Fibromyalgie und Stress – eine interdisziplinäre

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MEDIAN Kliniken
Schriften zur Rehabilitation
11 Fibromyalgie
und Stress – eine
interdisziplinäre
Herausforderung
5. Orthopädie-Symposium im MEDIAN Klinikum für Rehabilitation Bad Salzuflen
am 6. November 2004
2
3
Impressum
Herausgeber:
MEDIAN Kliniken GmbH & Co. KG
Carmerstraße 6
10623 Berlin
Telefon 030/311 01-0
www.median-kliniken.de
Redaktion:
U. Reichhold
Gestaltung:
weberstedt gmbh,
visuelle kommunikation, Berlin
Typographie:
druckvorlagenservice mayer, Berlin
Druck:
Das Druckhaus der Elster-Werkstätten gGmbH, Herzberg/Elster
Heft 11, Juni 2005
ISSN 1432-945X
Die Vervielfältigung und Verbreitung dieser Druckschrift – auch von Teilen oder Abbildungen –
bedürfen der schriftlichen Genehmigung des Herausgebers.
Die MEDIAN Kliniken – Medizinische Kompetenz, Erfahrung und Qualität
4
Vorwort
5
Die Referenten
7
Einleitung: Fibromyalgie und Stress
Dr. med. Bernd Wilhelm
9
Klinische Fallvorstellungen
OÄ Mechthild Gesmann
13
Fibromyalgie aus orthopädischer Sicht
Dr. med. Martin Quarz
29
Fibromyalgie als Störung der zentralen Schmerz- und Stressverarbeitung
Prof. Dr. med Ulrich T. Egle
41
Die MEDIAN Kliniken
59
Literaturhinweis: In dieser Reihe bisher erschienen
63
4
5
Die MEDIAN Kliniken – Medizinische
Kompetenz, Erfahrung und Qualität
Zu den MEDIAN Kliniken zählen derzeit
32 Rehabilitationskliniken – z. T. mit
Akutbereich - und zwei Krankenhäuser
im gesamten Bundesgebiet. MEDIAN
Kliniken gibt es an 20 Standorten und
zu allen Indikationen. Die ersten RehaKliniken des Klinikverbundes entstanden
vor dreißig Jahren.
Das besondere Engagement für die
Gesundheit unter Berücksichtigung
hoher Qualitätsstandards ist die Ge­­
meinsamkeit aller MEDIAN Kliniken.
Jeder Patient wird mit seinen individuellen Bedürfnissen zum Mittelpunkt einer
interdisziplinären Behandlung durch
erfahrene Ärzte- und Therapeutenteams.
Die qualitativ hochwertige medizinische Betreuung der Patientenklientel
basiert auf ganzheitlichen medizinischen Konzepten und einer permanenten Qualitätssicherung.
Mit eigenen Forschungsprogrammen,
Qualitätszirkeln und BenchmarkingAnalysen tragen die MEDIAN Kliniken
den Ansprüchen an ein modernes Quali-
tätsmanagement im Gesundheitswesen
Rechnung. Zur Überprüfung der Wirksamkeit der Behandlungskonzepte und
-maßnahmen werden eigene wissenschaftliche Studien zum Verlauf und den
Ergebnissen der Behandlung durchgeführt. In diesem Rahmen werden auch
neue Therapiekonzepte evaluiert.
Oberstes Ziel aller Bemühungen ist
eine hohe Behandlungsqualität. Es geht
aber auch um guten Service, effektive
Abläufe, effiziente Strukturen und
Ergebnisse. Die fachliche und soziale
Kompetenz sowie die Erfahrung der Mitarbeiter der MEDIAN Kliniken sind das
größte Kapital, wenn es um optimale
Behandlungserfolge geht.
Diese Schriftenreihe ordnet sich naht­
los in die vielen Aktivitäten ein, das
ei­gene Know-how zu kommunizieren,
medizinische Fragestellungen interdisziplinär zu betrachten und dabei auch den
Dialog mit Ärzten und Therapeuten zu
führen, die außerhalb der MEDIAN
­Kliniken tätig sind.
Vorwort
Sehr geehrte Damen und Herren, sehr
geehrte Kolleginnen, sehr geehrte Kollegen,
für das Symposium haben wir uns das
Ziel gesetzt, dem Wesen der „Fibromyalgie“ als chronische Schmerzerkrankung
näher zu kommen. Grundlage hierbei
ist ein bio-psychosoziales Krankheitsmodell. In der Pathogenese der Fibromyalgie wird psycho-sozialen Dauerbe­
lastungen wie auch psychischen und
biologischen Stress-Situationen eine
be­sondere Bedeutung zugewiesen.
Differentialdiagnostisch abzugrenzen ist
das Fibromyalgie-Syndrom von den entzündlichen rheumatologischen Erkrankungen, den myofascialen Schmerz­
syndromen und der somatoformen
Schmerzstörung.
Die Vorträge der Referenten sollen eine
Standortbestimmung vor dem Hintergrund aktueller wissenschaftlicher Forschungsergebnisse darstellen.
Bad Salzuflen im November 2004
Dr. med. Bernd Wilhelm
Chefarzt
6
7
Die Referenten
Prof. Dr. med. Ulrich T. Egle
Leitender Oberarzt
der Klinik für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie,
Universität Mainz,
Untere Zahlbacher Str. 8, 55131 Mainz
Mechthild Gesmann
Leitende Oberärztin
im Fachbereich Orthopädische Psychosomatik
im MEDIAN Klinikum für Rehabilitation Bad Salzuflen,
Alte Vlothoer Str. 47-49, 32105 Bad Salzuflen
Dr. med. Martin Quarz
Chefarzt Orthopädie
der Klinik Bernkastel im MEDIAN Reha-Zentrum Bernkastel-Kues,
Kueser Plateau, 54470 Bernkastel-Kues
Dr. med. Bernd Wilhelm
Chefarzt Orthopädie
der Kliniken am Burggraben im MEDIAN Klinikum
für Rehabilitation Bad Salzuflen,
Alte Vlothoer Str. 47-49, 32105 Bad Salzuflen
8
9
Einleitung: Fibromyalgie und Stress
B. Wilhelm
Als Einleitung möchte ich aus 10 aktuellen Lehrbüchern zum Thema Fibromyalgie zitieren.
1. B
. Kügelgen, L. Hanisch Begutachtung von Schmerz
Gentner Verlag 2001
Die Autoren haben an einer Reihe von
Gutachten überprüft, wie die Fibromyalgie nach ICD 10 codiert war. Sie kommen
zu dem Schluss, dass Somatiker unter M
79.0 (Rheumatismus – nicht näher be­­
zeichnet) codieren, bei Annahme psychischer Ursachen unter F 45.4 (an­­
haltende somatoforme Schmerzstörung)
und auch als unklare Schmerzen R 52.2
(sonstiger chronischer Schmerz) codiert
wird.
2. H
.-J. Hettenkofer
Rheumatologie Thieme Verlag 1989
Die primäre Fibromyalgie ist hier
zu­sammen mit Myopathien, Myositiden,
Tendopathien, Bursopathien, Erkrankungen der Fascien und Nerven und Peri­
arthropathien unter extraartikulärer
Rheumatismus aufgeführt.
3. K
laus L. Schmitt Checklisten der aktuellen Medizin/
Rheumatologie Thieme Verlag 2000
Hierin heißt es auf Seite 368: „Die Frage,
ob die Fibromyalgie eine echte somatische Erkrankung, eine psychosomatische
Erkrankung oder eine Funktionsstörung
ist, wird unverändert kontrovers diskutiert.“
4. J ürgen Wollenhaupt Taschenatlas spezial der Rheumatologie Thieme Verlag 2003
Hier wird die Fibromyalgie unter Weichteilrheumatismus aufgelistet. Auf Seite
114 heißt es: „Fibromyalgie ist eine
ge­neralisierte Tendomyopathie mit ge­­
neralisierten Muskelschmerzen, charakteristischen schmerzhaften Druckpunkten an Muskelansätzen, vegetativen
(Ermüdung, Schlafstörung) und psychischen
Symptomen
(Depressivität,
Angst).“
5. E va Felde, Dr. med. Ulrike Novotny
Schmerzkrankheit Fibromyalgie
Trias Verlag 2002
Mögliche Ursachen der Fibromyalgie:
„Fibromyalgie ist keine rein psychische
Krankheit, schon gar keine Einbildung.
Wahrscheinlich mehrere, bisher noch
10
unklare Ursachen führen zu einer fehlerhaften Schmerzverarbeitung in den verschiedenen Bereichen des Nervensystems. Als mögliche Ursachen werden
beispielsweise Erbfaktoren und Störungen im Haushalt der Nervenbotenstoffe
(Neurotransmitter) vermutet, die die
Impulsübertragung im Nervensystem
regeln.
Da das Nervensystem nicht nur für
Signale an die Muskulatur, sondern beispielsweise auch für alle inneren Organe
(z. B. Harnblase, Magen-Darm-Kanal)
und für „Stimmungen“ zuständig ist,
erklärt sich die Vielfalt der möglichen
Symptome bei der gestörten Impulsverarbeitung, die der Fibromyalgie zugrunde liegt oder sie begleitet."
6. T om Laser Muskelschmerz
Thieme Verlag 1999
Seite 58: „... Ist die Fibromyalgie ein
eigenes Krankheitsbild oder eher eine
besondere Art einer Funktionsstörung
der kontraktilen Weichteile?“
7. Z enz . Jurna
Lehrbuch der Schmerztherapie Wissenschaftl. Verlagsgesellschaft
Stuttgart 2001
Seite 710/711: Fibromyalgie = generalisierte TMP = Fibromyalgie-Syndrom
(FMS)
„Wahrscheinlich handelt es sich um
eine Störung der Verarbeitung von chro-
B. Wilhelm
nischem Stress jedweder Genese (sexueller Missbrauch, Abtreibungen, persönlichen Kränkungen, Elternverlust in der
Kindheit, Ehekrisen etc.)“
8. H
ans-Christian Deter Psychosomatik am Beginn des 21.
Jahrhunderts – Chancen einer bio­
psychosozialen Medizin
Verlag Hans Huber 2001
Seite 381: „Die FM ist nach wie vor eine
in vielen Beziehungen rätselhafte und
schwer greifbare Störung.
Am aussichtsreichsten scheinen uns
Konzepte, die von zentralnervös mediierten Störungen der Perception und
Reizverarbeitung ausgehen, die sich
auch, aber nicht nur im muskuloskelettalen System bemerkbar machen.“
Seite 382: „Im Augenblick wird weiter nach einer viralen Genese gesucht –
die FM wird damit in die Nähe des chronischen Müdigkeitssyndroms gerückt.“
9. P rof. Dr. J. Bauer Fibromyalgie – Heilung ist möglich
Knaur Verlag 2002
Seite 62: „Insbesondere FM-Patientinnen berichten über eine allzu schnelle
Einordnung unter Rubrik Somatoforme
Störung – um nicht zu sagen ,alles Einbildung bzw. psychische Störung’ –
durch Orthopäden.“
Seite 109: „Nerven sind von feinem
Gleitgewebe umgeben, das sich durch
entsprechende Reizung entzündlich ver-
Einleitung
ändern kann. Bei Patienten mit FM ist
davon auszugehen, dass sowohl körperlicher als auch psychischer Stress dazu
beitragen, dass sich dieses Gleitgewebe
entzündet und die Entzündung nach
längerer Zeit zum Ausschwitzen
(Ex­sudation) von Eiweißkörpern führt,
die die Engstelle der Akupunkturlöcher
verkleben können.“
Ich hoffe, dass die nachfolgenden
Re­ferenten uns klarere Aussagen über
Ursachen, Definition, Diagnostik und
Therapie der Fibromyalgie werden geben
können.
