Emil Hübner: Parlament und Regierung. Internet-Version. 18.8.2003. PDF. Kapitel II: Grundzüge der deutschen Institutionengeschichte Kapitel II: Grundzüge der deutschen Institutionengeschichte 1. Die Frankfurter Nationalversammlung und das Regierungssystem der Frankfurter Reichsverfassung Die Revolution von 1848, die zum ersten Versuch der Ausarbeitung und Durchsetzung einer gesamtdeutschen Verfassung führte, war kein deutsches Sonderereignis. Am Beginn dieses Jahres erfasste eine „Revolutionswelle“ Europa „zwischen dem Ärmelkanal und den Grenzen Russlands . . . Der Mittelstand sehnte entweder die Erlangung oder die Erweiterung der bürgerlichen und politischen Rechte herbei, und in Deutschland und Italien war dieser Wunsch mit einer wachsenden Sehnsucht nach nationaler Einheit und Unabhängigkeit verbunden. Die Avantgarde der Mittelstandsreformbewegung waren Kaufleute und Industrielle, Professoren und Journalisten, Juristen, Intellektuelle und Studenten. Gleichzeitig litt das Gros des gemeinen Volkes in allen Ländern unter wirtschaftlicher Not ... Überdies waren die Bedingungen in den verschiedenen Ländern einander so ähnlich, dass eine revolutionäre Explosion in einem Zentrum Explosionen an anderen Stellen auslösen musste. Genau das geschah im März"1 Märzrevolution 1848 Obwohl auch andere Ereignisse - wie z. B. die Aufstände in Polen, der Schweizer Sonderbundkrieg und die Diskussion um die Neuordnung der Schweiz oder die Auseinandersetzungen um die Zukunft Schleswig-Holsteins - die Stimmung in Deutschland beeinflussten, der eigentliche Funke des Revolutionsjahres 1848 wurde in Paris entfacht: Er führte dort zum Sturz des Königs Louis Philippe und zur Ausrufung der Republik, bevor er unter anderem nach Deutschland übersprang. Katastrophale Missernten zwischen 1845 und 1847 und damit verbundene Hungersnöte, eine wirtschaftliche Strukturkrise, begleitet von einer Finanzkrise und steigender Arbeitslosigkeit, und stecken gebliebene Reformen hatten „die Unzufriedenheit in der Bevölkerung aufs Äußerste gesteigert."2 Von Süddeutschland aus verbreiteten sich im Wesentlichen friedliche Massendemonstrationen, die sich für die so genannten „Märzforderungen" stark machten: „Pressefreiheit, Schwurgerichte, Volksbewaffnung, deutsches Parlament. Bauern, Handwerker und Arbeiter artikulierten bald ihre weitergehenden Forderungen.-3 Die deutschen Fürsten wagten nicht, die aufgebrachten Massen mit Hilfe des Militärs längere Zeit in Schranken zu halten, und gaben den Forderungen ziemlich schnell nach. In Baden übernahmen die Liberalen die Regierung, in München dankte Ludwig I. ab zugunsten seines Sohnes Maximilian IL; auch die Kleinstaaten mussten den Reformforderungen 1 Craig, Gordon A.: Geschichte Europas im 19. und 20. Jahrhundert. Bd. 1: Vom Wiener Kongress bis zum Ausbruch des Ersten Weltkrieges 1815-1914. – München: Beck 1978, S. 104 (= Becksche Sonderausgaben); hierzu auch W. Mommsen, 1848, insbes. S. 300 ff. 2 H. Boldt, Deutsche Verfassungsgeschichte, Bd. 2, S. 92 3 Botzenhart, Deutsche Verfassungsgeschichte, S. 41 41 Emil Hübner: Parlament und Regierung. Internet-Version. 18.8.2003. PDF. Kapitel II: Grundzüge der deutschen Institutionengeschichte Rechnung tragen. Nur in Österreich und in Preußen führten die revolutionären Unruhen auch zu Gewalttätigkeiten größeren Ausmaßes. Am 13. März kam es in Wien zu Straßenkämpfen, der österreichische Kaiser Ferdinand 1. reagierte prompt und entließ noch am Abend desselben Tages Clemens Fürst von Metternich, der nach einer Amtszeit von 39 Jahren als österreichischer Staatskanzler fliehen musste. Der Sturz Metternichs veranlasste auch den vorher unnachgiebigen preußischen König Friedrich Wilhelm IV zu Zugeständnissen: Er versprach, den Landtag einzuberufen und die Pressezensur aufzuheben. Außerdem bereitete er einen Regierungswechsel vor und sprach sich für eine Reform des Deutschen Bundes aus.4 Am 18. März 1848 wurde dann eine Demonstration zugunsten der versprochenen Reformen zum Prüfstein für den Reformwillen des Königs. Dieser war auch bereit, den Forderungen der Mengen nach Abzug des Militärs nachzugeben, wobei sich ungezielte Schüsse lösten, „der Ruf `Verrat' und Zu den Waffen' ist die Antwort - die Kämpfe beginnen von neuem. Das war freilich mehr als ein unglücklicher Zufall, Missverständnis oder Kopflosigkeit. Das war der Grundkonflikt der Berliner Revolution, der Konflikt zwischen Zivil und Militär. Die Frage Abzug oder Verbleib der Truppen war die Frage nach Substanz und Seele der preußischen Monarchie, nach der unantastbaren Autorität des Königs, gegründet auf das Königliche Heer. Der Ruf Militär weg' bedeutete: der König sollte dem Militärstaat abschwören, sollte Bürgerkönig werden das revolutionierte die Grundlage des preußischen Staates."5 Zunächst schien es, als sollte Preußen diesen Weg gehen. Thomas Nipperdey hebt - neben dem schnellen Zusammenbruch der Restauration und der in den Metropolen der Einzelstaaten dezentralisierten Revolution - als Fazit der Märzereignisse hervor: Fazit der Märzereignisse „Das Ergebnis der Märzrevolution ist nicht der Totalumsturz der Machtverhältnisse, der Monarchie, der Verfassung, wo es sie gab. Aber es ist eine fundamentale Reform, ein Systemwechsel. Es wird zur pragmatischen Selbstverständlichkeit, dass die vom Monarchen berufene Regierung in Übereinstimmung mit dem Parlament regiert. Und die Regierungen nehmen die Erweiterung der politischen Freiheit, des Wahlrechts, der Rechte der Kammern, der Selbstverwaltung, der Reform der Justiz und die Agrarreform mit Energie in die Hand. Die Märzminister hatten die Revolution nicht gewollt, und sie liebten sie nicht. Aber allein die Gewalt hatte sie in die Führung getragen, allein die Revolution war die Basis der nun erstrebten Evolution. Sie waren Geschöpfe der Revolution, aber sie wollten nicht länger Revolutionäre sein, in ihrer Legitimität von der Revolution abhängig. Sie wollten die Revolution kanalisieren und konsolidieren. Das war ihr Realismus, ihre Ambivalenz, ihre Tragik. Sie stellten sich auf den Boden der Kontinuität und der Gesetzlichkeit- nicht auf den Boden der alles neu machenden Revolution; sie wollten Chaos und Radikalisierung verhindern; sie wollten Ordnung und Reform zugleich, wollten die Revolution gerade dadurch in dauernde 4 Ausführlicher z.B. Holborn, Hajo: Deutsche Geschichte in der Neuzeit. Bd. II: Reform und Restauration, Liberalismus und Nationalismus (1790-1871). – Frankfurt/Main: Fischer Taschenbuch Verlag 1981, S. 276 ff. (= Fischer Taschenbuch 6415) 5 Nipperdey, Deutsche Geschichte 1800-1866, S. 598 f. 41 Emil Hübner: Parlament und Regierung. Internet-Version. 18.8.2003. PDF. Kapitel II: Grundzüge der deutschen Institutionengeschichte Errungenschaften überführen, dass sie sie nicht weitertrieben. Die Revolution soll zu Ende sein, es gilt, ihre Früchte einzubringen, die Revolution hat gesiegt, es lebe die Reform - das war die liberale Strategie."6 Der Weg, auf dem die auch gegenüber den frühkonstitutionellen süddeutschen Systemen beträchtlich erweiterten demokratischen Errungenschaften gesichert werden sollten, führte nach Frankfurt. Dieser Weg zur Frankfurter Paulskirche begann mit einer Versammlung von 51 demokratischen und liberalen Politikern vornehmlich aus dem süddeutschen Raum am 5. März 1848 in Heidelberg. Die Versammelten erklärten die Einberufung „einer in allen deutschen Landen nach der Volkswahl gewählten Nationalvertretung" für „unaufschiebbar, sowohl zur Beseitigung der nächsten inneren und äußeren Gefahren, wie zur Entwickelung der Kraft und Blüthe deutschen Nationallebens."7 Die Regierungen der deutschen Einzelstaaten wurden von dieser Versammlung aufgefordert, bei der Einberufung der Nationalversammlung mitzuwirken. Gleichzeitig wurde einem SiebenerAusschuss, dem unter anderem Heinrich von Gagern und Karl Theodor Welcker angehörten, die Aufgabe übertragen, „hinsichtlich der Wahl und der Einrichtungen einer angemessenen Nationalvertretung Vorschläge vorzubereiten, und die Einladung zu einer Versammlung deutscher Männer schleunigst zu besorgen."8 Dieser Siebener-Ausschuss lud am 12. März 1848 das sog. „Vorparlament" für den 30. März nach Frankfurt ein. Hier kam es u. a. zu heftigen Auseinandersetzungen zwischen Liberalen und linken Demokraten, die auch die „Aufhebung der erblichen Monarchie (Einherrschaft) und Ersetzung derselben durch frei gewählte Parlamente" sowie eine föderative „Bundesverfassung nach dem Muster der nordamerikanischen Freistaaten"9 forderten. Das Vorparlament nahm jedoch keine Grundsatzentscheidungen vorweg, es einigte sich über den Wahlmodus für die Nationalversammlung und setzte vor seiner Auflösung einen Fünfziger-Ausschuss ein, der den Bundestag die Versammlung der Bevollmächtigten der Mitglieder des Deutschen Bundes beraten und bei Gefahr das Vorparlament wieder einberufen sollte. Vorgeschichte der Nationalversammlung Der Bundestag, der bereits am 3. März 1848 den Einzelstaaten die Aufhebung der Pressezensur freigestellt hatte, stellte sich seinerseits den Demokratisierungsbestrebungen von unten nicht in den Weg, auch er vertrat am B. März die Überzeugung, dass eine „Revision der Bundesverfassung auf wahrhaft zeitgemäßer und nationaler Grundlage notwendig sei",10 setzte kurz danach einen Siebzehner-Ausschuss ein, der mit der Vorbereitung einer neuen Verfassung beauftragt wurde, und verabschiedete am 7. April 1848, nach Berücksichtigung einiger Korrekturwünsche des Vorparlaments, einen Beschluss 6 Nipperdey, a.a.O., S. 605 Huber, Dokumente, Bd. 1, S. 327 8 Huber a.a.O., S. 327 9 Huber a.a.O., S. 334 10 Zit. Nach Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte, Bd. 2, S.595 7 41 Emil Hübner: Parlament und Regierung. Internet-Version. 18.8.2003. PDF. Kapitel II: Grundzüge der deutschen Institutionengeschichte über die Wahlen zur Verfassunggebenden Nationalversammlung, der allerdings von den Einzelstaaten bei weitem nicht vollständig in die Tat umgesetzt wurde.11 Bereits am 18. Mai konnte die Nationalversammlung in der Frankfurter Paulskirche zusammentreten. Zusammensetzung „Nominell umfasste sie 649 Abgeordnete. Da jedoch nicht überall gewählt worden war, belief sich ihre Zahl tatsächlich auf 585 Mitgliederüberwiegend Akademiker, darunter - anders als die Rede vom `Professorenparlament' vermuten lässt - nur 49 Hochschullehrer. Neben den Lehrern, Juristen, Ärzten und Beamten waren relativ wenige Kaufleute, Landwirte und nur vier Handwerker vertreten. Das Parlament repräsentierte noch ein letztes Mal das bis dahin in der politischen Diskussion tonangebende deutsche Bildungsbürgertum."12 Das Paulskirchenparlament war - wiederum im Gegensatz zu gängigen Behauptungen - kein Parlament unabhängiger Abgeordneter, die ihr Abstimmungsverhalten nur von ihrem Gewissen abhängig machten. Ein beträchtlicher Teil der Abgeordneten gruppierte sich schnell zu - allerdings noch relativ labilen und im Laufe der Zeit sich häufig ändernden - Fraktionen, die nach ihren jeweiligen Tagungsorten benannt wurden und die man - zumindest anfangs in folgendes Grobraster einpassen kann:13 Fraktionen - Das rechte Café Milani war für eine Absprache der zu verabschiedenden Verfassung mit den Einzelstaaten, für die man auch darüber hinaus weitgehende Kompetenzen forderte. Außerdem traten diese Abgeordneten für ein künftiges Deutschland unter Einschluss Österreichs ein. - Casino, Landsberg und später der Augsburger Hof bildeten das rechte Zentrum, das überwiegend kleindeutsch orientiert war und für ein preußisches Erbkaisertum inklusive einer konstitutionellen Monarchie mit Wahlrechtsbeschränkungen eintrat. Hier stellte man sich zwar nicht gegen Verhandlungen mit den Regierungen der Einzelstaaten hinsichtlich der Inkraftsetzung der Verfassung, reklamierte aber das letzte Wort für die Nationalversammlung. - Das linke Zentrum (Württemberger Hof, Westendhall) war überwiegend großdeutsch gesinnt und trat für die Errichtung einer parlamentarischen Demokratie ein. - Die gemäßigte Linke (Deutscher Hof) verlangte ein allgemeines Wahlrecht, ein auf der Volkssouveränität basierendes Einkammersystem und eine republikanische Reichsspitze. 11 Zum Ablauf der Wahlen z.B. Eyck, Deutschlands große Hoffnung, S. 77 ff.; oder Theodore S. Hamerow: Die Wahlen zum Frankfurter Parlament. – in: Böckenförde (Hrsg.): Moderne deutsche Verfassungsgeschichte, S. 215 ff 12 H. Boldt, a.a.O. (Anm. 2), S. 145. Ausführlichere Angaben zur sozialen Zusammensetzung der Frankfurter Nationalversammlung z.B. bei Nipperdey, a.a.O. (Anm. 5), S. 610 oder Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte, Bd. 2, S. 610 f. 13 Zum Folgenden H. Boldt, a.a.O. (Anm. 2), S. 146; Botzenhart, a.a.O. (Anm. 3), S. 43 f.; ausführlicher: Botzenhart, Deutscher Parlamentarismus, S. 415 ff., Kramer, Fraktionsbildungen, S. 74 ff.; W. Boldt, Anfänge des deutschen Parteiwesens, S. 18 ff., S. 53 ff.; Eyck, a.a.O. (Anm. 11), S. 163 ff.; Best, die Männer von Bildung und Besitz, S. 322 ff. 41 Emil Hübner: Parlament und Regierung. Internet-Version. 18.8.2003. PDF. Kapitel II: Grundzüge der deutschen Institutionengeschichte - Die radikale Linke (Donnersberg) war im Gegensatz zur gemäßigten Linken zu keinen Kompromissen hinsichtlich der Durchsetzung der Volkssouveränität bereit. Sie forderte die Etablierung einer Republik und eines über der Regierung stehenden Parlaments, wobei man hier die Durchsetzung der eigenen Forderungen durch Gewaltanwendung nicht ausschloss. Nachdem die Nationalversammlung eine provisorische Zentralregierung eingerichtet und mit der Einsetzung des österreichischen Erzherzogs Johann als Reichsverweser die Frage der künftigen Staatsform offen gelassen hatte, beschäftigte sie sich anfangs insbesondere mit den künftigen Grundrechten und kam damit dem zentralen Aspekt der „Märzforderungen' nach. Nach teilweise kontroversen Diskussionen wurde der überaus fortschrittliche und gut gesicherte (§ 130) Grundrechtskatalog noch vor Verabschiedung der Verfassung im Dezember 1848 von der Nationalversammlung gebilligt und als Gesetz verkündet. Der Hauptstreitpunkt hinsichtlich der hier vor allem interessierenden Beziehungen zwischen Monarchen und den beiden Häusern des Parlamentes war die Frage des absoluten bzw. aufschiebenden Vetos des künftigen Staatsoberhauptes im Gesetzgebungsprozess bzw. bei Verfassungsänderungen. Doch muss zunächst noch darauf verwiesen werden, dass ein zentraler Aspekt der Beziehungen zwischen Parlament und Regierung in Debatten der Nationalversammlung de facto ausgeklammert blieb. Die Einführung eines echten parlamentarischen Regierungssystems war offensichtlich so aussichtslos, dass noch nicht einmal dessen Anhänger es ernsthaft ins Spiel brachten. Auch hinsichtlich der Frage der Ministerverantwortlichkeit war man äußerst zurückhaltend. Die Vorlage des Siebzehner-Ausschusses hatte in § 10 festgehalten, dass die Verfügungen des Kaisers von mindestens einem Reichsminister „zum Zeichen der Verantwortlichkeit desselben für die Zweckund Gesetzmäßigkeit" gegengezeichnet werden müssen.14 Die entsprechenden Passagen in der schließlich verabschiedeten Reichsverfassung sind hingegen deutlich vager: Der Kaiser übt die ihm übertragene Gewalt durch verantwortliche, von ihm ernannte Minister aus, die durch Gegenzeichnung die Verantwortung übernehmen.15 Von Verantwortung für die Zweck- und Gesetzmäßigkeit ist nicht mehr die Rede. Zumindest vom Wortlaut der Verfassung blieb die Ministeranklage ein strafrechtliches Verfahren nach dem Vorbild des Impeachment. Ernst Rudolf Huber erklärt denn auch: Grundrechte Parlament und Regierung „Es ist schwer begreiflich, dass die Reichsverfassung die dem frühkonstitutionellen deutschen Landesrecht geläufige Formel, nach der die Ministeranklage die Ahndung einer Verfassungs- oder Gesetzesverletzung durch einen Minister zum Gegenstand hat, nicht übernahm, sondern sich der unbestimmten Wendung von der Wahrung der Ministerverantwortlichkeit bediente."16 Ebenso unverständlich ist es, warum die Verantwortung für die Zweckmäßigkeit einer Entscheidung auf der Strecke blieb, die die Minister deutlich stärker an 14 Huber, Dokumente Bd. 1, S. 356 Ausführlicher siehe unten 16 Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte, Bd. 2, S. 836 15 41 Emil Hübner: Parlament und Regierung. Internet-Version. 18.8.2003. PDF. Kapitel II: Grundzüge der deutschen Institutionengeschichte das Parlament gebunden hätte, weil hier eine politische und nicht eine strafrechtliche Kategorie angesprochen ist. Erstaunlich ist vor allem das Faktum, „dass . . . die Linke weder im Verfassungsausschuss noch im Plenum einen Vorstoß unternahm, um dem Reichstag ein Mitspracherecht bei der Besetzung der Ministerien zu sichern oder ihm ein Mittel an die Hand zu geben, mit dem die Abberufung missliebiger Minister erzwungen werden konnte."17 Die Vermutung Botzenharts, dass man das Problem nicht übersehen habe, sondern in dem geplanten, aber nicht zustande gekommenen Reichsgesetz über die Ministerverantwortlichkeit regeln wollte, hat zwar einiges für sich. Aber sie bescheinigt der Paulskirchenversammlung doch letztlich eine gewisse Kurzsichtigkeit, da ein solches Verfahren sicherlich zu erheblichen verfassungsrechtlichen Auseinandersetzungen geführt hätte. Für die Linke, die in ihren Programmen jeweils eine Abberufbarkeit der Minister vorgesehen hatte,18 wird man auch festhalten können, dass es eine Frage der parlamentarischen Taktik gewesen ist, sich entweder auf die Frage des Vetos oder auf die Parlamentarisierung der Reichsregierung zu konzentrieren, zumal man sich über die Gewichtung dieser beiden Punkte nicht einig war.19 Jedenfalls erklärte Johann Rödiger vom Deutschen Hof, dass „er sich mit vielen von der Mehrheit gegen den Widerspruch der Demokraten beschlossenen Verfassungsbestimmungen abfinden könnte, wenn nur das absolute Veto verworfen werden würde; gerade das Recht der Krone, sich jedem Fortschritt, jeder freiheitlichen Regung und selbst einem organisch ausgesprochen vernünftigen Wunsche im Volke' zu widersetzen, habe doch die Revolution ausgelöst, die zu schließen man berufen sei."20 Vetorecht In diesem Hauptstreitpunkt des Vetos waren nur die Rechten und die Linken einigermaßen geschlossen: Die Linken waren für ein nur aufschiebendes Veto, die Rechten und das Casino bestanden auf dem absoluten Veto des Monarchen. Die Mitte war gespalten, wobei einigt Liberale in der Debatte bereits von einem etablierten parlamentarischen Regierungssystem ausgingen. Im Dezember 1848 vertrat z. B. Dahlmann im Plenum die Ansicht, dass die Regierungen künftig aus „den Majoritäten der Kammern" hervorgehen werden, und Welcker gestand dem Reichstag das Recht zu, „durch Misstrauensvoten, durch Steuerverweigerung die Minister vom Platz zu jagen“.21 Beide forderten deshalb das absolute Veto mit Argumenten der Gewaltenteilung. Sie unterschieden sich damit deutlich von den Rechten, die das absolute Vetorecht für den Monarchen vor allem mit dem Ziel des Fortbestehens des Monarchischen Prinzips forderten. 17 Botzenhart, a.a.O. (Anm. 13), S. 655 Botzenhart, a.a.O., S. 425 ff. 19 Botzenhart, a.a.O., S. 649 20 Nach Botzenhart, a.a.O., S. 649 21 Botzenhart, a.a.O., S. 647 f. 18 41 Emil Hübner: Parlament und Regierung. Internet-Version. 