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Emil Hübner: Parlament und Regierung. Internet-Version. 18.8.2003. PDF.
Kapitel II: Grundzüge der deutschen Institutionengeschichte
Kapitel II: Grundzüge der deutschen Institutionengeschichte
1. Die Frankfurter Nationalversammlung und das Regierungssystem der
Frankfurter Reichsverfassung
Die Revolution von 1848, die zum ersten Versuch der Ausarbeitung und
Durchsetzung einer gesamtdeutschen Verfassung führte, war kein deutsches
Sonderereignis. Am Beginn dieses Jahres erfasste eine „Revolutionswelle“
Europa
„zwischen dem Ärmelkanal und den Grenzen Russlands . . . Der
Mittelstand sehnte entweder die Erlangung oder die Erweiterung der
bürgerlichen und politischen Rechte herbei, und in Deutschland und
Italien war dieser Wunsch mit einer wachsenden Sehnsucht nach
nationaler Einheit und Unabhängigkeit verbunden. Die Avantgarde der
Mittelstandsreformbewegung waren Kaufleute und Industrielle,
Professoren und Journalisten, Juristen, Intellektuelle und Studenten.
Gleichzeitig litt das Gros des gemeinen Volkes in allen Ländern unter
wirtschaftlicher Not ... Überdies waren die Bedingungen in den
verschiedenen Ländern einander so ähnlich, dass eine revolutionäre
Explosion in einem Zentrum Explosionen an anderen Stellen auslösen
musste. Genau das geschah im März"1
Märzrevolution
1848
Obwohl auch andere Ereignisse - wie z. B. die Aufstände in Polen, der Schweizer
Sonderbundkrieg und die Diskussion um die Neuordnung der Schweiz oder die
Auseinandersetzungen um die Zukunft Schleswig-Holsteins - die Stimmung in
Deutschland beeinflussten, der eigentliche Funke des Revolutionsjahres 1848
wurde in Paris entfacht: Er führte dort zum Sturz des Königs Louis Philippe und
zur Ausrufung der Republik, bevor er unter anderem nach Deutschland
übersprang. Katastrophale Missernten zwischen 1845 und 1847 und damit
verbundene Hungersnöte, eine wirtschaftliche Strukturkrise, begleitet von einer
Finanzkrise und steigender Arbeitslosigkeit, und stecken gebliebene Reformen
hatten „die Unzufriedenheit in der Bevölkerung aufs Äußerste gesteigert."2 Von
Süddeutschland aus verbreiteten sich im Wesentlichen friedliche
Massendemonstrationen, die sich für die so genannten „Märzforderungen" stark
machten: „Pressefreiheit, Schwurgerichte, Volksbewaffnung, deutsches
Parlament. Bauern, Handwerker und Arbeiter artikulierten bald ihre
weitergehenden Forderungen.-3 Die deutschen Fürsten wagten nicht, die
aufgebrachten Massen mit Hilfe des Militärs längere Zeit in Schranken zu halten,
und gaben den Forderungen ziemlich schnell nach. In Baden übernahmen die
Liberalen die Regierung, in München dankte Ludwig I. ab zugunsten seines
Sohnes Maximilian IL; auch die Kleinstaaten mussten den Reformforderungen
1
Craig, Gordon A.: Geschichte Europas im 19. und 20. Jahrhundert. Bd. 1: Vom Wiener Kongress
bis zum Ausbruch des Ersten Weltkrieges 1815-1914. – München: Beck 1978, S. 104 (= Becksche
Sonderausgaben); hierzu auch W. Mommsen, 1848, insbes. S. 300 ff.
2
H. Boldt, Deutsche Verfassungsgeschichte, Bd. 2, S. 92
3
Botzenhart, Deutsche Verfassungsgeschichte, S. 41
41
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Rechnung tragen. Nur in Österreich und in Preußen führten die revolutionären
Unruhen auch zu Gewalttätigkeiten größeren Ausmaßes. Am 13. März kam es in
Wien zu Straßenkämpfen, der österreichische Kaiser Ferdinand 1. reagierte
prompt und entließ noch am Abend desselben Tages Clemens Fürst von
Metternich, der nach einer Amtszeit von 39 Jahren als österreichischer
Staatskanzler fliehen musste. Der Sturz Metternichs veranlasste auch den vorher
unnachgiebigen preußischen König Friedrich Wilhelm IV zu Zugeständnissen: Er
versprach, den Landtag einzuberufen und die Pressezensur aufzuheben.
Außerdem bereitete er einen Regierungswechsel vor und sprach sich für eine
Reform des Deutschen Bundes aus.4 Am 18. März 1848 wurde dann eine
Demonstration zugunsten der versprochenen Reformen zum Prüfstein für den
Reformwillen des Königs. Dieser war auch bereit, den Forderungen der Mengen
nach Abzug des Militärs nachzugeben, wobei sich ungezielte Schüsse lösten,
„der Ruf `Verrat' und Zu den Waffen' ist die Antwort - die Kämpfe
beginnen von neuem. Das war freilich mehr als ein unglücklicher Zufall,
Missverständnis oder Kopflosigkeit. Das war der Grundkonflikt der
Berliner Revolution, der Konflikt zwischen Zivil und Militär. Die Frage
Abzug oder Verbleib der Truppen war die Frage nach Substanz und Seele
der preußischen Monarchie, nach der unantastbaren Autorität des Königs,
gegründet auf das Königliche Heer. Der Ruf Militär weg' bedeutete: der
König sollte dem Militärstaat abschwören, sollte Bürgerkönig werden das revolutionierte die Grundlage des preußischen Staates."5
Zunächst schien es, als sollte Preußen diesen Weg gehen. Thomas Nipperdey hebt
- neben dem schnellen Zusammenbruch der Restauration und der in den
Metropolen der Einzelstaaten dezentralisierten Revolution - als Fazit der
Märzereignisse hervor:
Fazit der Märzereignisse
„Das Ergebnis der Märzrevolution ist nicht der Totalumsturz der
Machtverhältnisse, der Monarchie, der Verfassung, wo es sie gab. Aber es
ist eine fundamentale Reform, ein Systemwechsel. Es wird zur
pragmatischen Selbstverständlichkeit, dass die vom Monarchen berufene
Regierung in Übereinstimmung mit dem Parlament regiert. Und die
Regierungen nehmen die Erweiterung der politischen Freiheit, des
Wahlrechts, der Rechte der Kammern, der Selbstverwaltung, der Reform
der Justiz und die Agrarreform mit Energie in die Hand. Die Märzminister
hatten die Revolution nicht gewollt, und sie liebten sie nicht. Aber allein
die Gewalt hatte sie in die Führung getragen, allein die Revolution war
die Basis der nun erstrebten Evolution. Sie waren Geschöpfe der
Revolution, aber sie wollten nicht länger Revolutionäre sein, in ihrer
Legitimität von der Revolution abhängig. Sie wollten die Revolution
kanalisieren und konsolidieren. Das war ihr Realismus, ihre Ambivalenz,
ihre Tragik. Sie stellten sich auf den Boden der Kontinuität und der
Gesetzlichkeit- nicht auf den Boden der alles neu machenden Revolution;
sie wollten Chaos und Radikalisierung verhindern; sie wollten Ordnung
und Reform zugleich, wollten die Revolution gerade dadurch in dauernde
4
Ausführlicher z.B. Holborn, Hajo: Deutsche Geschichte in der Neuzeit. Bd. II: Reform und
Restauration, Liberalismus und Nationalismus (1790-1871). – Frankfurt/Main: Fischer
Taschenbuch Verlag 1981, S. 276 ff. (= Fischer Taschenbuch 6415)
5
Nipperdey, Deutsche Geschichte 1800-1866, S. 598 f.
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Errungenschaften überführen, dass sie sie nicht weitertrieben. Die
Revolution soll zu Ende sein, es gilt, ihre Früchte einzubringen, die
Revolution hat gesiegt, es lebe die Reform - das war die liberale
Strategie."6
Der Weg, auf dem die auch gegenüber den frühkonstitutionellen süddeutschen
Systemen beträchtlich erweiterten demokratischen Errungenschaften gesichert
werden sollten, führte nach Frankfurt.
Dieser Weg zur Frankfurter Paulskirche begann mit einer Versammlung von 51
demokratischen und liberalen Politikern vornehmlich aus dem süddeutschen
Raum am 5. März 1848 in Heidelberg. Die Versammelten erklärten die
Einberufung „einer in allen deutschen Landen nach der Volkswahl gewählten
Nationalvertretung" für „unaufschiebbar, sowohl zur Beseitigung der nächsten
inneren und äußeren Gefahren, wie zur Entwickelung der Kraft und Blüthe
deutschen Nationallebens."7 Die Regierungen der deutschen Einzelstaaten wurden
von dieser Versammlung aufgefordert, bei der Einberufung der
Nationalversammlung mitzuwirken. Gleichzeitig wurde einem SiebenerAusschuss, dem unter anderem Heinrich von Gagern und Karl Theodor Welcker
angehörten, die Aufgabe übertragen, „hinsichtlich der Wahl und der
Einrichtungen einer angemessenen Nationalvertretung Vorschläge vorzubereiten,
und die Einladung zu einer Versammlung deutscher Männer schleunigst zu
besorgen."8 Dieser Siebener-Ausschuss lud am 12. März 1848 das sog.
„Vorparlament" für den 30. März nach Frankfurt ein. Hier kam es u. a. zu
heftigen Auseinandersetzungen zwischen Liberalen und linken Demokraten, die
auch die „Aufhebung der erblichen Monarchie (Einherrschaft) und Ersetzung
derselben durch frei gewählte Parlamente" sowie eine föderative
„Bundesverfassung nach dem Muster der nordamerikanischen Freistaaten"9
forderten. Das Vorparlament nahm jedoch keine Grundsatzentscheidungen
vorweg, es einigte sich über den Wahlmodus für die Nationalversammlung und
setzte vor seiner Auflösung einen Fünfziger-Ausschuss ein, der den Bundestag die Versammlung der Bevollmächtigten der Mitglieder des Deutschen Bundes beraten und bei Gefahr das Vorparlament wieder einberufen sollte.
Vorgeschichte
der Nationalversammlung
Der Bundestag, der bereits am 3. März 1848 den Einzelstaaten die Aufhebung der
Pressezensur
freigestellt
hatte,
stellte
sich
seinerseits
den
Demokratisierungsbestrebungen von unten nicht in den Weg, auch er vertrat am
B. März die Überzeugung, dass eine „Revision der Bundesverfassung auf
wahrhaft zeitgemäßer und nationaler Grundlage notwendig sei",10 setzte kurz
danach einen Siebzehner-Ausschuss ein, der mit der Vorbereitung einer neuen
Verfassung beauftragt wurde, und verabschiedete am 7. April 1848, nach
Berücksichtigung einiger Korrekturwünsche des Vorparlaments, einen Beschluss
6
Nipperdey, a.a.O., S. 605
Huber, Dokumente, Bd. 1, S. 327
8
Huber a.a.O., S. 327
9
Huber a.a.O., S. 334
10
Zit. Nach Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte, Bd. 2, S.595
7
41
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über die Wahlen zur Verfassunggebenden Nationalversammlung, der allerdings
von den Einzelstaaten bei weitem nicht vollständig in die Tat umgesetzt wurde.11
Bereits am 18. Mai konnte die Nationalversammlung in der Frankfurter
Paulskirche zusammentreten.
Zusammensetzung
„Nominell umfasste sie 649 Abgeordnete. Da jedoch nicht überall gewählt
worden war, belief sich ihre Zahl tatsächlich auf 585 Mitgliederüberwiegend Akademiker, darunter - anders als die Rede vom
`Professorenparlament' vermuten lässt - nur 49 Hochschullehrer. Neben
den Lehrern, Juristen, Ärzten und Beamten waren relativ wenige
Kaufleute, Landwirte und nur vier Handwerker vertreten. Das Parlament
repräsentierte noch ein letztes Mal das bis dahin in der politischen
Diskussion tonangebende deutsche Bildungsbürgertum."12
Das Paulskirchenparlament war - wiederum im Gegensatz zu gängigen
Behauptungen - kein Parlament unabhängiger Abgeordneter, die ihr
Abstimmungsverhalten nur von ihrem Gewissen abhängig machten. Ein
beträchtlicher Teil der Abgeordneten gruppierte sich schnell zu - allerdings noch
relativ labilen und im Laufe der Zeit sich häufig ändernden - Fraktionen, die nach
ihren jeweiligen Tagungsorten benannt wurden und die man - zumindest anfangs in folgendes Grobraster einpassen kann:13
Fraktionen
- Das rechte Café Milani war für eine Absprache der zu verabschiedenden
Verfassung mit den Einzelstaaten, für die man auch darüber hinaus weitgehende
Kompetenzen forderte. Außerdem traten diese Abgeordneten für ein künftiges
Deutschland unter Einschluss Österreichs ein.
- Casino, Landsberg und später der Augsburger Hof bildeten das rechte Zentrum,
das überwiegend kleindeutsch orientiert war und für ein preußisches Erbkaisertum
inklusive einer konstitutionellen Monarchie mit Wahlrechtsbeschränkungen
eintrat. Hier stellte man sich zwar nicht gegen Verhandlungen mit den
Regierungen der Einzelstaaten hinsichtlich der Inkraftsetzung der Verfassung,
reklamierte aber das letzte Wort für die Nationalversammlung.
- Das linke Zentrum (Württemberger Hof, Westendhall) war überwiegend
großdeutsch gesinnt und trat für die Errichtung einer parlamentarischen
Demokratie ein.
- Die gemäßigte Linke (Deutscher Hof) verlangte ein allgemeines Wahlrecht, ein
auf der Volkssouveränität basierendes Einkammersystem und eine
republikanische
Reichsspitze.
11
Zum Ablauf der Wahlen z.B. Eyck, Deutschlands große Hoffnung, S. 77 ff.; oder Theodore S.
Hamerow: Die Wahlen zum Frankfurter Parlament. – in: Böckenförde (Hrsg.): Moderne deutsche
Verfassungsgeschichte, S. 215 ff
12
H. Boldt, a.a.O. (Anm. 2), S. 145. Ausführlichere Angaben zur sozialen Zusammensetzung der
Frankfurter Nationalversammlung z.B. bei Nipperdey, a.a.O. (Anm. 5), S. 610 oder Huber,
Deutsche Verfassungsgeschichte, Bd. 2, S. 610 f.
13
Zum Folgenden H. Boldt, a.a.O. (Anm. 2), S. 146; Botzenhart, a.a.O. (Anm. 3), S. 43 f.;
ausführlicher: Botzenhart, Deutscher Parlamentarismus, S. 415 ff., Kramer, Fraktionsbildungen, S.
74 ff.; W. Boldt, Anfänge des deutschen Parteiwesens, S. 18 ff., S. 53 ff.; Eyck, a.a.O. (Anm. 11),
S. 163 ff.; Best, die Männer von Bildung und Besitz, S. 322 ff.
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- Die radikale Linke (Donnersberg) war im Gegensatz zur gemäßigten Linken zu
keinen Kompromissen hinsichtlich der Durchsetzung der Volkssouveränität
bereit. Sie forderte die Etablierung einer Republik und eines über der Regierung
stehenden Parlaments, wobei man hier die Durchsetzung der eigenen Forderungen
durch Gewaltanwendung nicht ausschloss.
Nachdem die Nationalversammlung eine provisorische Zentralregierung
eingerichtet und mit der Einsetzung des österreichischen Erzherzogs Johann als
Reichsverweser die Frage der künftigen Staatsform offen gelassen hatte,
beschäftigte sie sich anfangs insbesondere mit den künftigen Grundrechten und
kam damit dem zentralen Aspekt der „Märzforderungen' nach. Nach teilweise
kontroversen Diskussionen wurde der überaus fortschrittliche und gut gesicherte
(§ 130) Grundrechtskatalog noch vor Verabschiedung der Verfassung im
Dezember 1848 von der Nationalversammlung gebilligt und als Gesetz verkündet.
Der Hauptstreitpunkt hinsichtlich der hier vor allem interessierenden
Beziehungen zwischen Monarchen und den beiden Häusern des Parlamentes war
die Frage des absoluten bzw. aufschiebenden Vetos des künftigen
Staatsoberhauptes im Gesetzgebungsprozess bzw. bei Verfassungsänderungen.
Doch muss zunächst noch darauf verwiesen werden, dass ein zentraler Aspekt der
Beziehungen zwischen Parlament und Regierung in Debatten der
Nationalversammlung de facto ausgeklammert blieb. Die Einführung eines echten
parlamentarischen Regierungssystems war offensichtlich so aussichtslos, dass
noch nicht einmal dessen Anhänger es ernsthaft ins Spiel brachten. Auch
hinsichtlich der Frage der Ministerverantwortlichkeit war man äußerst
zurückhaltend. Die Vorlage des Siebzehner-Ausschusses hatte in § 10
festgehalten, dass die Verfügungen des Kaisers von mindestens einem
Reichsminister „zum Zeichen der Verantwortlichkeit desselben für die Zweckund Gesetzmäßigkeit" gegengezeichnet werden müssen.14 Die entsprechenden
Passagen in der schließlich verabschiedeten Reichsverfassung sind hingegen
deutlich vager: Der Kaiser übt die ihm übertragene Gewalt durch verantwortliche,
von ihm ernannte Minister aus, die durch Gegenzeichnung die Verantwortung
übernehmen.15 Von Verantwortung für die Zweck- und Gesetzmäßigkeit ist nicht
mehr die Rede. Zumindest vom Wortlaut der Verfassung blieb die
Ministeranklage ein strafrechtliches Verfahren nach dem Vorbild des
Impeachment. Ernst Rudolf Huber erklärt denn auch:
Grundrechte
Parlament und
Regierung
„Es ist schwer begreiflich, dass die Reichsverfassung die dem
frühkonstitutionellen deutschen Landesrecht geläufige Formel, nach der
die Ministeranklage die Ahndung einer Verfassungs- oder
Gesetzesverletzung durch einen Minister zum Gegenstand hat, nicht
übernahm, sondern sich der unbestimmten Wendung von der Wahrung der
Ministerverantwortlichkeit bediente."16
Ebenso unverständlich ist es, warum die Verantwortung für die Zweckmäßigkeit
einer Entscheidung auf der Strecke blieb, die die Minister deutlich stärker an
14
Huber, Dokumente Bd. 1, S. 356
Ausführlicher siehe unten
16
Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte, Bd. 2, S. 836
15
41
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das Parlament gebunden hätte, weil hier eine politische und nicht eine
strafrechtliche Kategorie angesprochen ist. Erstaunlich ist vor allem das Faktum,
„dass . . . die Linke weder im Verfassungsausschuss noch im Plenum einen
Vorstoß unternahm, um dem Reichstag ein Mitspracherecht bei der
Besetzung der Ministerien zu sichern oder ihm ein Mittel an die Hand zu
geben, mit dem die Abberufung missliebiger Minister erzwungen werden
konnte."17
Die Vermutung Botzenharts, dass man das Problem nicht übersehen habe,
sondern in dem geplanten, aber nicht zustande gekommenen Reichsgesetz über
die Ministerverantwortlichkeit regeln wollte, hat zwar einiges für sich. Aber sie
bescheinigt der Paulskirchenversammlung doch letztlich eine gewisse
Kurzsichtigkeit, da ein solches Verfahren sicherlich zu erheblichen
verfassungsrechtlichen Auseinandersetzungen geführt hätte. Für die Linke, die in
ihren Programmen jeweils eine Abberufbarkeit der Minister vorgesehen hatte,18
wird man auch festhalten können, dass es eine Frage der parlamentarischen Taktik
gewesen ist, sich entweder auf die Frage des Vetos oder auf die
Parlamentarisierung der Reichsregierung zu konzentrieren, zumal man sich über
die Gewichtung dieser beiden Punkte nicht einig war.19 Jedenfalls erklärte Johann
Rödiger vom Deutschen Hof, dass
„er sich mit vielen von der Mehrheit gegen den Widerspruch der
Demokraten beschlossenen Verfassungsbestimmungen abfinden könnte,
wenn nur das absolute Veto verworfen werden würde; gerade das Recht
der Krone, sich jedem Fortschritt, jeder freiheitlichen Regung und selbst
einem organisch ausgesprochen vernünftigen Wunsche im Volke' zu
widersetzen, habe doch die Revolution ausgelöst, die zu schließen man
berufen sei."20
Vetorecht
In diesem Hauptstreitpunkt des Vetos waren nur die Rechten und die Linken
einigermaßen geschlossen: Die Linken waren für ein nur aufschiebendes Veto, die
Rechten und das Casino bestanden auf dem absoluten Veto des Monarchen. Die
Mitte war gespalten, wobei einigt Liberale in der Debatte bereits von einem
etablierten parlamentarischen Regierungssystem ausgingen. Im Dezember 1848
vertrat z. B. Dahlmann im Plenum die Ansicht, dass die Regierungen künftig aus
„den Majoritäten der Kammern" hervorgehen werden, und Welcker gestand dem
Reichstag das Recht zu, „durch Misstrauensvoten, durch Steuerverweigerung die
Minister vom Platz zu jagen“.21 Beide forderten deshalb das absolute Veto mit
Argumenten der Gewaltenteilung. Sie unterschieden sich damit deutlich von den
Rechten, die das absolute Vetorecht für den Monarchen vor allem mit dem Ziel
des Fortbestehens des Monarchischen Prinzips forderten.
17
Botzenhart, a.a.O. (Anm. 13), S. 655
Botzenhart, a.a.O., S. 425 ff.
19
Botzenhart, a.a.O., S. 649
20
Nach Botzenhart, a.a.O., S. 649
21
Botzenhart, a.a.O., S. 647 f.
18
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Gegen Ende der Verfassungsberatungen wurde die Frage nach der Form des
legislativen Vetos des Monarchen aufs engste verflochten mit dem Problem des
künftigen Staatsgebietes. In Anbetracht der Mehrheitsverhältnisse in der
Nationalversammlung und der Haltung Österreichs wurden diese beiden
Problembereiche im Frühjahr 1849 im so genannten Simon-Gagern-Pakt zu einem
Junktim verwoben. Zunächst - im Oktober 1848 - votierte die Frankfurter
Nationalversammlung für die Einbeziehung der deutschen Teile des Habsburger
Reiches in das künftige deutsche Staatsgebiet, wobei die restlichen Teile
Österreich-Ungarns in einer Personalunion mit Österreich verbunden bleiben
sollten. Nachdem jedoch die österreichische Regierung diesem Modell
widersprach und die Eingliederung der gesamten österreichisch-ungarischen
Monarchie forderte, nachdem auch die kurzfristig diskutierte Konstruktion eines
weiteren und engeren Bundes gescheitert war, gewann die kleindeutsche Lösung
an Wahrscheinlichkeit.
