfasser Prof. Dr. med. Hans E. Kehrer Hittorfstraße 46 48149 Münster Berichtigung In dem Artikel „Antisense-Oligonukleotide“ in Heft 24 vom 12. Juni 1998 wurde fäschlicherweise die Bezeichnung „Guanidin“ für eine der vier Basen der DNA verwendet. Der korrekte Name dieses DNA-Bausteins lautet „Guanin“. DÄ/MWR