18.8.2003. PDF. Kapitel II: Grundzüge der deutschen Institutionengeschichte Gegen Ende der Verfassungsberatungen wurde die Frage nach der Form des legislativen Vetos des Monarchen aufs engste verflochten mit dem Problem des künftigen Staatsgebietes. In Anbetracht der Mehrheitsverhältnisse in der Nationalversammlung und der Haltung Österreichs wurden diese beiden Problembereiche im Frühjahr 1849 im so genannten Simon-Gagern-Pakt zu einem Junktim verwoben. Zunächst - im Oktober 1848 - votierte die Frankfurter Nationalversammlung für die Einbeziehung der deutschen Teile des Habsburger Reiches in das künftige deutsche Staatsgebiet, wobei die restlichen Teile Österreich-Ungarns in einer Personalunion mit Österreich verbunden bleiben sollten. Nachdem jedoch die österreichische Regierung diesem Modell widersprach und die Eingliederung der gesamten österreichisch-ungarischen Monarchie forderte, nachdem auch die kurzfristig diskutierte Konstruktion eines weiteren und engeren Bundes gescheitert war, gewann die kleindeutsche Lösung an Wahrscheinlichkeit. Simon-GagernPakt „Wenn somit der großdeutsche Bundesstaat unter Spaltung der habsburgischen Monarchie für Österreich, der großdeutschösterreichische Staatenbund unter Eintritt der habsburgischen Gesamtmonarchie für das übrige Deutschland unannehmbar waren, so bot die kleindeutsche Lösung sich mit unentrinnbarem Zwang als der einzig gangbare Ausweg an."22 Bei Teilen des bisher im Wesentlichen großdeutsch gesinnten linken Zentrums setzte deshalb ein Umdenkungsprozess ein: Man begann sich auf die kleindeutsche Lösung einzustellen, wollte diese aber nicht ohne Gegenleistungen in Fragen, in denen man sich bisher nicht durchsetzen konnte, akzeptieren. Am 12. März 1849 stellte der bisher zum großdeutschen Lager gehörige Karl Theodor Welcker völlig überraschend den Antrag, die Verfassung in ihrer nach der ersten Lesung revidierten Form en bloc abzustimmen und den preußischen König in das Amt des Erbkaisers zu wählen.23 Unter der Führung von Heinrich Simon war eine kleine Gruppe von Abgeordneten des linken Zentrums bereit, unter bestimmten Bedingungen, die allerdings von den Kleindeutschen zunächst abgelehnt wurden, dem Antrag Welckers zuzustimmen. Nachdem aber dieser Antrag am 21. März mit knapper Mehrheit abgelehnt wurde, zeigte sich ein Teil der Kleindeutschen konzessionsbereit: 114 ihrer Abgeordneten verpflichteten sich schriftlich, dem Monarchen in der Gesetzgebung nur ein suspensives Veto zuzugestehen und für das allgemeine Wahlrecht, wie es in der ersten Lesung beschlossen worden war, zu stimmen. Mit dieser Entscheidung war eine Abkehr vom monarchischen Prinzip und eine Hinwendung zu einem gewaltenteilenden Modell nach dem Vorbild Montesquieus vollzogen. Und mit diesen Zugeständnissen eines Teiles der Kleindeutschen war der Weg frei: Vom 23. bis 27. März 1849 nahm die Paulskirchenversammlung die Verfassung an und wählte am folgenden Tag Friedrich Wilhelm IV von Preußen zum deutschen Kaiser. 22 Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte, Bd. 2, S. 798 (Kursivdruck im Original) Zum Simon-Gagern-Pakt und seinen weiteren Festlegungen ausführlicher z.B. Botzenhart, a.a.O. (Anm. 13), S. 684 ff.; jetzt auch W. J. Mommsen, a.a.O. (Anm. 1), S. 279 ff. 24 Die Frankfurter Reichsverfassung findet sich z. B. bei Huber, Dokumente, Bd. 1, S. 375 ff., das Reichswahlgesetz vom 12.4.1849: ibid. S. 396 ff. 23 41 Emil Hübner: Parlament und Regierung. Internet-Version. 18.8.2003. PDF. Kapitel II: Grundzüge der deutschen Institutionengeschichte In den hier insbesondere interessierenden Punkten sieht die Paulskirchenverfassung24 vor, dass die erbliche Würde des Reichsoberhauptes einem der regierenden deutschen Fürsten übertragen wird, der dann den Titel „Kaiser der Deutschen" trägt (§§ 68-70). „Der Kaiser übt die ihm übertragene Gewalt durch verantwortliche, von ihm ernannte Minister aus" (§ 73 Abs. 2). Die Minister können zwar nicht Mitglieder des Staatenhauses sein (§ 123). Das Mandat im Volkshaus ist hingegen mit einem Ministeramt vereinbar, wobei sich der Betroffene allerdings einer Neuwahl zu unterwerfen hat. Bei verfassungs- und gesetzeswidrigem Verhalten können die Minister von einem Haus des Reichstages vor dem Reichsgericht angeklagt werden (§ 126 Ziff. i). Dem Kaiser steht u. a. die völkerrechtliche Vertretung des Reiches und der einzelnen deutschen Staaten zu (§ 75), er entscheidet über Krieg und Frieden (§ 76), er beruft und beschließt den Reichstag und kann das Volkshaus auflösen (§ 79), ihm obliegt die Wahrung des Reichsfriedens, und er hat die „Verfügung über die bewaffnete Macht' (§§ 82, 83). Außerdem stehen dem Kaiser „diejenigen Rechte und Befugnisse zu, welche in der Reichsverfassung der Reichsgewalt beigelegt und dem Reichstag nicht zugewiesen sind" (§ 84). Der Reichstag sollte nach der Verfassung aus zwei Häusern bestehen, dem Staaten- und dem Volkshaus. Die Vertreter des Staatenhauses werden je zur Hälfte von den Regierungen und von den Volksvertretungen bzw. Provinzialständen der Einzelstaaten ernannt (§ 88); die den einzelnen Staaten zustehende Anzahl von Vertretern ist in § 87 aufgelistet. Sofern den Staaten nur ein Mitglied bzw. eine ungerade Anzahl von Mitgliedern zusteht, hat die Regierung ein Vorschlagsrecht: sie hat drei Kandidaten zu benennen, aus denen die Volksvertretung einen mit absoluter Mehrheit zu wählen hat (§ 89). Die Wahl gilt für sechs Jahre, nach jeweils drei Jahren sollte die Hälfte des Staatenhauses neu gewählt werden (§ 92). Die Abgeordneten des Volkshauses sollen beim ersten Mal für vier Jahre, danach für drei Jahre gewählt werden (§ 94). Das Reichswahlgesetz vom 12. April 1849 sieht eine absolute Mehrheitswahl vor in Wahlkreisen mit ca. „100 000 Seelen", bei der in den ersten beiden Wahlgängen die absolute Stimmenmehrheit notwendig ist und, falls diese nicht erreicht werden kann, der Abgeordnete in einem dritten Wahlgang unter den beiden Kandidaten ermittelt wird, die im zweiten Wahlgang die meisten Stimmen erhalten haben (§ 14). Das aktive Wahlrecht, das direkt und geheim ist, hat „jeder unbescholtene Deutsche" über 25 Jahre mit Ausnahme derjenigen, die Armenunterstützung beziehen und auf die die üblichen Wahlausschlussgründe zutreffen. Das passive Wahlrecht wurde ebenfalls an die Vollendung des 25. Lebensjahres geknüpft. Jedes Haus des Reichstages hat das Recht des Gesetzesvorschlages, der Regierungskontrolle und der Ministeranklage (§ 99). Die Gesetzesinitiative steht auch dem Kaiser zu (§ 80). Für einen Gesetzesbeschluss ist die Zustimmung beider Häuser des Reichstages nötig. Ein absolutes Vetorecht wird der Exekutive - wie erwähnt - nicht eingeräumt, allerdings wird ein Reichstagsbeschluss ohne Monarch und Regierung Reichstag 24 Die Frankfurter Reichsverfassung findet sich z. B. bei Huber, Dokumente, Bd. 1, S. 375 ff., das Reichswahlgesetz vom 12.4.1849: ibid. S. 396 ff. 41 Emil Hübner: Parlament und Regierung. Internet-Version. 18.8.2003. PDF. Kapitel II: Grundzüge der deutschen Institutionengeschichte Zustimmung der. Reichsregierung erst dann Gesetz, wenn der Reichstag in drei unmittelbar aufeinander folgenden Sitzungsperioden denselben Beschluss unverändert gefasst hat. Auch in Bezug auf Verfassungsänderungen steht dem Monarchen nur ein suspensives Vetorecht zu (§ 196). Durch die Entscheidung zugunsten eines nur aufschiebenden Vetos des Monarchen waren dann die Beziehungen zwischen Parlament und Regierung sozusagen über die Hintertüre in Richtung eines parlamentarischen Regierungssystems festgelegt. Außerdem wird dem Reichstag in § 103 ein für die damalige Zeit fortschrittliches Haushaltsrecht eingeräumt. Weiterhin sah die Verfassung ein Reichsgericht vor, dem weitgehende Kompetenzen - vor allem hinsichtlich der Sicherung der Verfassungen im Reich und in den Einzelstaaten - eingeräumt werden. Neben der erwähnten Ministeranklage fallen u. a. Organstreitigkeiten, Streitigkeiten zwischen dem Reich und den Einzelstaaten bzw. zwischen den Einzelstaaten sowie Verfassungsbeschwerden der Bürger auf der Ebene des Reiches und der Einzelstaaten in die Kompetenz dieses Gerichtes (§ 126), das damit u. a. die Grundrechte zu sichern hat, die die Verfassung in Abschnitt VI vorsieht. Doch die Verabschiedung einer für die damalige Zeit äußerst fortschrittlichen Verfassung25 durch die Frankfurter Nationalversammlung bedeutete noch nicht deren Durchsetzung. Gegenüber dem Vorjahr hatten sich die Zeiten wesentlich geändert. In seiner Ablehnung der Kaiserwürde vor der Deputation der Nationalversammlung am 3. April 1849 gab sich Friedrich Wilhelm IV. zwar schon relativ deutlich: „Ich ehre Ihr Vertrauen, ... Aber, meine Herren, ich würde Ihr Vertrauen nicht rechtfertigen, ... ich würde Deutschlands Einheit nicht aufrichten, wollte ich mit Verletzung heiliger Rechte und meiner früheren ausdrücklichen und feierlichen Versicherungen ohne das freie Einverständniß der gekrönten Häupter, der Fürsten und freien Staaten Deutschlands, eine Entschließung fassen, welche für sie und für die von ihnen regierten deutschen Stämme die entschiedensten Folgen haben müsste“.26 Ablehnung der Kaiserwürde Besser allerdings dürfte ein Schreiben vom Dezember 1848 die Haltung des preußischen Königs widerspiegeln: Die von einer „in die revolutionäre Saat" geschossenen Versammlung ihm angetragene Krone „verunehrt überschwenglich mit ihrem Ludergeruch der Revolution von 1848 ... Einen solchen imaginären Reif, aus Dreck und Lettem gebacken, soll ein legitimer König von Gottes Gnaden ... sich geben lassen . .. Ich sage es Ihnen rund heraus: soll die tausendjährige Krone deutscher Nation ... wieder einmal vergeben werden, so bin ich es und meinesgleichen, die sie vergeben werden; und wehe dem, der sich anmaßt, was ihm nicht zukommt."27 25 Im Rahmen des 150-jährigen Jubiläums dieser Verfassung brachte z.B. das „Parlament“ auf der Titelseite einen Aufsatz von Katrin Adler mit der Überschrift „Die Paulskirche blieb lange Zukunftsprogramm“ (Jg. 48 Nr. 3-4 vom 16.1.1999). Gerd Roellecke z.B. spricht von einer Verfassung, „die uns große Übel erspart hätte und noch gelten könnte, wenn sie gegolten hätte, so modern war sie“ (zit. Nach Prantl, Heribert: Die Agenda 1849. Vor 150 Jahren wurde die Paulskirchenverfassung verabschiedet. – in: SZ vom 27./28.3.1999, S. 11) – ein Urteil allerdings, das die Wirkung der Verfassung überschätzen dürfte. 26 Huber, Dokumente, Bd. 1, S. 405 27 Huber, a.a.O., S. 403 (Kursivdruck im Original) 41 Emil Hübner: Parlament und Regierung. Internet-Version. 18.8.2003. PDF. Kapitel II: Grundzüge der deutschen Institutionengeschichte Und gegenüber dem Großherzog von Sachsen-Weimar brachte Friedrich Wilhelm IV seine Haltung auf die Kurzformel: „Untertanen können keine Krone vergeben.".28 Aus der Sicht des Monarchen war dies eine immerhin verständliche Reaktion auf die Tatsache, dass die Paulskirchenverfassung das Gottesgnadentum in ein Kaisertum „von Volkes Gnaden" verwandelt hatte.29 Zwar waren 28 deutsche Staaten bereit, die Paulskirchenverfassung zu akzeptieren, aber neben Österreich und Preußen, dessen Zweite Kammer die Verfassung allerdings angenommen hatte, fehlten die größeren Staaten Bayern, Württemberg, Sachsen und Hannover. Unter anderem die Rückrufung ihrer Abgeordneten durch wichtige Einzelstaaten führte zum Zerfall der Nationalversammlung, die Ende Mai 1849 als „Rumpfparlament" nach Stuttgart wechselte, dort aber von der Regierung Mitte Juni aufgelöst wurde. Auch die seit April laufende sogenannte „Reichsverfassungskampagne", die vornehmlich von der Linken getragen wurde, konnte die Verfassung nicht retten und brach schließlich im Juli in Baden unter den Attacken der Militärs endgültig zusammen. Zwar bemühte sich Preußen schon vom April 1849 an - teilweise unter Rückgriff auf den Plan eines weiteren und engeren Bundes - um die Errichtung einer Union der deutschen Staaten, in die die Paulskirchenverfassung durch Vereinbarung der Staaten und „entschärft" durch ein absolutes Vetorecht des Monarchen sowie durch ein Dreiklassenwahlrecht eingebracht werden sollte. Dieses Vorhaben scheiterte aber am Widerstand Österreichs. Scheitern der Revolution und der Verfassung Gründe für den Misserfolg der Revolution werden ausreichend vorgebracht.30 Die entscheidende Ursache dürfte - wie Thomas Nipperdey betont - in der Überlastung der Frankfurter Nationalversammlung gelegen haben: „Deutsche Einheit, deutsche Grenzen, deutsche Freiheit und ein Stück sozialer Gerechtigkeit, das waren schon vier Probleme, die gleichzeitig anstanden und die doch ältere (und insofern glücklichere) Nationen nacheinander zu lösen hatten versuchen können. Aber das war kein Zufall: ohne nationale Einheit konnte es keine bürgerliche Herrschaft geben und auch nicht ohne bürgerliche Gesellschaft. Freiheit und Einheit waren nicht zu trennen. Es ist die Vielzahl der Probleme und ihrer Unlösbarkeiten gewesen, die zum Scheitem der Revolution geführt hat ... Wenn man unter den einzelnen Ursachen für das Scheitern (der Revolution - E. H.) in Deutschland gewichten will, so muss man meiner Meinung nach sagen, dass es das großdeutsche/kleindeutsche Problem und das Problem des österreichischen Nationalitätenstaates und seiner nationalen Konflikte waren, die am meisten zählten ... Sie letzten Endes haben die Revolution in den Wettlauf mit der Zeit gebracht, den sie nicht gewinnen konnte. Dies mag als altmodisch gelten - aber diese spezifisch deutsche Vorprägung der nationalen Frage war der entscheidende Punkt "31 28 Zit. Nach Stoll, Christoph: Einführung. – in: Wigard, F. (Hrsg.): Reden für die deutsche Nation, Bd. 1, S. XXII 29 Grimm, Deutsche Verfassungsgeschichte, S. 201 30 Eine ausgewogene Darstellung z.B. bei Nipperdey, a.a.O. (Anm. 5), S. 663 ff.; zu dem Problem, dass die Nationalversammlung zunächst die Grundrechte behandelt und damit möglicherweise den Zeitpunkt versäumte, zu dem sich eine neue Verfassung noch hätte durchsetzen lassen: a.a.O., S. 616; siehe auch W.J. Mommsen, a.a.O. (Anm. 1), S. 261 ff. 31 Nipperdey, a.a.O., S. 669 42 Emil Hübner: Parlament und Regierung. Internet-Version. 18.8.2003. PDF. Kapitel II: Grundzüge der deutschen Institutionengeschichte Der Versuch der Etablierung einer deutschen Verfassung „von unten" war gescheitert, aber er wirkte weiter u. a. auf einzelstaatlicher Ebene. Der nächste Versuch einer gesamtdeutschen Verfassunggebung „von unten" ließ weitere sieben Jahrzehnte auf sich warten, die nationalstaatliche Einigung allerdings erfolgte früher und kam „von oben". 2. Das Regierungssystem der Bismarckschen Reichsverfassung Wie problematisch die Frage nach den möglichen Ursachen des Scheiterns der Frankfurter Nationalversammlung letztlich ist, zeigte die Folgezeit. Zunächst herrschte die „Reaktion", bevor der Liberalismus ab 1858 wieder an Gewicht gewinnen konnte. Aber nur durch einen Krieg schien das zentrale Problem - die Rivalität zwischen Preußen und Österreich- gelöst werden zu können. Nach dem Sieg Preußens 1866 wurde das besiegte Österreich im Artikel IV des Prager Friedens gezwungen, sich aus der künftigen Verfassungsentwicklung in Deutschland herauszuhaben: Norddeutscher Bund „Seine Majestät der Kaiser von Österreich erkennt die Auflösung des bisherigen Deutschen Bundes an und giebt Seine Zustimmung zu einer neuen Gestaltung Deutschlands ohne Betheiligung des Österreichischen Kaiserstaates. Ebenso verspricht seine Majestät, das engere BundesVerhältniß anzuerkennen, welches Seine Majestät der König von Preußen nördlich von der Linie des Mains begründen wird, und erklärt Sich damit einverstanden, daß die südlich von dieser Linie gelegenen Deutschen Staaten in einen Verein zusammentreten, dessen nationale Verbindung mit dem Norddeutschen Bunde der näheren Verständigung zwischen beiden vorbehalten bleibt und der eine internationale unabhängige Existenz haben wird."32 Noch während des Krieges gegen Österreich bemühte sich Preußen, den Grundstock für den späteren Norddeutschen Bund zu legen. Und noch vor der Unterzeichnung des Prager Friedensvertrages schlossen sich Preußen und seine 17 norddeutschen Verbündeten zum so genannten „Augustbündnis" zusammen, dem sich auch die norddeutschen Staaten, die sich auf die Seite Österreichs gestellt hatten, anschlossen, und das in Art. 2 des Bündnisvertrages33 festschreibt: "Die Zwecke des Bündnisses sollen definitiv durch eine Bundesverfassung auf der Basis der Preußischen Grundzüge vom 10. Juni 1866 sichergestellt werden, unter Mitwirkung eines gemeinschaftlich zu berufenden Parlaments." In Art. 5 heißt es, dass dieses Parlament nach dem Reichswahlgesetz vom 12. April 1849 zu wählen sei.34 Im Art. 6 wurde die Dauer des Bündnisses bis zum „Abschluss des neuen Bundesverhältnisses", längstens jedoch auf ein Jahr beschränkt. Den Beratungen des Norddeutschen Reichstages, der am 24. Februar 1867 zu seiner konstituierenden Sitzung zusammentrat, lag ein 32 Huber, Dokumente, Bd. 2, S. 250 Huber, a.a.O., S. 269 34 Siehe Abschn. 1 dieses Kapitels 33 41 Emil Hübner: Parlament und Regierung. Internet-Version. 18.8.2003. PDF. Kapitel II: Grundzüge der deutschen Institutionengeschichte Verfassungsentwurf zugrunde, der die deutliche Handschrift Bismarcks trug. Auch wollten die Verbündeten dem Reichstag hinsichtlich der Veränderung dieses Verfassungsentwurfes keine allzu große Handlungsfreiheit zugestehen, sondern die Verfassung notfalls - wie in einem Geheimvertrag vom 31. März 1867 festgeschrieben - „durch Oktroyierung in Kraft" setzen.35 In nicht wenigen Teilen wurde dieser Verfassungsentwurf vom Reichstag trotzdem modifiziert und umgearbeitet.36 Die für die spätere Zeit wohl wichtigsten Änderungen betrafen die Stellung des Bundeskanzlers, der durch die berühmte „Lex Bennigsen" aus der einseitigen Abhängigkeit vom Bundespräsidium herausgelöst und zum verantwortlichen Bundesminister gemacht wurde, ohne dass diese Verantwortlichkeit allerdings näher definiert worden wäre, sowie das Haushaltsrecht. Hier wurde durchgesetzt, dass sowohl die Einnahmen und nicht nur - wie in dem Entwurf vorgesehen - die Ausgaben des Bundes vom Reichstag zu genehmigen waren, und die vorgesehene dreijährige Budgetperiode wurde auf ein Jahr verkürzt. Beim Militärhaushalt musste der Reichstag allerdings Kompromisse hinnehmen. Der Norddeutsche Bund war eine „Übergangsform zur endgültigen nationalstaatlichen Lösung, welche sich wegen einer drohenden französischen Intervention nicht sofort durchsetzen ließ."37 Und die Verfassung des Norddeutschen Bundes bedurfte dann nur geringfügiger Modifikationen, um im April 1871 zur Verfassung des Deutschen Reichs zu werden. Der Übergang vom Norddeutschen Bund zum Bismarckreich hätte langfristig auch auf friedlichem Wege gelingen können. Bismarck hatte mit Bayern, Württemberg und Baden im August 1866, mit Hessen im April 1867 sogenannte „Schutz- und Trutzbündnisse"38 abgeschlossen, die die Nichtmitglieder des Norddeutschen Bundes enger an Preußen banden; außerdem verfestigten sich nicht nur die wirtschaftlichen Beziehungen durch die Erneuerung des Zollvereins, der eine „verfassungsrechtliche Vorform des deutschen Nationalstaates von 1871"39 wurde, obwohl die Wahlen zum Zollparlament in Süddeutschland um die Jahreswende 1867/68 „unübersehbar ein Plebiszit gegen Preußen"40 darstellten. Das Zollparlament hat dann seit 1868 auf Teilgebieten - z. B. im Handelsrecht, bei der Gewerbefreiheit und beim Strafrecht- Vereinheitlichungstendenzen unterstützt. Aber Frankreich stemmte sich - insbesondere seit 1867 - mit Vehemenz gegen eine Ausdehnung der Macht Preußens und damit gegen die Vollendung eines deutschen Nationalstaates. Über der Frage, ob Erbprinz Leopold von Hohenzollern-Sigmaringen - wie dies von den spanischen Militärs, die Königin Isabella abgesetzt hatten, gewünscht wurde - spanischer Monarch werden solle, verschärften sich die Spannungen zwischen Frankreich und Krieg mit Frankreich 35 Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte, Bd. 3, S. 654 Zur Diskussion und Veränderung der Verfassung durch den Norddeutschen Reichstag siehe Huber, a.a.O., S. 655 ff.; Pflanze, Bismarck, Bd. 1, S. 361 ff. 37 H. Boldt, a.a.O. (Anm. 2), S. 164 38 Text bei Huber, Dokumente, Bd. 2, S. 288 f. 39 Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte, Bd. 3, S. 635 40 Stürmer, Ruheloses Reich, S. 159 36 41 Emil Hübner: Parlament und Regierung. Internet-Version. 