11
12
13
Klinik, Diagnose und Therapie
der Fibromyalgie im Überblick
M. Gesmann
Das Fibromyalgiesyndrom ist eine häufig
auftretende Form der chronischen
Schmerzerkrankung. Dennoch ist die
Diagnose bis heute umstritten, und sie
wird von den verschiedenen medizinischen Fachdisziplinen unterschiedlich
verstanden, ja kontrovers diskutiert. Im
Rahmen meines heutigen Vortrages
werde ich die Grundsatzfrage, ob denn
eine eigenständige Diagnose „Fibromyalgie“ überhaupt existiere, ausklammern,
denn wenn nicht alle Anwesenden von
der Existenz dieser Erkrankung überzeugt wären, dürfte es nicht zu einer
solch regen Beteiligung am Symposium
gekommen sein.
Mein Vortrag gliedert sich in einen
ersten Teil, der sich mit den diagnos­
tischen Kriterien der Fibromyalgie aus­
einandersetzt, im Folgenden werde ich
auf epidemiologische Aspekte eingehen
und schließlich Differentialdiagnostik,
pathophysiologische Modelle sowie die
Therapiemöglichkeiten anhand konkreter Fallbeispiele erörtern.
Meine Ausführungen sollen Anregungen zum interdisziplinären Austausch
der hier vertretenen medizinischen
Fachrichtungen geben wie auch das
Gespräch mit den direkt Betroffenen,
den Fibromyalgiepatienten fördern. Ich
begrüße in diesem Zusammenhang
neben den Kolleginnen und Kollegen der
Bild 1
14
Inneren Medizin, der Allgemeinmedizin,
der Orthopädie, der Neurologie, der
Rheumatologie, der Psychologie, Psychosomatik und Psychiatrie ganz besonders auch die vertretenen Selbsthilfegruppen.
Bislang (Bild 1) wird die Diagnose einer
Fibromyalgie in erster Linie von Fachrheumatologen gestellt. In der Rheumatologie ist sie seit mehreren Jahren als
eigenständige Erkrankung etabliert. Die
Diagnosestellung orientiert sich bis
heute an den Kriterien, die 1990 vom
American College of Rheumatology
(ACR) definiert wurden. Es handelt sich
hierbei um Klassifikationskriterien, die
in erster Linie für wissenschaftliche
Zwecke konzipiert waren, so dass die
Relevanz für den klinischen Alltag nicht
eindeutig ist. So dürften über die defi-
M. Gesmann
nierten Tenderpoints hinaus noch
wesentlich mehr Schmerzpunkte existieren, die Anzahl der nach ACR-Kriterien festgelegten Tenderpoints reicht nach
klinischen Beobachtungen bei weitem
nicht aus. Die im Grunde genommen diffuse Schmerzhaftigkeit der Muskel- und
Bindegewebsstrukturen stellt die Bedeutung der Tenderpoints gar in Frage. Zum
anderen ist die Instruktion zur Druckausübung (4kp/qcm) und die Bewertung der
Schmerzreaktion des Patienten nicht
standardisiert. Viele Patienten reagieren
bereits bei geringerer Druckausübung
mit Schmerzen, Gesunde zeigen vielleicht gleichermaßen eine Schmerzreaktion. Wie also lässt sich der Schmerz
verifizieren und die Diagnose untermauern?
Gemäß den Empfehlungen der DGSS
soll zur Diagnostik der Tenderpoints eine
Bild 2
Klinik, Diagnose und Therapie der Fibromyalgie im Überblick
Sekunde lang mittels eines Daumens der
Druck ausgeübt werden und anschlie­
ßend die verbale Schmerzangabe des
Patienten unter Berücksichtigung der
visuellen Analogskala erhoben werden.
Zur Abgrenzung gegenüber muskuloskelettalen und myofaszialen Schmerzsyndromen wird von deutschen Autoren die
Palpation 5 bilateraler Kontrollpunkte
empfohlen.
Zusammengefasst (Bild 2) ist also das
Fibromyalgiesyndrom definiert durch
das Leitsymptom chronischer Schmerz,
d. h. ausgedehnter Schmerz seit mehr
als 3 Monaten und in mindestens 3 Körperregionen (rechte bzw. linke Körperhälfte, oberhalb bzw. unterhalb der Taille, Achsenskelett).
Bei der Palpation der Tenderpoints ist
eine erhöhte Druckschmerzhaftigkeit
15
mit sichtbarer Schmerzreaktion an mindestens 11 von 18 FMS- Punkten nachweisbar.
Der chronische Schmerz ist fast
immer von funktionellen, vegetativen
oder psychischen Symptomen begleitet.
Diese Symptome werden im deutschsprachigen Raum als Nebenkriterien des
FMS verstanden. Mindestens 3 der
Nebenkriterien sollen nachweisbar sein.
Hinweise auf ein entzündlich-rheumatisches Geschehen fehlen, in der klinischen Diagnostik sind strukturelle
Läsionen bzw. biochemische Abweichungen nicht nachweisbar. Deutschsprachige Autoren fordern eine Ausschlussdiagnose, während US-amerikanische Experten festlegten, dass das
FMS unabhängig von einer anderen
medizinischen Diagnose diagnostiziert
werden kann. Eine interdisziplinäre
Bild 3
16
M. Gesmann
Klinik, Diagnose und Therapie der Fibromyalgie im Überblick
Bild 4
Bild 5
Standortbestimmung erfolgte im Rahmen einer Konsensus-Tagung in Füssen
im Jahr 1995 (Abb. 3, 4, 5)
Im Anschluss an die Konsensus-Tagung
in Füssen 1995 wurde durch Dr. U.
Moorahrend zur Pathogenese der Fibromyalgie zusammenfassend beschrieben:
„Es wird eine multifaktorielle Pathoge-
17
Bild 6
nese angenommen, wobei neben somatischen Komponenten vor allem psychosoziale Dauerbelastungen und psychische Stressreaktionen eine Rolle spielen
und zentrale endokrinologische und
zentralnervöse sowie periphere muskelund neurophysiologische Dysregulationen bewirken können.
Neueste Untersuchungen lassen den
Schluss zu, dass bei der Krankheitsentwicklung möglicherweise eine metabolische Störung im zentralen Schmerzregulationszentrum zusammen mit einem
fakultativen Mangel an HypophysenVorderlappenhormon, unter anderem
dem somatotropen Hormon, vorliegt.
Bei Fibromyalgie wird häufig im
Serum ein Mangel an Serotonin und
L-Thryptophan gefunden. Alle diese
Befunde sind unspezifischer Ausdruck
einer neuro-endokrinen Stressreaktion.
Inwieweit die bei einem Teil der Patienten beobachteten Antikörper gegen
Serotonin einen Einfluss auf diesen
Befund haben, ist noch völlig offen und
erscheint eher unwahrscheinlich."
Welches (Bild 6) sind nun die beschriebenen und im Rahmen wissenschaft­
licher Untersuchungen verifizierten
Nebenkriterien?
Die genannten Nebenkriterien sind
allesamt den vegetativen, funktionellen
und psychopathologischen Symptomen
zuzuordnen.
Die Überlappung mit der anhaltenden
somatoformen Schmerzstörung ist
naheliegend.
Gemäß ICD 10 ist die Somatoforme
Schmerzstörung verbunden mit einem
18
M. Gesmann
Klinik, Diagnose und Therapie der Fibromyalgie im Überblick
Bild 7
mindestens 6 Monate anhaltenden
Schmerz, welcher durch einen physiologischen Prozess oder eine körperliche
Störung nicht hinreichend erklärt werden kann. Neben dem Ausschluss einer
zugrunde liegenden körperlichen Ursache muss zugleich der Beschwerdebeginn in engem zeitlichen Zusammenhang zu einer psychosozialen Belastungssituation stehen.
Die Fibromyalgie (Bild 7) ist eine eigenständige Erkrankung, deren Symptomatik Gemeinsamkeiten mit Erkrankungen
und Störungsbildern aus dem Fachgebiet der Rheumatologie und Psychosomatik/Psychotherapeutische
Medizin
aufweist. Studienergebnisse von Egle et
al. sprechen für die Bildung von Subgruppen.
Die Überlappung mit der somatoformen Schmerzstörung wurde bereits
genannt. Sowohl depressive Störungen
wie auch Angststörungen treten gehäuft
im Sinne einer psychischen Komorbidität auf. Die Abgrenzung zum FatigueSyndrom wie auch zur Multiple-Chemical-Sensitivity ist bei gutachterlicher
Fragestellung oftmals schwierig und
problematisch.
Neben dem funktionellen Reizdarmsyndrom sei vor allem auf die mögliche
Komorbidität mit entzündlich rheumatischen Erkrankungen hingewiesen, die
auch nach Diagnosestellung eines FMS
den gewissenhaften Arzt veranlassen
sollte, den Krankheitsverlauf auch nach
Jahren noch laborchemisch zu überwachen, um die mögliche Ausprägung einer
entzündlich rheumatischen Erkrankung
19
Bild 8
Bild 9
nicht zu übersehen. Bekannt ist im
deutschsprachigen Raum das sog.
sekundäre FMS, beispielsweise im Verlauf einer Kollagenose.
Die Angaben zur Prävalenz (Bild 8)
schwanken in der Literatur zwischen 1
und 10 % in der Gesamtbevölkerung. In
Nordamerika wird für die Fibromyalgie
eine Punktprävalenz von 2 %, für Frauen
20
M. Gesmann
Klinik, Diagnose und Therapie der Fibromyalgie im Überblick
Bild 10
von 3,4 %, für Männer von 0,5 % angegeben. Deutlich höher sind die Prävalenzen beim chronischen multilokulären
Schmerzsyndrom. Betroffen sind vorwiegend Frauen im Verhältnis von 6:1.
Die Erkrankung beginnt durchschnittlich um das 35. Lj., bei 20-25 % der Pa­­
tienten beginnen die Symptome bereits
in Kindheit und Jugend, der Beginn einer
Fibromyalgie jenseits des 60. Lebensjahres ist selten.
