Gustav Heinemann zur Reichsgründung 1871 Unsere Geschichte ist in vieler Hinsicht anders Verlaufen als die unserer Nachbarn. Man hat uns eine „verspätete Nation“ genannt. In der Tat haben wir unsere Nationale Einheit 1871 später und unvollkommener erlangt als andere Nationen. Der Ruf nach Einheit erhob sich in den Befreiungskriegen gegen Napoleon, bei den unruhigen Studenten auf dem Wartburgfest 1817, in der großartigen Volksfeier 1832 auf dem Hambacher Schloss und sonderlich im Sturm und Drang der Jahre 1848/49. Aber ein jedes Mal wurde der Ruf von jenen Dutzenden von Fürstenstaaten erstickt, in die Deutschland zerrissen blieb. Durften wir 1871 jubeln? Emanuel Geibel hat es stellvertretend für viele bis in die Schulbücher hinein mit dem Vers getan. „Wie aus Jupiters Stirn einst Pallas Athene, so sprang Aus Bismarcks Haupt das Reich waffengerüstet hervor.“ Bismarck als Schöpfer der Einheit aus Blut und Eisen – so wurde es gelehrt und in der Fülle der ihm gewidmeten Denkmäler in den deutschen Landschaften dargestellt. Wir müssen erkennen, dass dieses eine Vereinfachung ist, bedenklich wie jede Vereinfachung, richtig und falsch zugleich. Bismarck erzwang 1871 den kleindeutschen fürstlichen Bundesstaat unter Ausschluss auch der Deutschen in Österreich – das ist richtig. Aber Bismarck gehört nicht in die schwarz-rot-goldene Ahnenreihe derer, die mit der Einheit des Volkes zugleich demokratische Freiheit wollten. Wer also die Linie von den Befreiungskriegen und der Wartburg über Hambach, Frankfurter Paulskirche und Rastatt als Endstation der Revolution 1848/49 bis nach Sedan und Versailles zieht, verzerrt den Gang der Geschichte. In unserer Nationalhymne des Demokraten Hoffman von Fallersleben aus dem Jahr 1841 singen wir von Einigkeit und Recht und Freiheit. So aber sang erst die Weimarer Republik. Im Kaiserreich, bis 1918 sang man auch „Heil dir im Siegerkranz“. Als das Deutsche Reich vor 100 Jahren in Versailles ausgerufen wurde, war keiner von den 1848ern zugegen. Ja, Männer wie August Bebel und Wilhelm Liebknecht und andere Sozialdemokraten, die sich gegen den nationalistischen Übermut des Sieges über Frankreich geäußert hatten, saßen in Gefängnissen. Um den Kaiser standen in Versailles allein die Fürsten, die Generäle, die Hofbeamten, aber keine Volksvertreter. Die Reichsgründung hatte die Verbindung von demokratischem und nationalem Wollen zerrissen. Sie hat das deutsche Nationalbewusstsein einseitig an die monarchisch konservativen Kräfte gebunden, die in den Jahrzehnten vorher dem demokratischen Einheitswillen hartnäckig im Wege gestanden hatten. Für unsere französischen Nachbarn war es eine tiefe Demütigung, dass unser Nationalstaat in ihrem Lande ausgerufen und ihnen zugleich Elsass-Lothringen weggenommen wurde. Diese Demütigung konnte Frankreich nicht vergessen. Was 1871 erreicht wurde war eine äußere Einheit ohne volle innere Freiheit der Bürger. Die Staatsgewalt ging nicht vom Volke aus, sie lag bei den Fürsten und den Senaten der Hansestädte. Zwar wählte das Volk den Reichstag. Der Reichstag aber bestellte nicht die Regierung und hatte nur geringen Einfluss auf Außen- und Militärpolitik. Darum ist es kein Zufall, dass wir viele freiheitliche, liberale und demokratische Kräfte in Opposition zum Bismarckreich sehen. Die drei Gruppen der deutschen Bevölkerung, die andere Vorstellungen vom deutschen Einheitsstaat hatten. Ich meine den preußischen Verfassungskonflikt