Simon-GagernPakt
„Wenn somit der großdeutsche Bundesstaat unter Spaltung der
habsburgischen Monarchie für Österreich, der großdeutschösterreichische Staatenbund unter Eintritt der habsburgischen
Gesamtmonarchie für das übrige Deutschland unannehmbar waren, so bot
die kleindeutsche Lösung sich mit unentrinnbarem Zwang als der einzig
gangbare Ausweg an."22
Bei Teilen des bisher im Wesentlichen großdeutsch gesinnten linken Zentrums
setzte deshalb ein Umdenkungsprozess ein: Man begann sich auf die
kleindeutsche Lösung einzustellen, wollte diese aber nicht ohne Gegenleistungen
in Fragen, in denen man sich bisher nicht durchsetzen konnte, akzeptieren. Am
12. März 1849 stellte der bisher zum großdeutschen Lager gehörige Karl Theodor
Welcker völlig überraschend den Antrag, die Verfassung in ihrer nach der ersten
Lesung revidierten Form en bloc abzustimmen und den preußischen König in das
Amt des Erbkaisers zu wählen.23 Unter der Führung von Heinrich Simon war eine
kleine Gruppe von Abgeordneten des linken Zentrums bereit, unter bestimmten
Bedingungen, die allerdings von den Kleindeutschen zunächst abgelehnt wurden,
dem Antrag Welckers zuzustimmen. Nachdem aber dieser Antrag am 21. März
mit knapper Mehrheit abgelehnt wurde, zeigte sich ein Teil der Kleindeutschen
konzessionsbereit: 114 ihrer Abgeordneten verpflichteten sich schriftlich, dem
Monarchen in der Gesetzgebung nur ein suspensives Veto zuzugestehen und für
das allgemeine Wahlrecht, wie es in der ersten Lesung beschlossen worden war,
zu stimmen. Mit dieser Entscheidung war eine Abkehr vom monarchischen
Prinzip und eine Hinwendung zu einem gewaltenteilenden Modell nach dem
Vorbild Montesquieus vollzogen. Und mit diesen Zugeständnissen eines Teiles
der Kleindeutschen war der Weg frei: Vom 23. bis 27. März 1849 nahm die
Paulskirchenversammlung die Verfassung an und wählte am folgenden Tag
Friedrich
Wilhelm
IV
von
Preußen
zum
deutschen
Kaiser.
22
Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte, Bd. 2, S. 798 (Kursivdruck im Original)
Zum Simon-Gagern-Pakt und seinen weiteren Festlegungen ausführlicher z.B. Botzenhart,
a.a.O. (Anm. 13), S. 684 ff.; jetzt auch W. J. Mommsen, a.a.O. (Anm. 1), S. 279 ff.
24 Die Frankfurter Reichsverfassung findet sich z. B. bei Huber, Dokumente, Bd. 1, S. 375 ff., das
Reichswahlgesetz vom 12.4.1849: ibid. S. 396 ff.
23
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In
den
hier
insbesondere
interessierenden
Punkten
sieht
die
Paulskirchenverfassung24 vor, dass die erbliche Würde des Reichsoberhauptes
einem der regierenden deutschen Fürsten übertragen wird, der dann den Titel
„Kaiser der Deutschen" trägt (§§ 68-70). „Der Kaiser übt die ihm übertragene
Gewalt durch verantwortliche, von ihm ernannte Minister aus" (§ 73 Abs. 2). Die
Minister können zwar nicht Mitglieder des Staatenhauses sein (§ 123). Das
Mandat im Volkshaus ist hingegen mit einem Ministeramt vereinbar, wobei sich
der Betroffene allerdings einer Neuwahl zu unterwerfen hat. Bei verfassungs- und
gesetzeswidrigem Verhalten können die Minister von einem Haus des
Reichstages vor dem Reichsgericht angeklagt werden (§ 126 Ziff. i). Dem Kaiser
steht u. a. die völkerrechtliche Vertretung des Reiches und der einzelnen
deutschen Staaten zu (§ 75), er entscheidet über Krieg und Frieden (§ 76), er
beruft und beschließt den Reichstag und kann das Volkshaus auflösen (§ 79), ihm
obliegt die Wahrung des Reichsfriedens, und er hat die „Verfügung über die
bewaffnete Macht' (§§ 82, 83). Außerdem stehen dem Kaiser „diejenigen Rechte
und Befugnisse zu, welche in der Reichsverfassung der Reichsgewalt beigelegt
und dem Reichstag nicht zugewiesen sind" (§ 84).
Der Reichstag sollte nach der Verfassung aus zwei Häusern bestehen, dem
Staaten- und dem Volkshaus. Die Vertreter des Staatenhauses werden je zur
Hälfte von den Regierungen und von den Volksvertretungen bzw.
Provinzialständen der Einzelstaaten ernannt (§ 88); die den einzelnen Staaten
zustehende Anzahl von Vertretern ist in § 87 aufgelistet. Sofern den Staaten nur
ein Mitglied bzw. eine ungerade Anzahl von Mitgliedern zusteht, hat die
Regierung ein Vorschlagsrecht: sie hat drei Kandidaten zu benennen, aus denen
die Volksvertretung einen mit absoluter Mehrheit zu wählen hat (§ 89). Die Wahl
gilt für sechs Jahre, nach jeweils drei Jahren sollte die Hälfte des Staatenhauses
neu gewählt werden (§ 92). Die Abgeordneten des Volkshauses sollen beim ersten
Mal für vier Jahre, danach für drei Jahre gewählt werden (§ 94). Das
Reichswahlgesetz vom 12. April 1849 sieht eine absolute Mehrheitswahl vor in
Wahlkreisen mit ca. „100 000 Seelen", bei der in den ersten beiden Wahlgängen
die absolute Stimmenmehrheit notwendig ist und, falls diese nicht erreicht werden
kann, der Abgeordnete in einem dritten Wahlgang unter den beiden Kandidaten
ermittelt wird, die im zweiten Wahlgang die meisten Stimmen erhalten haben (§
14). Das aktive Wahlrecht, das direkt und geheim ist, hat „jeder unbescholtene
Deutsche" über 25 Jahre mit Ausnahme derjenigen, die Armenunterstützung
beziehen und auf die die üblichen Wahlausschlussgründe zutreffen. Das passive
Wahlrecht wurde ebenfalls an die Vollendung des 25. Lebensjahres geknüpft.
Jedes Haus des Reichstages hat das Recht des Gesetzesvorschlages, der
Regierungskontrolle und der Ministeranklage (§ 99). Die Gesetzesinitiative steht
auch dem Kaiser zu (§ 80). Für einen Gesetzesbeschluss ist die Zustimmung
beider Häuser des Reichstages nötig. Ein absolutes Vetorecht wird der Exekutive
- wie erwähnt - nicht eingeräumt, allerdings wird ein Reichstagsbeschluss ohne
Monarch und
Regierung
Reichstag
24
Die Frankfurter Reichsverfassung findet sich z. B. bei Huber, Dokumente, Bd. 1, S. 375 ff., das
Reichswahlgesetz vom 12.4.1849: ibid. S. 396 ff.
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Zustimmung der. Reichsregierung erst dann Gesetz, wenn der Reichstag in drei
unmittelbar aufeinander folgenden Sitzungsperioden denselben Beschluss
unverändert gefasst hat. Auch in Bezug auf Verfassungsänderungen steht dem
Monarchen nur ein suspensives Vetorecht zu (§ 196). Durch die Entscheidung
zugunsten eines nur aufschiebenden Vetos des Monarchen waren dann die
Beziehungen zwischen Parlament und Regierung sozusagen über die Hintertüre in
Richtung eines parlamentarischen Regierungssystems festgelegt. Außerdem wird
dem Reichstag in § 103 ein für die damalige Zeit fortschrittliches Haushaltsrecht
eingeräumt.
Weiterhin sah die Verfassung ein Reichsgericht vor, dem weitgehende
Kompetenzen - vor allem hinsichtlich der Sicherung der Verfassungen im Reich
und in den Einzelstaaten - eingeräumt werden. Neben der erwähnten
Ministeranklage fallen u. a. Organstreitigkeiten, Streitigkeiten zwischen dem
Reich und den Einzelstaaten bzw. zwischen den Einzelstaaten sowie
Verfassungsbeschwerden der Bürger auf der Ebene des Reiches und der
Einzelstaaten in die Kompetenz dieses Gerichtes (§ 126), das damit u. a. die
Grundrechte zu sichern hat, die die Verfassung in Abschnitt VI vorsieht.
Doch die Verabschiedung einer für die damalige Zeit äußerst fortschrittlichen
Verfassung25 durch die Frankfurter Nationalversammlung bedeutete noch nicht
deren Durchsetzung. Gegenüber dem Vorjahr hatten sich die Zeiten wesentlich
geändert. In seiner Ablehnung der Kaiserwürde vor der Deputation der
Nationalversammlung am 3. April 1849 gab sich Friedrich Wilhelm IV. zwar
schon relativ deutlich:
„Ich ehre Ihr Vertrauen, ... Aber, meine Herren, ich würde Ihr Vertrauen
nicht rechtfertigen, ... ich würde Deutschlands Einheit nicht aufrichten,
wollte ich mit Verletzung heiliger Rechte und meiner früheren
ausdrücklichen und feierlichen Versicherungen ohne das freie
Einverständniß der gekrönten Häupter, der Fürsten und freien Staaten
Deutschlands, eine Entschließung fassen, welche für sie und für die von
ihnen regierten deutschen Stämme die entschiedensten Folgen haben
müsste“.26
Ablehnung der
Kaiserwürde
Besser allerdings dürfte ein Schreiben vom Dezember 1848 die Haltung des
preußischen Königs widerspiegeln: Die von einer „in die revolutionäre Saat"
geschossenen Versammlung ihm angetragene Krone
„verunehrt überschwenglich mit ihrem Ludergeruch der Revolution von
1848 ... Einen solchen imaginären Reif, aus Dreck und Lettem gebacken,
soll ein legitimer König von Gottes Gnaden ... sich geben lassen . .. Ich
sage es Ihnen rund heraus: soll die tausendjährige Krone deutscher
Nation ... wieder einmal vergeben werden, so bin ich es und
meinesgleichen, die sie vergeben werden; und wehe dem, der sich anmaßt,
was ihm nicht zukommt."27
25
Im Rahmen des 150-jährigen Jubiläums dieser Verfassung brachte z.B. das „Parlament“ auf der
Titelseite einen Aufsatz von Katrin Adler mit der Überschrift „Die Paulskirche blieb lange
Zukunftsprogramm“ (Jg. 48 Nr. 3-4 vom 16.1.1999). Gerd Roellecke z.B. spricht von einer
Verfassung, „die uns große Übel erspart hätte und noch gelten könnte, wenn sie gegolten hätte, so
modern war sie“ (zit. Nach Prantl, Heribert: Die Agenda 1849. Vor 150 Jahren wurde die
Paulskirchenverfassung verabschiedet. – in: SZ vom 27./28.3.1999, S. 11) – ein Urteil allerdings,
das die Wirkung der Verfassung überschätzen dürfte.
26
Huber, Dokumente, Bd. 1, S. 405
27
Huber, a.a.O., S. 403 (Kursivdruck im Original)
41
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Und gegenüber dem Großherzog von Sachsen-Weimar brachte Friedrich Wilhelm
IV seine Haltung auf die Kurzformel: „Untertanen können keine Krone
vergeben.".28 Aus der Sicht des Monarchen war dies eine immerhin verständliche
Reaktion auf die Tatsache, dass die Paulskirchenverfassung das Gottesgnadentum
in ein Kaisertum „von Volkes Gnaden" verwandelt hatte.29
Zwar waren 28 deutsche Staaten bereit, die Paulskirchenverfassung zu
akzeptieren, aber neben Österreich und Preußen, dessen Zweite Kammer die
Verfassung allerdings angenommen hatte, fehlten die größeren Staaten Bayern,
Württemberg, Sachsen und Hannover. Unter anderem die Rückrufung ihrer
Abgeordneten durch wichtige Einzelstaaten führte zum Zerfall der
Nationalversammlung, die Ende Mai 1849 als „Rumpfparlament" nach Stuttgart
wechselte, dort aber von der Regierung Mitte Juni aufgelöst wurde. Auch die seit
April laufende sogenannte „Reichsverfassungskampagne", die vornehmlich von
der Linken getragen wurde, konnte die Verfassung nicht retten und brach
schließlich im Juli in Baden unter den Attacken der Militärs endgültig zusammen.
Zwar bemühte sich Preußen schon vom April 1849 an - teilweise unter Rückgriff
auf den Plan eines weiteren und engeren Bundes - um die Errichtung einer Union
der deutschen Staaten, in die die Paulskirchenverfassung durch Vereinbarung der
Staaten und „entschärft" durch ein absolutes Vetorecht des Monarchen sowie
durch ein Dreiklassenwahlrecht eingebracht werden sollte. Dieses Vorhaben
scheiterte aber am Widerstand Österreichs.
Scheitern der
Revolution und
der Verfassung
Gründe für den Misserfolg der Revolution werden ausreichend vorgebracht.30 Die
entscheidende Ursache dürfte - wie Thomas Nipperdey betont - in der
Überlastung der Frankfurter Nationalversammlung gelegen haben:
„Deutsche Einheit, deutsche Grenzen, deutsche Freiheit und ein Stück
sozialer Gerechtigkeit, das waren schon vier Probleme, die gleichzeitig
anstanden und die doch ältere (und insofern glücklichere) Nationen
nacheinander zu lösen hatten versuchen können. Aber das war kein Zufall:
ohne nationale Einheit konnte es keine bürgerliche Herrschaft geben und
auch nicht ohne bürgerliche Gesellschaft. Freiheit und Einheit waren
nicht zu trennen. Es ist die Vielzahl der Probleme und ihrer
Unlösbarkeiten gewesen, die zum Scheitem der Revolution geführt hat ...
Wenn man unter den einzelnen Ursachen für das Scheitern (der Revolution
- E. H.) in Deutschland gewichten will, so muss man meiner Meinung nach
sagen, dass es das großdeutsche/kleindeutsche Problem und das Problem
des österreichischen Nationalitätenstaates und seiner nationalen Konflikte
waren, die am meisten zählten ... Sie letzten Endes haben die Revolution in
den Wettlauf mit der Zeit gebracht, den sie nicht gewinnen konnte. Dies
mag als altmodisch gelten - aber diese spezifisch deutsche Vorprägung
der nationalen Frage war der entscheidende Punkt "31
28
Zit. Nach Stoll, Christoph: Einführung. – in: Wigard, F. (Hrsg.): Reden für die deutsche Nation,
Bd. 1, S. XXII
29
Grimm, Deutsche Verfassungsgeschichte, S. 201
30
Eine ausgewogene Darstellung z.B. bei Nipperdey, a.a.O. (Anm. 5), S. 663 ff.; zu dem Problem,
dass die Nationalversammlung zunächst die Grundrechte behandelt und damit möglicherweise den
Zeitpunkt versäumte, zu dem sich eine neue Verfassung noch hätte durchsetzen lassen: a.a.O., S.
616; siehe auch W.J. Mommsen, a.a.O. (Anm. 1), S. 261 ff.
31
Nipperdey, a.a.O., S. 669
42
Emil Hübner: Parlament und Regierung. Internet-Version. 18.8.2003. PDF.
Kapitel II: Grundzüge der deutschen Institutionengeschichte
Der Versuch der Etablierung einer deutschen Verfassung „von unten" war
gescheitert, aber er wirkte weiter u. a. auf einzelstaatlicher Ebene. Der nächste
Versuch einer gesamtdeutschen Verfassunggebung „von unten" ließ weitere
sieben Jahrzehnte auf sich warten, die nationalstaatliche Einigung allerdings
erfolgte früher und kam „von oben".
2. Das Regierungssystem der Bismarckschen Reichsverfassung
Wie problematisch die Frage nach den möglichen Ursachen des Scheiterns der
Frankfurter Nationalversammlung letztlich ist, zeigte die Folgezeit. Zunächst
herrschte die „Reaktion", bevor der Liberalismus ab 1858 wieder an Gewicht
gewinnen konnte. Aber nur durch einen Krieg schien das zentrale Problem - die
Rivalität zwischen Preußen und Österreich- gelöst werden zu können. Nach dem
Sieg Preußens 1866 wurde das besiegte Österreich im Artikel IV des Prager
Friedens gezwungen, sich aus der künftigen Verfassungsentwicklung in
Deutschland herauszuhaben:
Norddeutscher
Bund
„Seine Majestät der Kaiser von Österreich erkennt die Auflösung des
bisherigen Deutschen Bundes an und giebt Seine Zustimmung zu einer
neuen Gestaltung Deutschlands ohne Betheiligung des Österreichischen
Kaiserstaates. Ebenso verspricht seine Majestät, das engere BundesVerhältniß anzuerkennen, welches Seine Majestät der König von Preußen
nördlich von der Linie des Mains begründen wird, und erklärt Sich damit
einverstanden, daß die südlich von dieser Linie gelegenen Deutschen
Staaten in einen Verein zusammentreten, dessen nationale Verbindung mit
dem Norddeutschen Bunde der näheren Verständigung zwischen beiden
vorbehalten bleibt und der eine internationale unabhängige Existenz
haben wird."32
Noch während des Krieges gegen Österreich bemühte sich Preußen, den
Grundstock für den späteren Norddeutschen Bund zu legen. Und noch vor der
Unterzeichnung des Prager Friedensvertrages schlossen sich Preußen und seine 17
norddeutschen Verbündeten zum so genannten „Augustbündnis" zusammen, dem
sich auch die norddeutschen Staaten, die sich auf die Seite Österreichs gestellt
hatten, anschlossen, und das in Art. 2 des Bündnisvertrages33 festschreibt:
"Die Zwecke des Bündnisses sollen definitiv durch eine Bundesverfassung
auf der Basis der Preußischen Grundzüge vom 10. Juni 1866 sichergestellt
werden, unter Mitwirkung eines gemeinschaftlich zu berufenden
Parlaments."
In Art. 5 heißt es, dass dieses Parlament nach dem Reichswahlgesetz vom 12.
April 1849 zu wählen sei.34 Im Art. 6 wurde die Dauer des Bündnisses bis zum
„Abschluss des neuen Bundesverhältnisses", längstens jedoch auf ein Jahr
beschränkt. Den Beratungen des Norddeutschen Reichstages, der am 24. Februar
1867 zu seiner konstituierenden Sitzung zusammentrat, lag ein
32
Huber, Dokumente, Bd. 2, S. 250
Huber, a.a.O., S. 269
34
Siehe Abschn. 1 dieses Kapitels
33
41
Emil Hübner: Parlament und Regierung. Internet-Version. 18.8.2003. PDF.
Kapitel II: Grundzüge der deutschen Institutionengeschichte
Verfassungsentwurf zugrunde, der die deutliche Handschrift Bismarcks trug.
Auch wollten die Verbündeten dem Reichstag hinsichtlich der Veränderung
dieses Verfassungsentwurfes keine allzu große Handlungsfreiheit zugestehen,
sondern die Verfassung notfalls - wie in einem Geheimvertrag vom 31. März
1867 festgeschrieben - „durch Oktroyierung in Kraft" setzen.35 In nicht wenigen
Teilen wurde dieser Verfassungsentwurf vom Reichstag trotzdem modifiziert und
umgearbeitet.36 Die für die spätere Zeit wohl wichtigsten Änderungen betrafen die
Stellung des Bundeskanzlers, der durch die berühmte „Lex Bennigsen" aus der
einseitigen Abhängigkeit vom Bundespräsidium herausgelöst und zum
verantwortlichen Bundesminister gemacht wurde, ohne dass diese
Verantwortlichkeit allerdings näher definiert worden wäre, sowie das
Haushaltsrecht. Hier wurde durchgesetzt, dass sowohl die Einnahmen und nicht
nur - wie in dem Entwurf vorgesehen - die Ausgaben des Bundes vom Reichstag
zu genehmigen waren, und die vorgesehene dreijährige Budgetperiode wurde auf
ein Jahr verkürzt. Beim Militärhaushalt musste der Reichstag allerdings
Kompromisse hinnehmen. Der Norddeutsche Bund war eine „Übergangsform zur
endgültigen nationalstaatlichen Lösung, welche sich wegen einer drohenden
französischen Intervention nicht sofort durchsetzen ließ."37 Und die Verfassung
des Norddeutschen Bundes bedurfte dann nur geringfügiger Modifikationen, um
im April 1871 zur Verfassung des Deutschen Reichs zu werden.
Der Übergang vom Norddeutschen Bund zum Bismarckreich hätte langfristig
auch auf friedlichem Wege gelingen können. Bismarck hatte mit Bayern,
Württemberg und Baden im August 1866, mit Hessen im April 1867 sogenannte
„Schutz- und Trutzbündnisse"38 abgeschlossen, die die Nichtmitglieder des
Norddeutschen Bundes enger an Preußen banden; außerdem verfestigten sich
nicht nur die wirtschaftlichen Beziehungen durch die Erneuerung des Zollvereins,
der eine „verfassungsrechtliche Vorform des deutschen Nationalstaates von
1871"39 wurde, obwohl die Wahlen zum Zollparlament in Süddeutschland um die
Jahreswende 1867/68 „unübersehbar ein Plebiszit gegen Preußen"40 darstellten.
Das Zollparlament hat dann seit 1868 auf Teilgebieten - z. B. im Handelsrecht,
bei der Gewerbefreiheit und beim Strafrecht- Vereinheitlichungstendenzen
unterstützt. Aber Frankreich stemmte sich - insbesondere seit 1867 - mit
Vehemenz gegen eine Ausdehnung der Macht Preußens und damit gegen die
Vollendung eines deutschen Nationalstaates. Über der Frage, ob Erbprinz
Leopold von Hohenzollern-Sigmaringen - wie dies von den spanischen Militärs,
die Königin Isabella abgesetzt hatten, gewünscht wurde - spanischer Monarch
werden solle, verschärften sich die Spannungen zwischen Frankreich und
Krieg mit
Frankreich
35
Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte, Bd. 3, S. 654
Zur Diskussion und Veränderung der Verfassung durch den Norddeutschen Reichstag siehe
Huber, a.a.O., S. 655 ff.; Pflanze, Bismarck, Bd. 1, S. 361 ff.
37
H. Boldt, a.a.O. (Anm. 2), S. 164
38
Text bei Huber, Dokumente, Bd. 2, S. 288 f.
39
Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte, Bd. 3, S. 635
40
Stürmer, Ruheloses Reich, S. 159
36
41
Emil Hübner: Parlament und Regierung. Internet-Version. 18.8.2003. PDF.
Kapitel II: Grundzüge der deutschen Institutionengeschichte
Preußen. Die von Bismarck verkürzte berühmte „Emser Depesche"41 provozierte
dann die Kriegserklärung Frankreichs an Preußen am 19. Juli 1870:
„Der Krieg war von Anfang ein nationaler, ein deutscher Krieg. Die
französische Regierung hatte, von Bismarck verlockt, aus Ungeschick und
eigenem Antriebe gleichermaßen, am Ende der Krise genau das
provoziert, was sie ursprünglich gerade hatte vermeiden wollen: die
Mobilisierung des deutschen Nationalgefühls an der Seite Preußens."42
Die Verpflichtungen aus den erwähnten Schutz- und Trutzbündnissen griffen, die
süddeutschen Staaten traten an der Seite Preußens in den Krieg gegen Frankreich,
an dessen Ende die Niederlage Frankreichs und die Gründung des deutschen
Reiches standen.