Es wurde bereits ausführlich beschrieben (Bild 9, 10), dass sich die Diagnose
einer Fibromyalgie in erster Linie am
Leitsymptom Schmerz orientiert. Da ab­­
gesehen von den Tenderpoints keine
spezifischen diagnostischen Kriterien
bekannt sind und ein mit Ausnahme der
Schmerzen unauffälliger körperlicher
Befund Vorraussetzung für die Diagnose
ist, besteht die ärztliche Kunst in einer
sorgsamen Diagnostik, um alle möglichen Differentialdiagnosen zu berücksichtigen. Insbesondere müssen neurologische Erkrankungen sorgfältig aus­
geschlossen werden (Myopathien,
Polyneuropathien, Restless-legs-Syndrom, Multiple Sklerose). Internistische
Grunderkrankungen wie hypothyreote
Myopathien, Hyperparathyreoidismus
und Hyperkortizismus können mit ausgeprägten Myalgien einhergehen (TSHBestimmung). Zur Routinediagnostik
sollte die Bestimmung der Kreatin-Kinaseaktivität im Serum gehören wie auch
eine elektromyographische Untersuchung
Des Weiteren ist an die breite Palette der Virusinfektionen zu denken
(Coxsackie B-, Epstein-Barr-, Herpes-,
Parvo-, HI-Virus) und an Borrelia-burg-
21
Bild 11
dorferi-Infektionen.
Zum Ausschluss entzündlicher weichteilrheumatischer Erkrankungen (Polymyalgia rheumatica, Kollagenosen) dienen die Messung der BSG, ein Differentialblutbild und die Bestimmung der
antinukleären Antikörper.
Die Bestimmung der SerumkalziumKonzentration und der Aktivität der
alkalischen Phosphatase im Serum sollten zur Routinediagnostik gehören, um
ossäre Leiden auszuschließen.
Zu den Zusatzuntersuchungen (Bild 11)
sind Virus- und Borrelien-Serologie zu
rechnen wie auch der Laktat-Ammoniak-Belastungstest zum Nachweis einer
metabolischen Myopathie und auch
Ausdauerbelastungstests zur Frage
mitochondrialer Myopathien.
Eine gründliche Medikamentenana-
mnese zur Frage einer medikamentöstoxischen Myopathie ist obligatorisch.
Die Bestimmung des Acetylcholinrezeptor-Antikörper sichert die Diagnose
einer Myasthenia gravis, die sich allerdings klinisch deutlich vom FMS unterscheidet (Ptosis, Doppelbilder, Kaumuskelschwäche, Versagen der Stimme,
Schwäche der Arme oder der Beine).
Wie bereits angeführt (Bild 12), wird
pathogenetisch eine neuro-endokrine
Stressreaktion angenommen. Dabei wird
den psychosozialen Dauerbelastungen
und den psychischen Stressreaktionen
eine gleichbedeutende Rolle wie den
physischen Stressbelastungen zugewiesen. Hierzu sei auf die neuesten Untersuchungen der Universität Mainz durch
Herrn Prof. Egle verwiesen.
22
M. Gesmann
Klinik, Diagnose und Therapie der Fibromyalgie im Überblick
Bild 12
23
Bild 14
Bild 15
Bild 13
In der Abteilung Orthopädische-Psychosomatik (Bild 13, 14) der Kliniken am
Burggraben, Bad Salzuflen erfolgt neben
der somatischen Diagnostik eine eingehende klinisch-psychologische Befund­
erhebung und eine Diagnostik nach
schmerztherapeutischen
Standards.
Wesentlicher Bestandteil der interdisziplinären Zusammenarbeit der verschiedenen Fachabteilungen des Hauses ist
die regelmäßig stattfindende interdisziplinäre Schmerzkonferenz.
Die medikamentöse Schmerztherapie
(Bild 15) orientiert sich an den Empfehlungen der WHO zur Stufentherapie bei
chronischem Schmerzsyndrom.
Niedrigdosierte trizyklische Antidepressiva oder SSRI werden insbesondere
bei Patienten mit psychischer Komorbidität eingesetzt.
Im Rahmen (Bild 16) einer von uns
erprobten integrierten Gruppenbehandlung werden die Patienten, die sich pri-
24
M. Gesmann
Klinik, Diagnose und Therapie der Fibromyalgie im Überblick
Bild 16
mär nur körperlich krank erleben, sowohl
physiotherapeutisch als auch psychotherapeutisch nach einem speziell auf
ihre Probleme abgestimmten Behandlungskonzept behandelt. Das Konzept
umfasst tiefenpsychologisch oder verhaltenstherapeutisch ausgerichtete Einzelpsychotherapie,
psychologische
Schmerztherapie in der Gruppe, Einsatz
von Entspannungstechniken und die differenzierte Physiotherapie sowohl einzeln wie auch in der Gruppe.
Die Gruppenmethode wird von den
Patienten sehr geschätzt, verhilft sie
doch zu der Erfahrung, dass andere ähnlich betroffen sind. Sie motivieren sich
gegenseitig zur Umsetzung neuer Verhaltensstrategien.
Themen
der
psychologischen
Schmerztherapie sind der Umgang mit
Schmerz, Leistungsverhalten und Per-
25
Bild 17
fektionismus, Konfliktfähigkeit, Durchsetzungsvermögen, Reaktionen des sozialen Umfeldes sowie die Rolle eigener
Kindheitserfahrungen.
Vorangestellt wird stets eine aus­
führliche Information zum biopsychosozialen Krankheitsmodell. Selbsthilfemethoden werden vermittelt und die Teilnahme an einer Selbsthilfegruppe
gefördert.
Bild 18
Kasuistik:
Herr S. wurde zur 4-wöchigen stationären Rehabilitation in unserer Abteilung
aufgenommen. Die Diagnose eines Fibromyalgiesyndroms war durch die ihn
behandelnden Fachärzte bereits gestellt
worden. Seine Hauptsymptome bestanden in anhaltenden Schmerzen im
Bereich der Schultergelenke, des
Nackens, in beiden Armen sowie im
Stirnbereich. Der subjektiv empfundene
Schmerzcharakter wurde von ihm als
drückend und ziehend beschrieben bei
einer Schmerzstärke von durchschnittlich 8 bis 10 auf der visuellen Analogskala. Zusätzlich klagte Herr S. über
Ängste und Schlafstörungen.
Die Tenderpointpalpation (Bild 17, 18)
fiel positiv aus. Die differentialdiagnostischen Befunde zeigten keinen organpathologischen Befund. Im Rahmen der
psychoedukativen Gespräche wurde mit
Herrn S. zunächst an einem biopsychosozialen Krankheitsmodell gearbeitet.
Hilfreich war hierbei die Anwendung
von Sprichworten und Volksweisheiten,
um Herrn S. die Psychosomatik des
26
M. Gesmann
Klinik, Diagnose und Therapie der Fibromyalgie im Überblick
Bild 19
Rückens näher zu bringen. Im weiteren
Therapieverlauf konnten weitere Themenbereiche fokussiert werden:
Im Rahmen (Bild 19) des individuell
angepassten
physiotherapeutischen
Trainingsprogramms gelang es ihm, die
körperliche Belastbarkeit zu steigern
und seinen Bewegungsradius zu erweitern. Phasenweise war die Schmerz­
symptomatik deutlich reduziert.
Patientenschulungen (Bild 20):
Erste Ergebnisse der in unserem Hause
durchgeführten Patientenschulungen
lassen einen positiven Effekt von integrierten Behandlungsangeboten auf das
Selbstmanagement der Betroffenen vermuten.
Ein Großteil der Teilnehmerinnen und
27
Bild 20
Teilnehmer (Bild 21) bestätigten, sie
würden die erlernten Methoden zur
Schmerzbewältigung zu Hause in Eigenregie fortsetzen:
Fibromyalgiepatienten sind besser als
ihr Ruf – und sie brauchen unser Engagement!
Literatur
Adler, R.H. (2001). Schmerz als biopsychosoziales Phänomen. Synopsis, 5,
1–2
Anderberg, U. M. et al. (2000). The
impact of life events in female patients
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Bild 21
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Schmerz 18:118–124
Blumenstiel, K. & Eich, W. (2003).
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und Therapie der Fibromyalgie. Der
Schmerz 17: 399–404
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Deutsche Rheuma-Liga e.V. (2003):
Fibromyalgie (GTM) – Das andere Rheuma. Ein Leitfaden für Patienten mit
Weichteilrheuma.
Egle, U. T. (1999). Spezielle Schmerztherapie. Leitfaden für Weiterbildung
und Praxis. Schattauer, Stuttgart,
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Egle, U.T., Ecker- Egle, M.-L., Nickel, R.
& van Houdenhove, B.(2003). Fibromyalgie als Störung der zentralen Schmerzund Stressverarbeitung. Ein neues bio­
psychosoziales Krankheitsbild. Psychotherapie, Psychosomatik, Medizinische
Psychologie, 53, 1-11
Häuser, W. (2002). Vorschläge für
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Standortbestimmung zum Verständnis,
zur Diagnostik und zur Therapie der Fibromyalgie mit consensus baseline. Spitta
Verlag
M. Gesmann
29
Fibromyalgie aus orthopädischer Sicht
M. Quarz
Prävalenz
Die Angaben über die Prävalenz der Fibromyalgie in Deutschland weichen
erheblich voneinander ab. So finden sich
in der Literatur Angaben zur Prävalenz
zwischen 1,3 und 4,8 % was ungefähr
einer Schwankungsbreite von 1 bis 4
Millionen
Fibromyalgiekranker
in
Deutschland entspricht.
Symptome
Die Diagnose wird anhand der ACR - Kriterien (American Congress of Rheumatology) gestellt. Diese sehen folgende
Kriterien vor:
1. Generalisierte Schmerzen
2. Mindestschmerzdauer von 3 Monaten
3. Mindestens 11 von 18 definierten
Druckpunkten druckschmerzhaft
4. Psychische und vegetative Begleitsymptome
Begleitsymptome
Häufige Begleitsymptome im Rahmen
der Fibromyalgie sind:
1. Schwindel
2. Ohrensausen
3. Häufiges Schwitzen
4. Kälteempfindlichkeit
5. Kopfschmerzen
6. Zittern
7. Kreislaufprobleme
8. Unregelmäßige Regelblutungen
Verlauf
Der Verlauf ist meistens allmählich. In
der Regel beginnt die Erkrankung mit
Schmerzen in einem Wirbelsäulenabschnitt also im Bereich der Halswirbelsäule oder Lendenwirbelsäule. Über
Monate und Jahre dehnt sich der
Schmerz über den gesamten Rücken aus
und es werden Schmerzen in Muskeln,
Sehnen, auch an Armen und Beinen
angegeben. Am Ende „tut alles weh“.
Typische Schmerzäußerungen sind
„das Kreuz bricht mir durch“, „überall
ein Reißen“, „wahnsinniges Stechen, als
würde man mir mit einem Messer …“.
Differentialdiagnose
An der Fibromyalgie abzugrenzende
Erkrankungen sind:
• das chronische Schmerzsyndrom
M. Quarz
30
• das Postnucleotomiesyndrom
• das chronische Müdigkeitssyndrom
oder
• Depressionen.
Häufig besteht aber gleichzeitig neben
der Fibromyalgie auch eine depressive
Erkrankung. Patienten, die in einer
orthopädischen oder rheumatologischen
Abteilung die Diagnose Fibromyalgie
erhalten, werden in psychosomatischen
Kliniken eher einer somatoformen
Schmerzstörung zugeordnet.