18.8.2003. PDF. Kapitel II: Grundzüge der deutschen Institutionengeschichte Preußen. Die von Bismarck verkürzte berühmte „Emser Depesche"41 provozierte dann die Kriegserklärung Frankreichs an Preußen am 19. Juli 1870: „Der Krieg war von Anfang ein nationaler, ein deutscher Krieg. Die französische Regierung hatte, von Bismarck verlockt, aus Ungeschick und eigenem Antriebe gleichermaßen, am Ende der Krise genau das provoziert, was sie ursprünglich gerade hatte vermeiden wollen: die Mobilisierung des deutschen Nationalgefühls an der Seite Preußens."42 Die Verpflichtungen aus den erwähnten Schutz- und Trutzbündnissen griffen, die süddeutschen Staaten traten an der Seite Preußens in den Krieg gegen Frankreich, an dessen Ende die Niederlage Frankreichs und die Gründung des deutschen Reiches standen. Gründung des Deutschen Reiches Bismarck betrachtete den monarchischen Föderalismus als Gegengewicht gegen den Parlamentarismus und suchte in der Folge des preußischen Verfassungskonfliktes,43 der sich an der Frage des parlamentarischen Einflusses auf die Anfang der 60er Jahre geplante Heeresreform entzündete, der über Fragen des Budgetrechts zu einem Machtkonflikt zwischen Parlament und König eskalierte und der schließlich 1866 mit dem Indemnitätsgesetz44 beigelegt wurde, nach möglichst sicheren Schranken gegen die langfristige Durchsetzung eines parlamentarischen Regierungssystems. Er nutzte nicht die volle Gunst der Stunde, sondern setzte auf vorsichtige Verhandlungen mit den Fürsten.45 Mit mehr Zuckerbrot und weniger Peitsche gelang es ihm, über Einzelvertäge die süddeutschen Staaten zu integrieren und den Norddeutschen Bund in das Deutsche Reich zu überführen. Die sogenannten „Novemberverträge" wurden vom Norddeutschen Bund, von Baden, Hessen und Württemberg zum Jahresende 1870 ratifiziert und konnten zum 1. Januar 1871 in Kraft treten.46 Nur in Bayern dauerte der Ratifikationsprozess bis zum 21. Januar 1871; König Ludwig IL setzte aber die Verträge dann rückwirkend zum 1. Januar 1871 in Kraft. Schon vorher nämlich am 18. Januar 1871 - konnte König Wilhelm 1. von Preußen im Spiegelsaal des Schlosses von Versailles zum Deutschen Kaiser ausgerufen werden. Im Gegensatz zum Beginn des Norddeutschen Bundes war der neu zu wählende Reichstag nur insofern an der Verfassungsgebung beteiligt, als er die aus mehreren, nicht aufeinander abgestimmten Urkunden bestehende und einem „Monstrum" gleichende ursprüngliche Verfassung durch eine Revision, bei der allerdings keine inhaltlichen Änderungen vorgenommen wurden, in seine endgültige Form brachte.47 Diese revidierte Verfassung trat am 4. Mai 1871 in Kraft. 41 Beide Fassungen bei Huber, Dokumente, Bd. 2, S. 324 f. Nipperdey, Deutsche Geschichte 1866 – 1918, Bd. II, S. 60 43 Hierzu z.B. Boldt, a.a.O. (Anm. 2), S. 110 ff. oder ausführlicher Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte, Bd. 3, S. 275 ff.; Pflanze, a.a.O. (Anm. 36), S. 171 ff. 44 Mit diesem Gesetz wurde die Regierung von ihrer Verantwortung für die Zeit entlastet, in der sie ohne genehmigtes Budget regierte (Das Gesetz ist abgedruckt bei Huber, Dokumente, Bd. 2, S. 102 f.) 45 Nipperdey, a.a.O. (Anm. 42), S. 76 f. 46 Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte, Bd. 3, S. 745 47 Huber, a.a.O., S. 756 ff. (Zitat S. 757) 42 41 Emil Hübner: Parlament und Regierung. Internet-Version. 18.8.2003. PDF. Kapitel II: Grundzüge der deutschen Institutionengeschichte Lässt man unberücksichtigt, dass die Verfassung des Deutschen Reiches diejenige des Norddeutschen Bundes nur geringfügig modifiziert und weiterentwickelt, so ist es durchaus gerechtfertigt, sie als „einzigartige Schöpfung, die in kein Schema des damaligen europäischen Konstitutionalismus passt und die Umstände ihrer Entstehung deutlich spiegelt"48, zu umschreiben. Der renommierte Staatsrechtler der Weimarer Republik Richard Thoma bezeichnet das Kaiserreich als eine „singulär gestaltete, föderalistisch beschränkte Erbmonarchie"49 Bereits die Präambel der Reichsverfassung50 macht überdeutlich, dass sie ein Werk der Fürsten, nicht des Volkes war: Bismarcksche Reichsverfassung „Seine Majestät der König von Preußen im Namen des Norddeutschen Bundes, Seine Majestät der König von Bayern, seine Majestät der König von Württemberg, Seine Königliche Hoheit der Großherzog von Baden und seine Königliche Hoheit der Großherzog von Hessen und bei Rhein für die südlich vom Main gelegenen Theile des Großherzogtums Hessen, schließen einen ewigen Bund zum Schutze des Bundesgebietes und des innerhalb desselben gültigen Rechtes, sowie zur Pflege der Wohlfahrt des Deutschen Volkes . . ." In Art. 2 der Bismarckschen Reichsverfassung ist festgehalten, dass Reichs- vor Landesrecht geht; in Art. 4 sind die Gebiete, die künftig in die Reichsgesetzgebung fallen, in 16 Punkten aufgelistet, die von der Freizügigkeit und vom Staatsbürgerrecht, über die Zoll- und Handelsgesetzgebung, das Maß-, Münz- und Bankwesen und das Straf-, Handels-, Wechsel- und Gerichtsverfahrensrecht bis hin zum Presse- und Vereinswesen gehen - um hier nur einige Punkte aufzuzählen. Die ebenfalls in diesem Katalog aufgeführten Regelungen des Heimat- und Niederlassungsrechts sowie des Eisenbahn-, des Post- und Telegraphenwesens gelten für Bayern nicht bzw. sie sind durch weitere Verfassungsartikel eingeschränkt. Für das Post- und Telegraphenwesen sind Einschränkungen auch für Württemberg festgeschrieben. Solche Reservatrechte sind auch an anderen Stellen der Verfassung zu finden (z. B. Art. 5, Art. 34 oder Art. 35). So verbleibt z.. B. dem bayerischen König zumindest während Friedenszeiten der Oberbefehl über die bayerischen Militär-Kontingente (Schlussbestimmung zu Abschnitt IX). Das Präsidium-und damit Preußen-hat Vetorechte bei den Zöllen und bei wichtigen indirekten Steuern (Art. 37), hinsichtlich des Militärwesens (Art. 5, Art. 35) und bei Verfassungsänderungen (Art. 78). Die nicht in der Verfassung aufgeführten Gesetzgebungsbereiche bleiben in der Kompetenz der Einzelstaaten. In Art. 5 der Reichsverfassung wird festgehalten, dass die Reichsgesetzgebung vom Bundesrat und vom Reichstag durch übereinstimmende Mehrheitsbeschlüsse ausgeübt wird. Verfassungsänderungen bedürfen weder im Bundesrat noch im Reichstag qualifizierter Mehrheiten, allerdings gelten sie als abgelehnt, wenn sie im Bundesrat mindestens 14 Gegenstimmen erhalten, womit den süddeutschen Ländern, aber auch - wie erwähnt - Preußen eine Vetoposition eingeräumt wird; in der Verfassung selbst festgeschriebene Sonderrechte einzelner Länder können 48 Botzenhart, a.a.O. (Anm. 3), S. 98 Thoma, Das Staatsrecht des Reiches. – in: Anschütz/Thoma (Hrsg.): Das Staatsrecht des Deutschen Reiches, Bd. I, S. 74 50 Die Verfassung ist z.B. abgedruckt bei Huber, Dokumente, Bd. 2, S. 384 ff. 49 41 Emil Hübner: Parlament und Regierung. Internet-Version. 18.8.2003. PDF. Kapitel II: Grundzüge der deutschen Institutionengeschichte nur mit deren Zustimmung geändert werden (Art. 78). Die Durchführung der Gesetze ist - von Ausnahmen abgesehen - nach der Bismarckschen Verfassung Sache der Länder. Das Eigentümliche an den Bestimmungen über die Gesetzgebung liegt in der Stellung des Bundesrates, der - nicht wie das Staatenhaus in der Paulskirchenverfassung - auf die Gesetzgebung beschränkt, sondern „zugleich ein Gesetz-, ein Exekutiv- und sogar ein Rechtsprechungsorgan"51 ist. Im Bundesrat waren die Stimmen, die nur geschlossen abgegeben werden dürfen, nach Ländergrößen aufgeteilt (Art. 6): Von den anfangs 58 Stimmen führten Preußen 17, Bayern sechs, Sachsen und Württemberg je vier, Hessen und Baden je drei, Mecklenburg, Schwerin und Braunschweig je zwei und die restlichen Mitglieder des Bundes je eine (1911 kommen drei Stimmen für Elsass-Lothringen hinzu.52 Der Bundesrat hat im Bereich der Exekutive über sämtliche zur Ausführung der Reichsgesetze nötigen Verordnungen und Einrichtungen zu beschließen (Art. 7). Er ist darüber hinaus eine Art „Reichsverfassungsgericht", das u. a. über Streitigkeiten zwischen den Mitgliedern des Bundes (Art. 76), über die Reichsexekution gegen ein Mitgliedsland, das seinen Bundespflichten nicht nachkommt (Art. 19), und über Beschwerden im Fall von Justizverweigerung in den Bundesstaaten zu entscheiden hat (Art. 77). Bismarck hielt an dieser Bundesrats-Konstruktion vor allem deshalb fest, weil er von ihr ein Bollwerk gegen das „Abgleiten" in ein parlamentarisches Regierungssystem erwartete. Der Reichskanzler übernimmt den Vorsitz und leitete die Geschäfte des Bundesrates (Art. 15). Zumindest formal war der Bundesrat das wichtigste Verfassungsorgan des Deutschen Reiches. Konsequenterweise wird der Bundesrat deshalb in der Verfassung auch vor dem Präsidium aufgeführt: „Das Präsidium des Bundes steht dem König von Preußen zu, welcher den Namen Deutscher Kaiser führt. Der Kaiser hat das Reich völkerrechtlich zu vertreten, im Namen des Reichs Krieg zu erklären und Frieden zu schließen, Bündnisse und andere Verträge mit fremden Staaten einzugehen ... " (Art. 11 Abs. 1) Zur Erklärung eines Krieges - ausgenommen eines Verteidigungskrieges - bedarf der Kaiser der Zustimmung des Bundesrates, bei Verträgen, die den Bereich der Reichsgesetzgebung betreffen, zusätzlich die Zustimmung des Reichstages (Art. H Abs. 2 u. 3). Darüber hinaus ernennt der Kaiser den Reichskanzler (Art. 15) und die Reichsbeamten (Art. 18), er fertigt die Gesetze aus und überwacht deren Ausführung (Art. 17); und er kann mit Zustimmung des Bundesrates den Reichstag auflösen (Art. 24). Allerdings benötigt der Kaiser - wie für den Norddeutschen Bund bereits erwähnt - für seine „Anordnungen und Verfügungen" die „Gegenzeichnung des Reichskanzlers, Bundesrat Kaiser 51 Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte, Bd. 3, S. 850 Mommsen, Wolfgang J.: Das Ringen um den nationalen Staat. Die Gründung und der innere Ausbau des Deutschen Reiches unter Otto von Bismarck 1850 bis 1890. – Berlin: Propyläen 1993, S. 252; Rauh, Föderalismus und Parlamentarismus, S. 348; persönlich stand er einem parlamentarischen Regierungssystem durchaus positiv gegenüber, hielt es aber für nicht auf deutsche Verhältnisse übertragbar (Pflanze, a.a.O. (Anm. 36), S. 668 f.) 52 41 Emil Hübner: Parlament und Regierung. Internet-Version. 18.8.2003. PDF. Kapitel II: Grundzüge der deutschen Institutionengeschichte welcher dadurch die Verantwortung übernimmt" (Art. 17). Im Konfliktfall mit dem Reichskanzler stand der Kaiser also vor der Alternative „Entlassen oder Nachgeben", und meist blieb ihm nur das letztere. Allerdings heißt es, die Machtposition des Kaisers beträchtlich zu verkürzen, wenn man nicht mitbedenkt, dass er gleichzeitig als König von Preußen gravierende Einflussmöglichkeiten hat: Er kann die preußischen Reservatrechte nutzen, kann über seinen Ministerpräsidenten und Außenminister die preußischen Stimmen im Bundesrat führen und hat eine Fülle faktischer Möglichkeiten, die Regierungen der anderen Einzelstaaten zu beeinflussen, was für ihn - trotz des fehlenden formellen Vetorechtes in der Gesetzgebung - ein De-facto-Vetorecht mit sich bringt.53 Eine „kaiserliche Regierung" ist dem Text der Bismarckschen Reichsverfassung „gar nicht bekannt".54 Die Regierung besteht formal ursprünglich nur aus dem Reichskanzler und seiner Reichskanzlei. Doch sollte sich die Konstruktion einer „Art Einmann-Regierung"55 in der Praxis - wie noch zu zeigen sein wird - auf die Dauer nicht halten. Der Reichstag wird in allgemeinen, direkten und geheimen (Art. 20) und nach dem vom Norddeutschen Bund übernommenen Wahlgesetz auch in gleichen Wahlen nach dem absoluten Mehrheitswahlrecht gewählt. Dadurch aber, dass die Wahlkreise während des gesamten Kaiserreiches nie der Bevölkerungsentwicklung angepasst wurden, wurde das Wahlrecht zunehmend ungleicher zugunsten der Landbevölkerung und der konservativen Parteien. In der Gesetzgebung ist zwar die Zustimmung des Reichstages eine unumgängliche Voraussetzung, aber ansonsten ist dessen Stellung relativ schwach. Der Reichstag sollte - so Bismarcks Vorstellung - verhindern, aber nicht gestalten können.56 Da er den Reichskanzler nicht durch ein Misstrauensvotum abberufen kann, fehlt ihm das in einem parlamentarischen Regierungssystem übliche Gegengewicht zum Auflösungsrecht der Regierung. In seinen Kontrollrechten ist der Reichstag des Kaiserreiches darüber hinaus in bedenklichem Maße - z.B. durch die fehlende Möglichkeit, Untersuchungsausschüsse einzusetzen - eingeschränkt. Zur Gefahr für die Regierung kann der Reichstag nur dann werden, wenn er in einem Konflikt mit der Regierung die Bevölkerung auf seiner Seite hat und damit die Auflösungsdrohung der Regierung ins Leere läuft. Ein gleichberechtigter Partner der Regierung ist er jedenfalls nach der Bismarckschen Reichsverfassung nicht. Er, der das unitarische Gegengewicht zu dem das staatenbündische Element der Reichsverfassung repräsentierenden Bundesrat darstellen sollte, war von der Verfassung her nicht mit ausreichenden Kompetenzen ausgestattet. Und er symbolisierte damit das demokratische Defizit der Bismarckschen Reichsverfassung. Reichstag Das Funktionieren der Bismarckschen Konstruktion des Regierungssystems war in hohem Maße von den Fähigkeiten des Kanzlers abhängig: 53 Thoma, a.a.O. (Anm 49), S. 75 Thoma, a.a.O., S. 78 55 Boldt, a.a.O. (Anm. 2), S. 174; Pflanze bezeichnet die Regierungskonstruktion denn auch als “ausgezeichnetes Vehikel“ für Bismarcks Machtstreben (a.a.O. (Anm. 36), S. 642) 56 Pflanze, a.a.O. (Anm. 36), S. 667 54 41 Emil Hübner: Parlament und Regierung. Internet-Version. 18.8.2003. PDF. Kapitel II: Grundzüge der deutschen Institutionengeschichte „Die Personalunion zwischen deutschem Kaisertum und preußischer Königswürde, die verfassungsrechtlich nicht vorgeschriebene, politisch aber unabdingbare Vereinigung der Ämter des Reichskanzlers und des preußischen Ministerpräsidenten, die enge Verzahnung von Reichsämtern und preußischen Ministerien schließlich waren im Übrigen alles andere als unproblematisch. Sie zwangen den Reichskanzler, sich sowohl mit einem nach allgemeinem Wahlrecht gewählten Reichstag als auch mit dem auf das Dreiklassenwahlrecht gegründeten preußischen Abgeordnetenhaus und dem hochkonservativen Herrenhaus zu arrangieren, die Haltung des von den deutschen Regierungen instruierten Bundesrates zu beachten und den Willen eines Kaisers zu respektieren, der unter Umständen schwer kalkulierbaren Einflüssen seiner Umgebung ausgesetzt war. Ein Reichskanzler, der sich auf dieses Spiel mit fünf Bällen nicht verstand, konnte sehr schnell in schwere politische Bedrängnis geraten".57 Bismarck hatte - wie erwähnt - den Föderalismus als Gegenkraft zu den in verschiedenen Ländern aufkommenden Parlamentarisierungsbestrebungen genutzt; es musste Bismarck in der Folgezeit darauf ankommen, das System in Balance zu halten, „denn bei jeder grundlegenden Veränderung" konnte „seine gekünstelte Konstruktion ins Wanken" geraten, was - aus der Sicht Bismarcks „entweder die - geringfügigere - Gefahr des Partikularismus oder die - eigentlich bedrohliche - des Parlamentarismus" heraufbeschwor.58 Über die Dauer des Bismarckreiches konnte zwar das parlamentarische Regierungssystem nicht durchgesetzt werden, einige wichtige Vorentscheidungen allerdings fielen bereits in dieser Zeit. So hatte Bismarck z. B. mit dem Kulturkampf und dem Sozialistengesetz sein eigentliches Ziel - die Schwächung des Zentrums und der SPD - nicht nur nicht erreicht, sondern umgekehrt zur Stärkung dieser Parteien beigetragen. Des Weiteren wurden die Parteien allgemein im Laufe der Zeit immer stärker zu gesamtdeutschen Organisationen und trugen so auch dazu bei, das föderalistische Element der Bismarckverfassung zu schwächen, was u. a. durch eine „zeitweise stürmische Entwicklung zur deutschen Rechtseinheit" inklusive des Aufbaus reichseigener Gerichte dokumentiert wird.59 Außerdem ließ das Anwachsen der Staatsaufgaben es nicht zu, die Regierung in der intendierten Minimalform zu erhalten: Immer mehr Reichsämter - am Beginn des Ersten Weltkrieges existierten neun eigenständige Quasi-Reichsministerien - mussten aus der Reichskanzlei ausgegliedert werden. Deren Leiter gewannen immer größere Selbständigkeit, was durch das sogenannte „Stellvertretergesetz" von 187860 unterstrichen wurde. Neben anderen Faktoren wirkte auch die unter Bismarck begonnene Sozialgesetzgebung unitarisierend, denn-wie Arnold Köttgen zu Recht festhält - der moderne Sozialstaat ist der „Schrittmacher des Einheitsstaates."61 Diese Entwicklungen trugen dazu bei, dass die Bismarcksche Konstruktion am Beginn des 20. Jahrhunderts langsam ins Wackeln geriet. Beginnende Unitarisierung 57 Botzenhart, a.a.O. (Anm. 3), S. 103 f.; ähnlich Thoma, a.a.O. (Anm. 49), S. 79f. Rauh, a.a.O. (Anm. 52), S. 66 f. 59 Z.B. Thoma, a.a.O. (Anm. 49), S. 77 f. (Zitat S. 77); Pflanze, a.a.O. (Anm. 36), S. 663 f. 60 Abgedruckt bei Huber, Dokumente, Bd. 2, S. 407 61 Zit. Nach Hesse, Konrad: Der unitarische Bundesstaat. – Karlsruhe: Müller 1962. S. 13 58 41 Emil Hübner: Parlament und Regierung. Internet-Version. 18.8.2003. PDF. Kapitel II: Grundzüge der deutschen Institutionengeschichte Vorläufer der Parlamentarisierung der Bismarckschen Reichsverfassung während des Ersten Weltkrieges wurden die Daily-Telegraph- und die Zabern-Affäre. Ein Ende Oktober 1908 im Daily Telegraph erschienenes, großsprecherisches „Interview" des deutschen Kaisers, das Reichskanzler Bülow ungelesen hatte passieren lassen, führte zu einer erheblichen Belastung der Beziehungen zwischen Großbritannien und dem Deutschen Reich. Eine erregte Debatte im Reichstag, in der es u. a. um eine Konkretisierung der Verantwortung des Reichskanzlers ging und in der sich die Parlamentarisierungsforderungen mehr oder weniger klar herauskristallisierten, brachte vorerst noch keine Stärkung des Reichstages. Aber der Kaiser wurde deutlich geschwächt durch diese Affäre: „Die Krise war eine Krise des Monarchen und der Monarchie, ein Vorklang auf ihr Ende 1918 . . .“.62 Im Dezember 1913 führte dann die Zabern-Affäre, bei der Reichskanzler Bethmann Hollweg das Fehlverhalten des Militärs in Elsass-Lothringen verteidigte, zum ersten Missbilligungsvotum des Deutschen Reichstages gegen den Reichskanzler, was durch eine Erweiterung des Interpellationsrechtes des Reichstages im Jahre 1910 möglich geworden war. Mit immerhin 293 gegen 54 Stimmen bescheinigte der Reichstag dem Kanzler, dass sein Verhalten „nicht der Anschauung des Reichstags"63 entspreche. Noch blieb auch dieses Votum ohne Folgen, aber es war ein Indiz dafür, dass die Reformen der Reichsverfassung im Ersten Weltkrieg nicht völlig unerwartet kamen. 3. Die Parlamentarisierungsdebatte während des Ersten Weltkrieges Die Bemühungen um eine Stärkung des Reichstages fanden mit dem Beginn des Ersten Weltkrieges ihr vorläufiges Ende; sie wurden vertagt, aber nicht aufgegeben. Zunächst musste der Reichstag der Regierung erweiterte Vollmachten einräumen, und die angeblich so „vaterlandslosen Gesellen" der SPD lieferten den restlichen Parteien mit ihrer Zustimmung zu den Kriegskrediten, die innerparteilich umstritten war, einen erneuten Beweis ihrer Vertrauenswürdigkeit. Die Kriegszielmehrheit im Reichstag, die vom rechten Flügel der SPD bis zu den Konservativen reichte, segnete die Aktionen der Regierung und der Obersten Heeresleitung nahezu ohne Einwände ab, was jedoch Erfolge der Obersten Heeresleitung voraussetzte. Vorgeschichte 1916, als der „vielgeforderte `Siegfrieden` in weite Ferne gerückt war"64, begann dann dieser Burgfrieden brüchig zu werden. Im Oktober wandelte der Reichstag den Haushaltsausschuss in einen sog. Hauptausschuss um und ermächtigte ihn, sich auch während der Vertagung des Reichstages mit Angele- 62 Frauendienst, Werner: Der Reichstag im Zeitalter des persönlichen Regiments Wilhelms II. – in: Deuerlein (Hrsg.): Der Reichstag, S. 70; Nipperdey, a.a.O. (Anm. 42), S. 738 (hier auch das Zitat) 63 Abgedruckt bei Huber, Dokumente, Bd. 3, S. 78; zur Einführung des Missbilligungsvotums siehe Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte, Bd. 3, S. 905 64 H. Mommsen, Aufstieg und Untergang, S. 14 41 Emil Hübner: Parlament und Regierung. Internet-Version. 