Gründung des
Deutschen
Reiches
Bismarck betrachtete den monarchischen Föderalismus als Gegengewicht gegen
den Parlamentarismus und suchte in der Folge des preußischen
Verfassungskonfliktes,43 der sich an der Frage des parlamentarischen Einflusses
auf die Anfang der 60er Jahre geplante Heeresreform entzündete, der über Fragen
des Budgetrechts zu einem Machtkonflikt zwischen Parlament und König
eskalierte und der schließlich 1866 mit dem Indemnitätsgesetz44 beigelegt wurde,
nach möglichst sicheren Schranken gegen die langfristige Durchsetzung eines
parlamentarischen Regierungssystems. Er nutzte nicht die volle Gunst der Stunde,
sondern setzte auf vorsichtige Verhandlungen mit den Fürsten.45 Mit mehr
Zuckerbrot und weniger Peitsche gelang es ihm, über Einzelvertäge die
süddeutschen Staaten zu integrieren und den Norddeutschen Bund in das
Deutsche Reich zu überführen. Die sogenannten „Novemberverträge" wurden
vom Norddeutschen Bund, von Baden, Hessen und Württemberg zum Jahresende
1870 ratifiziert und konnten zum 1. Januar 1871 in Kraft treten.46 Nur in Bayern
dauerte der Ratifikationsprozess bis zum 21. Januar 1871; König Ludwig IL setzte
aber die Verträge dann rückwirkend zum 1. Januar 1871 in Kraft. Schon vorher nämlich am 18. Januar 1871 - konnte König Wilhelm 1. von Preußen im
Spiegelsaal des Schlosses von Versailles zum Deutschen Kaiser ausgerufen
werden. Im Gegensatz zum Beginn des Norddeutschen Bundes war der neu zu
wählende Reichstag nur insofern an der Verfassungsgebung beteiligt, als er die
aus mehreren, nicht aufeinander abgestimmten Urkunden bestehende und einem
„Monstrum" gleichende ursprüngliche Verfassung durch eine Revision, bei der
allerdings keine inhaltlichen Änderungen vorgenommen wurden, in seine
endgültige Form brachte.47 Diese revidierte Verfassung trat am 4. Mai 1871 in
Kraft.
41
Beide Fassungen bei Huber, Dokumente, Bd. 2, S. 324 f.
Nipperdey, Deutsche Geschichte 1866 – 1918, Bd. II, S. 60
43
Hierzu z.B. Boldt, a.a.O. (Anm. 2), S. 110 ff. oder ausführlicher Huber, Deutsche
Verfassungsgeschichte, Bd. 3, S. 275 ff.; Pflanze, a.a.O. (Anm. 36), S. 171 ff.
44
Mit diesem Gesetz wurde die Regierung von ihrer Verantwortung für die Zeit entlastet, in der
sie ohne genehmigtes Budget regierte (Das Gesetz ist abgedruckt bei Huber, Dokumente, Bd. 2, S.
102 f.)
45
Nipperdey, a.a.O. (Anm. 42), S. 76 f.
46
Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte, Bd. 3, S. 745
47
Huber, a.a.O., S. 756 ff. (Zitat S. 757)
42
41
Emil Hübner: Parlament und Regierung. Internet-Version. 18.8.2003. PDF.
Kapitel II: Grundzüge der deutschen Institutionengeschichte
Lässt man unberücksichtigt, dass die Verfassung des Deutschen Reiches diejenige
des Norddeutschen Bundes nur geringfügig modifiziert und weiterentwickelt, so
ist es durchaus gerechtfertigt, sie als „einzigartige Schöpfung, die in kein Schema
des damaligen europäischen Konstitutionalismus passt und die Umstände ihrer
Entstehung deutlich spiegelt"48, zu umschreiben. Der renommierte Staatsrechtler
der Weimarer Republik Richard Thoma bezeichnet das Kaiserreich als eine
„singulär gestaltete, föderalistisch beschränkte Erbmonarchie"49 Bereits die
Präambel der Reichsverfassung50 macht überdeutlich, dass sie ein Werk der
Fürsten, nicht des Volkes war:
Bismarcksche
Reichsverfassung
„Seine Majestät der König von Preußen im Namen des Norddeutschen
Bundes, Seine Majestät der König von Bayern, seine Majestät der König
von Württemberg, Seine Königliche Hoheit der Großherzog von Baden
und seine Königliche Hoheit der Großherzog von Hessen und bei Rhein
für die südlich vom Main gelegenen Theile des Großherzogtums Hessen,
schließen einen ewigen Bund zum Schutze des Bundesgebietes und des
innerhalb desselben gültigen Rechtes, sowie zur Pflege der Wohlfahrt des
Deutschen Volkes . . ."
In Art. 2 der Bismarckschen Reichsverfassung ist festgehalten, dass Reichs- vor
Landesrecht geht; in Art. 4 sind die Gebiete, die künftig in die
Reichsgesetzgebung fallen, in 16 Punkten aufgelistet, die von der Freizügigkeit
und vom Staatsbürgerrecht, über die Zoll- und Handelsgesetzgebung, das Maß-,
Münz- und Bankwesen und das Straf-, Handels-, Wechsel- und
Gerichtsverfahrensrecht bis hin zum Presse- und Vereinswesen gehen - um hier
nur einige Punkte aufzuzählen. Die ebenfalls in diesem Katalog aufgeführten
Regelungen des Heimat- und Niederlassungsrechts sowie des Eisenbahn-, des
Post- und Telegraphenwesens gelten für Bayern nicht bzw. sie sind durch weitere
Verfassungsartikel eingeschränkt. Für das Post- und Telegraphenwesen sind
Einschränkungen auch für Württemberg festgeschrieben. Solche Reservatrechte
sind auch an anderen Stellen der Verfassung zu finden (z. B. Art. 5, Art. 34 oder
Art. 35). So verbleibt z.. B. dem bayerischen König zumindest während
Friedenszeiten der Oberbefehl über die bayerischen Militär-Kontingente
(Schlussbestimmung zu Abschnitt IX). Das Präsidium-und damit Preußen-hat
Vetorechte bei den Zöllen und bei wichtigen indirekten Steuern (Art. 37),
hinsichtlich des Militärwesens (Art. 5, Art. 35) und bei Verfassungsänderungen
(Art. 78). Die nicht in der Verfassung aufgeführten Gesetzgebungsbereiche
bleiben in der Kompetenz der Einzelstaaten. In Art. 5 der Reichsverfassung wird
festgehalten, dass die Reichsgesetzgebung vom Bundesrat und vom Reichstag
durch
übereinstimmende
Mehrheitsbeschlüsse
ausgeübt
wird.
Verfassungsänderungen bedürfen weder im Bundesrat noch im Reichstag
qualifizierter Mehrheiten, allerdings gelten sie als abgelehnt, wenn sie im
Bundesrat mindestens 14 Gegenstimmen erhalten, womit den süddeutschen
Ländern, aber auch - wie erwähnt - Preußen eine Vetoposition eingeräumt wird;
in der Verfassung selbst festgeschriebene Sonderrechte einzelner Länder können
48
Botzenhart, a.a.O. (Anm. 3), S. 98
Thoma, Das Staatsrecht des Reiches. – in: Anschütz/Thoma (Hrsg.): Das Staatsrecht des
Deutschen Reiches, Bd. I, S. 74
50
Die Verfassung ist z.B. abgedruckt bei Huber, Dokumente, Bd. 2, S. 384 ff.
49
41
Emil Hübner: Parlament und Regierung. Internet-Version. 18.8.2003. PDF.
Kapitel II: Grundzüge der deutschen Institutionengeschichte
nur mit deren Zustimmung geändert werden (Art. 78). Die Durchführung der
Gesetze ist - von Ausnahmen abgesehen - nach der Bismarckschen Verfassung
Sache der Länder.
Das Eigentümliche an den Bestimmungen über die Gesetzgebung liegt in der
Stellung des Bundesrates, der - nicht wie das Staatenhaus in der
Paulskirchenverfassung - auf die Gesetzgebung beschränkt, sondern „zugleich ein
Gesetz-, ein Exekutiv- und sogar ein Rechtsprechungsorgan"51 ist. Im Bundesrat
waren die Stimmen, die nur geschlossen abgegeben werden dürfen, nach
Ländergrößen aufgeteilt (Art. 6): Von den anfangs 58 Stimmen führten Preußen
17, Bayern sechs, Sachsen und Württemberg je vier, Hessen und Baden je drei,
Mecklenburg, Schwerin und Braunschweig je zwei und die restlichen Mitglieder
des Bundes je eine (1911 kommen drei Stimmen für Elsass-Lothringen hinzu.52
Der Bundesrat hat im Bereich der Exekutive über sämtliche zur Ausführung der
Reichsgesetze nötigen Verordnungen und Einrichtungen zu beschließen (Art. 7).
Er ist darüber hinaus eine Art „Reichsverfassungsgericht", das u. a. über
Streitigkeiten zwischen den Mitgliedern des Bundes (Art. 76), über die
Reichsexekution gegen ein Mitgliedsland, das seinen Bundespflichten nicht
nachkommt (Art. 19), und über Beschwerden im Fall von Justizverweigerung in
den Bundesstaaten zu entscheiden hat (Art. 77). Bismarck hielt an dieser
Bundesrats-Konstruktion vor allem deshalb fest, weil er von ihr ein Bollwerk
gegen das „Abgleiten" in ein parlamentarisches Regierungssystem erwartete. Der
Reichskanzler übernimmt den Vorsitz und leitete die Geschäfte des Bundesrates
(Art. 15). Zumindest formal war der Bundesrat das wichtigste Verfassungsorgan
des Deutschen Reiches.
Konsequenterweise wird der Bundesrat deshalb in der Verfassung auch vor dem
Präsidium aufgeführt: „Das Präsidium des Bundes steht dem König von Preußen
zu, welcher den Namen Deutscher Kaiser führt. Der Kaiser hat das Reich
völkerrechtlich zu vertreten, im Namen des Reichs Krieg zu erklären und Frieden
zu schließen, Bündnisse und andere Verträge mit fremden Staaten einzugehen ... "
(Art. 11 Abs. 1) Zur Erklärung eines Krieges - ausgenommen eines
Verteidigungskrieges - bedarf der Kaiser der Zustimmung des Bundesrates, bei
Verträgen, die den Bereich der Reichsgesetzgebung betreffen, zusätzlich die
Zustimmung des Reichstages (Art. H Abs. 2 u. 3). Darüber hinaus ernennt der
Kaiser den Reichskanzler (Art. 15) und die Reichsbeamten (Art. 18), er fertigt die
Gesetze aus und überwacht deren Ausführung (Art. 17); und er kann mit
Zustimmung des Bundesrates den Reichstag auflösen (Art. 24). Allerdings
benötigt der Kaiser - wie für den Norddeutschen Bund bereits erwähnt - für seine
„Anordnungen und Verfügungen" die „Gegenzeichnung des Reichskanzlers,
Bundesrat
Kaiser
51
Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte, Bd. 3, S. 850
Mommsen, Wolfgang J.: Das Ringen um den nationalen Staat. Die Gründung und der innere
Ausbau des Deutschen Reiches unter Otto von Bismarck 1850 bis 1890. – Berlin: Propyläen 1993,
S. 252; Rauh, Föderalismus und Parlamentarismus, S. 348; persönlich stand er einem
parlamentarischen Regierungssystem durchaus positiv gegenüber, hielt es aber für nicht auf
deutsche Verhältnisse übertragbar (Pflanze, a.a.O. (Anm. 36), S. 668 f.)
52
41
Emil Hübner: Parlament und Regierung. Internet-Version. 18.8.2003. PDF.
Kapitel II: Grundzüge der deutschen Institutionengeschichte
welcher dadurch die Verantwortung übernimmt" (Art. 17). Im Konfliktfall mit
dem Reichskanzler stand der Kaiser also vor der Alternative „Entlassen oder
Nachgeben", und meist blieb ihm nur das letztere. Allerdings heißt es, die
Machtposition des Kaisers beträchtlich zu verkürzen, wenn man nicht mitbedenkt,
dass er gleichzeitig als König von Preußen gravierende Einflussmöglichkeiten
hat: Er kann die preußischen Reservatrechte nutzen, kann über seinen
Ministerpräsidenten und Außenminister die preußischen Stimmen im Bundesrat
führen und hat eine Fülle faktischer Möglichkeiten, die Regierungen der anderen
Einzelstaaten zu beeinflussen, was für ihn - trotz des fehlenden formellen
Vetorechtes in der Gesetzgebung - ein De-facto-Vetorecht mit sich bringt.53 Eine
„kaiserliche Regierung" ist dem Text der Bismarckschen Reichsverfassung „gar
nicht bekannt".54 Die Regierung besteht formal ursprünglich nur aus dem
Reichskanzler und seiner Reichskanzlei. Doch sollte sich die Konstruktion einer
„Art Einmann-Regierung"55 in der Praxis - wie noch zu zeigen sein wird - auf die
Dauer nicht halten.
Der Reichstag wird in allgemeinen, direkten und geheimen (Art. 20) und nach
dem vom Norddeutschen Bund übernommenen Wahlgesetz auch in gleichen
Wahlen nach dem absoluten Mehrheitswahlrecht gewählt. Dadurch aber, dass die
Wahlkreise
während
des
gesamten
Kaiserreiches
nie
der
Bevölkerungsentwicklung angepasst wurden, wurde das Wahlrecht zunehmend
ungleicher zugunsten der Landbevölkerung und der konservativen Parteien. In der
Gesetzgebung ist zwar die Zustimmung des Reichstages eine unumgängliche
Voraussetzung, aber ansonsten ist dessen Stellung relativ schwach. Der Reichstag
sollte - so Bismarcks Vorstellung - verhindern, aber nicht gestalten können.56 Da
er den Reichskanzler nicht durch ein Misstrauensvotum abberufen kann, fehlt ihm
das in einem parlamentarischen Regierungssystem übliche Gegengewicht zum
Auflösungsrecht der Regierung. In seinen Kontrollrechten ist der Reichstag des
Kaiserreiches darüber hinaus in bedenklichem Maße - z.B. durch die fehlende
Möglichkeit, Untersuchungsausschüsse einzusetzen - eingeschränkt. Zur Gefahr
für die Regierung kann der Reichstag nur dann werden, wenn er in einem Konflikt
mit der Regierung die Bevölkerung auf seiner Seite hat und damit die
Auflösungsdrohung der Regierung ins Leere läuft. Ein gleichberechtigter Partner
der Regierung ist er jedenfalls nach der Bismarckschen Reichsverfassung nicht.
Er, der das unitarische Gegengewicht zu dem das staatenbündische Element der
Reichsverfassung repräsentierenden Bundesrat darstellen sollte, war von der
Verfassung her nicht mit ausreichenden Kompetenzen ausgestattet. Und er
symbolisierte damit das demokratische Defizit der Bismarckschen
Reichsverfassung.
Reichstag
Das Funktionieren der Bismarckschen Konstruktion des Regierungssystems war
in hohem Maße von den Fähigkeiten des Kanzlers abhängig:
53
Thoma, a.a.O. (Anm 49), S. 75
Thoma, a.a.O., S. 78
55
Boldt, a.a.O. (Anm. 2), S. 174; Pflanze bezeichnet die Regierungskonstruktion denn auch als
“ausgezeichnetes Vehikel“ für Bismarcks Machtstreben (a.a.O. (Anm. 36), S. 642)
56
Pflanze, a.a.O. (Anm. 36), S. 667
54
41
Emil Hübner: Parlament und Regierung. Internet-Version. 18.8.2003. PDF.
Kapitel II: Grundzüge der deutschen Institutionengeschichte
„Die Personalunion zwischen deutschem Kaisertum und preußischer
Königswürde, die verfassungsrechtlich nicht vorgeschriebene, politisch
aber unabdingbare Vereinigung der Ämter des Reichskanzlers und des
preußischen Ministerpräsidenten, die enge Verzahnung von Reichsämtern
und preußischen Ministerien schließlich waren im Übrigen alles andere
als unproblematisch. Sie zwangen den Reichskanzler, sich sowohl mit
einem nach allgemeinem Wahlrecht gewählten Reichstag als auch mit dem
auf
das
Dreiklassenwahlrecht
gegründeten
preußischen
Abgeordnetenhaus und dem hochkonservativen Herrenhaus zu
arrangieren, die Haltung des von den deutschen Regierungen instruierten
Bundesrates zu beachten und den Willen eines Kaisers zu respektieren, der
unter Umständen schwer kalkulierbaren Einflüssen seiner Umgebung
ausgesetzt war. Ein Reichskanzler, der sich auf dieses Spiel mit fünf Bällen
nicht verstand, konnte sehr schnell in schwere politische Bedrängnis
geraten".57
Bismarck hatte - wie erwähnt - den Föderalismus als Gegenkraft zu den in
verschiedenen Ländern aufkommenden Parlamentarisierungsbestrebungen
genutzt; es musste Bismarck in der Folgezeit darauf ankommen, das System in
Balance zu halten, „denn bei jeder grundlegenden Veränderung" konnte „seine
gekünstelte Konstruktion ins Wanken" geraten, was - aus der Sicht Bismarcks „entweder die - geringfügigere - Gefahr des Partikularismus oder die - eigentlich
bedrohliche - des Parlamentarismus" heraufbeschwor.58
Über die Dauer des Bismarckreiches konnte zwar das parlamentarische
Regierungssystem nicht durchgesetzt werden, einige wichtige Vorentscheidungen
allerdings fielen bereits in dieser Zeit. So hatte Bismarck z. B. mit dem
Kulturkampf und dem Sozialistengesetz sein eigentliches Ziel - die Schwächung
des Zentrums und der SPD - nicht nur nicht erreicht, sondern umgekehrt zur
Stärkung dieser Parteien beigetragen. Des Weiteren wurden die Parteien
allgemein im Laufe der Zeit immer stärker zu gesamtdeutschen Organisationen
und trugen so auch dazu bei, das föderalistische Element der Bismarckverfassung
zu schwächen, was u. a. durch eine „zeitweise stürmische Entwicklung zur
deutschen Rechtseinheit" inklusive des Aufbaus reichseigener Gerichte
dokumentiert wird.59 Außerdem ließ das Anwachsen der Staatsaufgaben es nicht
zu, die Regierung in der intendierten Minimalform zu erhalten: Immer mehr
Reichsämter - am Beginn des Ersten Weltkrieges existierten neun eigenständige
Quasi-Reichsministerien - mussten aus der Reichskanzlei ausgegliedert werden.
Deren Leiter gewannen immer größere Selbständigkeit, was durch das sogenannte
„Stellvertretergesetz" von 187860 unterstrichen wurde. Neben anderen Faktoren
wirkte auch die unter Bismarck begonnene Sozialgesetzgebung unitarisierend,
denn-wie Arnold Köttgen zu Recht festhält - der moderne Sozialstaat ist der
„Schrittmacher des Einheitsstaates."61 Diese Entwicklungen trugen dazu bei, dass
die Bismarcksche Konstruktion am Beginn des 20. Jahrhunderts langsam ins
Wackeln
geriet.
Beginnende
Unitarisierung
57
Botzenhart, a.a.O. (Anm. 3), S. 103 f.; ähnlich Thoma, a.a.O. (Anm. 49), S. 79f.
Rauh, a.a.O. (Anm. 52), S. 66 f.
59
Z.B. Thoma, a.a.O. (Anm. 49), S. 77 f. (Zitat S. 77); Pflanze, a.a.O. (Anm. 36), S. 663 f.
60
Abgedruckt bei Huber, Dokumente, Bd. 2, S. 407
61
Zit. Nach Hesse, Konrad: Der unitarische Bundesstaat. – Karlsruhe: Müller 1962. S. 13
58
41
Emil Hübner: Parlament und Regierung. Internet-Version. 18.8.2003. PDF.
Kapitel II: Grundzüge der deutschen Institutionengeschichte
Vorläufer der Parlamentarisierung der Bismarckschen Reichsverfassung während
des Ersten Weltkrieges wurden die Daily-Telegraph- und die Zabern-Affäre. Ein
Ende Oktober 1908 im Daily Telegraph erschienenes, großsprecherisches
„Interview" des deutschen Kaisers, das Reichskanzler Bülow ungelesen hatte
passieren lassen, führte zu einer erheblichen Belastung der Beziehungen zwischen
Großbritannien und dem Deutschen Reich. Eine erregte Debatte im Reichstag, in
der es u. a. um eine Konkretisierung der Verantwortung des Reichskanzlers ging
und in der sich die Parlamentarisierungsforderungen mehr oder weniger klar
herauskristallisierten, brachte vorerst noch keine Stärkung des Reichstages. Aber
der Kaiser wurde deutlich geschwächt durch diese Affäre: „Die Krise war eine
Krise des Monarchen und der Monarchie, ein Vorklang auf ihr Ende 1918 . . .“.62
Im Dezember 1913 führte dann die Zabern-Affäre, bei der Reichskanzler
Bethmann Hollweg das Fehlverhalten des Militärs in Elsass-Lothringen
verteidigte, zum ersten Missbilligungsvotum des Deutschen Reichstages gegen
den Reichskanzler, was durch eine Erweiterung des Interpellationsrechtes des
Reichstages im Jahre 1910 möglich geworden war. Mit immerhin 293 gegen 54
Stimmen bescheinigte der Reichstag dem Kanzler, dass sein Verhalten „nicht der
Anschauung des Reichstags"63 entspreche. Noch blieb auch dieses Votum ohne
Folgen, aber es war ein Indiz dafür, dass die Reformen der Reichsverfassung im
Ersten Weltkrieg nicht völlig unerwartet kamen.
3. Die Parlamentarisierungsdebatte während des Ersten Weltkrieges
Die Bemühungen um eine Stärkung des Reichstages fanden mit dem Beginn des
Ersten Weltkrieges ihr vorläufiges Ende; sie wurden vertagt, aber nicht
aufgegeben. Zunächst musste der Reichstag der Regierung erweiterte
Vollmachten einräumen, und die angeblich so „vaterlandslosen Gesellen" der
SPD lieferten den restlichen Parteien mit ihrer Zustimmung zu den
Kriegskrediten, die innerparteilich umstritten war, einen erneuten Beweis ihrer
Vertrauenswürdigkeit. Die Kriegszielmehrheit im Reichstag, die vom rechten
Flügel der SPD bis zu den Konservativen reichte, segnete die Aktionen der
Regierung und der Obersten Heeresleitung nahezu ohne Einwände ab, was jedoch
Erfolge der Obersten Heeresleitung voraussetzte.
Vorgeschichte
1916, als der „vielgeforderte `Siegfrieden` in weite Ferne gerückt war"64, begann
dann dieser Burgfrieden brüchig zu werden. Im Oktober wandelte der Reichstag
den Haushaltsausschuss in einen sog. Hauptausschuss um und ermächtigte ihn,
sich auch während der Vertagung des Reichstages mit Angele-
62
Frauendienst, Werner: Der Reichstag im Zeitalter des persönlichen Regiments Wilhelms II. – in:
Deuerlein (Hrsg.): Der Reichstag, S. 70; Nipperdey, a.a.O. (Anm. 42), S. 738 (hier auch das Zitat)
63
Abgedruckt bei Huber, Dokumente, Bd. 3, S. 78; zur Einführung des Missbilligungsvotums
siehe Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte, Bd. 3, S. 905
64
H. Mommsen, Aufstieg und Untergang, S. 14
41
Emil Hübner: Parlament und Regierung. Internet-Version. 18.8.2003. PDF.