Trotz vielfältiger Versuche, die Diagnose anhand klarer Kriterien zu stellen,
kommen Überschneidungen mit den
genannten Erkrankungen immer wieder
vor.
Dies liegt vor allem daran, dass Fibromyalgiepatienten über Symptome klagen wie sie beispielsweise auch im Rahmen von Depressionen oder chronischen
Müdigkeitssyndromen oder anderen
chronischen Schmerzerkrankungen wie
das Postnucleotomiesyndrom vorkommen.
Involvierte ärztliche Fachgebiete
Probleme der Abgrenzung bestehen
auch hinsichtlich der Zuordnung zu
einem ärztlichen Fachgebiet. Fibromyalgiepatienten/innen werden sowohl von
Hausärzten wie Rheumatologen und
Orthopäden aber auch von Gynäkologen,
HNO-Ärzten, Internisten und nicht
zuletzt auch von Neurologen, Psychiatern oder Ärzten für psychotherapeutische Medizin behandelt. Meist ist es
notwendig, Fibromyalgiepatienten bei
einem Vertreter dieser Fachrichtung einschließlich einem Radiologen vorzustellen, um anderen Erkrankungen ausschließen zu können. Leider ist es aber
oft so, dass sich letztlich keine ärztliche
Fachgruppe ausschließlich für diese
Patienten/innen verantwortlich fühlt,
andererseits der Patient sich aber auch
nicht ausschließlich einem Arzt zuwendet. Dies führt dazu, dass der betroffene
Patient oft kein ausreichendes Krankheitsverständnis entwickeln kann und
mit bruchstückhaften Erklärungen eines
Fachgebietes, Vertreter des anderen
Fach­gebietes konfrontiert. Letztlich
führt dies oft zu einem ineffektivem Zirkulieren des Betroffenen zwischen den
einzelnen Fachgebieten, ohne dass eine
„suffiziente Therapie in einer Hand und
in einem Guss“ erfolgt.
Fibromyalgie aus orthopädischer Sicht
Druckpunkten (mindestens 11 von 18)
– uneingeschränkte Gelenkbeweglichkeit
– uneingeschränkte Beweglichkeit der
Wirbelsäule
– keine Gelenkschwellungen
– keine neurologischen Veränderungen
31
Mutter bzw. zum Vater nicht verlässlich
war oder ist.
Diagnostische Maßnahmen wie Labor,
Röntgen, CT, MRT, Szintigraphie, Messungen der Nervenleitungsgeschwindigkeiten bringen allesamt keinen pathologischen Befund.
Des Weiteren geben 53 bzw. 64 % an,
dass die Mutter bzw. der Vater keine
Zärtlichkeit zeigen konnte. Weitere
Angaben lassen in 38 % auf eine „dysfunktionale“ Beziehung der Eltern
schließen. Eine wohl vornehme
Um­schreibung für Gewalt in der Familie
einschl. Misshandlungen. 64 % beurteilen die Geborgenheit in der Familie als
unbefriedigend.
Psychologischer Befund
Forschungsergebnisse
Ergiebiger ist bei Fibromyalgiepatienten/
innen immer die psychologische Evaluation.
Die Behandlung von Fibromyalgiepatienten/innen wird von den Ärzten meist
als Herausforderung empfunden. Dies
hat u. a. damit zu tun, dass das Wissen
über diese Erkrankung nach wie vor
nicht ausreichend ist. Oft erlebt der
behandelnde Arzt diesen allgemeinen
Wissensmangel als persönliches Versagen. Eine Internetrecherche ergab, dass
entgegen des allgemeinen Eindruckes
gerade im Bezug auf Fibromylagie weltweit sehr intensiv geforscht wird. Es finden sich Veröffentlichungen aus vielen
europäischen und außereuropäischen
Ländern, insgesamt ca. 3300 an der Zahl.
Untersuchungsbefund:
So findet man in der Familienanamnese
von Fibromyalgiepatientinnen Erkrankungen
– bei nahe stehenden Personen in 74 %,
– chronische Schmerzen bei der Mutter
bei 24 % und
– seelische Probleme der Mutter in der
Kindheit bei 23 %.
Was findet der Arzt ?
Im idealtypischen Fall wird ärzt­
licherseits ein Befund erhoben, der den
ACR-Kriterien entspricht. Dies bedeutet
im Einzelnen:
– „Schmerzhaftigkeit in definierten
63 bzw. 64 % der Patientinnen charakterisieren ihre Mutter oder ihren Vater
negativ, 61 oder 65 % beschreiben die
emotionale Bindung zu Vater oder Mutter negativ und 48 % bzw. 51 % geben
an, dass die Qualität der Beziehung zur
Wissenschaftlich untersucht werden
weit gestreut ganz viele Aspekte dieser
Erkrankung, angefangen von der Analy-
M. Quarz
32
se von Neuromediatoren, Hormonen
oder hormonabhängigen Metaboliten
durch Blut oder Liquordiagnostik über
Untersuchungen mit Hilfe von Positronen, Emissionstomographen, Magnetresonanztomographen oder ähnlichen
bildgebenden Verfahren. Es wurden
Endorphinspiegel ebenso gemessen wie
Serumspiegel von Somatropin, Adrenalin, Dopamin, Serotonin und dessen Antagonisten, Enkephaline, Cortisol, ACTH,
Prolactin, Calcitonin, Substanz P, Parathormonschilddrüsenparametern oder
Prolaktin. Es wurden Untersuchungen
im Schlaflabor durchgeführt, Lactulose
in Atemluft im Zusammenhang mit
Reizdarmsyndromen untersucht oder
mittels Singlephotonenspektographie
die Durchblutung einzelner Hirnareale
mit und ohne Gabe von Amytryptilin
gemessen.
Es wurde den Zusammenhängen zwischen Kosmetikaverbrauch und Fibromyalgiesymptomen nachgegangen.
Die Wirksamkeit von Antidepressiva
wie Fluoxetin mit und ohne Kombination mit Amitryptlilin, von Tropisetron,
Melatonin, Tramadol und zahlreichen
anderen Medikamente wurden getestet.
Mit Ausnahme von Amitriptyllin konnte
jedoch keines dieser Medikamente verbreiteten Eingang in allgemeine Therapieempfehlungen finden.
Die Wirksamkeit von Biofeedback, Chirotherapie, Akupunktur, Lichttherapie
und verhaltenstherapeutischen Programmen wurde gemessen und er­­
forscht.
Dabei schnitt Akupunktur in der Regel
besser ab, als die anderen genannten
Therapien. Insbesondere die Lichttherapie konnte die aus den Erfahrungen der
Depressionsbehandlung übertrage­nen
Erwartungen nicht erfüllen, wohingegen
Behandlungskonzepte, die das „therapeutische Berühren“ zum Gegenstand
hatten vergleichsweise gut abschnitten.
Dies deckt sich mit der alltäglichen und
alten Erfahrung vor allem vieler Rehaund Kurärzte, die seit jeher Fibromyalgiepatienten Massagen verordnen.
Mangels eindeutiger kausaler ätiologischer Erkenntnisse und Vorstellungen
werden weltweit multimodale interdisziplinäre Gruppenbehandlungskonzepte
realisiert, die die Betroffenen einerseits
aufklären andererseits Techniken vermitteln sollen, mit der Erkrankung besser umzugehen. Dabei wird den Betroffenen in der Regel ein breiter Raum eingeräumt, den sie zur Darstellung ihrer
Beschwerden nutzen können.
Typische Ergebnisse dieser Therapie
sind dann, dass es der Hälfte etwas oder
grundlegend besser geht, die andere
Hälfte davon gar nicht profitiert oder
sich sogar weiter verschlechtert.
Die gegenwärtig veröffentliche Literatur
zu dem Therapie Fibromyalgie ist offensichtlich so groß, dass sie ein einzelner
Fibromyalgie aus orthopädischer Sicht
Mensch wohl nicht mehr überblicken
kann. Trotz der breit angelegten wissenschaftlichen Evaluation ist es bislang
nicht gelungen, ein überzeugendes
Krankheitsmodell zu entwickeln. Die
Hoffnungen, eine Substanz zu entdecken, die diese Krankheit heilen oder
durchgreifend bessern kann, haben sich
bislang nicht erfüllt.
Dies führte einzelne Autoren zu der provokanten Frage „Fibromyalgia – real oder
imagined? 1 oder Fibromyalgia – Is it
desease?"2
Andere Autoren treffen die knappe
Feststellung: „Das Fibromyalgiesyndrom
ist ein häufiges, kaum verstandenes
Schmerzsyndrom mit begrenzten therapeutischen Möglichkeiten“. Es führt zu
der nahe liegenden Konsequenz – so
mancher mag es begrüßen – dass es
keine „evidenzbasierten Therapieempfehlungen hinsichtlich der Fibromyalgie
gibt“.
Probleme im Alltag
Dieser Sachverhalt führt sowohl auf der
Seite der Behandler wie auch auf der
Seite der Betroffenen zu erheblichen
Frustrationen, die die Arztpatientenbeziehung im Sinne einer ÜbertragungsGegenübertragungs-Konstellation
zu­sätzlich belasten. Der von Schmerzen
geplagte Patient erlebt die Unwirksam-
33
keit ärztlicher und therapeutischer
Maßnahmen und versucht durch „Ärztehopping“ einen Ausweg. Dabei erlebt er
mehr und mehr ein „Nichtangenommenwerden“ und eine „Psychiatrisierung“
des Leidens, welches in der Unkenntnis
des Unterschiedes zwischen Psychiater
und Psychologen durch Äußerungen
führt wie „Herr Dr., ich bin doch nicht
verrückt“.
Den Mangel an therapeutischen Konzepten und der daraus folgenden Orientierungslosigkeit versucht der Patient
durch Informationsbeschaffung vor
allem im Internet entgegenzuwirken.
Dort findet ein regelmäßiger, hochfrequenter Austausch über die Erkrankung
im Allgemeinen und die sozialmedizinischen Konsequenzen im Besonderen
statt. Informationen über Arbeits- und
Leistungsunfähigkeit und deren Alimentierung haben einen hohen Stellenwert.
Über die angegebenen Telefonnummern,
so ist zu vermuten, werden auch Informationen über Gutachter ausgetauscht.
Im Internet nimmt die Darstellung und
Anpreisung medizinischer oder meist
paramedizinischer Behandlungsmethoden einen großen Raum ein. Während
man sich unter „Neuraltherapie“, „Blutegeltherapie“ oder „Ayurveda“ noch
ge­meinhin etwas vorstellen kann, lassen
Empfehlungen bezüglich einer „Palm
Therapy“ „Metal Coaching“, „Rolfin“,
M. Quarz
34
„Breuss-massage“, „Schüsslersalze in
der Gynäkologie“ auch Eingeweihte
einigermaßen ratlos zurück.
In diesem Zusammenhang formuliert
Ouijada-Carrera J.3 „die Verschiedenheit
der therapeutischen Programme bei Fibromyalgiepatienten spiegelt sowohl den
pathophysiologischen Wissensmangel
wie auch die geringe Wirksamkeit der
gegenwärtigen Therapien wieder“.