18.8.2003. PDF. Kapitel II: Grundzüge der deutschen Institutionengeschichte genheiten des Krieges und der Außenpolitik zu befassen.65 Viktor Bredt sah in diesem Kompetenzzuwachs des Reichstages „zweifellos einen Fortschritt in Richtung auf das parlamentarische Regiment"66 - eine zum damaligen Zeitpunkt etwas kühne These, die sich allerdings als richtig erweisen sollte. Doch nicht nur beim Reichstag ergaben sich Veränderungen: Im August 1916 sah sich der Kaiser unter dem Druck der öffentlichen Meinung gezwungen, die Oberste Heeresleitung an den Tannenberg-Sieger Hindenburg und dessen Ersten Generalquartiermeister Ludendorff zu übertragen, was erhebliche Machtverschiebungen auch innerhalb der Exekutive zur Folge hatte: „Hindenburg wurde immer mehr zum heimlichen, aber wirklichen Kriegskaiser, Ludendorff zum eigentlichen obersten Regierungschef"67 Die Konfliktpotentiale häuften sich in der Folgezeit und trugen zur Verschärfung der innenpolitischen Lage sowie zu verstärkten Auseinandersetzungen zwischen der OHL einerseits und dem Reichstag andererseits bei: Die schlechte Versorgungslage der Bevölkerung, der Widerstand der Konservativen und der OHL gegen die Reform des preußischen Dreiklassenwahlrechts und gegen eine Reform der Bismarckschen Reichsverfassung, das Scheitern eines Verständigungsfriedens, den Bethmann Hollweg den Kriegsgegnern Ende 1916 angeboten hatte, der Anfang 1917 beschlossene uneingeschränkte U-Bootkrieg und der hierdurch provozierte Kriegseintritt der USA oder die unterschiedliche Bewertung der russischen Revolution waren die wichtigsten Ursachen, die den Graben zwischen dem Reichstag und der OHL vertieften. Dass Reichskanzler Bethmann Hollweg versuchte, einen mittleren Weg zu gehen, nützte ihm auf die Dauer nichts. Je stärker der Widerstand der Konservativen gegen Reformen wuchs und je unentschlossener die Regierung agierte, desto stärker wurden die Bemühungen der „Linken" im Reichstag, sich enger zusammenzuschließen.68 Ende März 1917 setzte der Reichstag auf Initiative der Nationalliberalen mit überwältigender Mehrheit einen Verfassungsausschuss ein, der sich u. a. mit dem künftigen Wahlrecht in den Einzelstaaten und mit der Reform der Reichsverfassung befassen sollte.69 Eine Debatte im Preußischen Herrenhaus kurz zuvor über das preußische Wahlrecht, in der die Konservativen keine Zugeständnisse machen wollten und teilweise sogar die Angleichung des Reichstagswahlrecht an das Dreiklassenwahlrecht forderten,70 hatte das Fass endgültig zum Überlaufen gebracht. Wichtiger als die Arbeit des Verfassungsausschusses war zu diesem Zeitpunkt jedoch die Umorientierung des Zentrums in der Friedensfrage, das insbesondere von Matthias Erzberger aus seiner Unterstützung der Kriegszielpolitik der Konservativen und der Nationalliberalen herausgelöst und auf die Forderung nach einem Verständigungsfrieden ohne Annexionen festgelegt wurde. Mit diesem Interfraktioneller Ausschuss 65 Bermbach, Vorformen parlamentarischer Kabinettsbildung, S. 44 Zit. nach Matthias/Morsey (Hrsg.), Der Interfraktionelle Ausschuss, S. XIV 67 Eschenburg, Die Republik von Weimar, S. 38 68 Bermbach, a.a.O. (Anm. 65), S. 49 69 Hierzu insbes. Rauh, Paralemtarisierung des Deutschen Reiches, S. 365 ff. 70 Rauh, a.a.O., S. 367 66 41 Emil Hübner: Parlament und Regierung. Internet-Version. 18.8.2003. PDF. Kapitel II: Grundzüge der deutschen Institutionengeschichte Schwenk des Zentrums war der Weg frei für eine enge Zusammenarbeit mit den Sozialdemokraten und der Fortschrittspartei und damit auch für die Gründung des Interfraktionellen Ausschusses. Dieser Interfraktionelle Ausschuss, der keinen offiziellen Reichstagsausschuss, sondern ein Koordinationsgremium der „Mehrheitsfraktionen" darstellte, trat nach intensiven Vorgesprächen erstmals am 6. Juli 1917 zusammen, wobei sich zeitweise auch die Nationalliberalen beteiligten. „Der Interfraktionelle Ausschuss war Ausdruck und in gewissem Sinne vorläufiger Endpunkt einer Entwicklung, die sich seit der wilhelminischen Zeit abgezeichnet hatte: Der Gegensatz im parlamentarischen Bereich zwischen Befürwortern und Gegnern des Kaiserreiches wurde überwunden im gemeinsamen Bemühen um die Reform des Regierungssystems".71 Außen- und Kriegszielpolitik überschatteten zunächst die innenpolitischen Reformpläne, Obwohl mit dem Interfraktionellen Ausschuss die wichtigste Voraussetzung für eine Parlamentarisierung des Reiches geschaffen war, fasste dieser Prozess nur langsam Tritt und kam auch nur stufenweise voran, Anfangs jedenfalls wurde „in keiner Partei ernsthaft erwogen, eine Einigung der Mehrheit auf einen Parteiführer als Kanzlerkandidaten herbeizuführen und eine Regierungsbildung nach den Regeln des parlamentarischen Systems durchzusetzen".72 Bethmann Hollweg, der den Friedensforderungen und dem gesamten Kurs der neuen Mehrheit durchaus nicht nur ablehnend gegenüberstand und der zwischen den Fronten zu lavieren versuchte, war das erste Opfer der neuen Situation: Einerseits weil die OHL und die Konservativen sich gegen ihn stellten und weil andererseits Zentrum und Mehrheitssozialdemokratie keine Anstalten zu seiner Stützung machten. Am 19. Juli 1917 verabschiedete der Reichstag mit den Stimmen der Mehrheitssozialdemokratie, des Zentrums und der Fortschrittspartei seine erste außenpolitische Initiative, die sog. „Friedensresolution", in der die Reichstagsmehrheit einen Verständigungsfrieden und eine dauernde Versöhnung der Völker anstrebte und „erzwungene Gebietserwerbungen und politische, wirtschaftliche oder finanzielle Vergewaltigungen" mit einem solchen Frieden für unvereinbar erklärte.73 Bethmann Hollwegs Nachfolger als Reichskanzler wurde Georg Michaelis - ein hoher, zugleich aber blässlicher preußischer Verwaltungsbeamter, der auch das Plazet der OHL erhielt. Die Reichstagsmehrheit hatte auf seine Ernennung keinen Einfluss: Der Kaiser hatte ihn - so die Formulierung des MSPD-Abgeordneten David - den Deutschen „wie den Kindern zu Weihnachten als neuen Engel an den Tannenbaum gebunden."74 Michaelis nahm zwar einige Parlamentarier -u. a. August Müller (MSPD) oder Eugen Schiffer (NL) - in seine Regierung auf und vollzog damit einen ersten Friedensresolution 71 Nipperdey, a.a.O. (Anm. 42), S. 839 Grosser, Vom monarchistischen Konstitutionalismus ..., S. 129 73 Zit. nach Dederke, Reich und Republik, S. 18 74 Zit. nach Schulze, Weimar, S. 144 72 41 Emil Hübner: Parlament und Regierung. Internet-Version. 18.8.2003. PDF. Kapitel II: Grundzüge der deutschen Institutionengeschichte Schritt, zu dem auch Bethmann-Hollweg bereit gewesen wäre, in Richtung auf eine engere Verflechtung von Reichsregierung und Reichstag. Mit der Regierungszusammensetzung allerdings waren die Mitglieder des Interfraktionellen Ausschusses alles andere als zufrieden. Die Friedensresolution wiederum war Michaelis nur bereit, in der Form zu tragen, „wie ich sie auffasse" so die immer wieder zitierte klassische Formulierung. Was dies realiter bedeutete, zeigt ein Schreiben von Michaelis an den Kronprinzen, in dem er von einer „berüchtigten Resolution" sprach, der er durch seine Interpretation ihre „größte Gefährlichkeit geraubt" habe und mit der man „jeden Frieden . . ., den man will", machen könne.75 Die Mitglieder des Interfraktionellen Ausschusses hatten keine einheitlichen Vorstellungen von der Reform der Institutionen des Kaiserreiches. Am weitesten gingen die Nationalliberalen, denen es allerdings im Wesentlichen darauf ankam, über innenpolitische Reformen den außenpolitischen Kurs weitgehend zu retten. Auch die Sozialdemokraten drängten auf eine Parlamentarisierung, hielten aber eine Reform des preußischen Dreiklassenwahlrechts für vorrangig. Zentrum und FVP zeigten sich in dieser Frage innerparteilich deutlich mehr zerstritten als die beiden anderen Parteien. Trotz dieser keineswegs einheitlichen Positionen kann man sozusagen als kleinsten gemeinsamen Nenner ein Parlamentarisierungsmodell des Interfraktionellen Ausschusses konstruieren: An die Abschaffung der Monarchie dachte niemand, nicht einmal die Sozialdemokraten. In erster Linie kam es den Mitgliedern des Interfraktionellen Ausschusses darauf an, den Reichskanzler an den Reichstag zurückzubinden. Das Recht der Kanzlerauswahl wollte man dem Monarchen nicht nehmen, aber der jeweilige Kanzler sollte auf die programmatischen Vorstellungen der Parlamentsmehrheit verpflichtet werden. Die Ministerauswahl oblag nicht dem Kanzler, sondern den Mehrheitsparteien, die auf diese Weise einen verlängerten Arm im Kabinett erhalten sollten, der ihnen eine effiziente Regierungskontrolle ermöglichte.76 Wie stark außenpolitische Überlegungen auf die Parlamentarisierungsbemühungen einwirkten, zeigen bereits einige wenige Auszüge von Reden aus der ersten Sitzung des Interfraktionellen Ausschusses:77 Erzberger z.B. erklärte, dass ohne Änderung des Systems kein Frieden zu haben sei. Der nationalliberale Abgeordnete Hartmann Freiherr von Richthofen verstieg sich zu der Hoffnung: „Etwas Unangenehmeres, als ein solcher Wechsel. für die Feinde kann nicht gedacht werden." Richthofens Vorschlag, über eine gemeinsame Plattform der inneren und äußeren Politik die Regierung in die Hand zu nehmen, nannte Eduard David vom rechten Flügel der Sozialdemokraten eine „ungeheuerliche Tat", vor der man allerdings nicht zurückzuschrecken brauche, die man aber vorher mit dem Kanzler und dem eigentlichen Adressaten, dem Kaiser, verhandeln müsse. Ziele des Interfraktionellen Ausschusses Dass der neue Reichskanzler Michaelis den Vorstellungen des Interfraktionellen Ausschusses nicht entsprechen konnte, zeigt mit besonderer Deutlichkeit ein Zitat von Friedrich Naumann (FVP) aus dem August 1917: „Die Monarchie lobt das 75 Zit. nach Dederke, a.a.O. (Anm. 73), S. 18 Hierzu Bermbach, a.a.O. (Anm. 65), S. 96 ff. 77 Die folgenden Zitate bei Matthias/Morsey (Hrsg.), a.a.O. (Anm. 66), S. 6 ff. 76 41 Emil Hübner: Parlament und Regierung. Internet-Version. 18.8.2003. PDF. Kapitel II: Grundzüge der deutschen Institutionengeschichte Volk, aber hört es nicht! Sie schickt ihm einen Reichskanzler, wie man einen Gouverneur in eine Kolonie sendet: Gehe hin und regiere."78 Der Interfraktionelle Ausschuss stand mit Michaelis von Anfang über Kreuz. „Es wäre schon im Spätsommer 1917 ein Leichtes gewesen, einen Führer der Mehrheitsparteien an die Stelle des Reichskanzlers zu setzen, denn selbst Ludendorff hoffte darauf, um die zunehmenden inneren Unruhen zu beschwichtigen und den Reichstag zu domestizieren. Aber die Parteiführer waren unfähig, sich auf einen Kandidaten zu einigen; stattdessen versanken sie in endlosen Geschäftsordnungsdebatten, zweitrangigen taktischen Differenzen und Streitereien um den Vorsitz im Interfraktionellen Ausschuss."79 Ende Oktober 1917 war aber die Geduld des interfraktionellen Ausschusses zu Ende – u. a, wegen der Verdächtigungen von Michaelis gegenüber Abgeordneten der Unabhängigen Sozialdemokratie, die er in Verbindung mit den Matrosenaufständen in Kiel und Wilhelmshaven gebracht hatte: In einem gemeinsamen Schreiben an den Chef des Zivilkabinetts des Kaisers forderte man den Rücktritt von Michaelis, den der Kaiser daraufhin entließ, zumal auch der Obersten Heeresleitung Zweifel an den Fähigkeiten von Michaelis gekommen waren.80 Mit dem Verlangen nach dem Rücktritt des Kanzlers verbanden die Parteien des Interfraktionellen Ausschusses Ablösung von Michaelis „die Forderung, ein Nachfolger möge sich vor seiner Ernennung mit ihnen über ein Regierungsprogramm und das Regierungspersonal verständigen ... Immerhin, diese Forderung der Reichstagsmehrheit zielte auf den Umsturz des konstitutionellen Systems."81 Auf einen eigenen Kandidaten hatten sieh die Mitglieder des Interfraktionellen Ausschusses allerdings immer noch nicht geeinigt, so dass Michaelis den bayerischen Ministerpräsidenten und konservativen Zentrums-Mann Georg Graf von Hertling als seinen Nachfolger vorschlagen konnte. Im Gegensatz zur vorangegangenen Regierungsbildung wurde der Interfraktionelle Ausschuss vor der Ernennung Hertlings gehört und erreichte „Vereinbarungen mit ihm über die Zusammensetzung des Ministeriums im Reich und in Preußen und über das Regierungsprogramm"82, wobei sieh der Interfraktionelle Ausschuss erst nach langwierigen Rangeleien mit Hertling im Wesentlichen durchsetzen konnte.83 Die Ära Hertling wurde zu einer Übergangsperiode, „in welcher das Parlament zwar bereits der Regierung Richtlinien der Politik vorschreiben konnte, aber aus verschiedenen Gründen keine Gewähr gegeben war, dass sie auch eingehalten wurden".84 78 Zit. Nach Eschenburg, a.a.O. (Anm. 67), S. 41 Schulze a.a.O. (Anm. 74), S. 146 80 H. Mommsen, a.a.O. (Anm. 64), S. 18 81 Nipperdey, a.a.O. (Anm. 42), S. 844 82 Kuno Graf von Westarp, zit. nach Rauh, a.a.O. (Anm. 69), S. 407 83 Bermbach, a.a.O. (Anm. 65), S. 190 ff. 84 Rauh, a.a.O. (Anm. 69), S. 412 79 41 Emil Hübner: Parlament und Regierung. Internet-Version. 18.8.2003. PDF. Kapitel II: Grundzüge der deutschen Institutionengeschichte Der gewichtigste Grund war das Andauern der ungebrochenen Machtstellung der Obersten Heeresleitung, die insbesondere durch den Waffenstillstand mit Russland im Dezember 1917 und den Friedensschluss von Brest-Litowsk letztmals eine Verlängerung erfahren hatte. Aber der Fehlschlag der MärzOffensive 1918 im Westen sollte zeigen, dass vom deutschen Heer nichts mehr zu fürchten war, und die alliierte Offensive im August läutete das Ende des Krieges ein. Insofern war die Forderung Ludendorffs nach der umgehenden Bildung einer Regierung auf parlamentarischer Grundlage und der Abgabe eines deutschen Waffenstillstandsangebotes binnen 24 Stunden Ende September 1918 nur konsequent. Überraschend kam sie nur, weil es die Oberste Heeresleitung bisher unterlassen hatte, die Parlamentarier hinreichend über die jüngsten Kriegsereignisse zu informieren. Dass es Ludendorff mit dieser Forderung auch darum ging, die Nachwelt von der eigenen Schuld für die Niederlage abzulenken, zeigen seine Ausführungen vor Offizieren der Obersten Heeresleitung am 1. Oktober 1918 mit nicht zu überbietender Deutlichkeit: Die Rolle der obersten Heeresleitung „Ich habe aber S. M. gebeten, jetzt auch diejenigen Kreise an die Regierung zu bringen, denen wir es in der Hauptsache zu danken haben, dass wir so weit gekommen sind. Wir werden also diese Herren jetzt in die Ministerien einziehen sehen. Die sollen nun den Frieden schließen, der jetzt geschlossen werden muss. Sie sollen die Suppe jetzt essen, die sie uns eingebrockt haben."85 „Sie sollen die Suppe jetzt essen, die wir ihnen eingebrockt haben", wäre allerdings die exaktere Formulierung gewesen. Dass hier die Grundlagen für die „Dolchstoßlegende" gelegt wurden, zeigen auch die Ausführungen von Ludendorffs Nachfolger General Wilhelm Groener: „Mir konnte es nur lieb sein, wenn bei diesen unglückseligen Verbandlungen, von denen nichts Gutes zu erwarten war, das Heer und die Heeresleitung so unbelastet wie nur möglich blieb ... Es kam mir und meinen Mitarbeitern darauf an, die Waffe blank und den Generalstab für die Zukunft unbelastet zu erhalten."86 So unstrittig die negativen Folgen dieses Manövers der Obersten Heeresleitung für die kommende neue Republik auch sein mochten, ob man diesen Schritt Ludendorffs gleichzeitig als Verordnung der Parlamentarisierung von Seiten des Militärs deuten kann, erscheint mehr als fragwürdig. Schulze z. B. sieht die erste deutsche Demokratie nicht als Folge einer „Erhebung der Parteien und des Parlaments ... Nicht aus eigener Legitimation entstand die Republik, sondern als letzter Ausweg eines ratlosen Generalstabes."87 Zum einen ist zu bedenken, dass Ludendorff mit diesem Verlangen nur einer Forderung des amerikanischen Präsidenten Woodrow Wilson nachkam, der der Überzeugung war, dass ein dauerhafter Frieden, der seine im Januar 1918 in einer Kongressbotschaft dargelegten vierzehn Punkte zum Inhalt hatte, nur zwischen Regierungen, die Ausdruck der Volksmeinung darstellten, geschlossen werden könne. Die Parla- 85 Zit. nach Schulze, a.a.O. (Anm. 74), S. 148 Zit. nach Schulze, a.a.O., S. 149 87 Schulze, a.a.O., S. 148 86 41 Emil Hübner: Parlament und Regierung. Internet-Version. 18.8.2003. PDF. Kapitel II: Grundzüge der deutschen Institutionengeschichte mentarisierung der Reichsregierung war somit Voraussetzung für ein Eingehen auf die Vorgaben Wilsons. Zum anderen wird man den Mehrheitsparteien im Reichstag zwar vorwerfen können, dass sie zu viele Rücksichten auf die Militärs genommen haben und dass ihr zögerliches Verhalten durch unterschiedliche Parlamentarismus-Konzeptionen bzw. taktische Finessen88 sowie durch den chronischen „Mangel an qualifizierten Führungskräften"89 zu erklären ist. Aber es scheint doch fragwürdig, einen Prozess, der weit bis in die Vorkriegszeit zurückreicht und der bereits vor der Ludendorffschen Erklärung wieder an Fahrt gewonnen hatte, außer Acht zu lassen und den General, der nur die Bankrotterklärung des Kaiserreiches formuliert hatte, sozusagen zum „Vater der Weimarer Republik" zu erklären. Diese durch den rapiden Verfall des Ansehens der Regierung bei der Bevölkerung verstärkten Parlamentarisierungsbemühungen im Interfraktionellen Ausschuss seit Anfang September 1918 wurden zwar zunächst noch einmal vom Zentrum gebremst.90 Aber nach einer Sitzung von Reichstagsfraktion und Parteiausschuss der SPD am 23. September 1918 waren sie nicht mehr umkehrbar91 und führten dann Ende September zu einer Einigung und zum Sturz Hertlings. Der Kaiser beauftragte Vizekanzler Friedrich von Payer (FVP) und den Staatssekretär Siegfried Graf von Roedern mit der Ausarbeitung einer Kabinettsliste für den Kanzler,92 der noch nicht ernannt war und für den der Interfraktionelle Ausschuss wiederum keinen geeigneten Kandidaten anzubieten hatte. Der Kaiser berief schließlich auf Betreiben von Conrad Haußmann (FVP) Prinz Max von Baden am 3. Oktober 1918 zum letzten Reichskanzlers des Kaiserreiches. Der Interfraktionelle Ausschuss bestimmte dann im Wesentlichen Programm und Zusammensetzung der neuen Regierung, er hatte sich endgültig vom Koordinations- zum Koalitionsausschuss der Mehrheitsparteien gewandelt.93 Hertlings Sturz und die Oktoberverfassung Unter der Regierung Max von Baden wurden dann auch die Bemühungen um eine Parlamentarisierung des Kaiserreiches mit der sog. „Oktoberverfassung" zu einem formellen Abschluss gebracht, wobei der Druck des amerikanischen Präsidenten Wilson beschleunigend wirkte. Die am 26. Oktober 1918 vom Reichstag und am 28. Oktober 1918 vom Bundesrat verabschiedeten Verfassungsänderungen „bildeten nur noch die Konsequenz der faktischen Machtverhältnisse, die sich im Oktober ausgebildet hatten"94 Sie sahen u. a. vor, dass der Reichskanzler künftig vom Vertrauen des Reichstages abhängig war und die Verantwortung für alle Handlungen des Kaisers von politischer Bedeutung zu übernehmen hatte; außerdem wurden die Inkompatibilitätsregelungen des Art. 21 Abs. 2 der 88 Hierzu insbesondere Grosser, a.a.O. (Anm. 72), S. 129 ff. H. Mommsen, a.a.O. (Anm. 64), S. 18 90 Ausführlicher Bericht hierzu Bermbach, a.a.O. (Anm. 65), S. 220 ff. 91 Matthias/Morsey (Bearb.): Die Regierung des Prinzen Max von Baden, S. XIII 92 Bermbach, a.a.O. (Anm. 65), S. 271 93 Bermbach, a.a.O., S. 286, S. 306 94 Grosser, a.a.O. (Anm. 72), S. 151 89 41 Emil Hübner: Parlament und Regierung. Internet-Version. 