Kapitel II: Grundzüge der deutschen Institutionengeschichte
genheiten des Krieges und der Außenpolitik zu befassen.65 Viktor Bredt sah in
diesem Kompetenzzuwachs des Reichstages „zweifellos einen Fortschritt in
Richtung auf das parlamentarische Regiment"66 - eine zum damaligen Zeitpunkt
etwas kühne These, die sich allerdings als richtig erweisen sollte. Doch nicht nur
beim Reichstag ergaben sich Veränderungen: Im August 1916 sah sich der Kaiser
unter dem Druck der öffentlichen Meinung gezwungen, die Oberste Heeresleitung
an den Tannenberg-Sieger Hindenburg und dessen Ersten Generalquartiermeister
Ludendorff zu übertragen, was erhebliche Machtverschiebungen auch innerhalb
der Exekutive zur Folge hatte: „Hindenburg wurde immer mehr zum heimlichen,
aber wirklichen Kriegskaiser, Ludendorff zum eigentlichen obersten
Regierungschef"67 Die Konfliktpotentiale häuften sich in der Folgezeit und trugen
zur Verschärfung der innenpolitischen Lage sowie zu verstärkten
Auseinandersetzungen zwischen der OHL einerseits und dem Reichstag
andererseits bei: Die schlechte Versorgungslage der Bevölkerung, der Widerstand
der Konservativen und der OHL gegen die Reform des preußischen
Dreiklassenwahlrechts und gegen eine Reform der Bismarckschen
Reichsverfassung, das Scheitern eines Verständigungsfriedens, den Bethmann
Hollweg den Kriegsgegnern Ende 1916 angeboten hatte, der Anfang 1917
beschlossene uneingeschränkte U-Bootkrieg und der hierdurch provozierte
Kriegseintritt der USA oder die unterschiedliche Bewertung der russischen
Revolution waren die wichtigsten Ursachen, die den Graben zwischen dem
Reichstag und der OHL vertieften. Dass Reichskanzler Bethmann Hollweg
versuchte, einen mittleren Weg zu gehen, nützte ihm auf die Dauer nichts. Je
stärker der Widerstand der Konservativen gegen Reformen wuchs und je
unentschlossener die Regierung agierte, desto stärker wurden die Bemühungen
der „Linken" im Reichstag, sich enger zusammenzuschließen.68 Ende März 1917
setzte der Reichstag auf Initiative der Nationalliberalen mit überwältigender
Mehrheit einen Verfassungsausschuss ein, der sich u. a. mit dem künftigen
Wahlrecht in den Einzelstaaten und mit der Reform der Reichsverfassung
befassen sollte.69 Eine Debatte im Preußischen Herrenhaus kurz zuvor über das
preußische Wahlrecht, in der die Konservativen keine Zugeständnisse machen
wollten und teilweise sogar die Angleichung des Reichstagswahlrecht an das
Dreiklassenwahlrecht forderten,70 hatte das Fass endgültig zum Überlaufen
gebracht.
Wichtiger als die Arbeit des Verfassungsausschusses war zu diesem Zeitpunkt
jedoch die Umorientierung des Zentrums in der Friedensfrage, das insbesondere
von Matthias Erzberger aus seiner Unterstützung der Kriegszielpolitik der
Konservativen und der Nationalliberalen herausgelöst und auf die Forderung nach
einem Verständigungsfrieden ohne Annexionen festgelegt wurde. Mit diesem
Interfraktioneller
Ausschuss
65
Bermbach, Vorformen parlamentarischer Kabinettsbildung, S. 44
Zit. nach Matthias/Morsey (Hrsg.), Der Interfraktionelle Ausschuss, S. XIV
67
Eschenburg, Die Republik von Weimar, S. 38
68
Bermbach, a.a.O. (Anm. 65), S. 49
69
Hierzu insbes. Rauh, Paralemtarisierung des Deutschen Reiches, S. 365 ff.
70
Rauh, a.a.O., S. 367
66
41
Emil Hübner: Parlament und Regierung. Internet-Version. 18.8.2003. PDF.
Kapitel II: Grundzüge der deutschen Institutionengeschichte
Schwenk des Zentrums war der Weg frei für eine enge Zusammenarbeit mit den
Sozialdemokraten und der Fortschrittspartei und damit auch für die Gründung des
Interfraktionellen Ausschusses.
Dieser Interfraktionelle Ausschuss, der keinen offiziellen Reichstagsausschuss,
sondern ein Koordinationsgremium der „Mehrheitsfraktionen" darstellte, trat nach
intensiven Vorgesprächen erstmals am 6. Juli 1917 zusammen, wobei sich
zeitweise auch die Nationalliberalen beteiligten.
„Der Interfraktionelle Ausschuss war Ausdruck und in gewissem Sinne
vorläufiger Endpunkt einer Entwicklung, die sich seit der wilhelminischen
Zeit abgezeichnet hatte: Der Gegensatz im parlamentarischen Bereich
zwischen Befürwortern und Gegnern des Kaiserreiches wurde
überwunden im gemeinsamen Bemühen um die Reform des
Regierungssystems".71
Außen- und Kriegszielpolitik überschatteten zunächst die innenpolitischen
Reformpläne, Obwohl mit dem Interfraktionellen Ausschuss die wichtigste
Voraussetzung für eine Parlamentarisierung des Reiches geschaffen war, fasste
dieser Prozess nur langsam Tritt und kam auch nur stufenweise voran, Anfangs
jedenfalls wurde
„in keiner Partei ernsthaft erwogen, eine Einigung der Mehrheit auf einen
Parteiführer als Kanzlerkandidaten herbeizuführen und eine
Regierungsbildung nach den Regeln des parlamentarischen Systems
durchzusetzen".72
Bethmann Hollweg, der den Friedensforderungen und dem gesamten Kurs der
neuen Mehrheit durchaus nicht nur ablehnend gegenüberstand und der zwischen
den Fronten zu lavieren versuchte, war das erste Opfer der neuen Situation:
Einerseits weil die OHL und die Konservativen sich gegen ihn stellten und weil
andererseits Zentrum und Mehrheitssozialdemokratie keine Anstalten zu seiner
Stützung machten. Am 19. Juli 1917 verabschiedete der Reichstag mit den
Stimmen der Mehrheitssozialdemokratie, des Zentrums und der Fortschrittspartei
seine erste außenpolitische Initiative, die sog. „Friedensresolution", in der die
Reichstagsmehrheit einen Verständigungsfrieden und eine dauernde Versöhnung
der Völker anstrebte und „erzwungene Gebietserwerbungen und politische,
wirtschaftliche oder finanzielle Vergewaltigungen" mit einem solchen Frieden für
unvereinbar erklärte.73 Bethmann Hollwegs Nachfolger als Reichskanzler wurde
Georg Michaelis - ein hoher, zugleich aber blässlicher preußischer
Verwaltungsbeamter, der auch das Plazet der OHL erhielt. Die
Reichstagsmehrheit hatte auf seine Ernennung keinen Einfluss: Der Kaiser hatte
ihn - so die Formulierung des MSPD-Abgeordneten David - den Deutschen „wie
den Kindern zu Weihnachten als neuen Engel an den Tannenbaum gebunden."74
Michaelis nahm zwar einige Parlamentarier -u. a. August Müller (MSPD) oder
Eugen Schiffer (NL) - in seine Regierung auf und vollzog damit einen ersten
Friedensresolution
71
Nipperdey, a.a.O. (Anm. 42), S. 839
Grosser, Vom monarchistischen Konstitutionalismus ..., S. 129
73
Zit. nach Dederke, Reich und Republik, S. 18
74
Zit. nach Schulze, Weimar, S. 144
72
41
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Kapitel II: Grundzüge der deutschen Institutionengeschichte
Schritt, zu dem auch Bethmann-Hollweg bereit gewesen wäre, in Richtung auf
eine engere Verflechtung von Reichsregierung und Reichstag. Mit der
Regierungszusammensetzung
allerdings
waren
die
Mitglieder
des
Interfraktionellen Ausschusses alles andere als zufrieden. Die Friedensresolution
wiederum war Michaelis nur bereit, in der Form zu tragen, „wie ich sie auffasse" so die immer wieder zitierte klassische Formulierung. Was dies realiter bedeutete,
zeigt ein Schreiben von Michaelis an den Kronprinzen, in dem er von einer
„berüchtigten Resolution" sprach, der er durch seine Interpretation ihre „größte
Gefährlichkeit geraubt" habe und mit der man „jeden Frieden . . ., den man will",
machen könne.75
Die Mitglieder des Interfraktionellen Ausschusses hatten keine einheitlichen
Vorstellungen von der Reform der Institutionen des Kaiserreiches. Am weitesten
gingen die Nationalliberalen, denen es allerdings im Wesentlichen darauf ankam,
über innenpolitische Reformen den außenpolitischen Kurs weitgehend zu retten.
Auch die Sozialdemokraten drängten auf eine Parlamentarisierung, hielten aber
eine Reform des preußischen Dreiklassenwahlrechts für vorrangig. Zentrum und
FVP zeigten sich in dieser Frage innerparteilich deutlich mehr zerstritten als die
beiden anderen Parteien. Trotz dieser keineswegs einheitlichen Positionen kann
man
sozusagen
als
kleinsten
gemeinsamen
Nenner
ein
Parlamentarisierungsmodell des Interfraktionellen Ausschusses konstruieren: An
die Abschaffung der Monarchie dachte niemand, nicht einmal die
Sozialdemokraten. In erster Linie kam es den Mitgliedern des Interfraktionellen
Ausschusses darauf an, den Reichskanzler an den Reichstag zurückzubinden. Das
Recht der Kanzlerauswahl wollte man dem Monarchen nicht nehmen, aber der
jeweilige Kanzler sollte auf die programmatischen Vorstellungen der
Parlamentsmehrheit verpflichtet werden. Die Ministerauswahl oblag nicht dem
Kanzler, sondern den Mehrheitsparteien, die auf diese Weise einen verlängerten
Arm im Kabinett erhalten sollten, der ihnen eine effiziente Regierungskontrolle
ermöglichte.76
Wie
stark
außenpolitische
Überlegungen
auf
die
Parlamentarisierungsbemühungen einwirkten, zeigen bereits einige wenige
Auszüge von Reden aus der ersten Sitzung des Interfraktionellen Ausschusses:77
Erzberger z.B. erklärte, dass ohne Änderung des Systems kein Frieden zu haben
sei. Der nationalliberale Abgeordnete Hartmann Freiherr von Richthofen verstieg
sich zu der Hoffnung: „Etwas Unangenehmeres, als ein solcher Wechsel. für die
Feinde kann nicht gedacht werden." Richthofens Vorschlag, über eine
gemeinsame Plattform der inneren und äußeren Politik die Regierung in die Hand
zu nehmen, nannte Eduard David vom rechten Flügel der Sozialdemokraten eine
„ungeheuerliche Tat", vor der man allerdings nicht zurückzuschrecken brauche,
die man aber vorher mit dem Kanzler und dem eigentlichen Adressaten, dem
Kaiser, verhandeln müsse.
Ziele des
Interfraktionellen
Ausschusses
Dass der neue Reichskanzler Michaelis den Vorstellungen des Interfraktionellen
Ausschusses nicht entsprechen konnte, zeigt mit besonderer Deutlichkeit ein Zitat
von Friedrich Naumann (FVP) aus dem August 1917: „Die Monarchie lobt das
75
Zit. nach Dederke, a.a.O. (Anm. 73), S. 18
Hierzu Bermbach, a.a.O. (Anm. 65), S. 96 ff.
77
Die folgenden Zitate bei Matthias/Morsey (Hrsg.), a.a.O. (Anm. 66), S. 6 ff.
76
41
Emil Hübner: Parlament und Regierung. Internet-Version. 18.8.2003. PDF.
Kapitel II: Grundzüge der deutschen Institutionengeschichte
Volk, aber hört es nicht! Sie schickt ihm einen Reichskanzler, wie man einen
Gouverneur in eine Kolonie sendet: Gehe hin und regiere."78 Der Interfraktionelle
Ausschuss stand mit Michaelis von Anfang über Kreuz.
„Es wäre schon im Spätsommer 1917 ein Leichtes gewesen, einen Führer
der Mehrheitsparteien an die Stelle des Reichskanzlers zu setzen, denn
selbst Ludendorff hoffte darauf, um die zunehmenden inneren Unruhen zu
beschwichtigen und den Reichstag zu domestizieren. Aber die Parteiführer
waren unfähig, sich auf einen Kandidaten zu einigen; stattdessen
versanken sie in endlosen Geschäftsordnungsdebatten, zweitrangigen
taktischen Differenzen und Streitereien um den Vorsitz im
Interfraktionellen Ausschuss."79
Ende Oktober 1917 war aber die Geduld des interfraktionellen Ausschusses zu
Ende – u. a, wegen der Verdächtigungen von Michaelis gegenüber Abgeordneten
der Unabhängigen Sozialdemokratie, die er in Verbindung mit den
Matrosenaufständen in Kiel und Wilhelmshaven gebracht hatte: In einem
gemeinsamen Schreiben an den Chef des Zivilkabinetts des Kaisers forderte man
den Rücktritt von Michaelis, den der Kaiser daraufhin entließ, zumal auch der
Obersten Heeresleitung Zweifel an den Fähigkeiten von Michaelis gekommen
waren.80 Mit dem Verlangen nach dem Rücktritt des Kanzlers verbanden die
Parteien des Interfraktionellen Ausschusses
Ablösung von
Michaelis
„die Forderung, ein Nachfolger möge sich vor seiner Ernennung mit ihnen
über ein Regierungsprogramm und das Regierungspersonal verständigen
... Immerhin, diese Forderung der Reichstagsmehrheit zielte auf den
Umsturz des konstitutionellen Systems."81
Auf einen eigenen Kandidaten hatten sieh die Mitglieder des Interfraktionellen
Ausschusses allerdings immer noch nicht geeinigt, so dass Michaelis den
bayerischen Ministerpräsidenten und konservativen Zentrums-Mann Georg Graf
von Hertling als seinen Nachfolger vorschlagen konnte. Im Gegensatz zur
vorangegangenen Regierungsbildung wurde der Interfraktionelle Ausschuss vor
der Ernennung Hertlings gehört und erreichte „Vereinbarungen mit ihm über die
Zusammensetzung des Ministeriums im Reich und in Preußen und über das
Regierungsprogramm"82, wobei sieh der Interfraktionelle Ausschuss erst nach
langwierigen Rangeleien mit Hertling im Wesentlichen durchsetzen konnte.83
Die Ära Hertling wurde zu einer Übergangsperiode,
„in welcher das Parlament zwar bereits der Regierung Richtlinien der
Politik vorschreiben konnte, aber aus verschiedenen Gründen keine
Gewähr gegeben war, dass sie auch eingehalten wurden".84
78
Zit. Nach Eschenburg, a.a.O. (Anm. 67), S. 41
Schulze a.a.O. (Anm. 74), S. 146
80
H. Mommsen, a.a.O. (Anm. 64), S. 18
81
Nipperdey, a.a.O. (Anm. 42), S. 844
82
Kuno Graf von Westarp, zit. nach Rauh, a.a.O. (Anm. 69), S. 407
83
Bermbach, a.a.O. (Anm. 65), S. 190 ff.
84
Rauh, a.a.O. (Anm. 69), S. 412
79
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Kapitel II: Grundzüge der deutschen Institutionengeschichte
Der gewichtigste Grund war das Andauern der ungebrochenen Machtstellung der
Obersten Heeresleitung, die insbesondere durch den Waffenstillstand mit
Russland im Dezember 1917 und den Friedensschluss von Brest-Litowsk
letztmals eine Verlängerung erfahren hatte. Aber der Fehlschlag der MärzOffensive 1918 im Westen sollte zeigen, dass vom deutschen Heer nichts mehr zu
fürchten war, und die alliierte Offensive im August läutete das Ende des Krieges
ein. Insofern war die Forderung Ludendorffs nach der umgehenden Bildung einer
Regierung auf parlamentarischer Grundlage und der Abgabe eines deutschen
Waffenstillstandsangebotes binnen 24 Stunden Ende September 1918 nur
konsequent. Überraschend kam sie nur, weil es die Oberste Heeresleitung bisher
unterlassen hatte, die Parlamentarier hinreichend über die jüngsten
Kriegsereignisse zu informieren. Dass es Ludendorff mit dieser Forderung auch
darum ging, die Nachwelt von der eigenen Schuld für die Niederlage abzulenken,
zeigen seine Ausführungen vor Offizieren der Obersten Heeresleitung am 1.
Oktober 1918 mit nicht zu überbietender Deutlichkeit:
Die Rolle der
obersten
Heeresleitung
„Ich habe aber S. M. gebeten, jetzt auch diejenigen Kreise an die
Regierung zu bringen, denen wir es in der Hauptsache zu danken haben,
dass wir so weit gekommen sind. Wir werden also diese Herren jetzt in die
Ministerien einziehen sehen. Die sollen nun den Frieden schließen, der
jetzt geschlossen werden muss. Sie sollen die Suppe jetzt essen, die sie uns
eingebrockt haben."85
„Sie sollen die Suppe jetzt essen, die wir ihnen eingebrockt haben", wäre
allerdings die exaktere Formulierung gewesen. Dass hier die Grundlagen für die
„Dolchstoßlegende" gelegt wurden, zeigen auch die Ausführungen von
Ludendorffs Nachfolger General Wilhelm Groener:
„Mir konnte es nur lieb sein, wenn bei diesen unglückseligen
Verbandlungen, von denen nichts Gutes zu erwarten war, das Heer und
die Heeresleitung so unbelastet wie nur möglich blieb ... Es kam mir und
meinen Mitarbeitern darauf an, die Waffe blank und den Generalstab für
die Zukunft unbelastet zu erhalten."86
So unstrittig die negativen Folgen dieses Manövers der Obersten Heeresleitung
für die kommende neue Republik auch sein mochten, ob man diesen Schritt
Ludendorffs gleichzeitig als Verordnung der Parlamentarisierung von Seiten des
Militärs deuten kann, erscheint mehr als fragwürdig. Schulze z. B. sieht die erste
deutsche Demokratie nicht als Folge einer „Erhebung der Parteien und des
Parlaments ... Nicht aus eigener Legitimation entstand die Republik, sondern als
letzter Ausweg eines ratlosen Generalstabes."87 Zum einen ist zu bedenken, dass
Ludendorff mit diesem Verlangen nur einer Forderung des amerikanischen
Präsidenten Woodrow Wilson nachkam, der der Überzeugung war, dass ein
dauerhafter Frieden, der seine im Januar 1918 in einer Kongressbotschaft
dargelegten vierzehn Punkte zum Inhalt hatte, nur zwischen Regierungen, die
Ausdruck der Volksmeinung darstellten, geschlossen werden könne. Die Parla-
85
Zit. nach Schulze, a.a.O. (Anm. 74), S. 148
Zit. nach Schulze, a.a.O., S. 149
87
Schulze, a.a.O., S. 148
86
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Kapitel II: Grundzüge der deutschen Institutionengeschichte
mentarisierung der Reichsregierung war somit Voraussetzung für ein Eingehen
auf die Vorgaben Wilsons. Zum anderen wird man den Mehrheitsparteien im
Reichstag zwar vorwerfen können, dass sie zu viele Rücksichten auf die Militärs
genommen haben und dass ihr zögerliches Verhalten durch unterschiedliche
Parlamentarismus-Konzeptionen bzw. taktische Finessen88 sowie durch den
chronischen „Mangel an qualifizierten Führungskräften"89 zu erklären ist. Aber es
scheint doch fragwürdig, einen Prozess, der weit bis in die Vorkriegszeit
zurückreicht und der bereits vor der Ludendorffschen Erklärung wieder an Fahrt
gewonnen hatte, außer Acht zu lassen und den General, der nur die
Bankrotterklärung des Kaiserreiches formuliert hatte, sozusagen zum „Vater der
Weimarer Republik" zu erklären.
Diese durch den rapiden Verfall des Ansehens der Regierung bei der Bevölkerung
verstärkten Parlamentarisierungsbemühungen im Interfraktionellen Ausschuss seit
Anfang September 1918 wurden zwar zunächst noch einmal vom Zentrum
gebremst.90 Aber nach einer Sitzung von Reichstagsfraktion und Parteiausschuss
der SPD am 23. September 1918 waren sie nicht mehr umkehrbar91 und führten
dann Ende September zu einer Einigung und zum Sturz Hertlings. Der Kaiser
beauftragte Vizekanzler Friedrich von Payer (FVP) und den Staatssekretär
Siegfried Graf von Roedern mit der Ausarbeitung einer Kabinettsliste für den
Kanzler,92 der noch nicht ernannt war und für den der Interfraktionelle Ausschuss
wiederum keinen geeigneten Kandidaten anzubieten hatte. Der Kaiser berief
schließlich auf Betreiben von Conrad Haußmann (FVP) Prinz Max von Baden am
3. Oktober 1918 zum letzten Reichskanzlers des Kaiserreiches. Der
Interfraktionelle Ausschuss bestimmte dann im Wesentlichen Programm und
Zusammensetzung der neuen Regierung, er hatte sich endgültig vom
Koordinations- zum Koalitionsausschuss der Mehrheitsparteien gewandelt.93
Hertlings Sturz
und die Oktoberverfassung
Unter der Regierung Max von Baden wurden dann auch die Bemühungen um eine
Parlamentarisierung des Kaiserreiches mit der sog. „Oktoberverfassung" zu einem
formellen Abschluss gebracht, wobei der Druck des amerikanischen Präsidenten
Wilson beschleunigend wirkte. Die am 26. Oktober 1918 vom Reichstag und am
28. Oktober 1918 vom Bundesrat verabschiedeten Verfassungsänderungen
„bildeten nur noch die Konsequenz der faktischen Machtverhältnisse, die sich im
Oktober ausgebildet hatten"94 Sie sahen u. a. vor, dass der Reichskanzler künftig
vom Vertrauen des Reichstages abhängig war und die Verantwortung für alle
Handlungen des Kaisers von politischer Bedeutung zu übernehmen hatte;
außerdem wurden die Inkompatibilitätsregelungen des Art. 21 Abs. 2 der
88
Hierzu insbesondere Grosser, a.a.O. (Anm. 72), S. 129 ff.
H. Mommsen, a.a.O. (Anm. 64), S. 18
90
Ausführlicher Bericht hierzu Bermbach, a.a.O. (Anm. 65), S. 220 ff.
91
Matthias/Morsey (Bearb.): Die Regierung des Prinzen Max von Baden, S. XIII
92
Bermbach, a.a.O. (Anm. 65), S. 271
93
Bermbach, a.a.O., S. 286, S. 306
94
Grosser, a.a.O. (Anm. 72), S. 151
89
41
Emil Hübner: Parlament und Regierung. Internet-Version. 18.8.2003. PDF.
Kapitel II: Grundzüge der deutschen Institutionengeschichte
Bismarckschen Reichsverfassung aufgehoben und Kriegserklärungen sowie
Friedensschlüsse an die Zustimmung von Reichstag und Bundesrat gebunden.95
Ein Diskussionsprozess, ohne den die Weimarer Reichsverfassung nicht zu
denken ist,96 war zum Abschluss gekommen. Die Novemberrevolution, die nach
dem verlorenen Krieg einen Schlusspunkt unter das Kaiserreich setzte, konnte den
Fortgang des begonnenen Verfassungswandels nicht verhindern.
Nicht überlebt hat allerdings die Monarchie. Der Kaiser geriet nun unter immer
stärkeren außenpolitischen Druck. Nachdem er auch im Heer und bei den Massen
seinen Rückhalt verloren hatte und nachdem sich am 7. November 1918 auch die
Führung der Sozialdemokratie der Rücktrittsforderung anschloss, ging Wilhelm
Il. am 10. November 1918 nach Holland ins Exil und unterschrieb am 28.
November 1918 seine Abdankungsurkunde. „Das war nicht eben heroisch und
schon gar nicht sehr preußisch, aber es vermied den Bürgerkrieg."97
4. Das Regierungssystem der Weimarer Reichsverfassung
„Die Oktoberreformen hatten keine eigenständige Wirkung mehr, sondern gingen
auf in der Radikalisierung der Novemberrevolution."98 Allerdings: Auch wenn
diese Reformen nicht mehr in der Lage waren, das Regierungssystem des
Kaiserreiches mit neuem Leben zu erfüllen, sie wirkten weiter und beeinflussten
die Diskussion um die neu zu schaffende Verfassung stärker, als häufig
eingestanden wird. Ernst Fraenkels These, dass sich die Weimarer
Verfassungsväter maßgeblich von Vorstellungen leiten ließen, die sie von
außerdeutschen demokratischen Verfassungssystemen hatten, und dass sie
schließlich nicht die englische Verfassung, sondern die Glosse rezipierten, die
französische Monarchisten zu ihr geschrieben hatten,99 verkennt diese
Verankerung der Weimarer Reichsverfassung im Kaiserreich. Die westlichen
Regierungssysteme spielten zwar in den Verfassungsdiskussionen am Ende des
Kaiserreiches und am Beginn der Weimarer Republik eine nicht unwichtige Rolle
und hatten auch gelegentlich Vorbildfunktion, für die Mehrheit der an dieser
Diskussion Beteiligten war jedoch die Abgrenzung gegenüber den
Verfassungskonstruktionen der westlichen Demokratien von herausragender
Bedeutung,100 und es war symptomatisch, dass der Zentrumsabgeordnete Karl
Trimborn
die
Regierung
Hertling
als
eine
„deutsche
Weiterwirken der
Parlamentarisierungsdebatte
95
Zur Kritik an den teilweise problematischen Formulierungen dieser Verfassungsänderungen
siehe z.B. Rauh, a.a.O. (Anm. 69), S. 457 ff.