der Jahre 1862/63 mit den Liberalen, den Kulturkampf der Jahre 1878 bis 1890 mit dem katholischen Bevölkerungsteil und den Konflikt mit den als „Reichsfeinde“ und „vaterlandslose Gesellen“ diffamierten Sozialdemokraten durch das Sozialistengesetz der Jahre 1878 bis 1890. Manche haben frühzeitig erkannt und gewarnt, welche Gefahrenquelle in dieser inneren Zerklüftung lag. Einig und geschlossen schien unser Volk erst zu sein, als der Erste Weltkrieg ausbrach und Kaiser Wilhelm II. verkündete: „Ich kenne keine Parteien mehr, ich kenne nur Deutsche.“ Bald jedoch schon stellte sich heraus, dass der Gleichheit im Soldatentod auf den Schlachtfeldern auch im Kriege immer noch keine Gleichheit der staatsbürgerlichen Rechte nachfolgen sollte. Die drei Gruppen der Opposition gegen Bismarck finden wir später in unserer Geschichte wieder. Sie nämlich sind es gewesen, die im Kriegsjahr 1917 die Friedensresolution des Reichstages mit der Warnung vor Gewaltsamer Gebietserweiterung verfasst haben. Sie sind es auch gewesen, die eineinhalb Jahre später das militärisch zusammengebrochene Kaiserreich in der Weimarer Republik auffingen. Hier bestehen eher historische Zusammenhänge mit der Frankfurter Nationalversammlung des Jahres 1848 als mit dem Spiegelsaal von Versailles. Die Weimarer Republik hatte die Chance, Rahmen der nach dem Versailler Vertag von 1919 verbliebenen Einheit endlich auch die innere Zusammenführung unseres Volkes in einer demokratischen Ordnung hinzuzufügen. Genau diese aber gelang nicht. Die schweren Belastungen, unter denen die Weimarer Republik ins Leben trat, ermöglichten den reaktionären und nationalistischen Kräften, das billige Spiel, sich aus ihrer Verantwortung für den ersten Weltkrieg und den militärischen Zusammenbruch des Kaiserreiches davonzustehlen. Anstatt unsere Geschichte unsentimental und kritisch zu sehen, bedienten sich diese Kräfte der Dolchstoßlegende, d. h. des Vorwurfes, dass Deutschland im ersten Weltkrieg von innen auf landesverräterische Weise um den Sieg gebracht worden sei – eine Vergiftung von nachhaltig böser Wirkung. Große Teile unseres Volkes stellten sich nicht vorbehaltlos auf den Boden der Weimarer Verfassung. Schon 1920 erlangten die nicht zur Weimarer Koalition aus SPD, Zentrum und Deutsch-Demokratischer Partei gehörende Parteien die Mehrheit im Reichstag und behielten sie, bis die Republik ruiniert war und Hitler in die Hände fiel. Unser Geschichtsbild von Weimar bedarf auch in dieser Hinsicht einer kritischen Überprüfung. Wo vom Ersten Weltkrieg als einem bloßen Unglück ohne deutsche Mitschuld und wo vom Unrecht des Versailler Friedensvertrages von 1919 als Entschuldigung für die nationalsozialistische Machtergreifung gesprochen wird, ist man immer noch nicht mit den Ursachen des Zusammenbruchs von 1918 fertig geworden. Hundert Jahre Deutsches Reich – das heißt eben nicht einmal Versailles, sondern zweimal Versailles, 1871 und 1919, und das heißt auch Auschwitz, Stalingrad und bedingungslose Kapitulation von 1945. Wie war das möglich? Längst schon ist jene angebliche Ahnenreihe, die von Arminius und Luther über Friedrich den Großen und Bismarck zu Hitler geführt haben solle, in den Bereich der Legende verwiesen. Man vergisst allzu leicht die gesellschaftlichen Zusammenhänge insbesondere des Bismarckschen Reiches und der Weimarer Republik, die beide an ihren inneren Zerklüftungen litten und nicht zuletzt daran zugrunde gingen.