18.8.2003. PDF. Kapitel II: Grundzüge der deutschen Institutionengeschichte Bismarckschen Reichsverfassung aufgehoben und Kriegserklärungen sowie Friedensschlüsse an die Zustimmung von Reichstag und Bundesrat gebunden.95 Ein Diskussionsprozess, ohne den die Weimarer Reichsverfassung nicht zu denken ist,96 war zum Abschluss gekommen. Die Novemberrevolution, die nach dem verlorenen Krieg einen Schlusspunkt unter das Kaiserreich setzte, konnte den Fortgang des begonnenen Verfassungswandels nicht verhindern. Nicht überlebt hat allerdings die Monarchie. Der Kaiser geriet nun unter immer stärkeren außenpolitischen Druck. Nachdem er auch im Heer und bei den Massen seinen Rückhalt verloren hatte und nachdem sich am 7. November 1918 auch die Führung der Sozialdemokratie der Rücktrittsforderung anschloss, ging Wilhelm Il. am 10. November 1918 nach Holland ins Exil und unterschrieb am 28. November 1918 seine Abdankungsurkunde. „Das war nicht eben heroisch und schon gar nicht sehr preußisch, aber es vermied den Bürgerkrieg."97 4. Das Regierungssystem der Weimarer Reichsverfassung „Die Oktoberreformen hatten keine eigenständige Wirkung mehr, sondern gingen auf in der Radikalisierung der Novemberrevolution."98 Allerdings: Auch wenn diese Reformen nicht mehr in der Lage waren, das Regierungssystem des Kaiserreiches mit neuem Leben zu erfüllen, sie wirkten weiter und beeinflussten die Diskussion um die neu zu schaffende Verfassung stärker, als häufig eingestanden wird. Ernst Fraenkels These, dass sich die Weimarer Verfassungsväter maßgeblich von Vorstellungen leiten ließen, die sie von außerdeutschen demokratischen Verfassungssystemen hatten, und dass sie schließlich nicht die englische Verfassung, sondern die Glosse rezipierten, die französische Monarchisten zu ihr geschrieben hatten,99 verkennt diese Verankerung der Weimarer Reichsverfassung im Kaiserreich. Die westlichen Regierungssysteme spielten zwar in den Verfassungsdiskussionen am Ende des Kaiserreiches und am Beginn der Weimarer Republik eine nicht unwichtige Rolle und hatten auch gelegentlich Vorbildfunktion, für die Mehrheit der an dieser Diskussion Beteiligten war jedoch die Abgrenzung gegenüber den Verfassungskonstruktionen der westlichen Demokratien von herausragender Bedeutung,100 und es war symptomatisch, dass der Zentrumsabgeordnete Karl Trimborn die Regierung Hertling als eine „deutsche Weiterwirken der Parlamentarisierungsdebatte 95 Zur Kritik an den teilweise problematischen Formulierungen dieser Verfassungsänderungen siehe z.B. Rauh, a.a.O. (Anm. 69), S. 457 ff. 96 Bermbach a.a.O. (Anm. 65), S. 62 97 Nipperdey, a.a.O. (Anm. 42), S. 874 98 Nipperdey, a.a.O., S. 868 99 Fraenkel, Deutschland und die westlichen Demokratien, S. 194, S. 200. Zum Einfluss von Robert Redslob auf die Verfassungsdiskussion in Weimar siehe auch: W.J. Mommsen, Max Weber, S. 372 ff.; ähnlich auch: Möller, Parlamentarismus-Diskussion in der Weimarer Republik, S. 140 f. 100 Grosser, a.a.O. (Anm. 72), S. 138 ff. 41 Emil Hübner: Parlament und Regierung. Internet-Version. 18.8.2003. PDF. Kapitel II: Grundzüge der deutschen Institutionengeschichte Form parlamentarischer Regierung"101 bezeichnete. Diese Abgrenzungsversuche sollten - zumindest unterbewusst - weiterwirken. Doch bevor die eigentlichen Verfassungsberatungen beginnen konnten, war erst noch eine zwar kurze, aber schwierige Wegstrecke zurückzulegen. Nachdem die Auflehnung der Matrosen in Kiel auf das gesamte Land ansteckend wirkte, sich Anfang November in vielen größeren Städten Arbeiter- und Soldatenräte gebildet hatten und die Revolution schließlich am 9. November 1918 Berlin erreichte, mussten die Sozialdemokraten befürchten, dass ihnen die Führungsrolle in der Arbeiterbewegung von radikalen Kräften aus der Rand genommen werden könnte: Novemberrevolution „Die Sozialdemokraten mussten ... damit rechnen, dass auch viele ihrer Anhänger einem Aufruf der radikalen Linken zum Massenstreik folgen würden. Angesichts der Stimmung in den Betrieben empfahl sich das Vorgehen, zu dem Scheidemann in der Fraktion schon am 6. November geraten hatte: Jetzt heißt's, sich an die Spitze der Bewegung zu stellen, sonst gibt's doch anarchische Zustände im Reich'. Insofern hat sich die Rolle der SPD am Morgen des 9. November nur äußerlich geändert. Sie verwandelte sich nicht über Nacht von einer Regierungspartei in eine revolutionäre Bewegung, sondern blieb Ordnungskraft. Sie sprang auf einen fahrenden Zug, dessen Lokomotive nicht besetzt war, und brachte ihn unter Kontrolle ... Sie handelte aus Selbsterhaltungsinteresse - und aus Verantwortungsbewusstsein."102 Nachdem Max von Baden am 9. November 1918 die Reichskanzlerschaft an Friedrich Ebert übergeben hatte, beabsichtigte dieser für kurze Zeit, die bisherige Mehrheit aus dem Interfraktionellen Ausschuss um die Unabhängigen Sozialdemokraten zu erweitern und eine Regierung auf der Basis der Oktoberverfassung zu bilden, weshalb er auch empört auf die Ausrufung der Republik durch Philipp Scheidemann reagierte. Dieser Plan Eberts war jedoch in Anbetracht der mobilisierten Berliner Arbeiterschaft illusionär. Einerseits folgte die MSPD der Scheidemannschen Devise, sich an die „Spitze der Bewegung" zu stellen und mobilisierte umgehend ihre Anhänger für die Neuwahlen der Berliner Arbeiterund Soldatenräte am 10. November 1918. Andererseits trat sie noch am Morgen des 9. November 1918 in Koalitionsverhandlungen mit der USPD ein. Bei der USPD war allerdings die Regierungsbeteiligung zwischen dem rechten und dem linken Flügel umstritten, Ebert bot den Unabhängigen die Bildung eines Kabinetts an, das zu gleichen Teilen aus Mitgliedern der USPD und der MSPD bestehen sollte und dem Fachminister aus den linken bürgerlichen Parteien zur Seite stehen sollten.103 In den Koalitionsverhandlungen, bei denen die MSPD u. a. die Forderung der USPD nach der Einführung eines Rätesystems ablehnte, einigte man sich am 10. November 1918 auf die Etablierung des sog. „Rates der Volksbeauftragten", dem anfangs Ebert, Scheidemann und Landsberg von der MSPD sowie Haase, Dittmann und Barth von der USPD als gleichberechtigte Mitglieder angehörten. Die politische Gewalt sollte „in den Händen der Arbeiter- 101 Zit nach Bermbach, a.a.O. (Anm. 65), S. 123 Winkler, Von der Revolution zur Stabilisierung, S. 43 f. 103 Auch zum Folgenden: Winkler, a.a.O:, S. 51 ff. 102 41 Emil Hübner: Parlament und Regierung. Internet-Version. 18.8.2003. PDF. Kapitel II: Grundzüge der deutschen Institutionengeschichte und Soldatenräte, die zu einer Vollversammlung aus dem ganzen Reich alsbald zusammenzurufen sind", liegen. Über die Einberufung einer Verfassunggebenden Versammlung sollte „erst bei einer Konsolidierung der durch die Revolution geschaffenen Zustände" entschieden werden.104 Während die USPD die Einberufung der Verfassunggebenden Versammlung zu verzögern suchte, blieb die Mehrheitssozialdemokratie bei ihrem bisherigen Kurs und drängte auf eine möglichst schnelle Beendigung der revolutionären Übergangsregelungen durch Neuwahlen. Auf dem Ersten Rätekongress, der vorn 16. bis zum 20. Dezember 1918 in Berlin tagte, setzten die in deutlicher Mehrheit der MSPD nahestehenden Delegierten den 19. Januar 1919 als Wahltermin für die Verfassunggebende Versammlung fest. Die MSPD hatte sich mit ihrem Kurs endgültig behauptet. Inzwischen waren die Vorarbeiten für die spätere Weimarer Verfassung bereits angelaufen. Friedrich Ebert hatte im November den Staatsrechtler Hugo Preuß, der der Deutschen Demokratischen Partei (DDP) angehörte, zum Staatssekretär im Innenministerium berufen und ihn mit der Aufgabe betraut, eine neue Verfassung auszuarbeiten. Einen ersten Verfassungsvorschlag legte Preuß Anfang Dezember 1918 dem Rat der Volksbeauftragten vor, der ihn zustimmend zur Kenntnis nahm. Vom 9. bis 12. Dezember 1918 fand dann die erste wichtige Vorbesprechung im Innenministerium statt, an der neben Politikern und Beamten der beteiligten Ressorts auch der bekannte Soziologe Max Weber als Berater teilnahm. Vorarbeiten zur WRV „Der Preußsche Verfassungsausschuss war, obgleich er keinen offiziellen Charakter besaß und streng vertraulich tagte und auch keine Abstimmungen zuließ, tatsächlich die Geburtskammer der Weimarer Reichsverfassung; hier bereits fielen wichtige Entscheidungen, die das Verfassungswerk grundlegend bestimmt und im Kern alle spätere Beratungen überdauert haben."105 Allerdings: Der aus diesen Verfassungsberatungen hervorgegangene sog. „Entwurf I" von Hugo Preuß, der Anfang Januar 1919 fertiggestellt wurde, sollte insbesondere hinsichtlich der Föderalismusfrage und der Grundrechte noch wesentliche Änderungen erfahren. Die Grundstrukturen der künftigen Beziehungen zwischen Parlament und Regierung waren in diesem „Entwurf I" weitgehend vorgezeichnet, auch wenn der Rat der Volksbeauftragten z. B. die Amtszeit des Reichspräsidenten von zehn auf sieben Jahre herabsetzte und die Bestimmung einfügte, dass der Reichstag nur einmal aus dem gleichen Anlass aufgelöst werden dürfe.106 Die Wahl zur Verfassunggebenden Nationalversammlung brachte den Parteien der ehemaligen Koalition des Interfraktionellen Ausschusses eine deutliche Mehrheit: Die MSPD erhielt 37,9% der Stimmen und 165 Mandate und wurde stärkste Fraktion. Auf das Zentrum entfielen 19,7% der Stimmen und 91 Sitze. Die Deutsche Demokratische Partei (DDP) schließlich kam auf 18,5% der Zusammensetzung der Nationalversammlung 104 Winkler, a.a.O., S. 53 W.J. Mommsen, a.a.O. (Anm. 99), S. 380 106 Hierzu z.B. Potthoff, Das Weimarer Verfassungswerk, S. 453 ff. 105 41 Emil Hübner: Parlament und Regierung. Internet-Version. 18.8.2003. PDF. Kapitel II: Grundzüge der deutschen Institutionengeschichte Stimmen und 75 Mandate. Zusammen war dies mehr als eine 3/4-Mehrheit der Stimmen und der Mandate in der Weimarer Nationalversammlung. Die USPD, die formal gleichberechtigt mit der MSPD im Rat der Volksbeauftragten vertreten war, erhielt nur 7,6% der Stimmen und 22 Mandate. Auf die konservative Deutschnationale Volkspartei (DNVP) entfielen 10,3% der Stimmen und 44 Sitze, und die Nachfolgerin der Nationalliberalen, die Deutsche Volkspartei (DVP) kam auf ganze 4,4% der Stimmen und 19 Mandate. Die restlichen Stimmen und Mandate gingen an Splitterparteien. Wie von großen Teilen der MSPD erhofft, war die erzwungene Zusammenarbeit mit der linken Schwesterpartei durch diese Wahl beendet, und die Partei konnte mit dem Zentrum und der DDP die durch die Revolution unterbrochene Kooperation wieder aufnehmen. Diese als „Weimarer Koalition" bezeichnete Regierungsmehrheit wählte am 11. Februar 1919 Friedrich Ebert mit 277 gegen 49 Stimmen - die restlichen Stimmen waren Enthaltungen bzw. ungültig - zum ersten Präsidenten der neuen Republik, der noch am selben Tag Philipp Scheidemann mit der Regierungsbildung beauftragte. Nur zwei Tage später wurde das neue Kabinett vereidigt. Die Wahl des ersten Präsidenten und die Ernennung des ersten Regierungschefs der Weimarer Republik erfolgten auf der Basis des „Gesetzes über die vorläufige Reichsgewalt", das als Entwurf der Nationalversammlung am B. Februar 1919 zugeleitet und bereits zwei Tage später verabschiedet wurde. In diesem Gesetz und in dem sog. „Übergangsgesetz" vom 4. März 1919 wurden im Wesentlichen die Kompetenzen, die in der Oktoberverfassung für den Kaiser verblieben waren, auf den Reichspräsidenten übertragen und auch die Bestimmungen über Beziehungen zwischen Parlament und Regierung blieben im Wesentlichen erhalten. Dies kann wiederum als Beleg für das Weiterwirken der Oktoberverfassung von 1918 gewertet werden. Im § 4 des Übergangsgesetzes z. B. heißt es wörtlich: „Die Befugnisse, die nach den Gesetzen und Verordnungen des Reichs dem Kaiser zustehen, gehen auf den Reichspräsidenten über."107 Übergangsregelungen Die Ausgestaltung der Beziehungen zwischen Reichspräsident, Reichsregierung und Reichstag, wie sie der „Entwurf IV" skizzierte, den Innenminister Preuß am 21. Februar 1919 in der Nationalversammlung einbrachte, war - wie die Erste Lesung des Verfassungsentwurfes am 28. Februar 1919 zeigen sollte - zwischen den Parteien auch der Regierungsmehrheit umstritten. Für den Sprecher der Mehrheitssozialdemokratie Richard Fischer war der „Reichspräsident geradezu mit Diktaturgewalt ausgerüstet ... Die jetzige Verfassungsvorlage gibt also dem Reichspräsidenten eine höhere, uneingeschränktere Macht, als sie früher der Kaiser besaß". Streit um die Stellung des Reichspräsidenten Und seine Warnung auf die Zukunft wurde von der Realität eingeholt: „Wir dürfen uns hierbei auch nicht von dem Gedanken beeinflussen lassen, dass jetzt auf dem Posten des Reichspräsidenten ein Sozialdemokrat steht. War die frühere Reichsverfassung auf den Leib des Kanzlers Bismarck zugeschnitten - die jetzige Reichsverfassung soll nicht auf den Leib des Reichspräsidenten Ebert zugeschnitten sein. 107 Zit. nach Huber, Dokumente, Bd. 4, S. 83 41 Emil Hübner: Parlament und Regierung. Internet-Version. 18.8.2003. PDF. Kapitel II: Grundzüge der deutschen Institutionengeschichte Wir müssen mit der Tatsache rechnen, dass eines Tages ein anderer Mann aus einer anderen Partei, vielleicht aus einer reaktionären staatsstreichlüsternen Partei, an dieser Stelle stehen wird."108 Der DDP-Abgeordnete Koch-Weser hingegen sah die Funktion des Präsidenten wesentlich positiver: „Wir sind also der Meinung, dass wir unseren Parlamentarismus durch eine andere Art der obersten Spitze im Reich ergänzen müssen. Denn ein Großstaat kann nicht von einer einzigen Körperschaft in seinem Schicksal abhängig sein wie eine Landgemeinde. Wir sind nicht gewillt, den Präsidenten lediglich zu einer Repräsentationsfigur werden zu lassen . . . Was wir erwarten, ist ein Mann, der auf hoher Warte steht und nur dann, wenn die Stunde der Gefahr herangekommen ist, herabsteigt und in den Streit der Meinungen mit ernsten Worten eingreift. Wir wünschen aus diesem Grunde auch, dass der Präsident vom gesamten Volke gewählt wird, damit er in ernster Stunde ein Gegengewicht gegen die Parlamentsroutine bildet."109 Koch-Wesers Statement war typisch für die Argumentationsweise der damaligen Befürworter eines starken Reichspräsidenten:110 Die Vorteile wurden herausgehoben, die möglichen negativen Aspekte ausgeblendet. Die Weimarer Konstruktion des Regierungssystems, wie sie schließlich von der Nationalversammlung verabschiedet wurde, zeichnete sich insbesondere durch folgende Charakteristika aus. An der Spitze des Reiches steht der Reichspräsident, der auf sieben Jahre vom Volk direkt gewählt wird und auch wiedergewählt werden kann (WRV Art. 41, Art. 43). Der Wahlmodus ist nicht in der Verfassung festgelegt. Während Ebert wie erwähnt - von der Nationalversammlung gewählt und seine Amtsperiode durch ein verfassungsänderndes Gesetz im Oktober 1922 bis zum 30. Juni 1925 verlängert wurde, galt für die folgenden Wahlen die Bestimmung, dass im ersten Wahlgang die absolute Stimmenmehrheit nötig war, während beim zweiten Wahlgang, bei dem - wie Hindenburg im Jahre 1925 - auch neue Kandidaten hinzukommen konnten, die relative Stimmenmehrheit ausreichte. Auf Antrag einer Zweidrittelmehrheit des Reichstages kann der Reichspräsident durch eine Volksabstimmung abgesetzt werden. Für den Fall, dass die Absetzung in der Volksabstimmung abgelehnt wird, bestimmt die Verfassung in Art. 43. dass dies gleichzeitig als Neuwahl des Reichspräsidenten gilt und eine Auflösung des Reichstages zur Folge hat. Der Reichspräsident ernennt und entlässt den Reichskanzler und auf seinen Vorschlag die Reichsminister (Art. 53), er vertritt das Reich völkerrechtlich (Art. 45), er ernennt und entlässt die Beamten und Offiziere des Reiches (Art. 46), er übt den Oberbefehl über die gesamte Wehrmacht aus (Art. 47), er kann vom Reichstag verabschiedete Gesetze einer Volksabstimmung unterwerfen (Art. 73 Abs. 1), er kann den Reichstag auflösen, Stellung des Präsidenten nach der Verfassung 108 Heilfron (Hrsg.), Deutsche Nationalversammlung, Bd. 2, S. 924 f. Heilfron (Hrsg.), a.a.O., Bd. 2, S. 972 110 Siehe z.B. Weber, Max: Der Reichspräsident. – in: ders., Zur Neuordnung Deutschlands. Schriften und Reden 1918 – 1920. (Hrsg. Von Wolfgang J. Mommsen und Wolfgang Schwentker). – Tübingen: Mohr 1988 S. 220 – 224 (= Gesamtausgabe I, 16) 109 41 Emil Hübner: Parlament und Regierung. Internet-Version. 18.8.2003. PDF. Kapitel II: Grundzüge der deutschen Institutionengeschichte jedoch - wie erwähnt - nur einmal aus dem gleichen Anlass (Art. 25 Abs. I), und er hat beträchtliche Vollmachten aufgrund des berühmten Artikels 48 der Weimarer Reichsverfassung, auf den unten noch näher einzugehen sein wird. Allerdings ist der Reichspräsident bei der Ausübung dieser Vollmachten von der Unterstützung der Regierung abhängig, da die Verfassung in Art. 50 verlangt: “Alle Anordnungen und Verfügungen des Reichspräsidenten, auch solche auf dem Gebiet der Wehrmacht, bedürfen zu ihrer Gültigkeit der Gegenzeichnung durch den Reichskanzler oder den zuständigen Reichsminister. Durch die Gegenzeichnung wird die Verantwortung übernommen." Die Reichsregierung steht nach der Konstruktion der Weimarer Reichsverfassung zwischen dem Reichspräsidenten, der sie ernennt bzw. entlässt, und dem Reichstag, der sie zwar nicht wählt, ihr aber jederzeit mit einfacher Mehrheit das Vertrauen entziehen kann (Art. 54), was zu einer Rücktrittsverpflichtung des betroffenen Reichskanzlers bzw. auch der jeweiligen Reichsminister führt. Der Reichspräsident kann allerdings die betroffenen Regierungsmitglieder mit der Weiterführung ihrer Geschäfte betrauen, bis eine neue Regierung gebildet ist bzw. ein Nachfolger ernannt ist. Auch kann der Reichspräsident eine Regierung, deren Sturz durch ein parlamentarisches Misstrauensvotum droht, durch eine Auflösung des Parlaments zumindest kurzfristig retten, wie es Reichspräsident Hindenburg mit den beiden Reichstagsauflösungen im Jahre 1932 demonstrierte. Der Reichskanzler, und nicht der Reichspräsident, sollte nach dem Willen der „Weimarer Verfasser der leitende Staatsmann sein",111 was insbesondere die in Art. 56 festgelegte Richtlinienkompetenz verdeutlicht: „Der Reichskanzler bestimmt die Richtlinien der Politik und trägt dafür gegenüber dem Reichstag die Verantwortung. Innerhalb dieser Richtlinien leitet jeder Reichsminister den ihm anvertrauten Geschäftszweig selbständig und unter eigener Verantwortung gegenüber dem Reichstag." Das Kollegialprinzip ist in den Artikeln 57 und 58 festgelegt, die u. a. bestimmen, dass Gesetzentwürfe der Reichsregierung sowie „Meinungsverschiedenheiten über Fragen, die den Geschäftsbereich mehrerer Reichsminister berühren", der Reichsregierung zur Beratung und Beschlussfassung vorzulegen sind, dass die Reichsregierung ihre Beschlüsse mit Stimmenmehrheit fasst und dass bei Stimmengleichheit die Stimme des Vorsitzenden - also im Normalfall diejenige des Reichskanzlers - entscheidet. Die annähernd wortgleichen Formulierungen der Richtlinienkompetenz des Kanzlers in der Weimarer Reichsverfassung und im Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland sollten in Anbetracht der Weimarer Verhältnisse diejenigen, die die starke Stellung des Bundeskanzlers von seiner Richtlinienkompetenz herleiten, zur Vorsicht veranlassen. Die doppelte Abhängigkeit der Reichsregierung vom Reichstag und vom Reichspräsidenten zeigte sich in völlig unterschiedlichen Ausgestaltungen am Beginn und am Ende der Weimarer Republik. Die erste Weimarer Reichsregierung 111 Poetzsch-Heffter, Fritz: Organisation und Geschäftsformen der Reichsregierung. – in: Anschütz/Thoma (Hrsg.): Handbuch des Deutschen Staatsrechts, Bd. 1, S. 513 41 Emil Hübner: Parlament und Regierung. Internet-Version. 18.8.2003. PDF. Kapitel II: Grundzüge der deutschen Institutionengeschichte verfügte über eine solide Parlamentsmehrheit, sie konnte trotz des Ausscherens der Deutschen Demokratischen Partei, die später wieder in die Regierung zurückkehrte, eine Mehrheit für die Annahme und Ratifizierung des heiß umstrittenen Versailler Vertrages und für die Verabschiedung der Weimarer Reichsverfassung sicherstellen. Auf die Hilfe des Reichspräsidenten war sie im Grunde nicht angewiesen. Hier galt noch, was einer der führenden Verfassungsrechtler der Weimarer Republik. Richard Thoma, für die Machtbeziehungen zwischen Reichsregierung und Reichspräsident allgemein feststellte: „So bedeutsam die dem Reichspräsidenten zugewiesenen Zuständigkeiten und die ihm zugedachte Rolle auch sind, so soll doch nicht er es sein, der die Nation ,regiert'. Dies ist vielmehr nach Plan und Wortlaut der Reichsverfassung Aufgabe des von der Verfassung als Reichsregierung (Art. 52) bezeichneten, aus dem Reichskanzler und den Reichsministern bestehenden Reichsorgans, das im politischen Sprachgebrauch auch häufig das Kabinett' genannt wird."112 Die letzten Reichsregierungen der Weimarer Republik hingegen standen in vollständiger Abhängigkeit vom Reichspräsidenten, nachdem in Anbetracht der Parteienzersplitterung eine Mehrheitsbildung im Reichstag ausgeschlossen war. Die Machtposition des Reichspräsidenten wurde immer stärker, aber der ihm u. a. zugedachten Rolle, durch eine „kommissarische Diktatur" (C. Schmitt) „die Verfassung auf Dauer zu retten",113 wurde der Reichspräsident am Ende der Republik nicht gerecht - im Gegenteil. Der Reichstag der Weimarer Republik wird „in allgemeiner, gleicher, unmittelbarer und geheimer Wahl von den über zwanzig Jahren alten Männern und Frauen nach den Grundsätzen der Verhältniswahl gewählt" (Art. 22 Abs. 1). Für das Reich bedeutet dies die Einführung des Frauenwahlrechts, für die einzelnen Länder war der Fortschritt im Wahlrecht noch weitergehend, da der Art. 17 auch für die Länder die allgemeine, gleiche, unmittelbare und geheime Wahl vorschreibt und damit das bisherige preußische Dreiklassenwahlrecht und andere Zensuswahlrechtsformen in weiteren Ländern zu den Akten legt. Der Reichstag hat zwar nicht die Möglichkeit, den Reichskanzler bzw, die Regierung zu wählen, aber er kann - wie erwähnt - sowohl den Regierungschef als auch die einzelnen Minister stürzen und hat somit gewichtige Kontrollmöglichkeiten gegenüber der Regierung. Insbesondere auf Drängen von Max Weber wurde in der Weimarer Reichsverfassung im Zusammenhang mit der Regierungskontrolle eine gewichtige Neuerung verankert: die Einsetzung von Untersuchungsausschüssen ist nicht von einem Mehrheitsbeschluss des Reichstages abhängig, sondern wird als Minderheitenrecht in der Verfassung festgeschrieben, Art. 34 spricht dem Reichstag das Recht und „auf Antrag von einem Fünftel seiner Mitglieder die Pflicht" zu, Reichstag 112 Thoma, Richard: Die rechtliche Ordnung des parlamentarischen Regierungssystems. – in: Anschütz / Thoma (Hrsg.) a.a.O., Bd. 1, S. 503 113 Friesenhahn, Ernst: Zur Legitimation und zum Scheitern der Weimarer Reichsverfassung. – in: Erdmann/Schulze (Hrsg.): Weimar, S. 96 41 Emil Hübner: Parlament und Regierung. Internet-Version. 