96
Bermbach a.a.O. (Anm. 65), S. 62
97
Nipperdey, a.a.O. (Anm. 42), S. 874
98
Nipperdey, a.a.O., S. 868
99
Fraenkel, Deutschland und die westlichen Demokratien, S. 194, S. 200. Zum Einfluss von
Robert Redslob auf die Verfassungsdiskussion in Weimar siehe auch: W.J. Mommsen, Max
Weber, S. 372 ff.; ähnlich auch: Möller, Parlamentarismus-Diskussion in der Weimarer Republik,
S. 140 f.
100
Grosser, a.a.O. (Anm. 72), S. 138 ff.
41
Emil Hübner: Parlament und Regierung. Internet-Version. 18.8.2003. PDF.
Kapitel II: Grundzüge der deutschen Institutionengeschichte
Form parlamentarischer Regierung"101 bezeichnete. Diese Abgrenzungsversuche
sollten - zumindest unterbewusst - weiterwirken. Doch bevor die eigentlichen
Verfassungsberatungen beginnen konnten, war erst noch eine zwar kurze, aber
schwierige Wegstrecke zurückzulegen.
Nachdem die Auflehnung der Matrosen in Kiel auf das gesamte Land ansteckend
wirkte, sich Anfang November in vielen größeren Städten Arbeiter- und
Soldatenräte gebildet hatten und die Revolution schließlich am 9. November 1918
Berlin erreichte, mussten die Sozialdemokraten befürchten, dass ihnen die
Führungsrolle in der Arbeiterbewegung von radikalen Kräften aus der Rand
genommen werden könnte:
Novemberrevolution
„Die Sozialdemokraten mussten ... damit rechnen, dass auch viele ihrer
Anhänger einem Aufruf der radikalen Linken zum Massenstreik folgen
würden. Angesichts der Stimmung in den Betrieben empfahl sich das
Vorgehen, zu dem Scheidemann in der Fraktion schon am 6. November
geraten hatte: Jetzt heißt's, sich an die Spitze der Bewegung zu stellen,
sonst gibt's doch anarchische Zustände im Reich'. Insofern hat sich die
Rolle der SPD am Morgen des 9. November nur äußerlich geändert. Sie
verwandelte sich nicht über Nacht von einer Regierungspartei in eine
revolutionäre Bewegung, sondern blieb Ordnungskraft. Sie sprang auf
einen fahrenden Zug, dessen Lokomotive nicht besetzt war, und brachte
ihn unter Kontrolle ... Sie handelte aus Selbsterhaltungsinteresse - und aus
Verantwortungsbewusstsein."102
Nachdem Max von Baden am 9. November 1918 die Reichskanzlerschaft an
Friedrich Ebert übergeben hatte, beabsichtigte dieser für kurze Zeit, die bisherige
Mehrheit aus dem Interfraktionellen Ausschuss um die Unabhängigen
Sozialdemokraten zu erweitern und eine Regierung auf der Basis der
Oktoberverfassung zu bilden, weshalb er auch empört auf die Ausrufung der
Republik durch Philipp Scheidemann reagierte. Dieser Plan Eberts war jedoch in
Anbetracht der mobilisierten Berliner Arbeiterschaft illusionär. Einerseits folgte
die MSPD der Scheidemannschen Devise, sich an die „Spitze der Bewegung" zu
stellen und mobilisierte umgehend ihre Anhänger für die Neuwahlen der Berliner
Arbeiterund Soldatenräte am 10. November 1918. Andererseits trat sie noch am
Morgen des 9. November 1918 in Koalitionsverhandlungen mit der USPD ein.
Bei der USPD war allerdings die Regierungsbeteiligung zwischen dem rechten
und dem linken Flügel umstritten, Ebert bot den Unabhängigen die Bildung eines
Kabinetts an, das zu gleichen Teilen aus Mitgliedern der USPD und der MSPD
bestehen sollte und dem Fachminister aus den linken bürgerlichen Parteien zur
Seite stehen sollten.103 In den Koalitionsverhandlungen, bei denen die MSPD u. a.
die Forderung der USPD nach der Einführung eines Rätesystems ablehnte, einigte
man sich am 10. November 1918 auf die Etablierung des sog. „Rates der
Volksbeauftragten", dem anfangs Ebert, Scheidemann und Landsberg von der
MSPD sowie Haase, Dittmann und Barth von der USPD als gleichberechtigte
Mitglieder angehörten. Die politische Gewalt sollte „in den Händen der Arbeiter-
101
Zit nach Bermbach, a.a.O. (Anm. 65), S. 123
Winkler, Von der Revolution zur Stabilisierung, S. 43 f.
103
Auch zum Folgenden: Winkler, a.a.O:, S. 51 ff.
102
41
Emil Hübner: Parlament und Regierung. Internet-Version. 18.8.2003. PDF.
Kapitel II: Grundzüge der deutschen Institutionengeschichte
und Soldatenräte, die zu einer Vollversammlung aus dem ganzen Reich alsbald
zusammenzurufen sind", liegen. Über die Einberufung einer Verfassunggebenden
Versammlung sollte „erst bei einer Konsolidierung der durch die Revolution
geschaffenen Zustände" entschieden werden.104 Während die USPD die
Einberufung der Verfassunggebenden Versammlung zu verzögern suchte, blieb
die Mehrheitssozialdemokratie bei ihrem bisherigen Kurs und drängte auf eine
möglichst schnelle Beendigung der revolutionären Übergangsregelungen durch
Neuwahlen. Auf dem Ersten Rätekongress, der vorn 16. bis zum 20. Dezember
1918 in Berlin tagte, setzten die in deutlicher Mehrheit der MSPD nahestehenden
Delegierten den 19. Januar 1919 als Wahltermin für die Verfassunggebende
Versammlung fest. Die MSPD hatte sich mit ihrem Kurs endgültig behauptet.
Inzwischen waren die Vorarbeiten für die spätere Weimarer Verfassung bereits
angelaufen. Friedrich Ebert hatte im November den Staatsrechtler Hugo Preuß,
der der Deutschen Demokratischen Partei (DDP) angehörte, zum Staatssekretär
im Innenministerium berufen und ihn mit der Aufgabe betraut, eine neue
Verfassung auszuarbeiten. Einen ersten Verfassungsvorschlag legte Preuß Anfang
Dezember 1918 dem Rat der Volksbeauftragten vor, der ihn zustimmend zur
Kenntnis nahm. Vom 9. bis 12. Dezember 1918 fand dann die erste wichtige
Vorbesprechung im Innenministerium statt, an der neben Politikern und Beamten
der beteiligten Ressorts auch der bekannte Soziologe Max Weber als Berater
teilnahm.
Vorarbeiten
zur WRV
„Der Preußsche Verfassungsausschuss war, obgleich er keinen offiziellen
Charakter besaß und streng vertraulich tagte und auch keine Abstimmungen
zuließ, tatsächlich die Geburtskammer der Weimarer Reichsverfassung; hier
bereits fielen wichtige Entscheidungen, die das Verfassungswerk grundlegend
bestimmt und im Kern alle spätere Beratungen überdauert haben."105
Allerdings: Der aus diesen Verfassungsberatungen hervorgegangene sog.
„Entwurf I" von Hugo Preuß, der Anfang Januar 1919 fertiggestellt wurde, sollte
insbesondere hinsichtlich der Föderalismusfrage und der Grundrechte noch
wesentliche Änderungen erfahren. Die Grundstrukturen der künftigen
Beziehungen zwischen Parlament und Regierung waren in diesem „Entwurf I"
weitgehend vorgezeichnet, auch wenn der Rat der Volksbeauftragten z. B. die
Amtszeit des Reichspräsidenten von zehn auf sieben Jahre herabsetzte und die
Bestimmung einfügte, dass der Reichstag nur einmal aus dem gleichen Anlass
aufgelöst werden dürfe.106
Die Wahl zur Verfassunggebenden Nationalversammlung brachte den Parteien
der ehemaligen Koalition des Interfraktionellen Ausschusses eine deutliche
Mehrheit: Die MSPD erhielt 37,9% der Stimmen und 165 Mandate und wurde
stärkste Fraktion. Auf das Zentrum entfielen 19,7% der Stimmen und 91 Sitze.
Die Deutsche Demokratische Partei (DDP) schließlich kam auf 18,5% der
Zusammensetzung der
Nationalversammlung
104
Winkler, a.a.O., S. 53
W.J. Mommsen, a.a.O. (Anm. 99), S. 380
106
Hierzu z.B. Potthoff, Das Weimarer Verfassungswerk, S. 453 ff.
105
41
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Kapitel II: Grundzüge der deutschen Institutionengeschichte
Stimmen und 75 Mandate. Zusammen war dies mehr als eine 3/4-Mehrheit der
Stimmen und der Mandate in der Weimarer Nationalversammlung. Die USPD,
die formal gleichberechtigt mit der MSPD im Rat der Volksbeauftragten vertreten
war, erhielt nur 7,6% der Stimmen und 22 Mandate. Auf die konservative
Deutschnationale Volkspartei (DNVP) entfielen 10,3% der Stimmen und 44 Sitze,
und die Nachfolgerin der Nationalliberalen, die Deutsche Volkspartei (DVP) kam
auf ganze 4,4% der Stimmen und 19 Mandate. Die restlichen Stimmen und
Mandate gingen an Splitterparteien. Wie von großen Teilen der MSPD erhofft,
war die erzwungene Zusammenarbeit mit der linken Schwesterpartei durch diese
Wahl beendet, und die Partei konnte mit dem Zentrum und der DDP die durch die
Revolution unterbrochene Kooperation wieder aufnehmen. Diese als „Weimarer
Koalition" bezeichnete Regierungsmehrheit wählte am 11. Februar 1919 Friedrich
Ebert mit 277 gegen 49 Stimmen - die restlichen Stimmen waren Enthaltungen
bzw. ungültig - zum ersten Präsidenten der neuen Republik, der noch am selben
Tag Philipp Scheidemann mit der Regierungsbildung beauftragte. Nur zwei Tage
später wurde das neue Kabinett vereidigt. Die Wahl des ersten Präsidenten und
die Ernennung des ersten Regierungschefs der Weimarer Republik erfolgten auf
der Basis des „Gesetzes über die vorläufige Reichsgewalt", das als Entwurf der
Nationalversammlung am B. Februar 1919 zugeleitet und bereits zwei Tage später
verabschiedet wurde. In diesem Gesetz und in dem sog. „Übergangsgesetz" vom
4. März 1919 wurden im Wesentlichen die Kompetenzen, die in der
Oktoberverfassung für den Kaiser verblieben waren, auf den Reichspräsidenten
übertragen und auch die Bestimmungen über Beziehungen zwischen Parlament
und Regierung blieben im Wesentlichen erhalten. Dies kann wiederum als Beleg
für das Weiterwirken der Oktoberverfassung von 1918 gewertet werden. Im § 4
des Übergangsgesetzes z. B. heißt es wörtlich: „Die Befugnisse, die nach den
Gesetzen und Verordnungen des Reichs dem Kaiser zustehen, gehen auf den
Reichspräsidenten über."107
Übergangsregelungen
Die Ausgestaltung der Beziehungen zwischen Reichspräsident, Reichsregierung
und Reichstag, wie sie der „Entwurf IV" skizzierte, den Innenminister Preuß am
21. Februar 1919 in der Nationalversammlung einbrachte, war - wie die Erste
Lesung des Verfassungsentwurfes am 28. Februar 1919 zeigen sollte - zwischen
den Parteien auch der Regierungsmehrheit umstritten. Für den Sprecher der
Mehrheitssozialdemokratie Richard Fischer war der
„Reichspräsident geradezu mit Diktaturgewalt ausgerüstet ... Die jetzige
Verfassungsvorlage gibt also dem Reichspräsidenten eine höhere,
uneingeschränktere Macht, als sie früher der Kaiser besaß".
Streit um die
Stellung des
Reichspräsidenten
Und seine Warnung auf die Zukunft wurde von der Realität eingeholt:
„Wir dürfen uns hierbei auch nicht von dem Gedanken beeinflussen
lassen, dass jetzt auf dem Posten des Reichspräsidenten ein
Sozialdemokrat steht. War die frühere Reichsverfassung auf den Leib des
Kanzlers Bismarck zugeschnitten - die jetzige Reichsverfassung soll nicht
auf den Leib des Reichspräsidenten Ebert zugeschnitten sein.
107
Zit. nach Huber, Dokumente, Bd. 4, S. 83
41
Emil Hübner: Parlament und Regierung. Internet-Version. 18.8.2003. PDF.
Kapitel II: Grundzüge der deutschen Institutionengeschichte
Wir müssen mit der Tatsache rechnen, dass eines Tages ein anderer Mann
aus einer anderen Partei, vielleicht aus einer reaktionären
staatsstreichlüsternen Partei, an dieser Stelle stehen wird."108
Der DDP-Abgeordnete Koch-Weser hingegen sah die Funktion des Präsidenten
wesentlich positiver:
„Wir sind also der Meinung, dass wir unseren Parlamentarismus durch
eine andere Art der obersten Spitze im Reich ergänzen müssen. Denn ein
Großstaat kann nicht von einer einzigen Körperschaft in seinem Schicksal
abhängig sein wie eine Landgemeinde. Wir sind nicht gewillt, den
Präsidenten lediglich zu einer Repräsentationsfigur werden zu lassen . . .
Was wir erwarten, ist ein Mann, der auf hoher Warte steht und nur dann,
wenn die Stunde der Gefahr herangekommen ist, herabsteigt und in den
Streit der Meinungen mit ernsten Worten eingreift. Wir wünschen aus
diesem Grunde auch, dass der Präsident vom gesamten Volke gewählt
wird, damit er in ernster Stunde ein Gegengewicht gegen die
Parlamentsroutine bildet."109
Koch-Wesers Statement war typisch für die Argumentationsweise der damaligen
Befürworter eines starken Reichspräsidenten:110 Die Vorteile wurden
herausgehoben, die möglichen negativen Aspekte ausgeblendet. Die Weimarer
Konstruktion des Regierungssystems, wie sie schließlich von der
Nationalversammlung verabschiedet wurde, zeichnete sich insbesondere durch
folgende Charakteristika aus.
An der Spitze des Reiches steht der Reichspräsident, der auf sieben Jahre vom
Volk direkt gewählt wird und auch wiedergewählt werden kann (WRV Art. 41,
Art. 43). Der Wahlmodus ist nicht in der Verfassung festgelegt. Während Ebert wie erwähnt - von der Nationalversammlung gewählt und seine Amtsperiode
durch ein verfassungsänderndes Gesetz im Oktober 1922 bis zum 30. Juni 1925
verlängert wurde, galt für die folgenden Wahlen die Bestimmung, dass im ersten
Wahlgang die absolute Stimmenmehrheit nötig war, während beim zweiten
Wahlgang, bei dem - wie Hindenburg im Jahre 1925 - auch neue Kandidaten
hinzukommen konnten, die relative Stimmenmehrheit ausreichte. Auf Antrag
einer Zweidrittelmehrheit des Reichstages kann der Reichspräsident durch eine
Volksabstimmung abgesetzt werden. Für den Fall, dass die Absetzung in der
Volksabstimmung abgelehnt wird, bestimmt die Verfassung in Art. 43. dass dies
gleichzeitig als Neuwahl des Reichspräsidenten gilt und eine Auflösung des
Reichstages zur Folge hat. Der Reichspräsident ernennt und entlässt den
Reichskanzler und auf seinen Vorschlag die Reichsminister (Art. 53), er vertritt
das Reich völkerrechtlich (Art. 45), er ernennt und entlässt die Beamten und
Offiziere des Reiches (Art. 46), er übt den Oberbefehl über die gesamte
Wehrmacht aus (Art. 47), er kann vom Reichstag verabschiedete Gesetze einer
Volksabstimmung unterwerfen (Art. 73 Abs. 1), er kann den Reichstag auflösen,
Stellung des
Präsidenten nach
der Verfassung
108
Heilfron (Hrsg.), Deutsche Nationalversammlung, Bd. 2, S. 924 f.
Heilfron (Hrsg.), a.a.O., Bd. 2, S. 972
110
Siehe z.B. Weber, Max: Der Reichspräsident. – in: ders., Zur Neuordnung Deutschlands.
Schriften und Reden 1918 – 1920. (Hrsg. Von Wolfgang J. Mommsen und Wolfgang
Schwentker). – Tübingen: Mohr 1988 S. 220 – 224 (= Gesamtausgabe I, 16)
109
41
Emil Hübner: Parlament und Regierung. Internet-Version. 18.8.2003. PDF.
Kapitel II: Grundzüge der deutschen Institutionengeschichte
jedoch - wie erwähnt - nur einmal aus dem gleichen Anlass (Art. 25 Abs. I), und
er hat beträchtliche Vollmachten aufgrund des berühmten Artikels 48 der
Weimarer Reichsverfassung, auf den unten noch näher einzugehen sein wird.
Allerdings ist der Reichspräsident bei der Ausübung dieser Vollmachten von der
Unterstützung der Regierung abhängig, da die Verfassung in Art. 50 verlangt:
“Alle Anordnungen und Verfügungen des Reichspräsidenten, auch solche
auf dem Gebiet der Wehrmacht, bedürfen zu ihrer Gültigkeit der
Gegenzeichnung durch den Reichskanzler oder den zuständigen
Reichsminister. Durch die Gegenzeichnung wird die Verantwortung
übernommen."
Die Reichsregierung steht nach der Konstruktion der Weimarer Reichsverfassung
zwischen dem Reichspräsidenten, der sie ernennt bzw. entlässt, und dem
Reichstag, der sie zwar nicht wählt, ihr aber jederzeit mit einfacher Mehrheit das
Vertrauen entziehen kann (Art. 54), was zu einer Rücktrittsverpflichtung des
betroffenen Reichskanzlers bzw. auch der jeweiligen Reichsminister führt. Der
Reichspräsident kann allerdings die betroffenen Regierungsmitglieder mit der
Weiterführung ihrer Geschäfte betrauen, bis eine neue Regierung gebildet ist bzw.
ein Nachfolger ernannt ist. Auch kann der Reichspräsident eine Regierung, deren
Sturz durch ein parlamentarisches Misstrauensvotum droht, durch eine Auflösung
des Parlaments zumindest kurzfristig retten, wie es Reichspräsident Hindenburg
mit den beiden Reichstagsauflösungen im Jahre 1932 demonstrierte.
Der Reichskanzler, und nicht der Reichspräsident, sollte nach dem Willen der
„Weimarer Verfasser der leitende Staatsmann sein",111 was insbesondere die in
Art. 56 festgelegte Richtlinienkompetenz verdeutlicht:
„Der Reichskanzler bestimmt die Richtlinien der Politik und trägt dafür
gegenüber dem Reichstag die Verantwortung. Innerhalb dieser Richtlinien
leitet jeder Reichsminister den ihm anvertrauten Geschäftszweig
selbständig und unter eigener Verantwortung gegenüber dem Reichstag."
Das Kollegialprinzip ist in den Artikeln 57 und 58 festgelegt, die u. a. bestimmen,
dass Gesetzentwürfe der Reichsregierung sowie „Meinungsverschiedenheiten
über Fragen, die den Geschäftsbereich mehrerer Reichsminister berühren", der
Reichsregierung zur Beratung und Beschlussfassung vorzulegen sind, dass die
Reichsregierung ihre Beschlüsse mit Stimmenmehrheit fasst und dass bei
Stimmengleichheit die Stimme des Vorsitzenden - also im Normalfall diejenige
des Reichskanzlers - entscheidet. Die annähernd wortgleichen Formulierungen
der Richtlinienkompetenz des Kanzlers in der Weimarer Reichsverfassung und im
Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland sollten in Anbetracht der
Weimarer Verhältnisse diejenigen, die die starke Stellung des Bundeskanzlers von
seiner Richtlinienkompetenz herleiten, zur Vorsicht veranlassen. Die doppelte
Abhängigkeit der Reichsregierung vom Reichstag und vom Reichspräsidenten
zeigte sich in völlig unterschiedlichen Ausgestaltungen am Beginn und am Ende
der
Weimarer
Republik.
Die
erste
Weimarer
Reichsregierung
111
Poetzsch-Heffter, Fritz: Organisation und Geschäftsformen der Reichsregierung. – in:
Anschütz/Thoma (Hrsg.): Handbuch des Deutschen Staatsrechts, Bd. 1, S. 513
41
Emil Hübner: Parlament und Regierung. Internet-Version. 18.8.2003. PDF.
Kapitel II: Grundzüge der deutschen Institutionengeschichte
verfügte über eine solide Parlamentsmehrheit, sie konnte trotz des Ausscherens
der Deutschen Demokratischen Partei, die später wieder in die Regierung
zurückkehrte, eine Mehrheit für die Annahme und Ratifizierung des heiß
umstrittenen Versailler Vertrages und für die Verabschiedung der Weimarer
Reichsverfassung sicherstellen. Auf die Hilfe des Reichspräsidenten war sie im
Grunde nicht angewiesen. Hier galt noch, was einer der führenden
Verfassungsrechtler der Weimarer Republik. Richard Thoma, für die
Machtbeziehungen zwischen Reichsregierung und Reichspräsident allgemein
feststellte:
„So bedeutsam die dem Reichspräsidenten zugewiesenen Zuständigkeiten
und die ihm zugedachte Rolle auch sind, so soll doch nicht er es sein, der
die Nation ,regiert'. Dies ist vielmehr nach Plan und Wortlaut der
Reichsverfassung Aufgabe des von der Verfassung als Reichsregierung
(Art. 52) bezeichneten, aus dem Reichskanzler und den Reichsministern
bestehenden Reichsorgans, das im politischen Sprachgebrauch auch
häufig das Kabinett' genannt wird."112
Die letzten Reichsregierungen der Weimarer Republik hingegen standen in
vollständiger Abhängigkeit vom Reichspräsidenten, nachdem in Anbetracht der
Parteienzersplitterung eine Mehrheitsbildung im Reichstag ausgeschlossen war.
Die Machtposition des Reichspräsidenten wurde immer stärker, aber der ihm u. a.
zugedachten Rolle, durch eine „kommissarische Diktatur" (C. Schmitt) „die
Verfassung auf Dauer zu retten",113 wurde der Reichspräsident am Ende der
Republik nicht gerecht - im Gegenteil.
Der Reichstag der Weimarer Republik wird „in allgemeiner, gleicher,
unmittelbarer und geheimer Wahl von den über zwanzig Jahren alten Männern
und Frauen nach den Grundsätzen der Verhältniswahl gewählt" (Art. 22 Abs. 1).
Für das Reich bedeutet dies die Einführung des Frauenwahlrechts, für die
einzelnen Länder war der Fortschritt im Wahlrecht noch weitergehend, da der Art.