Pragmatische Therapieansätze
Diese ernüchternde Quintessenz begünstigt pragmatische Ansätze, die danach
fragen, was sich in der Praxis für die
Betroffenen bewährt hat. Auch dazu
sind wissenschaftliche Untersuchungen
gemacht worden. Das Ergebnis ist in
dem Säulendiagramm (Abbildung unten)
dargestellt.
Der Durchschnittswert der Therapiebewertung liegt bei 1,8. Demnach werden
Krankengymnastik, Bewegungstherapie
und vor allem Medikamente deutlich
unterdurchschnittlich bewertet. In den
Augen der Betroffenen erreichen erwartungsgemäß Massagen und vor allen
Dingen Bäder und Fango überdurchschnittliche Werte. Diese werden allerdings erstaunlicherweise durch psychologische Einzelgespräche, Entspannungstherapie und psychologische
Gruppentherapie überboten. Am posi-
Fibromyalgie aus orthopädischer Sicht
tivsten wurde seitens der Betroffenen
mögliche Gesprächsführung mit Betroffenen unter stationären Bedingungen
bewertet. Diese Ergebnisse sind doch
sehr überraschend, erleben wir als Ärzte
doch immer wieder, dass seitens der Fibromyalgiepatienten die psychologische
Betreuung vehement abgelehnt wird.
Offensichtlich beruht dies auf falschen
Vorstellungen, die Fibromyalgiepatienten von der psychologischen Therapie
haben. Die geringe Wertschätzung von
Medikamenten überrascht Eingeweihte
nicht.
Zusammenfassend kann festgestellt
werden, dass sich in der Praxis folgende
Therapien bewährt haben:
• K
örperorientiertes Schmerzbewältigungstraining
• Erfahrungsaustausch unter Betroffenen
• Entspannungstraining
• leichtes Bewegungstraining als Sport
und Krankengymnastik
• Therapie im Wasser
• Massagen
• Akupunktur
Weniger erfolgreich sind:
Antidepressiva
Kältekammer (kurzfristig)
Krafttraining
Analgetika
Spritzen
35
Rheumamedikamente
Cortison
Basierend auf praktischen Erfahrungen
haben wir in der Klinik Bernkastel in
Bernkastel-Kues unser Therapiekonzept
strukturiert, welches nachfolgend kurz
skizziert ist.
Therapiekonzept der Klinik Bernkastel,
MEDIAN Reha-Zentrum BernkastelKues (kurz skizziert)
Es handelt sich dabei um ein Schulungsprogramm bestehend aus 7 Elementen:
1. ­Die ärztliche Aufnahmeuntersuchung
berücksichtigt in ausreichendem
Maße sowohl die gesundheitliche wie
auch die soziale Situation (Beruf,
Familie, Partnerschaft). Es wird auf
ein Vorgespräch bei einem Psychologen verwiesen und der Patient für die
Gruppentherapie vorgemerkt.
2. Aufklärung des Patienten durch einen
Orthopäden
In ausführlichen Gesprächen – einzeln wie in der Gruppe – werden Patienten über die Erkrankung und über
deren Prognose aufgeklärt.
Die therapeutischen Konsequenzen
werden unter besonderer Berücksichtigung der Eigenverantwortlichkeit
und Selbsthilfe dargestellt.
M. Quarz
36
3. Folgende Therapieziele werden mit
ihm besprochen:
Der Patient soll begreifen, dass Fibromyalgie nicht durch eine organbezogene Therapie heilbar ist, nicht den
Körper schädigt und dass Techniken
erlernt werden müssen, mit der Erkrankung umzugehen und dass der Austausch mit Betroffenen und Beteiligten
in Selbsthilfegruppen hilfreich ist.
4. Bewegungstherapie dient der Vermittlung von Freude an Bewegung
und der Lockerung des Bewegungsapparates. Weitere Ziele sind Haltungskorrekturen im Rahmen von Einzelgymnastik in Verbindung mit Trainingstherapie unter Anleitung an
geeigneten Geräten. Nicht zu kurz
sollten das Erlernen von Spielen und
die Therapie im Wasser kommen.
5a. Im Psychologischen Einzelgespräch
wird der Patient hinsichtlich der psychischen Komorbidität evaluiert und
für die Gruppentherapie motiviert.
5b. Psychologische Schmerzbewältigung
findet in der Gruppe statt. Fokus­siert werden Ausgangspunkte von
Schmerzkreisläufen und deren un­ter­
haltende und verstärkende Me­cha­
nismen mit dem Ziel, diese den
Betroffenen deutlich zu machen.
6. Stressbewältigung findet ebenfalls in
der Gruppe statt. Sie dient dem Ziel,
Ursachen von Stress und Überforderung zu finden und deutlich zu
machen sowie eine Umsetzung in den
Alltag zu ermöglichen.
7. Empfehlen für zu Hause. Es werden
dem Patienten für zu Hause folgende
Empfehlungen gegeben. Regelmäßige
körperliche Bewegung ohne ausgeprägten Leistungsaspekt in Form von
– Schwimmen
– Tanzen
– Ballsporttreiben
– Radfahren
– Spazierengehen
– Gartenarbeiten
– Krankengymnastik.
Des weiteren sollten Fibromyalgiepatienten sich Zeit nehmen für sich selbst
für Be- und Entlastungsphasen, sie sollten lernen, sich in sozialen Beziehungen
auch abgrenzen zu können, auch mal
„nein“ sagen zu können, nicht immer für
jeden jederzeit da zu sein und auch lernen, über sich zu sprechen und herauszufinden, was ihnen gut tut und was
nicht. Bewertungen und Einstellungen
sollten dahingehend verändert werden,
dass die Zukunft positiver gesehen wird,
ein Vertrauen gegenüber Therapeuten
aufgebaut wird, sich auch über Kleinigkeiten gefreut wird und dass mehr Verantwortung für die eigene Gesundheit
übernommen wird.
Fibromyalgie aus orthopädischer Sicht
37
Wie lange dauert die Fibromyalgieerkrankung?
Sozialmedizinische Einschätzung:
Dazu finden sich nur vergleichsweise
wenige wissenschaftliche Untersuchungen.
Einer amerikanischen Studie zufolge,
die auf einer telefonischen Befragung
10 Jahre nach Behandlung stattfand und
bei dem das Kollektiv mit 35 Patienten
und einem Durchschnittsalter von 55
Jahren befragt wurde, ist von einem
durchschnittlichen Erkrankungsalter von
15,8 Jahren auszugehen.
10 Jahre nach Behandlung hatten
mäßige bis starke Schmerzen noch 55 %,
mäßige bis starke Schafstörungen noch
48 % und eine mäßige bis starke Müdigkeit 59 %. Medikamente gegen dieses
Symptom wurde von 79 % eingenommen. Eine Besserung der Beschwerden
gaben immerhin 2/3 der Patienten an,
55 % fühlten sich im Hinblick auf die
Fibromyalgie gut oder sehr gut, richtig
schlecht ging es nach eigener Einschätzung 7 %.
Somit ist davon auszugehen, dass die
Fibromyalgieerkrankung mindestens 15
Jahre dauert, jedoch nicht alle Symptome diesen Zeitrahmen überdauern.
Die „Anhaltspunkte der gutachterlichen
Tätigkeit 2004“ erlauben einen großen
Ermessensspielraum hinsichtlich der
„Gesamt-GdB“.
Einerseits heißt es: „eine GesamtGdB/MdE“ Grad von 50 kann beispielsweise nur angenommen werden, wenn
die Gesamtauswirkung der verschiedenen Funktionsbeeinträchtigungen so
erheblich ist wie etwa beim Verlust einer
Hand oder eines Beines im Unterschenkel, bei einer vollständigen Versteifung
der Wirbelsäule, bei Herzkreislaufschäden oder Einschränkungen der Lungenfunktion … bei Hirnschäden mit mittelschwerer
Leistungsbeeinträchtigung
usw.“
Andererseits können nach „Anhaltspunkte der gutachterlichen Tätigkeit im
Entschädigungsrecht 2004“ somatoforme Störungen mit einer GdB von 30 bis
40, depressive Störung mit einer GdB
von 30 bis 40, Migränepatienten mit
einer GdB von 50 bis 60, Patienten mit
Trigeminusneuralgien mit einem GdB
von 70 bis 80 bewertet werden.
Wichtig im Rahmen der Begutachtung ist es, dass eine Schmerzerkrankung über eine längere Zeit durch eine
entsprechende Anamnese – und Be­­
schwerdeschilderung, durch Arztbesuche, erfolgte Therapien, Medikamenteneinnahme etc. wahrscheinlich gemacht
M. Quarz
38
werden kann. Die Beweislast liegt im
Sozialrecht bei dem Betroffenen. Es gibt
hier also nicht „in dubio pro reo“.
Zusammenfassung:
1. Die Erkrankung wird weltweit intensiv
erforscht.
2. Die Pathogenese der Fibromyalgie ist
ungeklärt.
3. Therapieleitlinien existieren nicht.
4. In der Praxis haben sich multimodale
therapeutische Ansätze als vergleichsweise überlegen gezeigt.
5. Aufklärung und Schulung spielen eine
zentrale Rolle.
6. Die Prognose ist kurz- und mittelfristig nicht gut, wobei echte Langzeitstudien fehlen.
Wichtig ist, den Patienten hinsichtlich
seiner Erkrankung zu schulen. Dazu zählt
nicht nur eine umfassende Aufklärung
über die Erkrankung, sondern auch die
Erziehung zur Eigenverantwortlichkeit.
Nach einem stationären Aufenthalt beispielsweise fragen Sie besser nicht:
„Sind sie geheilt?“ oder „Geht es ihnen
besser?“ Fragen sie stattdessen: „Haben
sie etwas gelernt?“, „Wie gehen sie jetzt
mit ihrer Erkrankung um?“, „Sind sie in
therapeutischen Gruppen/Selbsthilfegruppen eingebunden?“
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40
41
Fibromyalgie als Störung der zentralen
Schmerz- und Stressverarbeitung
Ulrich T. Egle
Psychosomatische Aspekte bei Fibromyalgie werden schon seit rund 50 Jahren
diskutiert (früher unter dem Begriff
„Weichteilrheuma“). Bis Anfang der 80er
Jahre standen dabei vor allem psychoanalytisch geprägte Konzepte im Vordergrund, welche der Symptomatik
explizit oder implizit ein konversionsneurotisches Geschehen zugrunde legten. Das Ausmaß der dabei oft unterstellten Ausdruckshaltigkeit der multilokulären Schmerzsymptomatik wurde
meist nur durch die Phantasiefähigkeit
des Untersuchers begrenzt. Dem schloss
sich dann in den 80er Jahren eine empirische Forschungsphase mit psychometrischen Fragebogenerhebungen an, in
der vor allem Persönlichkeitsmerkmale,
kritische Lebensereignisse, Krankheitsverarbeitung sowie Angst und Depression im Mittelpunkt wissenschaftlicher
Studien standen. Durch die Enttabuisierung des sexuellen Missbrauchs von
Kindern ab Mitte der 80er Jahre und
unter dem Eindruck der vor allem in den
USA relativ hohen Raten psychosexueller Traumatisierung wurde auch bei Fibromyalgiepatienten die Bedeutung solch
früher Stresserfahrungen untersucht.