18.8.2003. PDF. Kapitel II: Grundzüge der deutschen Institutionengeschichte „Untersuchungsausschüsse einzusetzen. Diese Ausschüsse erheben in öffentlicher Verhandlung die Beweise, die sie oder die Antragsteller für erforderlich erachten . . . Die Gerichte und Verwaltungsbehörden sind verpflichtet, dem Ersuchen dieser Ausschüsse um Beweiserhebungen Folge zu leisten; die Akten der Behörden sind ihnen auf Verlangen vorzulegen". In veränderter Form findet sich dieses Minderheitenrecht zwar auch im Grundgesetz, aber es stellt - sieht man von einer entsprechenden Regelung der portugiesischen Verfassung ab - weltweit bis heute noch eine Ausnahme dar. Nicht nur in der Kontrolle, auch in der Gesetzgebung wird der Reichstag gegenüber seinem Vorgänger im Kaiserreich gestärkt, auch wenn er nicht immer das letzte Wort bekommt. Die Gesetzesinitiative steht neben dem Reichstag auch der Reichsregierung und dem Reichsrat zu, Einem Gesetzesbeschluss des Reichstages können nach der Weimarer Reichsverfassung einige Hürden entgegengestellt werden, die allerdings in der Verfassungsrealität weitgehend ohne Bedeutung blieben. Zum einen kann der Reichspräsident ein vom Reichstag beschlossenes Gesetz einem Volksentscheid zuführen (Art. 73 Abs. 1). Zum anderen kann ein Drittel des Reichstages verlangen, dass die Verkündung eines Gesetzes für zwei Monate ausgesetzt wird (Art. 72). Wenn in dieser Zeit 5% der Stimmberechtigten es verlangen, muss das Gesetz einem Volksentscheid unterbreitet werden (Art. 73 Abs. 2). Ein solcher Volksentscheid kann allerdings verhindert werden, wenn Reichstag und Reichsrat das entsprechende Gesetz für dringlich erklären und wenn sich der Reichspräsident dieser Meinung anschließt.114 Außerdem kann der Reichsrat gegen ein vom Reichstag beschlossenes Gesetz Einspruch einlegen (Art. 74 Abs. 1). Für den Fall, dass keine Einigung zwischen Reichstag und Reichsrat zustande kommt, gilt das Gesetz als gescheitert, wenn nicht der Reichspräsident einen Volksentscheid anordnet (Art. 74 Abs. 3). Weist der Reichstag einen Einspruch des Reichsrates allerdings mit Zweidrittelmehrheit zurück, ergibt sich für den Reichspräsidenten eine andere Wahlmöglichkeit: Nun muss er entweder das Gesetz in der vom Reichstag beschlossenen Fassung verkünden oder einen Volksentscheid anordnen (Art. 74 Abs. 3). Allerdings sieht die Verfassung vor, dass sich bei Volksentscheiden, mit denen ein Rcichstagsbeschluss außer Kraft gesetzt werden soll, die Mehrheit der Stimmberechtigten beteiligen muss (Art. 75). Von großer Bedeutung für die Praxis der Gesetzgebung in der Weimarer Republik waren diese Regelungen allerdings nicht.115 Gesetzgebung Neben diesen Möglichkeiten, Beschlüsse des Reichstages zu verhindern, sieht die Weimarer Reichsverfassung auch die Möglichkeit einer eigenen Gesetzesinitiative des Volkes vor: Über ein Volksbegehren, dem 10% der Stimmberechtigten zustimmen müssen und dem ein ausgearbeiteter Gesetzentwurf zugrunde liegen muss, kann ein Volksentscheid erzwungen werden, wenn der Reichstag das Volksbegehren nicht unverändert akzeptiert (Art. 73 Abs. 3). Allerdings: 114 Anschütz, Die Verfassung des Deutschen Reichs, S. 382 Bilfinger, Carl: Der Reichsrat – Zuständigkeiten und Verfahren. – in: Anschütz / Thoma (Hrsg.), a.a.O. (Anm. 111), Bd. 1, S. 561 115 41 Emil Hübner: Parlament und Regierung. Internet-Version. 18.8.2003. PDF. Kapitel II: Grundzüge der deutschen Institutionengeschichte Volksentscheide über „den Haushaltsplan, über Abgabengesetze und Besoldungsordnungen" kann zum einen nur der Reichspräsident anordnen (Art. 73 Abs. 4). Zum anderen bedeutet auch ein solcher Volksentscheid nicht eine Ausschaltung des Reichstages als Gesetzgebungsorgan, denn die „durch Volksentscheid beschlossenen oder bestätigten Gesetze haben als solche keine erhöhte Gesetzeskraft, der Art, dass zu ihrer Abänderung oder Aufhebung wiederum ein Volksentscheid notwendig wäre."116 Der Reichstag kann ein durch Volksentscheid beschlossenes Gesetz also jederzeit aufheben. Der Vater der Weimarer Reichsverfassung Hugo Preuß verlor zwar seinen Kampf für die Auflösung Preußens, für die Einführung eines dezentralisierten Einheitsstaates und für die Schaffung eines von den Landtagen zu beschickenden Staatenhauses, aber der Reichsrat der Weimarer Republik musste trotzdem einen deutlichen Machtverlust gegenüber seinem Vorgänger im Kaiserreich hinnehmen. Die Regierungen und nicht die Landtage entsenden nach Art. 63 Abs. 1 die Mitglieder des Reichsrates. Jedes Land hat mindestens eine Stimme, bei den größeren Ländern entfällt ursprünglich auf eine Million Einwohner - ab 1921 durch eine Verfassungsänderung pro 700 000 Einwohner - eine Stimme, außerdem durfte kein Land durch mehr als zwei Fünftel der Stimmen vertreten sein (Art. 61 Abs. 1). Zur weiteren Schwächung Preußens bestimmt der Art. 63 Abs. 1, dass die Hälfte der preußischen Stimmen von den preußischen Provinzialverwaltungen zu bestellen ist. Neben den oben dargestellten Mitwirkungsrechten in der Gesetzgebung wirkt der Reichsrat auch bei der Verwaltung des Reiches mit (Art. 60) und muss u. a. den allgemeinen Verwaltungsvorschriften der Reichsregierung zustimmen. Sein Gewicht und seine aktive, gestalterische Rolle wird man jedoch nicht überschätzen dürfen.117 Die Weimarer Reichsverfassung verfügt in Art. 108, dass per Gesetz ein Staatsgerichtshof für das Deutsche Reich einzurichten sei, dem per Verfassung die Schlichtung von Verfassungsstreitigkeiten zwischen dem Reich und den Ländern (Art. 15 Abs. 3; Art. 18 Abs. 7, Art. 19 Abs. 1, Art. 90, Art. 170 Abs. 2; Art. 171 Abs, 2), zwischen den Ländern selbst (Art. 19 Abs. 1), innerhalb der Länder, die kein entsprechendes Gericht etabliert haben (Art. 19 Abs. 1) sowie die Entscheidung über Anklagen gegen den Reichspräsidenten, den Reichskanzler und die Reichsminister obliegen. Der Staatsgerichtshof wurde 1921 in Leipzig etabliert. Weitergehende Entscheidungen wie z. B. über Streitigkeiten zwischen Verfassungsorganen, bei Normenkontrollverfahren oder über Verfasssungsbeschwerden, wie sie inzwischen zum Aufgabenbereich Bundesverfassungsgericht gehören, standen außerhalb der Kompetenz des Staatsgerichtshofes. 116 117 Reichsrat Staatsgerichtshof Anschütz, a.a.O. (Anm. 114), S. 385 Laufer / Münch, das föderative System, S. 49 41 Emil Hübner: Parlament und Regierung. Internet-Version. 18.8.2003. PDF. Kapitel II: Grundzüge der deutschen Institutionengeschichte 5. Das Scheitern Regierungssystems? der Weimarer Republik - eine Folge des Es kann in diesem Zusammenhang nicht darum gehen, einen Überblick über die Geschichte oder über die Verfassungsentwicklung der Weimarer Republik zu geben. Aber in Anbetracht der Bedeutung, die das Scheitern der Weimarer Republik für die Verfassungsdiskussion der Bundesrepublik Deutschland hatte und teilweise noch hat, muss gefragt werden, wo die Gründe dafür zu suchen sind, dass diese Republik nach einer nur relativ kurzen Lebensdauer dem brutalsten Terrorregime, das je auf deutschen Boden existierte, weichen musste. Die Meinungen über die für das Scheitern der Weimarer Republik verantwortlichen Faktoren gehen bis heute auseinander. Man kann allerdings feststellen, dass die schon während der Weimarer Republik und in der Frühzeit der Bundesrepublik herausgestellten Verfassungsbestimmungen im Laufe der Zeit in ihrer Bedeutung für den Verfall der Weimarer Republik zurückgestuft wurden, während gesellschaftliche, wirtschaftliche und politische Aspekte stärker in den Vordergrund gerückt wurden. Bedenkt man die zunehmende Abhängigkeit der Regierungen am Ende der Weimarer Republik vom Wohlwollen des greisen Reichspräsidenten und damit verbunden die verstärkten Rückgriffe auf die Notverordnungen des Art. 48 WRV, so scheint die These plausibel, dass das semipräsidentielle Regierungssystem eine „Fehlkonstruktion"118 darstelle, Es habe einen wesentlichen Anteil am Zusammenbruch der Republik gehabt, weil es den Parteien die Möglichkeit eröffnete, sich um die politische Verantwortung zu drücken, und weil es so zum Abgleiten der Republik in ein autoritäres Präsidialregime beigetragen habe, Es bleibt jedoch die Frage, ob man hierfür im Wesentlichen die Verfassung verantwortlich machen kann, Zunächst muss an den Wortlaut des Art. 48 Abs. 2 erinnert werden: Notverordnungsrecht „Der Reichspräsident kann, wenn im Deutschen Reiche die öffentliche Sicherheit und Ordnung erheblich gestört oder gefährdet wird, die zur Wiederherstellung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung notwendigen Maßnahmen treffen, erforderlichenfalls mit Hilfe der bewaffneten Macht einschreiten". Darüber hinaus konnte der Reichspräsident bestimmte Grundrechte außer Kraft setzen. Die Maßnahmen des Reichspräsidenten bedurften der Gegenzeichnung durch den Reichskanzler oder den zuständigen Reichsminister (Art. 50 WRV) und konnten auf Verlangen des Reichstages aufgehoben werden. Bereits unter der Reichspräsidentschaft Friedrich Eberts wurde in Krisenzeiten der Bereich der öffentlichen Sicherheit und Ordnung relativ weit interpretiert, ohne dass größerer Protest laut geworden wäre: „Bald zeigte sich ... die Neigung, wirtschafts- und finanzpolitische Schwierigkeiten mit Hilfe des Artikels 48 anzugehen. Erstmals geschah dies mit einer Verordnung gegen die Spekulation mit ausländischen Zahlungsmitteln im Oktober 1922. Dies war der Auftakt zu einer Fülle von Verordnungen auf dem gleichen Gebiet, namentlich im 118 Loewenstein, Verfassungslehre, S. 91 41 Emil Hübner: Parlament und Regierung. Internet-Version. 18.8.2003. PDF. Kapitel II: Grundzüge der deutschen Institutionengeschichte Winter 1923/24, die sich selbst auf das Steuerwesen erstreckten. Einige dieser Maßnahmen waren durchaus auf Dauer berechnet. Sie trugen also legislativen Charakter und zielten damit auf ein Notverordnungsrecht ab, das 1919 mit Bedacht nicht eingeräumt worden war."119 Die Phasen des Einsatzes des Art. 48 machen deutlich, dass er mit der Instabilität der Mehrheiten im Reichstag wuchs. Zunächst wurde noch versucht, die wirtschaftlichen Probleme über Ermächtigungen an die Regierung zu regeln. Aber Ebert musste in der spannungsreichen Zeit der ersten Hälfte der 20er Jahre in insgesamt 136 Fällen zu den Mitteln des Art. 48 greifen, und die Frage scheint berechtigt, ob die Weimarer Republik ohne diese Kompetenzen des Reichspräsidenten nicht bereits zu dieser Zeit irreparable Schäden hätte hinnehmen müssen. In der Konsolidierungsphase der Republik, die kurz vor der ersten Amtsperiode Hindenburgs einsetzte, ging dann auch die Handhabung des Notverordnungsrechtes deutlich zurück, bevor sie 1930 in eine neue Phase trat. Zu diesem Zeitpunkt wandelte sich ein „irreguläres Notverordnungssystem auf Zeit zum einem regulären Regierungssystem auf Dauer".120 Kennzeichnend für diesen Wandel war u. a., dass der Reichspräsident am 12. September 1932 den Reichstag auflöste, „weil die Gefahr besteht, dass der Reichstag die Aufhebung meiner Notverordnung vom 4. September d. J. verlangt"121 - wegen der „Gefahr" also, dass der Reichstag von seinem verfassungsmäßigen Recht Gebrauch machen könnte. Zu Recht wirft Eschenburg dem zweiten Reichspräsidenten vor, er habe die Verfassung „bei seinem Pflichtbewusstsein genau gelesen, aber doch nur wie ein Feldwebel sein Exerzierreglement gelesen hat". Ob er sie nicht verstanden hat122 oder ob er sie nicht verstehen wollte, kann hier offen bleiben. Jedenfalls: „Die Ausnahmegewalt und ihre Anwendung für sich für den Niedergang der demokratischen Ordnung verantwortlich zu machen, heißt freilich Symptom und Ursache verwechseln."123 Wo die wirkliche Ursache lag, macht z. B. die Interpretation von Friedrich Stampfer deutlicher: Die Reichsverfassung habe - so Stampfer. - „dem Volk zwei Chancen" gegeben: „es konnte einen brauchbaren Reichstag und einen brauchbaren Reichspräsidenten wählen; jeder dieser beiden Faktoren konnte im Notfall für sich allein die Staatsmaschine in Gang halten. Versagen beide, so war freilich der Zusammenbruch der staatlichen Ordnung nicht aufzuhalten."124 Dafür, dass das Volk beide ihm gebotenen Chancen nicht ergriffen hat, kann man schwerlich die Verfassung verantwortlich machen. In 119 Oberreuter, Notstand und Demokratie, S. 49; ähnlich Jasper, Verfassungs- und machtpolitische Problematik, S. 154 ff. 120 Klaus Revermann, zit. nach Oberreuter, a.a.O., S. 58 121 Zit. nach Huber, Dokumente, Bd. 4, S. 186; zu der bei oberflächlicher Betrachtungsweise vergleichbaren Reichstagsauflösung durch Ebert im Frühjahr 1924 siehe Jasper, a.a.O. (Anm. 119), S. 155 f. 122 Eschenburg, a.a.O., S. 256 123 Scheuner, Das Amt des Bundespräsidenten, S. 16 124 Stampfer, Friedrich: Die 14 Jahre der ersten Deutschen Republik. – zit. nach: Pörtner, Ernst: Die Verfassungspolitik der Liberalen 1919. Ein Beitrag zur Deutung der Weimarer Reichsverfassung. – Bonn: Röhrscheid 1973, S. 253 (= Bonner historische Forschungen 39) 41 Emil Hübner: Parlament und Regierung. Internet-Version. 18.8.2003. PDF. Kapitel II: Grundzüge der deutschen Institutionengeschichte ähnliche Richtung zielt Gotthard Jasper mit seiner Feststellung: „Das Unglück für die Republik von Weimar war - so möchte ich überspitzt formulieren - die Wahl Hindenburgs 1925 und nicht die Verfassungskonstruktion als solche, Wo der Wille zur Verfassung fehlt, da helfen keine noch so ausgeklügelten Regeln."125 In engem Zusammenhang mit der Vorwurf an die Verfassung, sie habe dem Präsidenten zu weitgehende Vollmachten eingeräumt, steht die These, dass diese Verfassungskonstruktion es den Parteien ermöglicht habe, sich aus der Verantwortung zu stehlen, weil der Präsident als „Ersatzkaiser" im Hintergrund stand. Doch stellt sich angesichts einer solchen These die Frage, ob sie für diejenigen Parteien, die hinter der Republik standen, wirklich gilt: Die SPD hat auch in der Opposition des öfteren einer Regierung im außenpolitischen Bereich über schwerwiegende Hürden hinweggeholfen. Zentrum und DDP waren bis 1932 an jeder Regierung beteiligt. Die DVP, die die Republik nur mit Einschränkungen akzeptierte, war in immerhin 12 der 18 Regierungen vor Papen vertreten, Und man kann auch nicht das Ende der Großen Koalition im Frühjahr 1930 der SPD als Beweis ihrer Unfähigkeit zur Staatsführung126 anlasten, da Hindenburg und seine Umgebung - insbesondere Schleicher - nicht gewillt waren, eine Regierungsbeteiligung der SPD sehr viel länger zu dulden.127 Darüber hinaus wird man zu bedenken haben, dass die Parteien keine Organisationen sind, die ihren Willen ohne Blick auf die Wählerschaft bilden können. In Anbetracht der sich radikalisierenden Wählerschaft, des damit verbundenen Erstarkens radikaler Parteien und der hohen an den Staat herangetragenen Forderungen heißt es, von den Parteien allzuviel Selbstlosigkeit verlangen, wenn man sie - als die einzigen Organisationen - zur Verantwortung ruft. Außerdem verkennt man deren zentrale Aufgabe, nämlich sich in der Konkurrenz mit den anderen Parteien bei Wahlen um die Zustimmung der Bürger und damit um Parlamentsmandate zu bemühen. Heinrich August Winkler wählt im ersten Band seines Standardwerkes über die Arbeiterbewegung in der Weimarer Republik für das Kapitel, in dem er die ersten ordentlichen Reichstagswahlen analysiert, bezeichnenderweise die Überschrift „Weimar verliert die Mehrheit: Die Wahlen vom 6. Juni 1920".128 In diesen Wahlen verlor die Weimarer Koalition ihre bisher satte 3/4-Mehrheit und rutschte deutlich unter 50% (SPD: 21,6%; Zentrum 13,6%; DDP: 8,4%) ab. Rolle der Parteien 125 Jasper a.a.O. (Anm. 19), S. 157. In diesem Aufsatz macht Jasper auch deutlich, dass sowohl Fraenkels „Geburtsfehlertheorie“ als auch Schulzes These von der Reserveverfassung jeweils zu kurz greifen und die Verfassung überlasten. Den Geburtsfehler der Weimarer Republik sah Fraenkel in der Kombination des direkt gewählten Präsidenten mit der Abhängigkeit der Regierung vom Vertrauen der Parlamentsmehrheit. Schulze hingegen sieht in der Volkswahl des Reichspräsidenten und in den ihm aus Art. 48 WRV erwachsenden Kompetenzen eine Reserveverfassung, die dann greift, wenn die normale „Schönwetter-Verfassung“ nicht mehr funktioniert. 126 So Julius Leber, zit. nach Bracher, Auflösung der Weimarer Republik, S. 270 A; zur These, dass die Verfassung es den Parteien ermöglichte, sich aus der Verantwortung zu stehlen z.B. Stürmer, Koalition und Opposition, S. 269 127 Kolb, Weimarer Republik, S. 124 f. 128 Winkler, a.a.O. (Anm. 102), S. 343 41 Emil Hübner: Parlament und Regierung. Internet-Version. 18.8.2003. PDF. Kapitel II: Grundzüge der deutschen Institutionengeschichte Dass es dieser Koalition für den Rest der Republik nicht mehr gelang, eine Mandatsmehrheit zu erreichen, hierfür wird man die Schuld nicht nur bei den Parteien, sondern vor allem bei den Wählern selbst suchen müssen. Die insbesondere von Ferdinand A. Hermens und Helmut Unkelbach vertretene These, das in der Weimarer Verfassung verankerte Verhältniswahlsystem habe wesentlich zum Untergang der Weimarer Republik beigetragen,129 findet heute nur noch vereinzelt Unterstützung.130 Zwar gibt es gute Gründe, dem Mehrheitswahlsystem eine stabilisierende und mäßigende Wirkung zuzuschreiben, aber unter bestimmten Bedingungen kann ein Mehrheitswahlsystem auch - u. a. lassen sich die 70er und frühen 80er Jahre in Großbritannien für diese Behauptung anführen - polarisierend wirken. Karl Dietrich Bracher hält den Thesen von Hermens und Unkelbach, deren Fragwürdigkeit durch neuere wahlsoziologische Untersuchungen131 unterstrichen wird, mit Recht entgegen, dass ein solches Mehrheitswahlrecht am Beginn der Republik „die Bildung einer gemäßigten Mitte erst recht verhindert und vielleicht sogar einen Bürgerkrieg ausgelöst" hätte.132 Brachers Bedenken sind insbesondere deshalb von großer Bedeutung, weil letztlich nur am Beginn der Republik die Beibehaltung des absoluten Mehrheitswahlsystems aus dem Kaiserreich überhaupt denkbar war. Aber weder die Sozialdemokraten noch die anderen Parteien traten für eine solche Kontinuität ein. Friedrich Naumann war der einzige Abgeordnete der Nationalversammlung, der mahnend seine Stimme erhob. Danach sanken die Chancen eine Änderung des Wahlsystems gegen Null: Demokratie und Verhältniswahlsystem wurden als Einheit betrachtet, und veränderungswillige Mehrheiten waren nicht in Sicht. Hermens plädierte deshalb für die Einführung eines mehrheitsbildenden Wahlsystems durch eine präsidiale Notverordnung: Die Rettung der Weimarer Demokratie durch eine verfassungswidrige Verfassungsänderung - ein Vorschlag nicht ohne Aussagekraft für den Zustand der Republik.133 Ebenso wenig wird man die Schuld für den Untergang Weimars in den plebiszitären Elementen der Verfassung suchen dürfen, die insbesondere im Parlamentarischen Rat, wo sie Theodor Heuss als „Prämie für jeden Demago- Wahlsystem Volksentscheide 129 Insbesondere: Hermens, Ferdinand A.: Demokratie oder Anarchie? Untersuchung über die Verhältniswahl. – Köln u.a.: Westdeutscher Verlag 1968 (2., (gekürzte) Aufl.); Unkelbach, Helmut: Grundlagen der Wahlsystematik. – Göttingen: Vandenhoeck und Ruprecht 1956 130 Schulze, a.a.O. (Anm. 74), S. 423 131 Vor allem Falter, Jürgen: Hitlers Wähler. – München: Beck 1991; Falter selbst nimmt zum Wahlsystemproblem nur sehr vorsichtig Stellung (S. 126 ff.) 132 Bracher, Karl Dietrich: Probleme der Wahlentwicklung in der Weimarer Republik. – in: ders.: Deutschland zwischen Demokratie und Diktatur. – Bern u.a.: Scherz 1964, S. 58; zum Gesamtkomplex ausführlicher Jesse: Wahlrecht zwischen Kontinuität und Reform, S. 51 ff. oder Hübner: Wahlsysteme und ihre möglichen Wirkungen, S. 95 ff. 133 Zur Gleichsetzung von Demokratie und Verhältniswahl z.B. Thoma, Richard: Das Reich als Demokratie. – in: Abschütz / Thoma, a.a.O. (Anm. 111), Bd. 1, S. 195; zu dieser Frage auch: Ammermüller, Konrad: Das Proportionalwahlverfahren im modernen Parteienstaat. – Diss. jur. Köln 1966, S. 4 ff.; auf den Vorschlag von Hermens hin: Schäfer, Friedrich: Zur Frage des Wahlrechts in der Weimarer Republik. – in: Schieder, Theodor / Ferdinand A. Hermens (Hrsg.): Staat, Wirtschaft und Politik in der Weimarer Republik. Festschrift für Heinrich Brüning. – Berlin: Duncker und Humblot 1967, S. 139 f. 41 Emil Hübner: Parlament und Regierung. Internet-Version. 