17 auch für die Länder die allgemeine, gleiche, unmittelbare und geheime Wahl
vorschreibt und damit das bisherige preußische Dreiklassenwahlrecht und andere
Zensuswahlrechtsformen in weiteren Ländern zu den Akten legt. Der Reichstag
hat zwar nicht die Möglichkeit, den Reichskanzler bzw, die Regierung zu wählen,
aber er kann - wie erwähnt - sowohl den Regierungschef als auch die einzelnen
Minister stürzen und hat somit gewichtige Kontrollmöglichkeiten gegenüber der
Regierung. Insbesondere auf Drängen von Max Weber wurde in der Weimarer
Reichsverfassung im Zusammenhang mit der Regierungskontrolle eine
gewichtige Neuerung verankert: die Einsetzung von Untersuchungsausschüssen
ist nicht von einem Mehrheitsbeschluss des Reichstages abhängig, sondern wird
als Minderheitenrecht in der Verfassung festgeschrieben, Art. 34 spricht dem
Reichstag das Recht und „auf Antrag von einem Fünftel seiner Mitglieder die
Pflicht" zu,
Reichstag
112
Thoma, Richard: Die rechtliche Ordnung des parlamentarischen Regierungssystems. – in:
Anschütz / Thoma (Hrsg.) a.a.O., Bd. 1, S. 503
113
Friesenhahn, Ernst: Zur Legitimation und zum Scheitern der Weimarer Reichsverfassung. – in:
Erdmann/Schulze (Hrsg.): Weimar, S. 96
41
Emil Hübner: Parlament und Regierung. Internet-Version. 18.8.2003. PDF.
Kapitel II: Grundzüge der deutschen Institutionengeschichte
„Untersuchungsausschüsse einzusetzen. Diese Ausschüsse erheben in
öffentlicher Verhandlung die Beweise, die sie oder die Antragsteller für
erforderlich erachten . . . Die Gerichte und Verwaltungsbehörden sind
verpflichtet, dem Ersuchen dieser Ausschüsse um Beweiserhebungen
Folge zu leisten; die Akten der Behörden sind ihnen auf Verlangen
vorzulegen".
In veränderter Form findet sich dieses Minderheitenrecht zwar auch im
Grundgesetz, aber es stellt - sieht man von einer entsprechenden Regelung der
portugiesischen Verfassung ab - weltweit bis heute noch eine Ausnahme dar.
Nicht nur in der Kontrolle, auch in der Gesetzgebung wird der Reichstag
gegenüber seinem Vorgänger im Kaiserreich gestärkt, auch wenn er nicht immer
das letzte Wort bekommt. Die Gesetzesinitiative steht neben dem Reichstag auch
der Reichsregierung und dem Reichsrat zu, Einem Gesetzesbeschluss des
Reichstages können nach der Weimarer Reichsverfassung einige Hürden
entgegengestellt werden, die allerdings in der Verfassungsrealität weitgehend
ohne Bedeutung blieben. Zum einen kann der Reichspräsident ein vom Reichstag
beschlossenes Gesetz einem Volksentscheid zuführen (Art. 73 Abs. 1). Zum
anderen kann ein Drittel des Reichstages verlangen, dass die Verkündung eines
Gesetzes für zwei Monate ausgesetzt wird (Art. 72). Wenn in dieser Zeit 5% der
Stimmberechtigten es verlangen, muss das Gesetz einem Volksentscheid
unterbreitet werden (Art. 73 Abs. 2). Ein solcher Volksentscheid kann allerdings
verhindert werden, wenn Reichstag und Reichsrat das entsprechende Gesetz für
dringlich erklären und wenn sich der Reichspräsident dieser Meinung
anschließt.114 Außerdem kann der Reichsrat gegen ein vom Reichstag
beschlossenes Gesetz Einspruch einlegen (Art. 74 Abs. 1). Für den Fall, dass
keine Einigung zwischen Reichstag und Reichsrat zustande kommt, gilt das
Gesetz als gescheitert, wenn nicht der Reichspräsident einen Volksentscheid
anordnet (Art. 74 Abs. 3). Weist der Reichstag einen Einspruch des Reichsrates
allerdings mit Zweidrittelmehrheit zurück, ergibt sich für den Reichspräsidenten
eine andere Wahlmöglichkeit: Nun muss er entweder das Gesetz in der vom
Reichstag beschlossenen Fassung verkünden oder einen Volksentscheid anordnen
(Art. 74 Abs. 3). Allerdings sieht die Verfassung vor, dass sich bei
Volksentscheiden, mit denen ein Rcichstagsbeschluss außer Kraft gesetzt werden
soll, die Mehrheit der Stimmberechtigten beteiligen muss (Art. 75). Von großer
Bedeutung für die Praxis der Gesetzgebung in der Weimarer Republik waren
diese Regelungen allerdings nicht.115
Gesetzgebung
Neben diesen Möglichkeiten, Beschlüsse des Reichstages zu verhindern, sieht die
Weimarer Reichsverfassung auch die Möglichkeit einer eigenen
Gesetzesinitiative des Volkes vor: Über ein Volksbegehren, dem 10% der
Stimmberechtigten zustimmen müssen und dem ein ausgearbeiteter
Gesetzentwurf zugrunde liegen muss, kann ein Volksentscheid erzwungen
werden, wenn der Reichstag das Volksbegehren nicht unverändert akzeptiert (Art.
73
Abs.
3).
Allerdings:
114
Anschütz, Die Verfassung des Deutschen Reichs, S. 382
Bilfinger, Carl: Der Reichsrat – Zuständigkeiten und Verfahren. – in: Anschütz / Thoma
(Hrsg.), a.a.O. (Anm. 111), Bd. 1, S. 561
115
41
Emil Hübner: Parlament und Regierung. Internet-Version. 18.8.2003. PDF.
Kapitel II: Grundzüge der deutschen Institutionengeschichte
Volksentscheide über „den Haushaltsplan, über Abgabengesetze und
Besoldungsordnungen" kann zum einen nur der Reichspräsident anordnen (Art.
73 Abs. 4). Zum anderen bedeutet auch ein solcher Volksentscheid nicht eine
Ausschaltung des Reichstages als Gesetzgebungsorgan, denn die „durch
Volksentscheid beschlossenen oder bestätigten Gesetze haben als solche keine
erhöhte Gesetzeskraft, der Art, dass zu ihrer Abänderung oder Aufhebung
wiederum ein Volksentscheid notwendig wäre."116 Der Reichstag kann ein durch
Volksentscheid beschlossenes Gesetz also jederzeit aufheben.
Der Vater der Weimarer Reichsverfassung Hugo Preuß verlor zwar seinen Kampf
für die Auflösung Preußens, für die Einführung eines dezentralisierten
Einheitsstaates und für die Schaffung eines von den Landtagen zu beschickenden
Staatenhauses, aber der Reichsrat der Weimarer Republik musste trotzdem einen
deutlichen Machtverlust gegenüber seinem Vorgänger im Kaiserreich hinnehmen.
Die Regierungen und nicht die Landtage entsenden nach Art. 63 Abs. 1 die
Mitglieder des Reichsrates. Jedes Land hat mindestens eine Stimme, bei den
größeren Ländern entfällt ursprünglich auf eine Million Einwohner - ab 1921
durch eine Verfassungsänderung pro 700 000 Einwohner - eine Stimme,
außerdem durfte kein Land durch mehr als zwei Fünftel der Stimmen vertreten
sein (Art. 61 Abs. 1). Zur weiteren Schwächung Preußens bestimmt der Art. 63
Abs. 1, dass die Hälfte der preußischen Stimmen von den preußischen
Provinzialverwaltungen zu bestellen ist. Neben den oben dargestellten
Mitwirkungsrechten in der Gesetzgebung wirkt der Reichsrat auch bei der
Verwaltung des Reiches mit (Art. 60) und muss u. a. den allgemeinen
Verwaltungsvorschriften der Reichsregierung zustimmen. Sein Gewicht und seine
aktive, gestalterische Rolle wird man jedoch nicht überschätzen dürfen.117
Die Weimarer Reichsverfassung verfügt in Art. 108, dass per Gesetz ein
Staatsgerichtshof für das Deutsche Reich einzurichten sei, dem per Verfassung
die Schlichtung von Verfassungsstreitigkeiten zwischen dem Reich und den
Ländern (Art. 15 Abs. 3; Art. 18 Abs. 7, Art. 19 Abs. 1, Art. 90, Art. 170 Abs. 2;
Art. 171 Abs, 2), zwischen den Ländern selbst (Art. 19 Abs. 1), innerhalb der
Länder, die kein entsprechendes Gericht etabliert haben (Art. 19 Abs. 1) sowie die
Entscheidung über Anklagen gegen den Reichspräsidenten, den Reichskanzler
und die Reichsminister obliegen. Der Staatsgerichtshof wurde 1921 in Leipzig
etabliert. Weitergehende Entscheidungen wie z. B. über Streitigkeiten zwischen
Verfassungsorganen,
bei
Normenkontrollverfahren
oder
über
Verfasssungsbeschwerden, wie sie inzwischen zum Aufgabenbereich
Bundesverfassungsgericht gehören, standen außerhalb der Kompetenz des
Staatsgerichtshofes.
116
117
Reichsrat
Staatsgerichtshof
Anschütz, a.a.O. (Anm. 114), S. 385
Laufer / Münch, das föderative System, S. 49
41
Emil Hübner: Parlament und Regierung. Internet-Version. 18.8.2003. PDF.
Kapitel II: Grundzüge der deutschen Institutionengeschichte
5. Das Scheitern
Regierungssystems?
der
Weimarer
Republik
-
eine
Folge
des
Es kann in diesem Zusammenhang nicht darum gehen, einen Überblick über die
Geschichte oder über die Verfassungsentwicklung der Weimarer Republik zu
geben. Aber in Anbetracht der Bedeutung, die das Scheitern der Weimarer
Republik für die Verfassungsdiskussion der Bundesrepublik Deutschland hatte
und teilweise noch hat, muss gefragt werden, wo die Gründe dafür zu suchen sind,
dass diese Republik nach einer nur relativ kurzen Lebensdauer dem brutalsten
Terrorregime, das je auf deutschen Boden existierte, weichen musste.
Die Meinungen über die für das Scheitern der Weimarer Republik
verantwortlichen Faktoren gehen bis heute auseinander. Man kann allerdings
feststellen, dass die schon während der Weimarer Republik und in der Frühzeit
der Bundesrepublik herausgestellten Verfassungsbestimmungen im Laufe der Zeit
in ihrer Bedeutung für den Verfall der Weimarer Republik zurückgestuft wurden,
während gesellschaftliche, wirtschaftliche und politische Aspekte stärker in den
Vordergrund gerückt wurden.
Bedenkt man die zunehmende Abhängigkeit der Regierungen am Ende der
Weimarer Republik vom Wohlwollen des greisen Reichspräsidenten und damit
verbunden die verstärkten Rückgriffe auf die Notverordnungen des Art. 48 WRV,
so scheint die These plausibel, dass das semipräsidentielle Regierungssystem eine
„Fehlkonstruktion"118 darstelle, Es habe einen wesentlichen Anteil am
Zusammenbruch der Republik gehabt, weil es den Parteien die Möglichkeit
eröffnete, sich um die politische Verantwortung zu drücken, und weil es so zum
Abgleiten der Republik in ein autoritäres Präsidialregime beigetragen habe, Es
bleibt jedoch die Frage, ob man hierfür im Wesentlichen die Verfassung
verantwortlich machen kann, Zunächst muss an den Wortlaut des Art. 48 Abs. 2
erinnert werden:
Notverordnungsrecht
„Der Reichspräsident kann, wenn im Deutschen Reiche die öffentliche
Sicherheit und Ordnung erheblich gestört oder gefährdet wird, die zur
Wiederherstellung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung notwendigen
Maßnahmen treffen, erforderlichenfalls mit Hilfe der bewaffneten Macht
einschreiten".
Darüber hinaus konnte der Reichspräsident bestimmte Grundrechte außer Kraft
setzen. Die Maßnahmen des Reichspräsidenten bedurften der Gegenzeichnung
durch den Reichskanzler oder den zuständigen Reichsminister (Art. 50 WRV) und
konnten auf Verlangen des Reichstages aufgehoben werden. Bereits unter der
Reichspräsidentschaft Friedrich Eberts wurde in Krisenzeiten der Bereich der
öffentlichen Sicherheit und Ordnung relativ weit interpretiert, ohne dass größerer
Protest laut geworden wäre:
„Bald zeigte sich ... die Neigung, wirtschafts- und finanzpolitische
Schwierigkeiten mit Hilfe des Artikels 48 anzugehen. Erstmals geschah
dies mit einer Verordnung gegen die Spekulation mit ausländischen
Zahlungsmitteln im Oktober 1922. Dies war der Auftakt zu einer Fülle von
Verordnungen
auf
dem
gleichen
Gebiet,
namentlich
im
118
Loewenstein, Verfassungslehre, S. 91
41
Emil Hübner: Parlament und Regierung. Internet-Version. 18.8.2003. PDF.
Kapitel II: Grundzüge der deutschen Institutionengeschichte
Winter 1923/24, die sich selbst auf das Steuerwesen erstreckten. Einige
dieser Maßnahmen waren durchaus auf Dauer berechnet. Sie trugen also
legislativen Charakter und zielten damit auf ein Notverordnungsrecht ab,
das 1919 mit Bedacht nicht eingeräumt worden war."119
Die Phasen des Einsatzes des Art. 48 machen deutlich, dass er mit der Instabilität
der Mehrheiten im Reichstag wuchs. Zunächst wurde noch versucht, die
wirtschaftlichen Probleme über Ermächtigungen an die Regierung zu regeln. Aber
Ebert musste in der spannungsreichen Zeit der ersten Hälfte der 20er Jahre in
insgesamt 136 Fällen zu den Mitteln des Art. 48 greifen, und die Frage scheint
berechtigt, ob die Weimarer Republik ohne diese Kompetenzen des
Reichspräsidenten nicht bereits zu dieser Zeit irreparable Schäden hätte
hinnehmen müssen. In der Konsolidierungsphase der Republik, die kurz vor der
ersten Amtsperiode Hindenburgs einsetzte, ging dann auch die Handhabung des
Notverordnungsrechtes deutlich zurück, bevor sie 1930 in eine neue Phase trat.
Zu diesem Zeitpunkt wandelte sich ein „irreguläres Notverordnungssystem auf
Zeit zum einem regulären Regierungssystem auf Dauer".120 Kennzeichnend für
diesen Wandel war u. a., dass der Reichspräsident am 12. September 1932 den
Reichstag auflöste, „weil die Gefahr besteht, dass der Reichstag die Aufhebung
meiner Notverordnung vom 4. September d. J. verlangt"121 - wegen der „Gefahr"
also, dass der Reichstag von seinem verfassungsmäßigen Recht Gebrauch machen
könnte. Zu Recht wirft Eschenburg dem zweiten Reichspräsidenten vor, er habe
die Verfassung „bei seinem Pflichtbewusstsein genau gelesen, aber doch nur wie
ein Feldwebel sein Exerzierreglement gelesen hat". Ob er sie nicht verstanden
hat122 oder ob er sie nicht verstehen wollte, kann hier offen bleiben. Jedenfalls:
„Die Ausnahmegewalt und ihre Anwendung für sich für den Niedergang der
demokratischen Ordnung verantwortlich zu machen, heißt freilich Symptom und
Ursache verwechseln."123 Wo die wirkliche Ursache lag, macht z. B. die
Interpretation von Friedrich Stampfer deutlicher: Die Reichsverfassung habe - so
Stampfer. - „dem Volk zwei Chancen" gegeben: „es konnte einen brauchbaren
Reichstag und einen brauchbaren Reichspräsidenten wählen; jeder dieser beiden
Faktoren konnte im Notfall für sich allein die Staatsmaschine in Gang halten.
Versagen beide, so war freilich der Zusammenbruch der staatlichen Ordnung
nicht aufzuhalten."124 Dafür, dass das Volk beide ihm gebotenen Chancen nicht
ergriffen hat, kann man schwerlich die Verfassung verantwortlich machen. In
119
Oberreuter, Notstand und Demokratie, S. 49; ähnlich Jasper, Verfassungs- und machtpolitische
Problematik, S. 154 ff.
120
Klaus Revermann, zit. nach Oberreuter, a.a.O., S. 58
121
Zit. nach Huber, Dokumente, Bd. 4, S. 186; zu der bei oberflächlicher Betrachtungsweise
vergleichbaren Reichstagsauflösung durch Ebert im Frühjahr 1924 siehe Jasper, a.a.O. (Anm.
119), S. 155 f.
122
Eschenburg, a.a.O., S. 256
123
Scheuner, Das Amt des Bundespräsidenten, S. 16
124
Stampfer, Friedrich: Die 14 Jahre der ersten Deutschen Republik. – zit. nach: Pörtner, Ernst:
Die Verfassungspolitik der Liberalen 1919. Ein Beitrag zur Deutung der Weimarer
Reichsverfassung. – Bonn: Röhrscheid 1973, S. 253 (= Bonner historische Forschungen 39)
41
Emil Hübner: Parlament und Regierung. Internet-Version. 18.8.2003. PDF.
Kapitel II: Grundzüge der deutschen Institutionengeschichte
ähnliche Richtung zielt Gotthard Jasper mit seiner Feststellung: „Das Unglück für
die Republik von Weimar war - so möchte ich überspitzt formulieren - die Wahl
Hindenburgs 1925 und nicht die Verfassungskonstruktion als solche, Wo der
Wille zur Verfassung fehlt, da helfen keine noch so ausgeklügelten Regeln."125
In engem Zusammenhang mit der Vorwurf an die Verfassung, sie habe dem
Präsidenten zu weitgehende Vollmachten eingeräumt, steht die These, dass diese
Verfassungskonstruktion es den Parteien ermöglicht habe, sich aus der
Verantwortung zu stehlen, weil der Präsident als „Ersatzkaiser" im Hintergrund
stand. Doch stellt sich angesichts einer solchen These die Frage, ob sie für
diejenigen Parteien, die hinter der Republik standen, wirklich gilt: Die SPD hat
auch in der Opposition des öfteren einer Regierung im außenpolitischen Bereich
über schwerwiegende Hürden hinweggeholfen. Zentrum und DDP waren bis 1932
an jeder Regierung beteiligt. Die DVP, die die Republik nur mit Einschränkungen
akzeptierte, war in immerhin 12 der 18 Regierungen vor Papen vertreten, Und
man kann auch nicht das Ende der Großen Koalition im Frühjahr 1930 der SPD
als Beweis ihrer Unfähigkeit zur Staatsführung126 anlasten, da Hindenburg und
seine Umgebung - insbesondere Schleicher - nicht gewillt waren, eine
Regierungsbeteiligung der SPD sehr viel länger zu dulden.127 Darüber hinaus wird
man zu bedenken haben, dass die Parteien keine Organisationen sind, die ihren
Willen ohne Blick auf die Wählerschaft bilden können. In Anbetracht der sich
radikalisierenden Wählerschaft, des damit verbundenen Erstarkens radikaler
Parteien und der hohen an den Staat herangetragenen Forderungen heißt es, von
den Parteien allzuviel Selbstlosigkeit verlangen, wenn man sie - als die einzigen
Organisationen - zur Verantwortung ruft. Außerdem verkennt man deren zentrale
Aufgabe, nämlich sich in der Konkurrenz mit den anderen Parteien bei Wahlen
um die Zustimmung der Bürger und damit um Parlamentsmandate zu bemühen.
Heinrich August Winkler wählt im ersten Band seines Standardwerkes über die
Arbeiterbewegung in der Weimarer Republik für das Kapitel, in dem er die ersten
ordentlichen Reichstagswahlen analysiert, bezeichnenderweise die Überschrift
„Weimar verliert die Mehrheit: Die Wahlen vom 6. Juni 1920".128 In diesen
Wahlen verlor die Weimarer Koalition ihre bisher satte 3/4-Mehrheit und rutschte
deutlich unter 50% (SPD: 21,6%; Zentrum 13,6%; DDP: 8,4%) ab.
Rolle der Parteien
125
Jasper a.a.O. (Anm. 19), S. 157. In diesem Aufsatz macht Jasper auch deutlich, dass sowohl
Fraenkels „Geburtsfehlertheorie“ als auch Schulzes These von der Reserveverfassung jeweils zu
kurz greifen und die Verfassung überlasten. Den Geburtsfehler der Weimarer Republik sah
Fraenkel in der Kombination des direkt gewählten Präsidenten mit der Abhängigkeit der
Regierung vom Vertrauen der Parlamentsmehrheit. Schulze hingegen sieht in der Volkswahl des
Reichspräsidenten und in den ihm aus Art. 48 WRV erwachsenden Kompetenzen eine
Reserveverfassung, die dann greift, wenn die normale „Schönwetter-Verfassung“ nicht mehr
funktioniert.
126
So Julius Leber, zit. nach Bracher, Auflösung der Weimarer Republik, S. 270 A; zur These,
dass die Verfassung es den Parteien ermöglichte, sich aus der Verantwortung zu stehlen z.B.
Stürmer, Koalition und Opposition, S. 269
127
Kolb, Weimarer Republik, S. 124 f.
128
Winkler, a.a.O. (Anm. 102), S. 343
41
Emil Hübner: Parlament und Regierung. Internet-Version. 18.8.2003. PDF.
Kapitel II: Grundzüge der deutschen Institutionengeschichte
Dass es dieser Koalition für den Rest der Republik nicht mehr gelang, eine
Mandatsmehrheit zu erreichen, hierfür wird man die Schuld nicht nur bei den
Parteien, sondern vor allem bei den Wählern selbst suchen müssen.
Die insbesondere von Ferdinand A. Hermens und Helmut Unkelbach vertretene
These, das in der Weimarer Verfassung verankerte Verhältniswahlsystem habe
wesentlich zum Untergang der Weimarer Republik beigetragen,129 findet heute
nur noch vereinzelt Unterstützung.130 Zwar gibt es gute Gründe, dem
Mehrheitswahlsystem eine stabilisierende und mäßigende Wirkung
zuzuschreiben,
aber
unter
bestimmten
Bedingungen
kann
ein
Mehrheitswahlsystem auch - u. a. lassen sich die 70er und frühen 80er Jahre in
Großbritannien für diese Behauptung anführen - polarisierend wirken. Karl
Dietrich Bracher hält den Thesen von Hermens und Unkelbach, deren
Fragwürdigkeit durch neuere wahlsoziologische Untersuchungen131 unterstrichen
wird, mit Recht entgegen, dass ein solches Mehrheitswahlrecht am Beginn der
Republik „die Bildung einer gemäßigten Mitte erst recht verhindert und vielleicht
sogar einen Bürgerkrieg ausgelöst" hätte.132 Brachers Bedenken sind insbesondere
deshalb von großer Bedeutung, weil letztlich nur am Beginn der Republik die
Beibehaltung des absoluten Mehrheitswahlsystems aus dem Kaiserreich
überhaupt denkbar war. Aber weder die Sozialdemokraten noch die anderen
Parteien traten für eine solche Kontinuität ein. Friedrich Naumann war der einzige
Abgeordnete der Nationalversammlung, der mahnend seine Stimme erhob.