Zeitlich parallel entwickelte sich in den
90er Jahren ein rasch zunehmender
Erkenntnisgewinn hinsichtlich zentraler
Verarbeitungs- und Steuerungsmechanismen in den verschiedenen kortikalen
und subkortikalen Strukturen. Vor allem
neue psychobiologische Erkenntnisse
der Stressforschung einerseits und der
zentralen Schmerzverarbeitung andererseits eröffnen jetzt neue Möglichkeiten für ein psychosomatisches bzw. bio­
psychosoziales Verständnis der Fibromyalgie. Viele der zuvor eher unverbunden
neben einander stehenden wissenschaftlichen Erkenntnisse der ver­schie­
de­nen fachspezifischen Forschungsansätze können jetzt zunehmend miteinander in Verbindung gebracht werden, so dass mosaikartig sukzessiv ein
neues Bild vor allem hinsichtlich ätiopathogenetischer Mechanismen dieses
facettenreichen Syndroms entsteht.
Frühe Stresserfahrungen bei
Fibromyalgie (vgl. Tab.1, 2, 3)
Zahlreiche Studien belegen inzwischen,
dass Patienten, die später eine Fibromyalgie entwickeln, ähnlich wie Patienten
mit somatoformer Schmerzstörung1,2, in
Ulrich T. Egle
42
Tab. 1: Sexueller Missbrauch in der Kindheit bei Fibromyalgie
(in kontrollierten Studien)
Boisset-Pioro et al (8) 1995
Taylor et al (15)
1995
Alexander et al (9) 1998
(6)
Goldberg et al 1999
(5)
van Houdenhove et al 2001
Imbierowicz & Egle (3)
2003
N
244
82
123
91
242
152
Rate
37% 33% 57%
65%
10%
11%
sign.
**
**
**
**
n.s.
*
Tab. 2: Körperliche Misshandlung in der Kindheit bei Fibromyalgie (in
kontrollierten Studien)
Boisset-Pioro et al (8) 1995
(9)
Alexander et al 1998
(5)
2001
van Houdenhove et al Imbierowicz & Egle (3)
2003
N
244
123
242
152
Rate
13% 28%
23%
31%
sign.
**
**
**
**
Tab. 3: Emotionale Vernachlässigung/Misshandlung in der Kindheit bei
Fibromyalgie (in kontrollierten Studien)
van Houdenhove et al (5)
2001
(3)
Imbierowicz & Egle 2003
* p < .05, ** p < .01
N
242
152
Rate
48%
52%
sign.
**
**
Fibromyalgie als Störung der zentralen Schmerz- und Stressverarbeitung
der Kindheit einem Familienklima ausgesetzt waren, das von körperlicher
Gewaltanwendung, emotionaler Vernachlässigung und sexuellem Miss­
brauch geprägt war. Imbierowicz u. Egle3
fanden bei 48 % der von ihnen untersuchten Fibromyalgiepatienten emotionale Vernachlässigung, bei 32 % regelmäßige körperliche Misshandlung durch
die Eltern und bei 10,5 % schwere sexuelle Missbrauchserfahrungen und damit
eine somatoformen Schmerzstörungen
vergleichbare Rate schwerwiegender
früher Stresseinwirkung. Der Gesamtbelastungsscore (unter Berücksichtigung
zehn weiterer Belastungsfaktoren) entsprach ebenfalls dem einer somatoformen Schmerz-Vergleichsgruppe und
unterschied sich signifikant von einer
weiteren Vergleichsgruppe mit nozizeptiv bzw. neuropathisch determinierten
Schmerzen. Auch bei Leibing et al4 zeigt
sich ein kumulativ erhöhter Belastungsscore hinsichtlich früher Stresserfahrungen. Van Houdenhove et al5
­fanden bei 52 % – und damit ebenfalls
signifikant erhöht – emotionalen Missbrauch und Vernachlässigung in der
Kindheit, jedoch keine signifikant erhöhte Rate sexuellen Missbrauchs bezogen
auf eine organische Vergleichsgruppe.
Goldberg et al6 beschreiben bei 41 %
ihrer Fibromyalgiepatienten einen Alkoholabusus bei einem Elternteil, welcher
die Familienatmosphäre prägte. Insgesamt haben Fibromyalgiepatienten
höhere Lebenszeit-Prävalenzraten für
alle Formen der Viktimisierung in Kindheit und Jugend7, auch wenn die Angaben zu sexuellem Missbrauch und körperlicher Misshandlung8,7,9,10,6,4,5 stark
variieren. Häufigkeit und Ausmaß solcher Viktimisierungen führten in jüngster Zeit zu einer Diskussion darüber,
inwieweit die Fibromyalgie möglicherweise eine Variante der posttraumatischen Belastungsstörung sein könnte11,12,13,14.
Übereinstimmend weist die Gruppe
der traumatisierten Fibromyalgiepatienten (im Vergleich zu jenen ohne frühe
Traumatisierungen)
– mehr tender points und eine höhere
Schmerzempfindlichkeit9,10
– mehr psychovegetative Begleitsymp­
tome15,10
– mehr funktionelle Einschränkungen7,9
– größeren Analgetikakonsum8,9
– höhere Inanspruchnahme von Ärzten8,9
– mehr psychische Symptome und ein
höheres Ausmaß funktioneller Einschränkung7
auf.
Ingesamt war eine größere Gruppe
von Fibromyalgiepatienten Traumatisierungen und anderen psychosozialen
Stressoren in Kindheit und Jugend ausgesetzt, die mit Störungen in der Selbstwertentwicklung und im Bindungsver­halten einhergehen und die Vulnera-
43
Ulrich T. Egle
44
bilität für psychische Störungen erhöhen.
Aufgrund des höheren Inanspruchnahmeverhaltens muss davon ausgegangen
werden, dass in Studien an klinischen
Populationen, welche meist an Tertiärversorgungszentren durchgeführt werden, der Anteil frühtraumatisierter Fibromyalgiepatienten relativ hoch ist. Aber
auch in einer repräsentativen Bevölkerungsstichprobe war das Ausmaß früher
Stresserfahrungen erheblich16 .
Stressverarbeitung bei Fibromyalgie
Klinische Beobachtungen zeigen, das die
Fibromyalgie häufig durch biologische
(Infektion, Trauma) oder psychosoziale
Stressoren ausgelöst wird. Fibromyalgiepatienten berichten ein hohes tägliches Stressniveau und auch biographisch
kumulativ ein höheres Ausmaß an kritischen Lebensereignissen17,18,19,20.
CRH-Ausschüttung: Crofford et al21
postulierten eine Störung der CRH-Ausschüttung, welche zwischenzeitlich
belegt werden konnte22,23. Eine gesteigerte CRH-Aktivität würde auch das
gehäufte Auftreten affektiver Störungen
bei Fibromyalgie, v.a. Angst, erklären.
Hypothalamus-Hypophyse-Nebennieren (HPA)-Achse: Bei Fibromyalgie –
ebenso wie beim Chronic Fatigue Syn-
drom24 – können psychische, pharma­
kologische und physiologische Stressoren
die HPA-Achse nur eingeschränkt und
verzögert aktivieren25, was zu Ein­schränkungen in der Adaptation („Allos­
tase“) an Alltagsbelastungen26 führt.
Locus-Caeruleus-Norephinephrin(LCNE)-Achse: Vaeroy et al27 beschrieben
eine Mikrozirkulationstörung der Haut,
Clauw et al28 einen verringerten Pulsdruck im Stehen sowie erhöhte Blutdruckwerte bei Rückkehr in die liegende
Positon. Beides sind Hinweise auf eine
Alteration des sympathischen Nervensystems im Sinne einer erhöhten
An­sprechbarkeit, welche in den letzten
Jahren in einer ganzen Reihe von Stu­
dien belegt werden konnte.29,30,31,32,25
Dies erklärt die klinisch beobachtete
erhöhte vegetative Reagibilität und die
multiple psychovegetative Symptomatik
infolge längerer bzw. wiederholter Stresseinwirkung.
Die Inkonsistenz einiger Studienergebnisse zur Funktion von HPA- und LC-NEAchse dürfte mit der in den Studien oft
fehlenden Kontrolle anderer Einfluss­
faktoren (z.B. psychische Komorbidi­tät, Aktivitäts- und Trainingszustand,
Coffein­konsum, Tageszeit) zusammenhängen26.
Deszendierende Hemmung: Auf Grund
klinischer Beobachtungen und tierexpe-
Fibromyalgie als Störung der zentralen Schmerz- und Stressverarbeitung
rimenteller Befunde33,34,35,36 wurde in
den letzten Jahren eine Funktionsstörung des deszendierenden antinozizeptiven Systems postuliert. Die fehlende
Hemmung peripherer nozizeptiver
Impulse (v.a. aus tieferen Gewebsstrukturen) bei ihrer Umschaltung auf die
spinalen Hinterhornbahnen könnte für
Spontanschmerzen (erhöhte Ruheaktivität), erhöhte Druckschmerzhaftigkeit
und auch Hyperalgesie (i.S. einer verstärkten Antwort auf Schmerzreize) verantwortlich sein. Dabei handelt es sich
um eine durch zentrale Prozesse bedingte sekundäre Hyperalgesie (im Unterschied zu der durch periphere lokale
Prozesse determinierten primären). Diese
erhöhte Sensibilität für periphere Reize
konnte auch mit Hilfe zentraler Bildgebung belegt werden37.
zeitig geringer Selbstbehauptung und
geringer emotionaler Offenheit aus. Die
permanente Suche nach Anerkennung
und die Neigung zu Hyperaktivität
(„action-proneness“) wurden auch von
van Houdenhove et al39 gefunden. Andere („nicht-depressive“) Fibromyalgie­
patienten zeigen hingegen keine Störung der Selbstwertregulierung. Anderberg et al40 fanden bei 82 % der
untersuchten
Fibromyalgiepatienten
Aggressionshemmung und „harm avoidance” i. S. Cloningers, was mit erhöhten Depressions- und Angstwerten verknüpft ist. Im Unterschied zu einer
somatischen Kontrollgruppe stehen bei
der Bewältigung von Alltagskonfliktsituationen unreife Konfliktbewältigungsstrategien in Form von Projektion und
Wendung gegen das Selbst häufiger im
Vordergrund41.
Persönlichkeitsmerkmale,
psychische Komorbidität und
Krankheitsverhalten
Ausgehend von der Studie von Hudson
et al42 wurde in den letzten 15 Jahren
immer wieder die Frage diskutiert, ob die
Fibromyalgie dem Spektrum der affektiven Erkrankungen zuzuordnen sei.
Epstein et al43 fanden für Major
De­pression eine erhöhte Lebenszeitprävalenzraten von über 60 % und eine
Punktprävalenz von 22 % bei Fibromyalgiepatienten in der Tertiärversorgung.