18.8.2003. PDF. Kapitel II: Grundzüge der deutschen Institutionengeschichte gen"134 bezeichnete, als mitverantwortlich für das Weimarer Ende eingestuft wurden. Die zwei Volksentscheide zur Fürstenenteignung 1926 und gegen den Young-Plan führten zwar zu ungewöhnlichen Koalitionen bzw. hemmungslosen Agitationen, sie können aber letztlich nicht als Faktoren eingestuft werden, die eigenständig zum Zusammenbruch der Weimarer Demokratie geführt haben. Wer in erster Linie die Verfassung für den Niedergang der Weimarer Republik verantwortlich machen will, wird vor allem dann Schwierigkeiten bekommen, wenn er Entwicklungen in anderen Ländern mit denselben Argumenten erklären will. Blickt man z. B. nach Frankreich, so entsprach die IV. Republik mit einem schwachen Präsidenten und einem parlamentarischen Regierungssystem, das die volle Verantwortung bei den Parteien beließ, den Vorstellungen derjenigen Kritiker des Weimarer Systems, die die starke Stellung des Weimarer Präsidenten in Zusammenhang mit dem Zusammenbruch des Systems bringen. Nur: Die IV Republik Frankreichs hatte annähernd dieselbe Lebensdauer wie die Weimarer Republik und brach 1958 zusammen. In der V. französischen Republik wurde das parlamentarische System der IV Republik durch ein semipräsidentielles Regierungssystem ersetzt, das - mit Ausnahme des Wahlsystems - in starkem Maße dem System der Weimarer Republik ähnelt. Allerdings kommt dem Präsidenten in der V. französischen Republik heute noch eine stärkere Stellung zu als demjenigen in der Weimarer Republik, weil er mehr von der Gegenzeichnungspflicht der Regierung befreite Kompetenzen besitzt und weil sich das verfassungsrechtlich problematische Amtsverständnis de Gaulles auch auf seine Nachfolger vererbt hat. Trotz dieser starken Stellung des Präsidenten und der eingeschränkten Kompetenzen der französischen Nationalversammlung war die V. Republik nicht allein auf ihren Gründer de Gaulle zugeschnitten, sondern erreichte inzwischen - unter vier Nachfolgern - ein deutlich höheres Lebensalter als die IV. Republik. Auch zeigt die eingeschränkte Machtposition des französischen Präsidenten zu Zeiten der so genannten „cohabitation", in der die Regierung durch eine Parteienmehrheit gestellt wird, die in Opposition zum Präsidenten steht, dass die Position eines Staatspräsidenten in einem semipräsidentiellen Regierungssystem nur bei der Berücksichtigung des Parteiensystems und der jeweiligen Mehrheitsverhältnisse umschrieben werden kann. Um nur noch ein weiteres Beispiel anzuführen: Österreich übernahm 1929 weitgehend die Regelungen der Weimarer Verfassung hinsichtlich der Beziehungen zwischen Präsident, Regierung und Parlament.135 In der Nachkriegszeit wurde in Österreich im Gegensatz zur Vergleich mit anderen Regierungssystemen 134 Der Parlamentarische Rat, Bd. 9, S. 111; zur Problematik insgesamt vor allem Schiffers, Reinhard: Elemente direkter Demokratie im Weimarer Regierungssystem. – Düsseldorf: Droste, 1971, S. 195 ff. (= Beiträge zur Geschichte des Parlamentarismus und der politischen Parteien 40); Jung, Otmar: Direkte Demokratie in der Weimarer Republik. Die Fälle „Aufwertung“, „Fürstenenteignung“, „Panzerkreuzerverbot“ und „Youngplan“. – Frankfurt / Main: Campus 1988 135 Z.B. Hassiba, Gernot D.: Die Zweite Bundes-Verfassungsnovelle von 1929. Ihr Werdegang und wesentliche verfassungspolitische Ereignisse seit 1918. – Wien u.a.: Böhlau 1976, S. 53 (= Forschungen zur europäischen und vergleichenden Rechtsgeschichte 1); Scheuner, Ulrich: Die Reform der österreichischen Bundesverfassung vom Juni 1929. – in: Zeitschrift für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht Jg. 2 (1930/31), S. 238. Nicht ganz zu Unrecht warnt deshalb der österreichische Politikwissenschaftler Anton Pelinka: „In der österreichischen Verfassung schlummert ein Hindenburg.“ (zit. nach Bernhard Küppers: Ein Hindenburg in Österreichs Verfassung. – in: SZ vom 18.10.1994, S. 4) 41 Emil Hübner: Parlament und Regierung. Internet-Version. 18.8.2003. PDF. Kapitel II: Grundzüge der deutschen Institutionengeschichte Bundesrepublik - auf die von Weimar übernommenen Verfassungskonstruktion zurückgegriffen, wobei aber die Anwendung des in Art. 18 BV normierten Notverordnungsrechtes dem Präsidenten erhebliche Schwierigkeiten bereiten dürfte. Auch das österreichische Beispiel macht mehr als deutlich, dass ein Präsident in einem semipräsidentiellen Regierungssystem in einem funktionierenden Parteiensystem nur selten in der Lage ist, eine herausragende Rolle zu spielen. Der Abgeordnete Erich Koch-Weser (DDP) warnte am Beginn seiner Rede am 28. Februar 1919 in der ersten Lesung der Reichsverfassung zu Recht vor einer übergroßen Erwartung an die Wirkung der zu schaffenden Verfassung: „Unsere kranke Zeit ist mit einer neuen Verfassung nicht zu heilen. Wir müssen uns von dem Wunderglauben freimachen, als wenn irgendeine Form unserer gesellschaftlichen und staatlichen Zustände die tiefen seelischen und wirtschaftlichen Wunden heilen könnte, unter denen Deutschland derzeit darniederliegt."136 Überschätzung der Verfassung Scheuners insbesondere auf das Präsidentenamt bezogenen Bemerkungen haben bis heute nichts von ihrer Richtigkeit verloren und lassen sich ohne weiteres verallgemeinern: „Ein abwägendes Urteil wird den Schlüssel der Entwicklung nicht bereits in der Anlage der Verfassungsordnung finden können ... Die schließliche Ausweitung der präsidentiellen Stellung bis zu einem Grade, in dem nach dem Sturz Brünings die parlamentarische Grundlage der Staatsführung fast ganz entschwand, beruht auf einer weitreichenden Verflechtung von Ursachen, auf der schweren sozialen Not der Wirtschaftskrise, der wachsenden inneren Unruhe des deutschen Volkes, ferner dem Fehlen klarer gedanklicher Vorstellungen vom Wesen und Funktionieren der Demokratie in weiten Volkskreisen, nicht zum wenigsten indes auch auf einer persönlich bedingten inneren Zurückhaltung und Fremdheit gegenüber der Demokratie in der Leitung des Staates selbst."137 Ernst Friesenhahn hat die Gegenposition zu einer Überschätzung der Verfassung als Ursache für den Zusammenbruch der Weimarer Republik noch pointierter, wenn auch teilweise etwas antiquiert formuliert: „Bei gleichem Wortlaut der Verfassungsbestimmungen kann die Verfassungswirklichkeit gänzlich verschieden aussehen. Insbesondere die vom Volkscharakter bestimmte Parteistruktur und die Reaktion des Volkes in politischen und ökonomischen Krisenzeiten spielen dabei eine entscheidende Rolle. Heil und Unheil liegen nicht in den verfassungsrechtlichen Institutionen, sondern darin, wie das Volk von ihnen Gebrauch zu machen versteht. Ich glaube daher nicht, dass das Scheitern der Weimarer Republik auf Mängel der Weimarer Reichsverfassung zurückzuführen ist, wie ich auch in den mit so großer Sorgfalt ausgeklügelten Neuerungen des Grundgesetzes für das Verhältnis von Parlament und Regierung keine Garantie für das Funktionieren des intendierten Regierungssystems finden kann. Es kommt auf die Menschen an, die die Verfassung handhaben."138 136 Heilfron (Hrsg.), a.a.O. (Anm. 108), Bd. 2, S. 963 Scheuner, a.a.O. (Anm. 124), S. 29 f. 138 Friesenhahn, Ernst: Parlament und Regierung im modernen Staat. – in: Stammen (Hrsg.): Strukturwandel der modernen Regierung, S. 113 f. (Kursiv im Original) 137 41 Emil Hübner: Parlament und Regierung. Internet-Version. 18.8.2003. PDF. Kapitel II: Grundzüge der deutschen Institutionengeschichte Ein Versuch, die Diskussion von der Verfassung als Ursache des Weimarer Zusammenbruches wegzuverlagern, war die These vom so genannten „Dritten Weg". Mit ihr sollte unter Rückgriff auf ältere Postulate u. a. von Artur Rosenberg der bis in die 60er Jahre weitgehend akzeptierten These von Karl Dietrich Erdmann, dass die führenden Politiker am Beginn der Weimarer Republik nur die Wahl hatten „zwischen einem konkreten Entweder-Oder: die soziale Revolution im Bund mit den auf eine proletarische Diktatur hindrängenden Kräften oder die parlamentarische Republik mit konservativen Elementen wie dem alten Offizierskorps"139 widersprochen werden. Der Handlungsspielraum der politischen Führung sei deutlich größer gewesen, und man hätte durch eine Demokratisierung der Verwaltung, der Justiz und des Militärs, durch die Vorbereitung der Sozialisierung bestimmter Schlüsselindustrien sowie durch eine Nutzung des Potentials der Arbeiter- und Soldatenräte für eine Reformpolitik wesentliche Strukturmängel der Weimarer Republik vermeiden können.140 Die Anhänger des „Dritten Weges" sprechen durchaus die entscheidenden Problembereiche am Beginn der Weimarer Republik an, sie legen ihre Daumen auf die richtigen Wunden. Nur: Ihre Therapievorschläge sind nicht sonderlich einsichtig und stellen teilweise schlichte Placebos dar. Zwar hätte man die Zusammenarbeit mit dem Militär weniger eng gestalten und deutlich stärkere Vorkehrungen gegen ein Wiedererstarken des Militarismus treffen müssen,141 doch für eine Demokratisierung von Verwaltung und Justiz fehlten die demokratischen Kräfte;142 eine Sozialisierung war zum damaligen Zeitpunkt aus außenpolitischen Gründen nicht ratsam und hätte im Wesentlichen eine Sozialisierung von Verlusten bedeutet; und hinsichtlich der Ausgestaltung ihres Vorschlages, wie die Arbeiter- und Soldatenräte in das politische System hätten integriert werden sollen, bleiben die Vertreter des „Dritten Weges" merkwürdig vage.143 In der heutigen Forschung über die Weimarer Republik hat diese Richtung konsequenterweise erheblich an Bedeutung verloren: „Dritter Weg“ „Die Revision der ,Erdmann-These' wirkte aufklärend, ja befreiend. Seit die Forschung begonnen hatte. Handlungsspielräume und Alternativen der Revolutionsperiode herauszuarbeiten, ließ sich die Politik Eberts und 139 Erdmann, zit. nach Kolb, a.a.O. (Anm. 127), S. 153 Für die Anhänger dieser These z.B. Rürup, Reinhard: Probleme der Revolution in Deutschland 1918/19. – Wiesbaden: Steiner 1968 (= Institut für Europäische Geschichte Mainz, Abt. Universalgeschichte, Vorträge 50) 141 Wette, Wolfram: Gustav Noske. Eine politische Biographie. – Düsseldorf: Droste 1987, insb. S. 333 ff. 142 Zusammenfassend zu den Reformbemühungen in der Verwaltung am Beginn und während der Weimarer Republik: Fenske, Hans: Bürokratie in Deutschland. Vom späten Kaiserreich bis zur Gegenwart. – Berlin: Colloquium 1985, S. 32 ff. (= Beiträge zur Zeitgeschichte 15), s.a. Sühl, Klaus: SPD und öffentlicher Dienst in der Weimarer Republik. Die öffentlich Bediensteten in der SPD und ihre Bedeutung für die sozialdemokratische Politik 1918-1933. – Opladen: Westdeutscher Verlag 1988 (= Schriften des Zentralinstituts für Sozialwissenschaftliche Forschung der FU Berlin 53) 143 Die schärfste Kritik an der These vom „Dritten Weg“ bei: Jesse, Eckhard/Henning Köhler: Die deutsche Revolution 1918/19 im Wandel der historischen Forschung. – in: APuZ B 45/1978, S. 323 140 41 Emil Hübner: Parlament und Regierung. Internet-Version. 18.8.2003. PDF. Kapitel II: Grundzüge der deutschen Institutionengeschichte Noskes nicht mehr als pauschal zwangsläufig rechtfertigen. Doch die Zerstörung des einen, in diesem Fall konservativen Mythos begünstigte unfreiwillig die Entstehung eines anderen, linken Gegenmythos, der sich im Zuge der Studentenbewegung von 1968 rasch ausbreitete: Er verklärte die Räte zu Trägern der wahren Demokratie und behauptete, eine wirkliche Revolution nach dem Weltkrieg hätte den Sieg des deutschen Faschismus' und damit den Zweiten Weltkrieg unmöglich gemacht. Die Vergröberung der revisionistischen Position trug dazu bei, dass sich in der Geschichtsschreibung mittlerweile so etwas wie eine Revision der Revision' vollzogen hat. Die Rolle der Arbeiter- und Soldatenräte wird heute nüchterner gesehen als Mitte und Ende der sechziger Jahre ... Es konnte 1918/19 nicht um irgendwelche Verbindungen zwischen dem parlamentarischen und dem Rätesystem gehen, sondern nur um gesellschaftliche Veränderungen, die die erstrebte parlamentarische Demokratie zu festigen versprachen."144 Eine „demokratische Republik ohne den Konsens einer überwältigenden Mehrheit von demokratisch gesonnenen Bürgern konnte auf die Dauer keinen Bestand haben."145 Die Frage nach dem Scheitern der ersten Republik146 wird hier anzusetzen haben. Der Weimarer Republik, der zudem in der Folge des Weltkrieges deutlich mehr Staatsaufgaben zugewachsen waren, gelang es aus mannigfachen Gründen nicht, das Vertrauen der Mehrheit ihrer Bürger zu erlangen: Am Anfang stand die Belastung des Versailler Vertrages incl. der Kriegsschuldklausel und der aus ihm hervorgehenden Reparationszahlungen „Schmachfrieden", „Schmachparagraphen" oder „Erfüllungspolitik" waren als Anklage gegen Versailles und seine Folgen nicht nur auf Seiten der nationalistischen Rechten zu vernehmen. Die Hyperinflation des Jahres 1923 führte dann zu einer Verarmung weiter Teile des Mittelstandes, sofern sie ihr Vermögen nicht in Sachwerten angelegt hatten, was wiederum einen nicht unbeträchtlichen Bevölkerungsteil der Republik entfremdete, Und auch die Folgen der Weltwirtschaftkrise, die u. a. zu einem Anwachsen der Arbeitslosenzahlen bis zu einem Höchststand von über 6,1 Millionen im Februar 1932 führte, wurden von breiten Teilen der Betroffenen und denjenigen, die ihre persönliche wirtschaftliche Zukunft in negativem Licht sahen, als Scheitern der Politik und der Republik interpretiert.147 Hinzu kommt, dass weite Teile des gebildeten Bürgertums sowie annähernd der gesamte Landadel, dessen ostelbische Teile am Ende der Weimarer Republik im Umkreis Hindenburgs eine besonders problematische Rolle spielten, von Anfang an nicht bereit waren, ihren Frieden mit der Republik zu schließen. Auch die Zusammenfassung 144 Winkler, Weimarer Republik, S. 600 f. Ernst Friesenhahn: Zur Legitimation und zum Scheitern der Weimarer Reichsverfassung – in: Erdmann/Schulze (Hrsg.), a.a.O. (Anm. 113), S. 108 146 Hierzu neuerdings zusammenfassend: Funke, Die Republik der Friedlosigkeit, S. 11 f. 147 Siehe z.B.: Borchhardt, Knut: Wachstum, Krisen, Handlungsspielräume der Wirtschaftspolitik. Studien zur Wirtschaftsgeschichte des 19. und 20. Jahrhunderts. – Göttingen: Vandenhoeck und Ruprecht 1982 (= Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft 50); Holferich, Carl-Ludwig: Alternativen zu Brünings Wirtschaftspolitik in der Weltwirtschaftskrise. – in: HZ Bd. 235 (1982) S. 605-631; Büttner, Ursula: Politische Alternativen zum Brünigschen Deflationskurs. Ein Beitrag zur Diskussion über „ökonomische Zwangslagen“ in der Endphase der Weimarer Republik. – in: VZG Jg. 37 (1989) S. 209-251; Kershaw, Ian (Hrsg.): Weimar. Why did German democracy fail? – London: Weidenfeld and Nicolson 1990 (= Debates in modern history) 145 41 Emil Hübner: Parlament und Regierung. Internet-Version. 18.8.2003. PDF. Kapitel II: Grundzüge der deutschen Institutionengeschichte Unternehmerverbände, die mit der Zeit immer mehr dazu neigten, „Parlamentarismus und Sozialpolitik gleichzusetzen, das politische System für überhöhte Löhne und Sozialleistungen verantwortlich zu machen-,148 standen zwar nur zu geringen Teilen auf der Seite Hitlers, wollten aber im Wesentlichen mit dieser Republik immer weniger zu tun haben. Die Weimarer Republik blieb für ihre Bürgerinnen und Bürger eine „Nachkriegszeit, die nicht vergehen wollte.“149 Zu alledem kam der Schatten des Kaiserreiches, das als die gute alte Zeit empfunden wurde, die von einer glücklosen Republik abgelöst wurde. In einer Umfrage des Instituts für Demoskopie Allensbach im Jahr 1951 nannten auf die Frage „Wann in diesem Jahrhundert ist es nach Ihrem Gefühl Deutschland am besten ergangen?" 2% der Befragten die Bundesrepublik, 7% die Weimarer Republik, 42% das Dritte Reich vor dem Krieg und 45% das Kaiserreich, 1980 erbrachte dieselbe Umfrage das folgende Ergebnis: 80% Bundesrepublik, 4% Kaiserreich, 3% Drittes Reich vor dem Krieg und 2% Weimarer Republik.150 Weimar blieb offensichtlich die „ungeliebte Republik"151 auch nach den Erfahrungen des Nationalsozialismus. Die Chance, sich zu bewähren, blieb der Weimarer Republik - im Gegensatz zur Bundesrepublik – versagt. Der Zusammenbruch der ersten deutschen Republik geht also nicht auf eine einzelne Ursache zurück, sondern auf ein Bündel unglücklich miteinander verknüpfter Faktoren. Manche Ursachen - die alten rechten Eliten z. B. überlebten den Nationalsozialismus nur sehr geschwächt, andere - wie ein dem Versailler Vertrages vergleichbarer Friedensvertrag z. B. - konnten vermieden werden. Vor allem aber: „Die nationalsozialistische Diktatur wirkte und wirkt nach als das denkbar stärkste Argument für Demokratie und Freiheit, das die deutsche Geschichte bereithält. In der kollektiven Erinnerung der Deutschen nimmt damit der katastrophale Misserfolg ihrer Revolution gegen die Demokratie eine ähnliche Rolle ein wie bei anderen Völkern die Erinnerung an eine erfolgreiche demokratische Revolution."152 6. Das Grundgesetz als Gegenpol zur Weimarer Reichsverfassung Die Versuche der Siegermächte des Zweiten Weltkrieges, sich in der direkten Nachkriegszeit über die deutsche Frage zu einigen, scheiterten relativ bald. Die Einheit der Siegermächte wich zunehmenden Spannungen zwischen den USA und Vorgeschichte 148 Mommsen, Hans: Das Scheitern der Weimarer Republik und der Aufstieg des Nationalsozialismus. In: Tel Aviver Jahrbuch für deutsche Geschichte Jg. 17 (1988), S. 6 149 Funke, a.a.O. (Anm. 146), S. 11 150 Noelle-Neumann, Elisabeth / Edgar Piel (Hrsg.): Allensbacher Jahrbuch der öffentlichen Meinung 1978-1983. – München u.a.: Saur 1983, S. 187 151 So der Titel einer von Wolfgang Michalka und Gottfried Niedhart herausgegebenen Dokumentensammlung zur Innen- und Außenpolitik der Weimarer Republik (München: dtv 1981 (2. Aufl.) (= dtv-dokumente 2918)) 152 Winkler, a.a.O. (Anm. 144) S. 613 41 Emil Hübner: Parlament und Regierung. Internet-Version. 