Danach sanken die Chancen eine Änderung des Wahlsystems gegen Null:
Demokratie und Verhältniswahlsystem wurden als Einheit betrachtet, und
veränderungswillige Mehrheiten waren nicht in Sicht. Hermens plädierte deshalb
für die Einführung eines mehrheitsbildenden Wahlsystems durch eine präsidiale
Notverordnung: Die Rettung der Weimarer Demokratie durch eine
verfassungswidrige Verfassungsänderung - ein Vorschlag nicht ohne
Aussagekraft für den Zustand der Republik.133
Ebenso wenig wird man die Schuld für den Untergang Weimars in den
plebiszitären Elementen der Verfassung suchen dürfen, die insbesondere im
Parlamentarischen Rat, wo sie Theodor Heuss als „Prämie für jeden Demago-
Wahlsystem
Volksentscheide
129
Insbesondere: Hermens, Ferdinand A.: Demokratie oder Anarchie? Untersuchung über die
Verhältniswahl. – Köln u.a.: Westdeutscher Verlag 1968 (2., (gekürzte) Aufl.); Unkelbach,
Helmut: Grundlagen der Wahlsystematik. – Göttingen: Vandenhoeck und Ruprecht 1956
130
Schulze, a.a.O. (Anm. 74), S. 423
131
Vor allem Falter, Jürgen: Hitlers Wähler. – München: Beck 1991; Falter selbst nimmt zum
Wahlsystemproblem nur sehr vorsichtig Stellung (S. 126 ff.)
132
Bracher, Karl Dietrich: Probleme der Wahlentwicklung in der Weimarer Republik. – in: ders.:
Deutschland zwischen Demokratie und Diktatur. – Bern u.a.: Scherz 1964, S. 58; zum
Gesamtkomplex ausführlicher Jesse: Wahlrecht zwischen Kontinuität und Reform, S. 51 ff. oder
Hübner: Wahlsysteme und ihre möglichen Wirkungen, S. 95 ff.
133
Zur Gleichsetzung von Demokratie und Verhältniswahl z.B. Thoma, Richard: Das Reich als
Demokratie. – in: Abschütz / Thoma, a.a.O. (Anm. 111), Bd. 1, S. 195; zu dieser Frage auch:
Ammermüller, Konrad: Das Proportionalwahlverfahren im modernen Parteienstaat. – Diss. jur.
Köln 1966, S. 4 ff.; auf den Vorschlag von Hermens hin: Schäfer, Friedrich: Zur Frage des
Wahlrechts in der Weimarer Republik. – in: Schieder, Theodor / Ferdinand A. Hermens (Hrsg.):
Staat, Wirtschaft und Politik in der Weimarer Republik. Festschrift für Heinrich Brüning. – Berlin:
Duncker und Humblot 1967, S. 139 f.
41
Emil Hübner: Parlament und Regierung. Internet-Version. 18.8.2003. PDF.
Kapitel II: Grundzüge der deutschen Institutionengeschichte
gen"134 bezeichnete, als mitverantwortlich für das Weimarer Ende eingestuft
wurden. Die zwei Volksentscheide zur Fürstenenteignung 1926 und gegen den
Young-Plan führten zwar zu ungewöhnlichen Koalitionen bzw. hemmungslosen
Agitationen, sie können aber letztlich nicht als Faktoren eingestuft werden, die
eigenständig zum Zusammenbruch der Weimarer Demokratie geführt haben.
Wer in erster Linie die Verfassung für den Niedergang der Weimarer Republik
verantwortlich machen will, wird vor allem dann Schwierigkeiten bekommen,
wenn er Entwicklungen in anderen Ländern mit denselben Argumenten erklären
will. Blickt man z. B. nach Frankreich, so entsprach die IV. Republik mit einem
schwachen Präsidenten und einem parlamentarischen Regierungssystem, das die
volle Verantwortung bei den Parteien beließ, den Vorstellungen derjenigen
Kritiker des Weimarer Systems, die die starke Stellung des Weimarer Präsidenten
in Zusammenhang mit dem Zusammenbruch des Systems bringen. Nur: Die IV
Republik Frankreichs hatte annähernd dieselbe Lebensdauer wie die Weimarer
Republik und brach 1958 zusammen. In der V. französischen Republik wurde das
parlamentarische System der IV Republik durch ein semipräsidentielles
Regierungssystem ersetzt, das - mit Ausnahme des Wahlsystems - in starkem
Maße dem System der Weimarer Republik ähnelt. Allerdings kommt dem
Präsidenten in der V. französischen Republik heute noch eine stärkere Stellung zu
als demjenigen in der Weimarer Republik, weil er mehr von der
Gegenzeichnungspflicht der Regierung befreite Kompetenzen besitzt und weil
sich das verfassungsrechtlich problematische Amtsverständnis de Gaulles auch
auf seine Nachfolger vererbt hat. Trotz dieser starken Stellung des Präsidenten
und der eingeschränkten Kompetenzen der französischen Nationalversammlung
war die V. Republik nicht allein auf ihren Gründer de Gaulle zugeschnitten,
sondern erreichte inzwischen - unter vier Nachfolgern - ein deutlich höheres
Lebensalter als die IV. Republik. Auch zeigt die eingeschränkte Machtposition
des französischen Präsidenten zu Zeiten der so genannten „cohabitation", in der
die Regierung durch eine Parteienmehrheit gestellt wird, die in Opposition zum
Präsidenten steht, dass die Position eines Staatspräsidenten in einem
semipräsidentiellen Regierungssystem nur bei der Berücksichtigung des
Parteiensystems und der jeweiligen Mehrheitsverhältnisse umschrieben werden
kann. Um nur noch ein weiteres Beispiel anzuführen: Österreich übernahm 1929
weitgehend die Regelungen der Weimarer Verfassung hinsichtlich der
Beziehungen zwischen Präsident, Regierung und Parlament.135 In der
Nachkriegszeit
wurde
in
Österreich
im
Gegensatz
zur
Vergleich mit
anderen
Regierungssystemen
134
Der Parlamentarische Rat, Bd. 9, S. 111; zur Problematik insgesamt vor allem Schiffers,
Reinhard: Elemente direkter Demokratie im Weimarer Regierungssystem. – Düsseldorf: Droste,
1971, S. 195 ff. (= Beiträge zur Geschichte des Parlamentarismus und der politischen Parteien 40);
Jung, Otmar: Direkte Demokratie in der Weimarer Republik. Die Fälle „Aufwertung“,
„Fürstenenteignung“, „Panzerkreuzerverbot“ und „Youngplan“. – Frankfurt / Main: Campus 1988
135
Z.B. Hassiba, Gernot D.: Die Zweite Bundes-Verfassungsnovelle von 1929. Ihr Werdegang
und wesentliche verfassungspolitische Ereignisse seit 1918. – Wien u.a.: Böhlau 1976, S. 53 (=
Forschungen zur europäischen und vergleichenden Rechtsgeschichte 1); Scheuner, Ulrich: Die
Reform der österreichischen Bundesverfassung vom Juni 1929. – in: Zeitschrift für ausländisches
öffentliches Recht und Völkerrecht Jg. 2 (1930/31), S. 238. Nicht ganz zu Unrecht warnt deshalb
der österreichische Politikwissenschaftler Anton Pelinka: „In der österreichischen Verfassung
schlummert ein Hindenburg.“ (zit. nach Bernhard Küppers: Ein Hindenburg in Österreichs
Verfassung. – in: SZ vom 18.10.1994, S. 4)
41
Emil Hübner: Parlament und Regierung. Internet-Version. 18.8.2003. PDF.
Kapitel II: Grundzüge der deutschen Institutionengeschichte
Bundesrepublik - auf die von Weimar übernommenen Verfassungskonstruktion
zurückgegriffen, wobei aber die Anwendung des in Art. 18 BV normierten
Notverordnungsrechtes dem Präsidenten erhebliche Schwierigkeiten bereiten
dürfte. Auch das österreichische Beispiel macht mehr als deutlich, dass ein
Präsident in einem semipräsidentiellen Regierungssystem in einem
funktionierenden Parteiensystem nur selten in der Lage ist, eine herausragende
Rolle zu spielen.
Der Abgeordnete Erich Koch-Weser (DDP) warnte am Beginn seiner Rede am
28. Februar 1919 in der ersten Lesung der Reichsverfassung zu Recht vor einer
übergroßen Erwartung an die Wirkung der zu schaffenden Verfassung:
„Unsere kranke Zeit ist mit einer neuen Verfassung nicht zu heilen. Wir
müssen uns von dem Wunderglauben freimachen, als wenn irgendeine
Form unserer gesellschaftlichen und staatlichen Zustände die tiefen
seelischen und wirtschaftlichen Wunden heilen könnte, unter denen
Deutschland derzeit darniederliegt."136
Überschätzung
der Verfassung
Scheuners insbesondere auf das Präsidentenamt bezogenen Bemerkungen haben
bis heute nichts von ihrer Richtigkeit verloren und lassen sich ohne weiteres
verallgemeinern:
„Ein abwägendes Urteil wird den Schlüssel der Entwicklung nicht bereits
in der Anlage der Verfassungsordnung finden können ... Die schließliche
Ausweitung der präsidentiellen Stellung bis zu einem Grade, in dem nach
dem Sturz Brünings die parlamentarische Grundlage der Staatsführung
fast ganz entschwand, beruht auf einer weitreichenden Verflechtung von
Ursachen, auf der schweren sozialen Not der Wirtschaftskrise, der
wachsenden inneren Unruhe des deutschen Volkes, ferner dem Fehlen
klarer gedanklicher Vorstellungen vom Wesen und Funktionieren der
Demokratie in weiten Volkskreisen, nicht zum wenigsten indes auch auf
einer persönlich bedingten inneren Zurückhaltung und Fremdheit
gegenüber der Demokratie in der Leitung des Staates selbst."137
Ernst Friesenhahn hat die Gegenposition zu einer Überschätzung der Verfassung
als Ursache für den Zusammenbruch der Weimarer Republik noch pointierter,
wenn auch teilweise etwas antiquiert formuliert:
„Bei gleichem Wortlaut der Verfassungsbestimmungen kann die
Verfassungswirklichkeit gänzlich verschieden aussehen. Insbesondere die
vom Volkscharakter bestimmte Parteistruktur und die Reaktion des Volkes
in politischen und ökonomischen Krisenzeiten spielen dabei eine
entscheidende Rolle. Heil und Unheil liegen nicht in den
verfassungsrechtlichen Institutionen, sondern darin, wie das Volk von
ihnen Gebrauch zu machen versteht. Ich glaube daher nicht, dass das
Scheitern der Weimarer Republik auf Mängel der Weimarer
Reichsverfassung zurückzuführen ist, wie ich auch in den mit so großer
Sorgfalt ausgeklügelten Neuerungen des Grundgesetzes für das Verhältnis
von Parlament und Regierung keine Garantie für das Funktionieren des
intendierten Regierungssystems finden kann. Es kommt auf die Menschen
an, die die Verfassung handhaben."138
136
Heilfron (Hrsg.), a.a.O. (Anm. 108), Bd. 2, S. 963
Scheuner, a.a.O. (Anm. 124), S. 29 f.
138
Friesenhahn, Ernst: Parlament und Regierung im modernen Staat. – in: Stammen (Hrsg.):
Strukturwandel der modernen Regierung, S. 113 f. (Kursiv im Original)
137
41
Emil Hübner: Parlament und Regierung. Internet-Version. 18.8.2003. PDF.
Kapitel II: Grundzüge der deutschen Institutionengeschichte
Ein Versuch, die Diskussion von der Verfassung als Ursache des Weimarer
Zusammenbruches wegzuverlagern, war die These vom so genannten „Dritten
Weg". Mit ihr sollte unter Rückgriff auf ältere Postulate u. a. von Artur
Rosenberg der bis in die 60er Jahre weitgehend akzeptierten These von Karl
Dietrich Erdmann, dass die führenden Politiker am Beginn der Weimarer
Republik nur die Wahl hatten „zwischen einem konkreten Entweder-Oder: die
soziale Revolution im Bund mit den auf eine proletarische Diktatur
hindrängenden Kräften oder die parlamentarische Republik mit konservativen
Elementen wie dem alten Offizierskorps"139 widersprochen werden. Der
Handlungsspielraum der politischen Führung sei deutlich größer gewesen, und
man hätte durch eine Demokratisierung der Verwaltung, der Justiz und des
Militärs,
durch
die
Vorbereitung
der
Sozialisierung
bestimmter
Schlüsselindustrien sowie durch eine Nutzung des Potentials der Arbeiter- und
Soldatenräte für eine Reformpolitik wesentliche Strukturmängel der Weimarer
Republik vermeiden können.140 Die Anhänger des „Dritten Weges" sprechen
durchaus die entscheidenden Problembereiche am Beginn der Weimarer Republik
an, sie legen ihre Daumen auf die richtigen Wunden. Nur: Ihre
Therapievorschläge sind nicht sonderlich einsichtig und stellen teilweise schlichte
Placebos dar. Zwar hätte man die Zusammenarbeit mit dem Militär weniger eng
gestalten und deutlich stärkere Vorkehrungen gegen ein Wiedererstarken des
Militarismus treffen müssen,141 doch für eine Demokratisierung von Verwaltung
und Justiz fehlten die demokratischen Kräfte;142 eine Sozialisierung war zum
damaligen Zeitpunkt aus außenpolitischen Gründen nicht ratsam und hätte im
Wesentlichen eine Sozialisierung von Verlusten bedeutet; und hinsichtlich der
Ausgestaltung ihres Vorschlages, wie die Arbeiter- und Soldatenräte in das
politische System hätten integriert werden sollen, bleiben die Vertreter des
„Dritten Weges" merkwürdig vage.143 In der heutigen Forschung über die
Weimarer Republik hat diese Richtung konsequenterweise erheblich an
Bedeutung verloren:
„Dritter Weg“
„Die Revision der ,Erdmann-These' wirkte aufklärend, ja befreiend. Seit
die Forschung begonnen hatte. Handlungsspielräume und Alternativen
der Revolutionsperiode herauszuarbeiten, ließ sich die Politik Eberts und
139
Erdmann, zit. nach Kolb, a.a.O. (Anm. 127), S. 153
Für die Anhänger dieser These z.B. Rürup, Reinhard: Probleme der Revolution in Deutschland
1918/19. – Wiesbaden: Steiner 1968 (= Institut für Europäische Geschichte Mainz, Abt.
Universalgeschichte, Vorträge 50)
141
Wette, Wolfram: Gustav Noske. Eine politische Biographie. – Düsseldorf: Droste 1987, insb.
S. 333 ff.
142
Zusammenfassend zu den Reformbemühungen in der Verwaltung am Beginn und während der
Weimarer Republik: Fenske, Hans: Bürokratie in Deutschland. Vom späten Kaiserreich bis zur
Gegenwart. – Berlin: Colloquium 1985, S. 32 ff. (= Beiträge zur Zeitgeschichte 15), s.a. Sühl,
Klaus: SPD und öffentlicher Dienst in der Weimarer Republik. Die öffentlich Bediensteten in der
SPD und ihre Bedeutung für die sozialdemokratische Politik 1918-1933. – Opladen:
Westdeutscher Verlag 1988 (= Schriften des Zentralinstituts für Sozialwissenschaftliche
Forschung der FU Berlin 53)
143
Die schärfste Kritik an der These vom „Dritten Weg“ bei: Jesse, Eckhard/Henning Köhler: Die
deutsche Revolution 1918/19 im Wandel der historischen Forschung. – in: APuZ B 45/1978, S. 323
140
41
Emil Hübner: Parlament und Regierung. Internet-Version. 18.8.2003. PDF.
Kapitel II: Grundzüge der deutschen Institutionengeschichte
Noskes nicht mehr als pauschal zwangsläufig rechtfertigen. Doch die
Zerstörung des einen, in diesem Fall konservativen Mythos begünstigte
unfreiwillig die Entstehung eines anderen, linken Gegenmythos, der sich
im Zuge der Studentenbewegung von 1968 rasch ausbreitete: Er verklärte
die Räte zu Trägern der wahren Demokratie und behauptete, eine
wirkliche Revolution nach dem Weltkrieg hätte den Sieg des deutschen
Faschismus' und damit den Zweiten Weltkrieg unmöglich gemacht. Die
Vergröberung der revisionistischen Position trug dazu bei, dass sich in
der Geschichtsschreibung mittlerweile so etwas wie eine Revision der
Revision' vollzogen hat. Die Rolle der Arbeiter- und Soldatenräte wird
heute nüchterner gesehen als Mitte und Ende der sechziger Jahre ... Es
konnte 1918/19 nicht um irgendwelche Verbindungen zwischen dem
parlamentarischen und dem Rätesystem gehen, sondern nur um
gesellschaftliche Veränderungen, die die erstrebte parlamentarische
Demokratie zu festigen versprachen."144
Eine „demokratische Republik ohne den Konsens einer überwältigenden Mehrheit
von demokratisch gesonnenen Bürgern konnte auf die Dauer keinen Bestand
haben."145 Die Frage nach dem Scheitern der ersten Republik146 wird hier
anzusetzen haben. Der Weimarer Republik, der zudem in der Folge des
Weltkrieges deutlich mehr Staatsaufgaben zugewachsen waren, gelang es aus
mannigfachen Gründen nicht, das Vertrauen der Mehrheit ihrer Bürger zu
erlangen: Am Anfang stand die Belastung des Versailler Vertrages incl. der
Kriegsschuldklausel und der aus ihm hervorgehenden Reparationszahlungen „Schmachfrieden", „Schmachparagraphen" oder „Erfüllungspolitik" waren als
Anklage gegen Versailles und seine Folgen nicht nur auf Seiten der
nationalistischen Rechten zu vernehmen. Die Hyperinflation des Jahres 1923
führte dann zu einer Verarmung weiter Teile des Mittelstandes, sofern sie ihr
Vermögen nicht in Sachwerten angelegt hatten, was wiederum einen nicht
unbeträchtlichen Bevölkerungsteil der Republik entfremdete, Und auch die
Folgen der Weltwirtschaftkrise, die u. a. zu einem Anwachsen der
Arbeitslosenzahlen bis zu einem Höchststand von über 6,1 Millionen im Februar
1932 führte, wurden von breiten Teilen der Betroffenen und denjenigen, die ihre
persönliche wirtschaftliche Zukunft in negativem Licht sahen, als Scheitern der
Politik und der Republik interpretiert.147 Hinzu kommt, dass weite Teile des
gebildeten Bürgertums sowie annähernd der gesamte Landadel, dessen
ostelbische Teile am Ende der Weimarer Republik im Umkreis Hindenburgs eine
besonders problematische Rolle spielten, von Anfang an nicht bereit waren, ihren
Frieden
mit
der
Republik
zu
schließen.
Auch
die
Zusammenfassung
144
Winkler, Weimarer Republik, S. 600 f.
Ernst Friesenhahn: Zur Legitimation und zum Scheitern der Weimarer Reichsverfassung – in:
Erdmann/Schulze (Hrsg.), a.a.O. (Anm. 113), S. 108
146
Hierzu neuerdings zusammenfassend: Funke, Die Republik der Friedlosigkeit, S. 11 f.
147
Siehe z.B.: Borchhardt, Knut: Wachstum, Krisen, Handlungsspielräume der Wirtschaftspolitik.
Studien zur Wirtschaftsgeschichte des 19. und 20. Jahrhunderts. – Göttingen: Vandenhoeck und
Ruprecht 1982 (= Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft 50); Holferich, Carl-Ludwig:
Alternativen zu Brünings Wirtschaftspolitik in der Weltwirtschaftskrise. – in: HZ Bd. 235 (1982)
S. 605-631; Büttner, Ursula: Politische Alternativen zum Brünigschen Deflationskurs. Ein Beitrag
zur Diskussion über „ökonomische Zwangslagen“ in der Endphase der Weimarer Republik. – in:
VZG Jg. 37 (1989) S. 209-251; Kershaw, Ian (Hrsg.): Weimar. Why did German democracy fail?
– London: Weidenfeld and Nicolson 1990 (= Debates in modern history)
145
41
Emil Hübner: Parlament und Regierung. Internet-Version. 18.8.2003. PDF.
Kapitel II: Grundzüge der deutschen Institutionengeschichte
Unternehmerverbände, die mit der Zeit immer mehr dazu neigten,
„Parlamentarismus und Sozialpolitik gleichzusetzen, das politische System für
überhöhte Löhne und Sozialleistungen verantwortlich zu machen-,148 standen
zwar nur zu geringen Teilen auf der Seite Hitlers, wollten aber im Wesentlichen
mit dieser Republik immer weniger zu tun haben. Die Weimarer Republik blieb
für ihre Bürgerinnen und Bürger eine „Nachkriegszeit, die nicht vergehen
wollte.“149 Zu alledem kam der Schatten des Kaiserreiches, das als die gute alte
Zeit empfunden wurde, die von einer glücklosen Republik abgelöst wurde. In
einer Umfrage des Instituts für Demoskopie Allensbach im Jahr 1951 nannten auf
die Frage „Wann in diesem Jahrhundert ist es nach Ihrem Gefühl Deutschland am
besten ergangen?" 2% der Befragten die Bundesrepublik, 7% die Weimarer
Republik, 42% das Dritte Reich vor dem Krieg und 45% das Kaiserreich, 1980
erbrachte dieselbe Umfrage das folgende Ergebnis: 80% Bundesrepublik, 4%
Kaiserreich, 3% Drittes Reich vor dem Krieg und 2% Weimarer Republik.150
Weimar blieb offensichtlich die „ungeliebte Republik"151 auch nach den
Erfahrungen des Nationalsozialismus. Die Chance, sich zu bewähren, blieb der
Weimarer Republik - im Gegensatz zur Bundesrepublik – versagt.
Der Zusammenbruch der ersten deutschen Republik geht also nicht auf eine
einzelne Ursache zurück, sondern auf ein Bündel unglücklich miteinander
verknüpfter Faktoren. Manche Ursachen - die alten rechten Eliten z. B. überlebten den Nationalsozialismus nur sehr geschwächt, andere - wie ein dem
Versailler Vertrages vergleichbarer Friedensvertrag z. B. - konnten vermieden
werden. Vor allem aber:
„Die nationalsozialistische Diktatur wirkte und wirkt nach als das denkbar
stärkste Argument für Demokratie und Freiheit, das die deutsche
Geschichte bereithält. In der kollektiven Erinnerung der Deutschen nimmt
damit der katastrophale Misserfolg ihrer Revolution gegen die
Demokratie eine ähnliche Rolle ein wie bei anderen Völkern die
Erinnerung an eine erfolgreiche demokratische Revolution."152
6. Das Grundgesetz als Gegenpol zur Weimarer Reichsverfassung
Die Versuche der Siegermächte des Zweiten Weltkrieges, sich in der direkten
Nachkriegszeit über die deutsche Frage zu einigen, scheiterten relativ bald. Die
Einheit der Siegermächte wich zunehmenden Spannungen zwischen den USA und
Vorgeschichte
148
Mommsen, Hans: Das Scheitern der Weimarer Republik und der Aufstieg des
Nationalsozialismus. In: Tel Aviver Jahrbuch für deutsche Geschichte Jg. 17 (1988), S. 6
149
Funke, a.a.O. (Anm. 146), S. 11
150
Noelle-Neumann, Elisabeth / Edgar Piel (Hrsg.): Allensbacher Jahrbuch der öffentlichen
Meinung 1978-1983. – München u.a.: Saur 1983, S. 187
151
So der Titel einer von Wolfgang Michalka und Gottfried Niedhart herausgegebenen
Dokumentensammlung zur Innen- und Außenpolitik der Weimarer Republik (München: dtv 1981
(2. Aufl.) (= dtv-dokumente 2918))
152
Winkler, a.a.O. (Anm. 144) S. 613
41
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Kapitel II: Grundzüge der deutschen Institutionengeschichte
der UdSSR und mündete 1947 .schließlich in den sog. „Kalten Krieg". Dies
konnte für die wirtschaftliche und politische Situation Westeuropas und für die
drei westlichen Besatzungszonen Deutschlands nicht ohne Folgen bleiben. Im
März 1947 hatte der amerikanische Präsident Truman in einer Botschaft an den
Kongress seine Überzeugung zum Ausdruck gebracht, dass es die Pflicht der
Vereinigten Staaten sei, „die freien Völker zu unterstützen, die sich der
Unterwerfung durch bewaffnete Minderheiten oder durch Druck von außen
widersetzen".153 Im Juni desselben Jahres forderte Trumans Außenminister
George Marshall ein umfassendes wirtschaftliches Hilfsprogramm für Europa, das
ab dein Herbst 1947 auch den westdeutschen Besatzungszonen zugute kam. Auf
der Londoner Sechsmächtekonferenz154 - neben den drei westlichen
Siegermächten waren die Benelux-Staaten Teilnehmer dieser Konferenz versuchten die Amerikaner, ihre mit den Briten bereits erprobte Zusammenarbeit
in der Besatzungspolitik zu einer auch von Frankreich und den anderen
westlichen Nachbarn Deutschlands getragenen politischen Lösung des
Deutschlandproblems weiterzuentwickeln. Dies gelang den Amerikanern u. a.
durch wesentliche Zugeständnisse an die Franzosen.