Entgegen weitverbreiteter Vorstellung
gibt es empirische Belege dafür, dass die
Schmerzsymptomatik nicht einfach
Ausdruck einer depressiven Erkrankung
Johnson et al38 fanden bei der Hälfte der
von ihnen untersuchten Fibromyalgiepatienten Störungen der Selbstwertregulierung. Diese Subgruppe hat ein
geringes Selbstwertempfinden verbunden mit dem Bedürfnis, ihr Selbstwertgefühl über Kompetenz und Anerkennung durch andere zu stabilisieren. Diese
Gruppe zeichnete sich durch hohe
Anforderungen an sich selbst, bei gleich-
45
Ulrich T. Egle
46
ist44, sich depressive Störungen vielmehr
unabhängig von den Kardinalsymptomen der Fibromyalgie entwickeln, sie
jedoch den Umgang mit Schmerz und
die Lebensgestaltung wesentlich beeinflussen45.
Auch Angst spielt bei einer größeren
Gruppe von Fibromyalgiepatienten in
Genese wie Verlauf eine Rolle. Angsterkrankungen bestehen oft bereits vor
Beginn der Fibromyalgie46. Die Anzahl
der Schmerzpunkte korreliert mit dem
Ausmaß an Angst. Das Ausmaß der
funktionellen Einschränkungen hängt
ebenfalls ganz wesentlich von einer
bestehenden Angstsymptomatik ab47,43.
Auch die Schmerzstärke korreliert positiv mit einer ängstlichen Grundpersönlichkeit48. Fibromyalgiepatienten mit
hohen Angst- und Depressionswerten
geben – unabhängig von der Krankheitsdauer – viel Schmerz und Erschöpfung
an. Dabei zeigen sich in der Gruppe mit
den höchsten Angstwerten ohne Depression die höchsten Werte für Schmerz
und Erschöpfbarkeit. In Subgruppen mit
niedrigen Angst- und Depressionswerten ist es genau umgekehrt49.
Fibromyalgiepatienten mit hohen Angstwerten haben die ausgeprägteste Selbstbeobachtung50. Sie schreiben Symptomen und Begleiterkrankungen eine
höhere Bedeutung zu als Patienten mit
einem nozizeptiv bedingten chronischen
Schmerz und sind durch diese mehr
gestresst51. Dies könnte auch die gefundenen hypochrondischen Neigungen40
und das abnorme Krankheitsverhalten52,40 erklären, was letztlich zu einem
erhöhtem Inanspruchnahmeverhalten
führt. Eine wesentliche Rolle spielt dabei
die bei Fibromyalgiepatienten im Vergleich zu anderen Schmerzgruppen signifikant häufiger zu be­obachtenden
Copingstrategie des Katastrophisierens53,54,55,56,57.
Eine
beste­hende Angsterkrankung differenziert
Fibromyalgiepatienten in tertiären Versorgungseinrichtungen hochsignifikant
von solchen, die nicht in ärztlicher
Behandlung sind. Angst ist dabei
wesentlich bedeutsamer als Depression46.
Das Ausmaß an Selbstwirksamkeit,
d.h. die subjektive Möglichkeit, auf seine
Schmerzen Einfluss nehmen zu können,
ist mit geringerem Schmerzempfinden,
geringeren körperlichen Einschränkungen und mehr körperlichen Aktivitäten
verbunden58,59. Vergleicht man Fibromyalgiepatienten mit Patienten mit einem
nozizeptiv determinierten chronischen
Schmerzsyndrom, so üben sie insgesamt
weniger Kontrolle über ihre Schmerzen
aus, verhalten sich passiv-resignativer
und fühlen sich signifikant hilfloser und
bedrohter60,61.
Fibromyalgie als Störung der zentralen Schmerz- und Stressverarbeitung
Biopsychosoziales Krankheitsmodell (vgl. Abb.1)
Aus den dargestellten wissenschaftlichen Ergebnissen ist abzuleiten, dass für
eine größere Subgruppe von Fibromyalgiepatienten eine Störung der Stressverarbeitung sowohl psychobiologisch als
auch psychologisch und biographisch
heute als recht gut belegt angesehen
werden kann. Die Inkonsistenz der psychobiologischen Befunde ebenso wie die
Ergebnisse psychologischer Studien und
solcher zur biographischen Vulnerabilität belegen gleichzeitig die Notwendigkeit einer sehr viel konsequenteren
Abb. 1: Biopsychosoziales Pathogenesemodell der Fibromyalgie
47
Ulrich T. Egle
48
­ ifferenzierung von Subgruppen bei
D
diesem Syndrom. Auch der Einfluss der
individuellen Stressvulnerabilität und
der Stärke von Stressoren bei Krankheitsauslösung sowie der Krankheitsdauer scheint bisher bei den psychobiologischen Studien, die fast durchgehend
an sehr limitierten Stichprobengrößen
durchgeführt wurden, noch nicht hinreichend berücksichtigt worden zu sein.
Für die Differenzierung von Subgruppen
sprechen auch die Ergebnisse verschiedener Therapieansätze: auch bei einem
Wirksamkeitsnachweis gegenüber einer
Kontrollgruppe profitierte fast immer
nur eine Subgruppe von 25-40 %62,63.
Um deren jeweilige Ansatzpunkte im
Rahmen der skizzierten biopsychosozialen Komplexität besser zu verstehen,
entwickelten wir64 ein biopsychosoziales
Modell, in dem die dargestellten Faktoren zu einander in Verbindung gesetzt
werden und dabei auch dem Postulat
einer Differenzierung von Subgruppen in
ersten Ansätzen Rechnung getragen
wird.
Unterschieden wird dabei zwischen
– genetischen und Umwelt bezogenen
Vulnerabilitätsfaktoren
– biologischen und psychosozialen Auslösemechanismen
– sowie patientenbezogenen und iatrogenen Chronifizierungsfaktoren
Die Vulnerabilität für ein Fibromyalgie-
Syndrom kann danach durch psychosoziale wie biologische Einflussfaktoren
determiniert sein. Störungen der Stress­
verarbeitung und -beantwortung können genetisch bedingt sein (Hypervigilanz, Serotonin-Stoffwechselstörung),
jedoch auch Folge früh einwirkender
psychosozialer Belastungsfaktoren sein.
Unsichere Bindung, emotionale Vernachlässigung und frühe Viktimisierung
(körperliche Misshandlung, sexueller
Missbrauch) können ebenfalls zu sensorischer Hypervigilanz bzw. Hyperarousal
und biologischen Störungen in der
Stressverarbeitung führen. Dies ist umso
wahrscheinlicher, wenn das Kind von
seiner Veranlagung ohnehin schon eher
ängstlich und gehemmt ist. Ein extravertiertes, lebhaftaktives Temperament
kann ein Kleinkind hingegen – zumindest partiell – vor den Folgen früher psychosozialer Traumatisierung schützen 65.
Dies mündet, vor allem wenn kompensatorische psychosoziale Schutzfaktoren fehlen, in einem labilen Selbstwertgefühl mit der Neigung zu Angst,
Depression oder auch Ruhelosigkeit und
unreifen Konfliktbewältigungsstrategien
(Wendung gegen das Selbst, Projektion,
Reaktionsbildung, Katastrophisieren).
Misstrauen, Hyperaktivität, ausgeprägtem Kontrollverhalten bis hin zu Perfektionismus sind Ausdruck bzw. Kompensationsversuche eines schlechten Selbstwertgefühls.
Fibromyalgie als Störung der zentralen Schmerz- und Stressverarbeitung
In Verbindung mit der biologisch determinierten Störung der Stressverarbeitung führt dies zu einer deutlich erhöhten Vulnerabilität für biologische, z.B.
Infektion66 oder körperliches Trauma,
wie psychosoziale Stressoren im
Er­wachsenenalter, die dann als Auslösefaktoren fungieren. Es kommt zur Überforderung, zur narzisstischen Krise, und
in Verbindung damit zur Aktivierung des
bereits vorgeschädigten Stress-Systems.
Schmerz, Erschöpfung und psychovegetative Symptomatik sind das Ergebnis.
Fehlende Erklärungen von ärztlicher
Seite für das multilokuläre Schmerzgeschehen fördern Kontrollverlustängste
und die Neigung zum Katastrophisieren,
bedingen eine ängstlich-hypochondrische Bewertung und Verarbeitung und
ein – ggf. noch durch daraus resultierende muskuläre Spannungszustände
und körperliche Dekonditionierung –
verstärktes Schmerzerleben (somatosensorische Amplifizierung), das als biologischer Stressor im Rahmen eines Circulus vitiosus selbst wiederum Einfluss
nimmt. Auch psychosoziale Folgen, wie
sozialer Rückzug, negative Affekte, Enttäuschungen über Ärzte und „doctorshopping“ können diesen Chronifizierungsprozess weiter unterhalten.
Die unterschiedlichen biologischen und
psychosozialen Faktoren ermöglichen
die Differenzierung pathogenetischer
Subgruppen; dem versucht das skizzierte Pathogenesemodell Rechnung zu tragen. Ein erster Versuch mittels psychologischer Parameter67,68 führte zur Unterscheidung von Subgruppen mit
adaptivem und „dysfunktionalem“
Coping sowie einer „interpersonell
gestressten“ Teilpopulation. Letztere
profitierte von einem Schmerzbewältigungstraining am wenigsten. Ein weiterer Versuch der Subgruppendifferenzierung wurde mit Hilfe die Quantitativen
Sensorischen Testung (QST) von physiologischer Seite vorgenommen69. Bezogen auf die klinische Symptomatik70
bzw. auf Angst, Depression, Katastrophisieren, Schmerz­stärke und -kontrollierbarkeit71 wurden weitere Studien zur
Subgruppendifferenzierung vorgelegt.
Eine breit angelegte fachübergreifende
Studie, welche physiologische, neurobiologische, biographische, psychologische und soziale Parameter umfassend
mit dem Ziel der Subgruppendifferenzierung erhebt, fehlt bisher allerdings.
Schlussfolgerungen
Die dargestellten wissenschaftlichen
Erkenntnisse machen die Komplexität
der bei der Fibromyalgie beteiligten biologischen, psychischen und sozialen
Mechanismen deutlich. Welche Konsequenzen aus dem erheblichen Wissenszuwachs der letzten Jahre sind zum
49
Ulrich T. Egle
50
gegenwärtigen Zeitpunkt für die praktische Arbeit mit den betroffenen Patienten zu ziehen:
– Fibromyalgie kann nicht auf eine
„Modediagnose für überbewertete
Befindlichkeitsbeschwerden“ reduziert
werden, wie dies teilweise von Neurologen, Orthopäden und Rentenver­
sicherungsträgern
immer
noch
ge­schieht.
– Fibromyalgie ist auch keine primär
psychische
oder
psychiatrische
Er­krankung. Das psychodynamische
Verständnis der Fibromyalgie als Konversionsstörung ist ebenfalls zu sehr
vereinfachend und wissenschaftlich
nicht haltbar.