18.8.2003. PDF. Kapitel II: Grundzüge der deutschen Institutionengeschichte der UdSSR und mündete 1947 .schließlich in den sog. „Kalten Krieg". Dies konnte für die wirtschaftliche und politische Situation Westeuropas und für die drei westlichen Besatzungszonen Deutschlands nicht ohne Folgen bleiben. Im März 1947 hatte der amerikanische Präsident Truman in einer Botschaft an den Kongress seine Überzeugung zum Ausdruck gebracht, dass es die Pflicht der Vereinigten Staaten sei, „die freien Völker zu unterstützen, die sich der Unterwerfung durch bewaffnete Minderheiten oder durch Druck von außen widersetzen".153 Im Juni desselben Jahres forderte Trumans Außenminister George Marshall ein umfassendes wirtschaftliches Hilfsprogramm für Europa, das ab dein Herbst 1947 auch den westdeutschen Besatzungszonen zugute kam. Auf der Londoner Sechsmächtekonferenz154 - neben den drei westlichen Siegermächten waren die Benelux-Staaten Teilnehmer dieser Konferenz versuchten die Amerikaner, ihre mit den Briten bereits erprobte Zusammenarbeit in der Besatzungspolitik zu einer auch von Frankreich und den anderen westlichen Nachbarn Deutschlands getragenen politischen Lösung des Deutschlandproblems weiterzuentwickeln. Dies gelang den Amerikanern u. a. durch wesentliche Zugeständnisse an die Franzosen. Die Ergebnisse der Londoner Sechsmächtekonferenz wurden den Ministerpräsidenten der westdeutschen Länder am 1. Juli 1948 in Form der sog. „Frankfurter Dokumente" übergeben. Im ersten, hier einzig interessierenden Dokument155 wurden die Ministerpräsidenten ermächtigt, eine Verfassungsgebende Versammlung einzuberufen. Diese Versammlung sollte eine demokratische Verfassung ausarbeiten, Frankfurter Dokumente „die für die beteiligten Länder eine Regierungsform des föderalistischen Typs schafft, die am besten geeignet ist, die gegenwärtig zerrissene deutsche Einheit schließlich wieder herzustellen, und die Rechte der beteiligten Länder schützt, eine angemessene Zentralinstanz schafft und die Garantien der individuellen Rechte und Freiheiten enthält." Die ausgearbeitete Verfassung müsse den Militärgouverneuren zur Genehmigung vorgelegt werden und sei dann durch Volksabstimmungen in den einzelnen Ländern zu ratifizieren. Sie trete in Kraft, wenn sie von zwei Dritteln der beteiligten Länder akzeptiert werde. 153 Zit. nach Kleßmann, Christoph: Die doppelte Staatsgründung. Deutsche Geschichte 1945-1955. – Bonn: Bundeszentrale für politische Bildung 1986 (4. Aufl.) S. 178 (= Schriftenreihe der Bundeszentrale für Politische Bildung 193) 154 Ausführlicher zu dieser Konferenz z.B. Wehner, Gerd: Die Westalliierten und das Grundgesetz 1948-1949. Die Londoner Sechsmächtekonferenz. – Freiburg: Rombach 1994 (= Rombach aktuell); oder Gruner, Wolf D.: Die Londoner Sechsmächtekonferenz von 1948 und die Entstehung der Bundesrepublik Deutschland. – in: Kuhn, Ortwin (Hrsg.): Großbritannien und Deutschland. Europäische Aspekte der politisch-kulturellen Beziehungen beider Länder in Geschichte und Gegenwart. Festschrift für John W. Bourke. – München: Goldmann 1974. S. 139165; Johannes Volker Wagner: Einleitung. – in: Der Parlamentarische Rat, Bd. 1, S. XIV ff. 155 Dieses Dokument findet sich z.B. in: Der Parlamentarische Rat (Anm. 154), S. 30 ff.; oder bei Weber, Jürgen (Hrsg.): Entscheidungsjahr 1948. – München: Bayerische Landeszentrale für politische Bildungsarbeit 1995 (4. durchges. Aufl.), S. 102 f. (= 30 Jahre Bundesrepublik Deutschland II) 41 Emil Hübner: Parlament und Regierung. Internet-Version. 18.8.2003. PDF. Kapitel II: Grundzüge der deutschen Institutionengeschichte Den Ministerpräsidenten wurde deutlich, dass ihnen hier nicht nur ein Angebot für eine verstärkte Selbständigkeit der westlichen Besatzungszonen vorgelegt worden war, sondern dass auch problematische und schwerwiegende Entscheidungen bezüglich der deutschen Wiedervereinigung auf sie zukamen. Eine Woche später konzipierten sie auf dem Rittersturz bei Koblenz ihre Antwort auf die „Frankfurter Dokumente". Sie akzeptierten zwar die Richtung der alliierten Vorschläge, scheuten aber vor deren letzter Konsequenz zurück: Vor der Gründung eines Weststaates und damit vor dem Vorwurf, man verzichte zugunsten der Weststaatsgründung auf die Wiedervereinigung.156 Reaktion der Ministerpräsidenten In folgenden Punkten kam es zu Gegenvorschlägen an die Alliierten: Man legte Wert auf den Provisoriumscharakter der zu schaffenden Verfassung und wollte deshalb keine Verfassunggebende Versammlung, sondern schlug die Bezeichnung „Parlamentarischer Rat" vor; auch sollte keine Vollverfassung ausgearbeitet werden, sondern ein (provisorisches) Grundgesetz, das auch nicht durch Volksabstimmungen, sondern nach der Zustimmung der Militärgouverneure durch die Ministerpräsidenten - nach Anhörung der Landtage - in Kraft gesetzt werden sollte. Bei einer zweiten Zusammenkunft der Ministerpräsidenten und der Militärgouverneure am 20. Juli 1948 konnte man sich auf diese Koblenzer Beschlüsse, die die Verhandlungskompetenzen der Militärgouverneure sprengten, nicht einigen. Insbesondere der amerikanische Militärgouverneur Lucius D. Clay war alles andere als erfreut über die Haltung der Ministerpräsidenten. Man vereinbarte aber ein weiteres Treffen am 26. Juli 1948. In der Zwischenzeit einigten sich die Ministerpräsidenten auf Schloss Niederwald bei Rüdesheim, dass man zwar von den sprachlichen Vorschlägen nicht abrücken und auch nicht den geforderten Verabschiedungsmodus für das Grundgesetz akzeptieren wolle. Aber man wollte „den Gaul über die Hürde ... bringen ".157 Wichtig war jedoch vor allem, dass die Grundlage der deutschen Argumentation geändert wurde. Man modifizierte die Provisoriumsidee zugunsten der „Magnettheorie": Der westdeutsche Kernstaat sollte - wirtschaftlich und politisch konsolidiert Magnetwirkung auf die sowjetische Besatzungszone ausüben und eine „Rückkehr des Ostens zum gemeinsamen Mutterland"158 ermöglichen. Bei dem erneuten Treffen mit den Militärgouverneuren wurde ein Kompromiss erreicht. Der Weg zur Einberufung des Parlamentarischen Rates war frei, die Amerikaner waren von dem Makel befreit, den Deutschen gegen ihren Willen einen Weststaat aufdrängen zu wollen - der Gaul war über der Hürde. Als die 65 stimmberechtigten Mitglieder des Parlamentarischen Rates - hinzu kamen 5 nicht stimmberechtigte Berliner Mitglieder - am 1. September 1948 zur 156 156 Zu diesen Auseinandersetzungen zwischen den Ministerpräsidenten und den Alliierten z.B. Der Parlamentarische Rat, a.a.O. (Anm. 154), insb. S. XXV ff., S. 30 ff.; Gimbel, John: Amerikanische Besatzungspolitik in Deutschland 1945-1949. – Frankfurt/Main: Fischer 1971, S. 271 ff.; Vogelsang, Thilo: Koblenz, Berlin und Rüdesheim. Die Option für den westdeutschen Staat im Juli 1948. – in: Festschrift für Hermann Heimpel zum 70. Geburtstag. – Göttingen: Vandenhoeck und Ruprecht, 1971 Bd. 1, S. 161-179 (= Veröffentlichungen des Max-PlanckInstituts für Geschichte 36, I) 157 Ernst Reuter in: Der Parlamentarische Rat, a.a.O. (Anm. 154), S. 194 158 Ernst Reuter, a.a.O., S. 192 41 Emil Hübner: Parlament und Regierung. Internet-Version. 18.8.2003. PDF. Kapitel II: Grundzüge der deutschen Institutionengeschichte konstituierenden Sitzung zusammenkamen, lag dem Parlamentarischen Rat eine größere Anzahl von Verfassungsvorschlägen vor. Die wichtigste Diskussionsgrundlage war auf Veranlassung der Ministerpräsidenten von Verfassungsexperten auf Schloss Herrenchiemsee ausgearbeitet worden.159 Die Abgeordneten konnten rasch an die Arbeit gehen, deren Organisation keine wesentlichen Probleme mit sich brachte. Die großen Parteien im Parlamentarischen Rat wichen zwar in ihren Demokratievorstellungen teilweise voneinander ab,160 und diese unterschiedlichen Vorstellungen von der künftigen Demokratie in Deutschland führten zu Konflikten teilweise bei den Grundrechten und vor allem - wie schon auf Schloss Herrenchiemsee161 in der Föderalismusfrage. Hinsichtlich des Regierungssystems im engeren Sinne konnten die Parteien ihre ursprünglich durchaus unterschiedlichen, nicht nur von der Ablehnung der Weimarer Reichsverfassung geprägten Vorstellungen162 ohne größere Probleme einander angleichen, und am Ende des Parlamentarischen Rates herrschte weitgehend Einigkeit in diesem Punkt. Hier trat die überwiegende Mehrheit des Parlamentarischen Rates für eine „Anti-Verfassung" zur Weimarer Reichsverfassung ein, und sie stimmte in die in der Nachkriegszeit wachsende Vorliebe ein, den Untergang der Weimarer Republik vorwiegend mit Mängeln im institutionellen Teil der Verfassung zu erklären. Vereinzelte Warnungen -wie diejenigen des späteren Bundespräsidenten Theodor Heuss - man solle nicht allein die Weimarer Verfassung für das Scheitern des Systems verantwortlich machen, sondern auch die mangelnde Akzeptierung des Systems bei seiner Bevölkerung in Rechnung stellen, blieben ohne größere Wirkung.163 Da in späteren Kapiteln164 ausführlicher auf die einzelnen Staatsorgane der Bundesrepublik einzugehen sein wird, kann im Folgenden die These von der „Anti-Verfassung" zu Weimar relativ kurz dargestellt werden. Ansatzpunkt für die Veränderungen im Regierungssystem war in erster Linie das Staatsoberhaupt. Dem künftigen Staatspräsidenten wurden wichtige Kompetenzen entzogen, die ihm in Weimar zustanden - wie z. B. die Bestellung des Reichskanzlers -, und er wurde im Wesentlichen auf repräsentative Aufgaben beschränkt. Von dieser Entmachtung des Bundespräsidenten profitierte vor allem der Bundeskanzler, der nicht mehr - wie in Weimar - zwischen Staatsoberhaupt und Parlament „eingeklemmt" war. Sein Amt wurde vielmehr zur zentralen Instanz des Regierungssystems ausgestaltet, da auch die Einflussnahme des Parlaments auf die Regierung abgeschwächt wurde. Der Bundestag kann den Bundeskanzler Weitgehender Konsens im Parlamentarischen Rat Grundlinien des Regierungssystems 159 Hierzu insbesondere: Der Parlamentarische Rat, Bd. 2, S. 53 ff. Siehe z.B. die interessante Unterscheidung zwischen „sozialer Mehrheitsdemokratie“ und „konstitutioneller Demokratie“ von Niclauß, Der Weg zum Grundgesetz, S. 27 ff. 161 Zusammenfassend Der Parlamentarische Rat, a.a.O. (Anm. 159), S. LXXV, ff. 162 Die unterschiedlichen Positionen z.B. für die zentrale Frage des Staatsoberhauptes bei Lange, Die Diskussion um die Stellung des Staatsoberhauptes; siehe auch Helms, Keeping Weimar at bay, S. 50 ff. 163 Der Parlamentarische Rat, Bd. 9, S. 103 f. 164 Siehe insb. Kap. III und V 160 41 Emil Hübner: Parlament und Regierung. Internet-Version. 18.8.2003. PDF. Kapitel II: Grundzüge der deutschen Institutionengeschichte nämlich nicht mehr durch ein einfaches Misstrauensvotum aus seinem Amt entfernen, er muss hierfür mit absoluter Mehrheit einen neuen Kanzler wählen. Auch kann der Bundestag nicht mehr dem Kanzler einzelne Minister aus seiner Regierung „herausschießen". Allerdings wurde der Bundestag gegenüber seinem Weimarer Vorgänger vor allem in der Gesetzgebung gestärkt, weil das Notverordnungsrecht des Präsidenten sowie die plebiszitäre Variante der Gesetzgebung über einen Volksentscheid entfielen. Mit dem Bundesrat stellte ihm aber das Grundgesetz - worauf sogleich noch ausführlicher einzugehen sein wird eine stärkere Ländervertretung als in der Weimarer Republik an die Seite. Die Einigkeit war so groß, „dass der Parlamentarische Rat eine Grundsatzdebatte über die Frage des Regierungssystems nicht geführt hat."165 Der Antrag der F.D.P.Abgeordneten Thomas Dehler und Max Becker auf Einführung einer Präsidialregierung spielte nur kurzfristig eine Rolle und blieb Minderheitenmeinung. Dieser weitgehende Konsens galt allerdings nicht für die Ausgestaltung des Föderalismus und damit zusammenhängend für die Konstruktion des Bundesrates. Um diesen Problemkreis fanden im Parlamentarischen Rat die härtesten Auseinandersetzungen statt. Auch sie standen partiell im Zusammenhang mit dem Zusammenbruch der Weimarer Republik: Die SPD erwartete eher von einer stärker zentralistischen Verfassungsordnung vermehrte Systemstabilität, die CDU/CSU setzte in diesem Zusammenhang auf starke föderale Elemente.166 Bei der SPD kam hinzu, dass sie in Anbetracht der Mehrheitsverhältnisse im Parlamentarischen Rat und wegen möglicher Einsprüche der Alliierten in manchen für sie wichtigen Fragen endgültige Festlegungen im Grundgesetz vermeiden wollte und nach Kompromissen suchte, die sie mittels einfacher Gesetze nach einem erhofften Sieg in der ersten Bundestagswahl in ihrem Sinne ausgestalten konnte. Für diese Strategie war ein mächtiger Bundestag Voraussetzung. Letztlich konnte die CDU/CSU in der Frage der Kompetenzverteilung zwischen Bund und Ländern in der Verwaltung, insbesondere in der Finanzverwaltung, ihre länderfreundlichere Haltung trotz massiver Eingriffe der Alliierten zu ihren Gunsten und trotz einer hieraus resultierenden ernsthaften Krise im Parlamentarischen Rat nur sehr bedingt gegen SPD und F.D.P. durchsetzen. Die unterschiedlichen Föderalismusvorstellungen der Parteien bewirkten auch, dass es um die Konstruktion des künftigen Bundesrates erhebliche Auseinandersetzungen gab, wobei allerdings Einigkeit herrschte, dass eine zweite Kammer eingerichtet werden solle. Die CDU/CSU trat zunächst für eine gleichberechtigte zweite Kammer ein, um einen „Parlamentsabsolutismus" und eine Herrschaft der Parteien zu verhindern. In der CDU/CSU war es umstritten, ob es sich hierbei um einen von den Länderregierungen mit weisungsgebundenen Mitgliedern beschickten Bundesrat handeln sollte oder in der Tradition des Staatenhauses der Paulskirchenverfassung um einen sog. „Halbsenat", dessen Mitglieder teilweise von den Länderregierungen ernannt, teilweise von den Landtagen gewählt werden sollten. Die SPD hingegen plädierte, um gegenseitige Blockademöglichkeiten der 165 166 Föderalismus im Bundesrat Otto, a.a.O. (Anm. 133), S. 125 Auch zum Folgenden Niclauß, a.a.O. (Anm. 160), insb. S. 212 ff., S. 272 ff. 41 Emil Hübner: Parlament und Regierung. Internet-Version. 18.8.2003. PDF. Kapitel II: Grundzüge der deutschen Institutionengeschichte beiden Kammern möglichst gering zu halten, für einen durch die Landtage gewählten Senat, der nur ein durch den Bundestag überstimmbares Vetorecht in der Gesetzgebung erhalten sollte. Da die F.D.P. der CDU/CSU in dieser Frage näher stand, war zunächst die Etablierung eines „Halbsenates" die wahrscheinlichste Regelung. Der Grundstock für die endgültige Lösung wurde in einem Gespräch des SPD-Verfassungsexperten Walter Menzel mit dem bayerischen Ministerpräsidenten Hans Ehard (CSU) gelegt, in dem die SPD ihren Widerstand gegen die Bundesratslösung und Ehard die Forderung nach einer gleichberechtigten zweiten Kammer aufgaben. Dieser Kompromiss wurde in den Verfassungsberatungen noch durch die Unterscheidung von Zustimmungsgesetzen, bei denen dem Bundesrat ein unüberstimmbares Vetorecht zusteht, und Einspruchsgesetzen, bei denen er nur ein vom Bundestag überstimmbares Einspruchsrecht hat, modifiziert.167 Auch die Nichtaufnahme des Wahlsystems in das Grundgesetz war eine Reaktion auf Weimar. Die Weimarer Reichsverfassung hatte das Verhältniswahlsystem festgeschrieben, dem vor allem von Abgeordneten der CDU/CSU eine erhebliche Schuld für den Zusammenbruch der Weimarer Republik zugemessen wurde. Die CDU/CSU konnte sich mit ihren aus heutiger Sicht kaum haltbaren Argumenten und mit ihrer Forderung nach der Einführung eines Mehrheitswahlsystems nicht durchsetzen, erreichte aber, dass das Wahlsystem im Grundgesetz nicht festgeschrieben und ein nur für die erste Bundestagswahl gültiges Wahlgesetz verabschiedet wurde. Neben der Umwandlung des semipräsidentiellen Regierungssystems der Weimarer Reichsverfassung in ein parlamentarisches Regierungssystem haben die Mitglieder des Parlamentarischen Rates vor allem durch die Bewertung des Rechts und der Verfassung selbst grundlegende Änderungen im Vergleich zur Weimarer Republik vollzogen: Das positivistische Verfassungsverständnis, das eine unbeschränkte Änderung der Weimarer Reichsverfassung zuließ, solange nur die formalen Voraussetzungen erfüllt waren, wurde zugunsten einer wertgebundenen Verfassungsordnung aufgegeben, die ihren deutlichsten Niederschlag in Art. 79 Abs. 3 GG fand. Hier werden verschiedene Kernpunkte des Grundgesetzes für unabänderbar erklärt und somit auch der Änderung durch eine Zweidrittel-Mehrheit von Bundestag und Bundesrat entzogen. In enger Verbindung zu diesem neuen materialen Verfassungsverständnis stand die Entscheidung zugunsten einer „wehrhaften Demokratie", die ihren Ausdruck in der Möglichkeit fand, verfassungsfeindliche Parteien oder Vereinigungen zu verbieten (Art. 21 Abs. 2 und Art. 9 Abs. 2 GG) bzw. Personen, die die Grundrechte zum Kampf gegen die freiheitlich-demokratische Grundordnung einsetzen, den Grundrechtsschutz zu entziehen (Art. 18 GG). Oder wie Carlo Schmid es im Parlamentarischen Rat ausdrückte: Wahlsystem Verfassungsverständnis „Ich möchte sagen: Demokratie ist nur dort mehr als ein Produkt einer bloßen Zweckmäßigkeitsentscheidung, wo man den Mut hat, an sie als 167 Siehe ausführlicher Bericht hierzu Kap. V. Abschn. 1c) 41 Emil Hübner: Parlament und Regierung. Internet-Version. 18.8.2003. PDF. Kapitel II: Grundzüge der deutschen Institutionengeschichte etwas für die Würde des Menschen Notwendiges zu glauben. Wenn man aber diesen Mut hat, dann muss man auch den Mut zur Intoleranz denen gegenüber aufbringen, die die Demokratie gebrauchen wollen, um sie umzubringen .“168 Weiterhin schuf der Parlamentarische Rat das Bundesverfassungsgericht, das im Vergleich mit seinem Vorgänger - dem Staatsgerichtshof der Weimarer Republik - mit weitgehenden Kompetenzen ausgestattet und zu einem effektiven Schützer der Verfassung sowie zu einem gewaltenteilenden Gegenpol von Bundestag und Bundesregierung ausgebaut wurde. Und man entschied sich für einen Grundrechtskatalog, in den nur echte Individualrechte aufgenommen wurden, die - im Gegensatz zur Weimarer Reichsverfassung - geltendes Recht darstellen und gegen eine Aushöhlung möglichst effektiv geschützt wurden. Dieser Grundkonsens hinsichtlich der Grundrechte wurde in einem Punkt von CDU/CSU und Zentrum aufgekündigt: Es gelang diesen beiden Parteien zumindest teilweise, mit ihren Anträgen zu Problemen der Familie, des Elternrechts und der Kirche den Grundrechtskatalog über den ursprünglich vorgesehenen Umfang hinaus zu erweitern. Mit dem am 8. Mai verabschiedeten und am 12. Mai 1949 von den Militärgouverneuren gebilligten Grundgesetz war es dem Parlamentarischen Rat gelungen, eine gute und tragfähige Verfassung auszuarbeiten. Konsens in den verfassungspolitischen Grundsatzentscheidungen und eine immer wieder dokumentierte Kompromissbereitschaft bei allen Parteien mit Ausnahme der KPD waren die Voraussetzung für dieses Gelingen. Die Frage, ob dieses Lob eher den Alliierten oder eher den Mitgliedern des Parlamentarischen Rates zu gelten habe, erweist sich bei genauerem Hinsehen als müßig. Die Vorstellungen waren annähernd deckungsgleich in den Grundlinien: Die Deutschen hätten ohne alliierte Eingriffe keine wesentlich andere Verfassung geschaffen, Streitigkeiten über eine mehr unitarische oder föderalistische Verfassung herrschten auch unter den Alliierten, und die Alliierten hätten abweichende Vorstellungen jederzeit durchsetzen können. Zu einer Überschätzung der Auswirkungen der 1948/49 geschaffenen neuen Verfassung besteht allerdings kein Anlass: Das Grundgesetz hat sicherlich seinen Anteil an der relativ stabilen demokratischen Ordnung, die die Bundesrepublik im Gegensatz zur Weimarer Republik kennzeichnet, ihre Ursache und ihr Garant ist es allerdings nicht. Oder vorsichtiger ausgedrückt: Es „ist sehr schwer abzuschätzen, welchen Weg das Grundgesetz unter Weimarer Bedingungen und umgekehrt, welchen Weg die Weimarer Verfassung unter den Bedingungen der Bundesrepublik genommen hätte. Schon die Frage danach kann aber einen Umstand in Erinnerung rufen, der in der Bundesrepublik mit ihrer relativ ungebrochenen und günstigen Entwicklung in Vergessenheit zu geraten droht, dass nämlich die demokratische Verfassung von sozialen, politischen, kulturellen Voraussetzungen lebt, die sie selbst weder hervorbringen noch erhalten kann. Verfassungsstaat und Verfassungsgerichtsbarkeit sind höchst gefährdete Errungenschaften. Das Bewusstsein dafür zu schärfen, scheint mir die wichtigste Lehre zu sein, die man aus der Weimarer Verfassung für die Gegenwart ziehen kann."169 168 169 Der Parlamentarische Rat, a.a.O. (Anm. 163) S. 36 Grimm, Die Bedeutung der Weimarer Verfassung ..., S. 31 41