Die Ergebnisse der Londoner Sechsmächtekonferenz wurden den
Ministerpräsidenten der westdeutschen Länder am 1. Juli 1948 in Form der sog.
„Frankfurter Dokumente" übergeben. Im ersten, hier einzig interessierenden
Dokument155
wurden
die
Ministerpräsidenten
ermächtigt,
eine
Verfassungsgebende Versammlung einzuberufen. Diese Versammlung sollte eine
demokratische Verfassung ausarbeiten,
Frankfurter
Dokumente
„die für die beteiligten Länder eine Regierungsform des föderalistischen
Typs schafft, die am besten geeignet ist, die gegenwärtig zerrissene
deutsche Einheit schließlich wieder herzustellen, und die Rechte der
beteiligten Länder schützt, eine angemessene Zentralinstanz schafft und
die Garantien der individuellen Rechte und Freiheiten enthält."
Die ausgearbeitete Verfassung müsse den Militärgouverneuren zur Genehmigung
vorgelegt werden und sei dann durch Volksabstimmungen in den einzelnen
Ländern zu ratifizieren. Sie trete in Kraft, wenn sie von zwei Dritteln der
beteiligten Länder akzeptiert werde.
153
Zit. nach Kleßmann, Christoph: Die doppelte Staatsgründung. Deutsche Geschichte 1945-1955.
– Bonn: Bundeszentrale für politische Bildung 1986 (4. Aufl.) S. 178 (= Schriftenreihe der
Bundeszentrale für Politische Bildung 193)
154
Ausführlicher zu dieser Konferenz z.B. Wehner, Gerd: Die Westalliierten und das Grundgesetz
1948-1949. Die Londoner Sechsmächtekonferenz. – Freiburg: Rombach 1994 (= Rombach
aktuell); oder Gruner, Wolf D.: Die Londoner Sechsmächtekonferenz von 1948 und die
Entstehung der Bundesrepublik Deutschland. – in: Kuhn, Ortwin (Hrsg.): Großbritannien und
Deutschland. Europäische Aspekte der politisch-kulturellen Beziehungen beider Länder in
Geschichte und Gegenwart. Festschrift für John W. Bourke. – München: Goldmann 1974. S. 139165; Johannes Volker Wagner: Einleitung. – in: Der Parlamentarische Rat, Bd. 1, S. XIV ff.
155
Dieses Dokument findet sich z.B. in: Der Parlamentarische Rat (Anm. 154), S. 30 ff.; oder bei
Weber, Jürgen (Hrsg.): Entscheidungsjahr 1948. – München: Bayerische Landeszentrale für
politische Bildungsarbeit 1995 (4. durchges. Aufl.), S. 102 f. (= 30 Jahre Bundesrepublik
Deutschland II)
41
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Kapitel II: Grundzüge der deutschen Institutionengeschichte
Den Ministerpräsidenten wurde deutlich, dass ihnen hier nicht nur ein Angebot
für eine verstärkte Selbständigkeit der westlichen Besatzungszonen vorgelegt
worden war, sondern dass auch problematische und schwerwiegende
Entscheidungen bezüglich der deutschen Wiedervereinigung auf sie zukamen.
Eine Woche später konzipierten sie auf dem Rittersturz bei Koblenz ihre Antwort
auf die „Frankfurter Dokumente". Sie akzeptierten zwar die Richtung der
alliierten Vorschläge, scheuten aber vor deren letzter Konsequenz zurück: Vor der
Gründung eines Weststaates und damit vor dem Vorwurf, man verzichte
zugunsten der Weststaatsgründung auf die Wiedervereinigung.156
Reaktion der
Ministerpräsidenten
In folgenden Punkten kam es zu Gegenvorschlägen an die Alliierten: Man legte
Wert auf den Provisoriumscharakter der zu schaffenden Verfassung und wollte
deshalb keine Verfassunggebende Versammlung, sondern schlug die Bezeichnung
„Parlamentarischer Rat" vor; auch sollte keine Vollverfassung ausgearbeitet
werden, sondern ein (provisorisches) Grundgesetz, das auch nicht durch
Volksabstimmungen, sondern nach der Zustimmung der Militärgouverneure
durch die Ministerpräsidenten - nach Anhörung der Landtage - in Kraft gesetzt
werden sollte. Bei einer zweiten Zusammenkunft der Ministerpräsidenten und der
Militärgouverneure am 20. Juli 1948 konnte man sich auf diese Koblenzer
Beschlüsse, die die Verhandlungskompetenzen der Militärgouverneure sprengten,
nicht einigen. Insbesondere der amerikanische Militärgouverneur Lucius D. Clay
war alles andere als erfreut über die Haltung der Ministerpräsidenten. Man
vereinbarte aber ein weiteres Treffen am 26. Juli 1948. In der Zwischenzeit
einigten sich die Ministerpräsidenten auf Schloss Niederwald bei Rüdesheim, dass
man zwar von den sprachlichen Vorschlägen nicht abrücken und auch nicht den
geforderten Verabschiedungsmodus für das Grundgesetz akzeptieren wolle. Aber
man wollte „den Gaul über die Hürde ... bringen ".157 Wichtig war jedoch vor
allem, dass die Grundlage der deutschen Argumentation geändert wurde. Man
modifizierte die Provisoriumsidee zugunsten der „Magnettheorie": Der
westdeutsche Kernstaat sollte - wirtschaftlich und politisch konsolidiert Magnetwirkung auf die sowjetische Besatzungszone ausüben und eine „Rückkehr
des Ostens zum gemeinsamen Mutterland"158 ermöglichen. Bei dem erneuten
Treffen mit den Militärgouverneuren wurde ein Kompromiss erreicht. Der Weg
zur Einberufung des Parlamentarischen Rates war frei, die Amerikaner waren von
dem Makel befreit, den Deutschen gegen ihren Willen einen Weststaat
aufdrängen zu wollen - der Gaul war über der Hürde.
Als die 65 stimmberechtigten Mitglieder des Parlamentarischen Rates - hinzu
kamen 5 nicht stimmberechtigte Berliner Mitglieder - am 1. September 1948 zur
156
156 Zu diesen Auseinandersetzungen zwischen den Ministerpräsidenten und den Alliierten z.B.
Der Parlamentarische Rat, a.a.O. (Anm. 154), insb. S. XXV ff., S. 30 ff.; Gimbel, John:
Amerikanische Besatzungspolitik in Deutschland 1945-1949. – Frankfurt/Main: Fischer 1971, S.
271 ff.; Vogelsang, Thilo: Koblenz, Berlin und Rüdesheim. Die Option für den westdeutschen
Staat im Juli 1948. – in: Festschrift für Hermann Heimpel zum 70. Geburtstag. – Göttingen:
Vandenhoeck und Ruprecht, 1971 Bd. 1, S. 161-179 (= Veröffentlichungen des Max-PlanckInstituts für Geschichte 36, I)
157
Ernst Reuter in: Der Parlamentarische Rat, a.a.O. (Anm. 154), S. 194
158
Ernst Reuter, a.a.O., S. 192
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konstituierenden Sitzung zusammenkamen, lag dem Parlamentarischen Rat eine
größere Anzahl von Verfassungsvorschlägen vor. Die wichtigste
Diskussionsgrundlage war auf Veranlassung der Ministerpräsidenten von
Verfassungsexperten auf Schloss Herrenchiemsee ausgearbeitet worden.159 Die
Abgeordneten konnten rasch an die Arbeit gehen, deren Organisation keine
wesentlichen Probleme mit sich brachte.
Die großen Parteien im Parlamentarischen Rat wichen zwar in ihren
Demokratievorstellungen teilweise voneinander ab,160 und diese unterschiedlichen
Vorstellungen von der künftigen Demokratie in Deutschland führten zu
Konflikten teilweise bei den Grundrechten und vor allem - wie schon auf Schloss
Herrenchiemsee161
in
der
Föderalismusfrage.
Hinsichtlich
des
Regierungssystems im engeren Sinne konnten die Parteien ihre ursprünglich
durchaus unterschiedlichen, nicht nur von der Ablehnung der Weimarer
Reichsverfassung geprägten Vorstellungen162 ohne größere Probleme einander
angleichen, und am Ende des Parlamentarischen Rates herrschte weitgehend
Einigkeit in diesem Punkt. Hier trat die überwiegende Mehrheit des
Parlamentarischen Rates für eine „Anti-Verfassung" zur Weimarer
Reichsverfassung ein, und sie stimmte in die in der Nachkriegszeit wachsende
Vorliebe ein, den Untergang der Weimarer Republik vorwiegend mit Mängeln im
institutionellen Teil der Verfassung zu erklären. Vereinzelte Warnungen -wie
diejenigen des späteren Bundespräsidenten Theodor Heuss - man solle nicht allein
die Weimarer Verfassung für das Scheitern des Systems verantwortlich machen,
sondern auch die mangelnde Akzeptierung des Systems bei seiner Bevölkerung in
Rechnung stellen, blieben ohne größere Wirkung.163
Da in späteren Kapiteln164 ausführlicher auf die einzelnen Staatsorgane der
Bundesrepublik einzugehen sein wird, kann im Folgenden die These von der
„Anti-Verfassung" zu Weimar relativ kurz dargestellt werden. Ansatzpunkt für
die Veränderungen im Regierungssystem war in erster Linie das Staatsoberhaupt.
Dem künftigen Staatspräsidenten wurden wichtige Kompetenzen entzogen, die
ihm in Weimar zustanden - wie z. B. die Bestellung des Reichskanzlers -, und er
wurde im Wesentlichen auf repräsentative Aufgaben beschränkt. Von dieser
Entmachtung des Bundespräsidenten profitierte vor allem der Bundeskanzler, der
nicht mehr - wie in Weimar - zwischen Staatsoberhaupt und Parlament
„eingeklemmt" war. Sein Amt wurde vielmehr zur zentralen Instanz des
Regierungssystems ausgestaltet, da auch die Einflussnahme des Parlaments auf
die Regierung abgeschwächt wurde. Der Bundestag kann den Bundeskanzler
Weitgehender
Konsens im Parlamentarischen Rat
Grundlinien des
Regierungssystems
159
Hierzu insbesondere: Der Parlamentarische Rat, Bd. 2, S. 53 ff.
Siehe z.B. die interessante Unterscheidung zwischen „sozialer Mehrheitsdemokratie“ und
„konstitutioneller Demokratie“ von Niclauß, Der Weg zum Grundgesetz, S. 27 ff.
161
Zusammenfassend Der Parlamentarische Rat, a.a.O. (Anm. 159), S. LXXV, ff.
162
Die unterschiedlichen Positionen z.B. für die zentrale Frage des Staatsoberhauptes bei Lange,
Die Diskussion um die Stellung des Staatsoberhauptes; siehe auch Helms, Keeping Weimar at
bay, S. 50 ff.
163
Der Parlamentarische Rat, Bd. 9, S. 103 f.
164
Siehe insb. Kap. III und V
160
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Kapitel II: Grundzüge der deutschen Institutionengeschichte
nämlich nicht mehr durch ein einfaches Misstrauensvotum aus seinem Amt
entfernen, er muss hierfür mit absoluter Mehrheit einen neuen Kanzler wählen.
Auch kann der Bundestag nicht mehr dem Kanzler einzelne Minister aus seiner
Regierung „herausschießen". Allerdings wurde der Bundestag gegenüber seinem
Weimarer Vorgänger vor allem in der Gesetzgebung gestärkt, weil das
Notverordnungsrecht des Präsidenten sowie die plebiszitäre Variante der
Gesetzgebung über einen Volksentscheid entfielen. Mit dem Bundesrat stellte ihm
aber das Grundgesetz - worauf sogleich noch ausführlicher einzugehen sein wird eine stärkere Ländervertretung als in der Weimarer Republik an die Seite. Die
Einigkeit war so groß, „dass der Parlamentarische Rat eine Grundsatzdebatte über
die Frage des Regierungssystems nicht geführt hat."165 Der Antrag der F.D.P.Abgeordneten Thomas Dehler und Max Becker auf Einführung einer
Präsidialregierung spielte nur kurzfristig eine Rolle und blieb
Minderheitenmeinung.
Dieser weitgehende Konsens galt allerdings nicht für die Ausgestaltung des
Föderalismus und damit zusammenhängend für die Konstruktion des Bundesrates.
Um diesen Problemkreis fanden im Parlamentarischen Rat die härtesten
Auseinandersetzungen statt. Auch sie standen partiell im Zusammenhang mit dem
Zusammenbruch der Weimarer Republik: Die SPD erwartete eher von einer
stärker zentralistischen Verfassungsordnung vermehrte Systemstabilität, die
CDU/CSU setzte in diesem Zusammenhang auf starke föderale Elemente.166 Bei
der SPD kam hinzu, dass sie in Anbetracht der Mehrheitsverhältnisse im
Parlamentarischen Rat und wegen möglicher Einsprüche der Alliierten in
manchen für sie wichtigen Fragen endgültige Festlegungen im Grundgesetz
vermeiden wollte und nach Kompromissen suchte, die sie mittels einfacher
Gesetze nach einem erhofften Sieg in der ersten Bundestagswahl in ihrem Sinne
ausgestalten konnte. Für diese Strategie war ein mächtiger Bundestag
Voraussetzung. Letztlich konnte die CDU/CSU in der Frage der
Kompetenzverteilung zwischen Bund und Ländern in der Verwaltung,
insbesondere in der Finanzverwaltung, ihre länderfreundlichere Haltung trotz
massiver Eingriffe der Alliierten zu ihren Gunsten und trotz einer hieraus
resultierenden ernsthaften Krise im Parlamentarischen Rat nur sehr bedingt gegen
SPD und F.D.P. durchsetzen. Die unterschiedlichen Föderalismusvorstellungen
der Parteien bewirkten auch, dass es um die Konstruktion des künftigen
Bundesrates erhebliche Auseinandersetzungen gab, wobei allerdings Einigkeit
herrschte, dass eine zweite Kammer eingerichtet werden solle. Die CDU/CSU trat
zunächst für eine gleichberechtigte zweite Kammer ein, um einen
„Parlamentsabsolutismus" und eine Herrschaft der Parteien zu verhindern. In der
CDU/CSU war es umstritten, ob es sich hierbei um einen von den
Länderregierungen mit weisungsgebundenen Mitgliedern beschickten Bundesrat
handeln sollte oder in der Tradition des Staatenhauses der Paulskirchenverfassung
um einen sog. „Halbsenat", dessen Mitglieder teilweise von den
Länderregierungen ernannt, teilweise von den Landtagen gewählt werden sollten.
Die SPD hingegen plädierte, um gegenseitige Blockademöglichkeiten der
165
166
Föderalismus im
Bundesrat
Otto, a.a.O. (Anm. 133), S. 125
Auch zum Folgenden Niclauß, a.a.O. (Anm. 160), insb. S. 212 ff., S. 272 ff.
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Kapitel II: Grundzüge der deutschen Institutionengeschichte
beiden Kammern möglichst gering zu halten, für einen durch die Landtage
gewählten Senat, der nur ein durch den Bundestag überstimmbares Vetorecht in
der Gesetzgebung erhalten sollte. Da die F.D.P. der CDU/CSU in dieser Frage
näher stand, war zunächst die Etablierung eines „Halbsenates" die
wahrscheinlichste Regelung. Der Grundstock für die endgültige Lösung wurde in
einem Gespräch des SPD-Verfassungsexperten Walter Menzel mit dem
bayerischen Ministerpräsidenten Hans Ehard (CSU) gelegt, in dem die SPD ihren
Widerstand gegen die Bundesratslösung und Ehard die Forderung nach einer
gleichberechtigten zweiten Kammer aufgaben. Dieser Kompromiss wurde in den
Verfassungsberatungen
noch
durch
die
Unterscheidung
von
Zustimmungsgesetzen, bei denen dem Bundesrat ein unüberstimmbares Vetorecht
zusteht, und Einspruchsgesetzen, bei denen er nur ein vom Bundestag
überstimmbares Einspruchsrecht hat, modifiziert.167
Auch die Nichtaufnahme des Wahlsystems in das Grundgesetz war eine Reaktion
auf Weimar. Die Weimarer Reichsverfassung hatte das Verhältniswahlsystem
festgeschrieben, dem vor allem von Abgeordneten der CDU/CSU eine erhebliche
Schuld für den Zusammenbruch der Weimarer Republik zugemessen wurde. Die
CDU/CSU konnte sich mit ihren aus heutiger Sicht kaum haltbaren Argumenten
und mit ihrer Forderung nach der Einführung eines Mehrheitswahlsystems nicht
durchsetzen, erreichte aber, dass das Wahlsystem im Grundgesetz nicht
festgeschrieben und ein nur für die erste Bundestagswahl gültiges Wahlgesetz
verabschiedet wurde.
Neben der Umwandlung des semipräsidentiellen Regierungssystems der
Weimarer Reichsverfassung in ein parlamentarisches Regierungssystem haben die
Mitglieder des Parlamentarischen Rates vor allem durch die Bewertung des
Rechts und der Verfassung selbst grundlegende Änderungen im Vergleich zur
Weimarer Republik vollzogen: Das positivistische Verfassungsverständnis, das
eine unbeschränkte Änderung der Weimarer Reichsverfassung zuließ, solange nur
die formalen Voraussetzungen erfüllt waren, wurde zugunsten einer
wertgebundenen Verfassungsordnung aufgegeben, die ihren deutlichsten
Niederschlag in Art. 79 Abs. 3 GG fand. Hier werden verschiedene Kernpunkte
des Grundgesetzes für unabänderbar erklärt und somit auch der Änderung durch
eine Zweidrittel-Mehrheit von Bundestag und Bundesrat entzogen. In enger
Verbindung zu diesem neuen materialen Verfassungsverständnis stand die
Entscheidung zugunsten einer „wehrhaften Demokratie", die ihren Ausdruck in
der Möglichkeit fand, verfassungsfeindliche Parteien oder Vereinigungen zu
verbieten (Art. 21 Abs. 2 und Art. 9 Abs. 2 GG) bzw. Personen, die die
Grundrechte zum Kampf gegen die freiheitlich-demokratische Grundordnung
einsetzen, den Grundrechtsschutz zu entziehen (Art. 18 GG). Oder wie Carlo
Schmid es im Parlamentarischen Rat ausdrückte:
Wahlsystem
Verfassungsverständnis
„Ich möchte sagen: Demokratie ist nur dort mehr als ein Produkt einer
bloßen Zweckmäßigkeitsentscheidung, wo man den Mut hat, an sie als
167
Siehe ausführlicher Bericht hierzu Kap. V. Abschn. 1c)
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Kapitel II: Grundzüge der deutschen Institutionengeschichte
etwas für die Würde des Menschen Notwendiges zu glauben. Wenn man
aber diesen Mut hat, dann muss man auch den Mut zur Intoleranz denen
gegenüber aufbringen, die die Demokratie gebrauchen wollen, um sie
umzubringen .“168
Weiterhin schuf der Parlamentarische Rat das Bundesverfassungsgericht, das im
Vergleich mit seinem Vorgänger - dem Staatsgerichtshof der Weimarer Republik
- mit weitgehenden Kompetenzen ausgestattet und zu einem effektiven Schützer
der Verfassung sowie zu einem gewaltenteilenden Gegenpol von Bundestag und
Bundesregierung ausgebaut wurde. Und man entschied sich für einen
Grundrechtskatalog, in den nur echte Individualrechte aufgenommen wurden, die
- im Gegensatz zur Weimarer Reichsverfassung - geltendes Recht darstellen und
gegen eine Aushöhlung möglichst effektiv geschützt wurden. Dieser
Grundkonsens hinsichtlich der Grundrechte wurde in einem Punkt von CDU/CSU
und Zentrum aufgekündigt: Es gelang diesen beiden Parteien zumindest teilweise,
mit ihren Anträgen zu Problemen der Familie, des Elternrechts und der Kirche
den Grundrechtskatalog über den ursprünglich vorgesehenen Umfang hinaus zu
erweitern.
Mit dem am 8. Mai verabschiedeten und am 12. Mai 1949 von den
Militärgouverneuren gebilligten Grundgesetz war es dem Parlamentarischen Rat
gelungen, eine gute und tragfähige Verfassung auszuarbeiten. Konsens in den
verfassungspolitischen Grundsatzentscheidungen und eine immer wieder
dokumentierte Kompromissbereitschaft bei allen Parteien mit Ausnahme der KPD
waren die Voraussetzung für dieses Gelingen. Die Frage, ob dieses Lob eher den
Alliierten oder eher den Mitgliedern des Parlamentarischen Rates zu gelten habe,
erweist sich bei genauerem Hinsehen als müßig. Die Vorstellungen waren
annähernd deckungsgleich in den Grundlinien: Die Deutschen hätten ohne
alliierte Eingriffe keine wesentlich andere Verfassung geschaffen, Streitigkeiten
über eine mehr unitarische oder föderalistische Verfassung herrschten auch unter
den Alliierten, und die Alliierten hätten abweichende Vorstellungen jederzeit
durchsetzen können. Zu einer Überschätzung der Auswirkungen der 1948/49
geschaffenen neuen Verfassung besteht allerdings kein Anlass: Das Grundgesetz
hat sicherlich seinen Anteil an der relativ stabilen demokratischen Ordnung, die
die Bundesrepublik im Gegensatz zur Weimarer Republik kennzeichnet, ihre
Ursache und ihr Garant ist es allerdings nicht. Oder vorsichtiger ausgedrückt: Es
„ist sehr schwer abzuschätzen, welchen Weg das Grundgesetz unter
Weimarer Bedingungen und umgekehrt, welchen Weg die Weimarer
Verfassung unter den Bedingungen der Bundesrepublik genommen hätte.
Schon die Frage danach kann aber einen Umstand in Erinnerung rufen,
der in der Bundesrepublik mit ihrer relativ ungebrochenen und günstigen
Entwicklung in Vergessenheit zu geraten droht, dass nämlich die
demokratische Verfassung von sozialen, politischen, kulturellen
Voraussetzungen lebt, die sie selbst weder hervorbringen noch erhalten
kann. Verfassungsstaat und Verfassungsgerichtsbarkeit sind höchst
gefährdete Errungenschaften. Das Bewusstsein dafür zu schärfen, scheint
mir die wichtigste Lehre zu sein, die man aus der Weimarer Verfassung
für die Gegenwart ziehen kann."169
168
169
Der Parlamentarische Rat, a.a.O. (Anm. 163) S. 36
Grimm, Die Bedeutung der Weimarer Verfassung ..., S. 31
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