– Bei der Fibromyalgie handelt es sich
vielmehr um eine psychosomatische
Erkrankung, der eine zentrale Störung
von Stress- und Schmerzverarbeitungssystem zugrunde liegt und bei
der ätiopathogentische Subgruppen
zu differenzieren sind. Dabei ist die
Bedeutung verschiedenener biologischer, psychischer und sozialer Parameter individuell zu gewichten.
– Eine individuelle Therapieplanung
setzt eine solche diagnostische
Gewichtung voraus. Das skizzierte
Pathogenese-Modell ist dafür als Orientierungshilfe gedacht.
– Die Beschränkung auf eine Monotherapie, ob medikamentös oder psychotherapeutisch, dürfte bei Fibromyalgiepatienten häufig nicht hinreichend
sein63,62. Genauso wenig wirksam sind
allerdings die vor allem in rheumatologischen Kliniken verbreiteten multimodale Therapieprogramme, wie eine
sorgfältige Metaanalyse im Rahmen
der Cochrane Collaboration erbrachte72.
– Psychosomatische Behandlung muss
bei Fibromyalgiepatienten mehr als
nur psychotherapeutische Maßnahmen umfassen. Dies setzt funktionsfähige fachübergreifende Koopera­
tionsstrukturen voraus. Zunächst ist
dabei den nicht selten iatrogen mitinduzierten Chronifizierungsfaktoren in
Form psychoedukativer Interventionen
(Krankheitsinformation, Aufmerksamkeitslenkung, Schmerzattribuierung)
und einer körperlichen Dekonditionierung durch ein physisch aktivierendes
Aufbauprogramm73,74 Rechnung zu
tragen. Fibromyalgiepatienten mit
Angst oder Depression als Komorbidität ist ggf. zusätzlich ein Antidepressivum zu verordnen. Dabei haben sich –
im Hinblick auf eine sonst oft erhöhte
Nebenwirkungsrate – besonders die
SSRI-Präparate (z.B. Sertralin, Citalopram) bewährt.
– Beim Nachweis einer erhöhten Stress­
vulnerabilität aufgrund emotionaler
oder physischer Traumatisierungen in
der Kindheit sollten über einfache
Schmerzbewältigungsprogramme hinausgehende
psychotherapeutische
Maßnahmen durchgeführt werden,75
Fibromyalgie als Störung der zentralen Schmerz- und Stressverarbeitung
die auf eine erhöhte Stressresistenz
abzielen. Dies kann in Form einer
je­weils krankheitsspezifischen kognitiv-behavioralen
Stressimmunisie76
rung oder psychodynamisch-interaktionellen
Gruppenpsychothera77,78
pie
ge­schehen.
Die dargestellten biopsychosozialen
Zusammenhänge legen nahe, dass es
sich bei der Fibromyalgie um ein
Beschwerdebild handelt, dessen Diagnostik und Behandlung künftig zu den
zentralen Aufgaben der Psychosomatischen Medizin gehören sollte.
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Schmerzstörung; im Druck, Beltz, Weinheim.
77) Nickel R, Egle UT. Therapie der
somatoformen Schmerzstörung. Schat­
tauer Stuttgart 1999.
Fibromyalgie als Störung der zentralen Schmerz- und Stressverarbeitung
78) Nickel R, Egle UT. Störungsspezifische Gruppenpsychotherapie bei Patienten mit somatoformen Schmerzen. Z
Gruppendyn Gruppenpsychother 2002;
38: 212–230.
73) Mengshoel AM., Komnaes HB,
Forre O. The effects of 20 weeks of fit­
ness training in female patients with
fibromyalgia. Clin Exp Rheumatol 1992;
10: 345–49.
57
58
59
Die MEDIAN Kliniken
Standort
Klinik
Bad Berka
MEDIAN Kliniken I und II
Turmweg 2, 99438 Bad Berka
Telefon 03 64 58/38-0
Bad Lausick
Indikationen
Herz-Kreislauf-, Gefäß-,
Stoffwechselerkrankungen,
Gastroenterologie, Gynäkologie,
Urologie, Onkologie
MEDIAN Klinik
Herz-Kreislauf-Erkrankungen,
Parkstraße 4
Orthopädie
04651 Bad Lausick
Telefon 03 43 45/61-0
Bad Krozingen
MEDIAN Kliniken Im Sinnighofen 4 79189 Bad Krozingen
Telefon 0 76 33/93 51
Herz-Kreislauf-Erkrankungen,
Neurologie, Orthopädie,
Psychosomatik, Rheumatologie,
Schlafmedizin, Stoffwechselerkrankungen, Tinnitustherapie,
Gefäßerkrankungen
Bad Oeynhausen
MEDIAN Klinikum Gastroenterologie, Geriatrie, für Rehabilitation
Weserklinik Klinik am Park
Herz-Kreislauf-, Gefäßerkrankungen,
Innere Medizin, Neurologie,
Onkologie, Lymphologie, Orthopädie, Brahmsstraße 8
32545 Bad Oeynhausen
Telefon 0 57 31/865-0
Rheumatologie, Sportmedizin
Bad Salzuflen
MEDIAN Klinikum
für Rehabilitation
Klinik am Burggraben
Klinik Flachsheide
Alte Vlothoer Straße 47
32105 Bad Salzuflen
Telefon 0 52 22/37-0
Atemwegs-, Herz-KreislaufErkrankungen, Innere Medizin,
Geriatrie, Gynäkologie, Neurologie,
Orthopädie, Rheumatologie,
Psychosomatik, Urologie,
Onkologie, Allergologie,
unfallchirurgische Rehabilitation
Klinik am Kurpark
Postfach 468
32105 Bad Salzuflen
Telefon 0 52 22/189-0
Herz-Kreislauf-Erkrankungen,
Onkologie
Bad Sülze
MEDIAN Klinik
Kastanienallee 1
18334 Bad Sülze
Telefon 03 82 29/72-0
Orthopädie, Rheumatologie,
Neurologie, Klinische Neuropsychologie, Physikalische und
Rehabilitative Medizin
60
MEDIAN Kliniken
Standort
Klinik
Bad Tennstedt
Indikationen
MEDIAN Kliniken
61
Standort
Klinik
Indikationen
MEDIAN Klinik
Orthopädie, Neurologie
Badeweg 2
99955 Bad Tennstedt
Telefon 03 60 41/35-0
Hoppegarten
MEDIAN Klinik
Rennbahnallee 107
15366 Hoppegarten
Telefon 0 33 42/353-0
Orthopädie
Berggießhübel
Berlin
MEDIAN Klinik
Gersdorfer Straße 5
01819 Berggießhübel
Telefon 03 50 23/65-0
Orthopädie, Psychosomatik
Kalbe
MEDIAN Klinik
Straße der Jugend 2
39624 Kalbe
Telefon 03 90 80/71-0
Orthopädie, Onkologie
MEDIAN Klinik Berlin
Kladower Damm 221
14089 Berlin
Telefon 0 30/36 503-0
Neurologie, Orthopädie
Lobenstein
MEDIAN Klinik
Am Kießling 1
07356 Lobenstein
Telefon 03 66 51/74-0
Orthopädie, Psychosomatik
Verhaltensmedizinische Orthopädie
Berlin
MEDIAN Klinik Berlin-Mitte
Turmstraße 21
10559 Berlin
Telefon 0 30/39 76 30 04
Geriatrie
Magdeburg
MEDIAN Klinik NRZ
Gustav-Ricker-Straße 4
39120 Magdeburg
Telefon 03 91/610-0
Neurologie
Bernkastel-Kues
MEDIAN Reha-Zentrum
Kueser Plateau
54463 Bernkastel-Kues
Telefon 0 65 31/92-0
Herz-Kreislauf-Erkrankungen,
Neurologie, Orthopädie,
Psychosomatik
Wismar
MEDIAN Klinik
Ernst-Scheel-Straße 28
23968 Wismar
Telefon 0 38 41/646-0
Orthopädie, Onkologie
Flechtingen
MEDIAN Klinikum
Parkstraße, 39345 Flechtingen
Telefon 03 90 54/81-0
Herz-Kreislauf-Erkrankungen,
Gefäßerkrankungen, Neurologie,
Freiburg i. Br.
Klinik für Tumorbiologie
Breisacher Straße 117
79106 Freiburg
Telefon 07 61/206-01
Onkologie
Freiburg i. Br.
MEDIAN Klinik
An den Heilquellen
79111 Freiburg
Telefon 07 61/47 00-0
Geriatrie
Grünheide
MEDIAN Klinik
An der REHA-Klinik 1
15537 Grünheide
Telefon 0 33 62/739-0
Neurologie, Neurochirurgie
Heiligendamm
MEDIAN Klinik
Zum Strand 1
18209 Heiligendamm
Telefon 03 82 03/44-0
Atemwegserkrankungen,
Herz-Kreislauf-Erkrankungen,
Hauterkrankungen, Allergien,
Psychosomatik
62
MEDIAN Kliniken
63
Literaturhinweis
In dieser Reihe sind bereits erschienen:
1
Der chronische Schmerzpatient
Mög­lich­keiten und Grenzen der
Behandlung
Symposium der MEDIAN Klinik
Berggießhübel vom 25. Januar 1997
Chemnitz
2
Schlaganfall
vorbeugen - behandeln rehabilitieren
Ein Behandlungsschwerpunkt der
MEDIAN Klinik Grünheide
Harald Trettin
3
Beiträge zur Dysphagie
Diagnostik und Therapie von
Schluckstörungen
Ein Behandlungsschwerpunkt der
MEDIAN Klinik II Flechtingen
Sonderheft
Wer nicht kämpft,
kann nicht gewinnen
Erlebnisse, Erfahrungen und
Erinnerungen nach einem
Schlaganfall
Eveline Reinke
4
Eßstörungen
Symposium der MEDIAN Klinik
Berggießhübel vom 28. März 1998
5
Operative Coxarthrosebehandlung
Symposium im MEDIAN Klinikum für
Rehabilitation
Bad Salzuflen am 29. 8. 1998
6
Konservative und operative
Behandlung von
Wirbelsäulen­erkrankungen
3. Orthopädie-Symposium
im MEDIAN Klinikum für Rehabilitation
Bad Salzuflen am 8. Mai 1999
7
Leberzirrhose
Ausgewählte klinische, thera­peu­tische
und sozial­medizinische Fragen
XI. Colloquium hepatologicum
im März 2001,
MEDIAN Kliniken Bad Berka
8
Patho­physiologie und inter­
disziplinäre Therapie der Spastik
Symposium in der MEDIAN Klinik
Grünheide am 27. Januar 2001
64
65
9
Osteoporose – eine
interdisziplinäre Heraus­forderung
Gesammelte Beiträge zur Diagnostik
und Therapie der Osteoporose
10
Ausdauersport in der Rehabilitation
Ein Beitrag zum 25-jährigen Bestehen
der MEDIAN Kliniken Bad Krozingen
H.-A. Kulenkampff, A. Berg (Hrsg.)
Bei Interesse wenden Sie sich bitte an:
MEDIAN Kliniken GmbH & Co. KG
Abt. Öffentlichkeitsarbeit/Marketing
Carmerstraße 6
10623 Berlin
Telefon 030/31 10 12 33
Fax 030/31 10 11 44
ISSN 1432-945X
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