Publikumsvortrag 20.06.2012 Müdigkeit hat viele Gesichter: Vom Eisenmangel über Schlafapnoe zur Burnout und Fibromyalgie Prof. Dr. Peter Keel Chefarzt Klinik für Psychiatrie und Psychosomatik, Bethesda-Spital, Basel Dr. Matthias Strub Neurologe am Bethesda-Spital Basel Zentrum für Schlafmedizin Basel www.basel-schlaf.ch 1 Körperliche Ursachen der Müdigkeit ausschliessen • • • • • • • • Eisenmangel (Ferritin) Vitaminmangel (B12) Infektionskrankheit (z.B. Borreliose) Schilddrüsenunterfunktion (Hypothyreose) Schlafmangel Schlafapnoesyndrom Restless Legs u.a.m. .... 2 Eine somatoforme (psychosomatische, funktionelle) Störung? Merkmale: • Ständige Sorge körperlich krank zu sein und hartnäckige Weigerung, die Versicherung des Fehlens einer körperlichen Ursache der Symptome zu akzeptieren, hartnäckige Forderung nach neuer Untersuchung • Widerstand gegen Versuche, die Möglichkeit einer psychischen Ursache zu diskutieren • Das zu erreichende Verständnis für die Verursachung der Symptome ist häufig für Patient und Arzt enttäuschend Interaktionsprobleme 3 Probleme und Gefahren im Umgang mit somatoformen Störungen (Sauer & Eich, Dtsch. Ärzteblatt 2009) Das grundlegende Problem der Interaktion zwischen Ärzten und Patienten geht auf drei Aspekte zurück: (1) das Drängen auf Untersuchung und das appellative Verhalten der Patienten (2) die Unsicherheit beziehungsweise Angst der Ärzte, eine verborgene Krankheit zu übersehen (3) die Diskrepanz in den jeweiligen Ursachenüberzeugungen Gefahren: Fortgesetzte Suche nach einer möglichen somatischen Ursache (Virusinfekt, Immunschwäche, MCS) Überbewertung von unbedeutenden Normabweichungen oder Befunden (z.B. Antikörpertiter) Einsatz von fragwürdigen (Selbst-) Behandlungen, vermeintliche Effizienz dank Placeboeffekten (z.B. Vitamine, Spurenelemente, Eisen, Melatonin u.a.m.) 4 Somatoforme Störungen mit ähnlichen Symptomen (oft Müdigkeit) Kopfschmerz Burnout Atypische Depression CFS IBS Myoarthropathie FMS CFS = Chronic Fatigue Syndrome FMS = Fibromyalgia Syndrome IBS = Irritable Bowel Syndrome (Reizdarm) 5 Am Anfang von Müdigkeit und Erschöpfung steht oft ein „Burnout“ Burnout ist keine Krankheit, kann aber krank machen. Man versteht darunter die Folgen beruflicher Überbelastung. 6 Definition: Burnout Trias • emotionale Erschöpfung • Verlust des Einfühlungsvermögens • verminderte Leistungsfähigkeit 7 Burnout Verminderte Leistungsfähigkeit • • • • • Erschöpfung und Müdigkeit Zweifel an den eigenen Kompetenzen Durchschlafstörungen, frühes Erwachen Appetitstörungen (Zu- oder Abnahme) erhöhte Krankheitsanfälligkeit (Beeinträchtigung der Abwehrkräfte) • psychosomatische Beschwerden (Kopf-, Rücken-, Bauchweh, Fibromyalgie etc.) Somatisierung oder Depression 8 Burnout Emotionale Erschöpfung • reizbar, aggressiv • ungeduldig und nervös • lust- und interesselos • bedrückt, hoffnungslos • Selbstzweifel und Pessimismus Depressives Syndrom 9 Burnout Verlust des Einfühlungsvermögens Verlust von: • Begeisterungsfähigkeit, Einsatzbereitschaft • Einfühlungsvermögen (Mitgefühl) und Verantwortungsgefühl • Auftreten von Unlust, Gleichgültigkeit gegenüber Arbeit, negative Gefühle gegen Kunden/Mitarbeitern • unbeteiligte oder zynische Reaktionen • abgehärtetes, unpersönliches Verhalten Verleugnung der Überforderung ? 10 Neurasthenie oder „Chronic fatigue syndrome (CFS)“ (praktisch identische Kriterien) • anhaltende und quälende Klagen über gesteigerte Ermüdbarkeit nach geistiger Anstrengung oder über körperliche Schwäche und Erschöpfung nach geringsten Anstrengungen Mindestens eines der folgenden Symptome: • – – – – – – – • • akute oder chronische Muskel- und Gelenkschmerzen Benommenheit, Konzentrationsstörungen Spannungskopfschmerzen unerholsamer Schlaf / Schlafstörungen Unfähigkeit zu entspannen Reizbarkeit [CFS zudem: Halsschmerzen, empfindliche Lymphknoten an Hals oder in Axelhöhlen] Die Betroffenen sind nicht in der Lage, sich innerhalb eines normalen Zeitraums von Ruhe, Entspannung oder Ablenkung zu erholen. Dauer der Symptomatik mindestens 3 Monate 11 Fibromyalgie Neue Diagnose-Kriterien (ACR, Wolfe et al. 2010) • Zur Diagnosestellung eines FibromyalgieSyndromes müssen folgende Punkte erfüllt sein: a. a. Widespread Pain Index (WPI) >= 7 und Schweregradskala („symptom severity scale score“, SSSS) >= 5 oder WPI 3-6 und SSSS >=9 b. b. Symptome bestehen seit mind. 3 Monaten auf einem vergleichbaren Level c. c. Es gibt keine andere Erklärung als Ursache der Schmerzen. 12 Fibromyalgie Betroffene Körperareale • WPI (= „widespread pain index“ = 0-19): Anzahl Schmerzbereiche in der vergangen Woche a. Schultergürtel links – rechts b. Oberarm links – rechts c. Unterarm links – rechts d. Hüfte (Glutaeus, Trochanter) links – rechts e. Oberschenkel links – rechts f. Unterschenkel links – rechts g. Kiefergelenk links – rechts h. Brust i. Abdomen j. Brustwirbelsäule k. Lendenwirbelsäule l. Hals 13 Fibromyalgie Beurteilung des Schweregrades • Schweregrad („symptom severity scale score“) – Begleitsymptome (je nach Ausprägung 0–3 Punkte) a. Müdigkeit (Fatigue) b. Nichterholsamer Schlaf c. Kognitive Störungen (Merkfähigkeit, Konzentration) d. Somatische Begleitsymptome Liste 14 Fibromyalgie Somatische Begleitsymptome • • • • • • • • • • • • • • Muskelspannung, Muskelschmerz Kopfschmerz (Migräne) Globusgefühl (Schwierigkeiten beim Schlucken) Reizmagen, Oberbauchschmerzen, Übelkeit, Appetitverlust, Erbrechen Reizdarm, Bauchkrämpfe, Verstopfung, Durchfall Nervosität, Depressivität, Ängstlichkeit Brustschmerzen, Kurzatmigkeit, Herzschmerzen, Fieber trockene Mundschleimhaut, trockene Augen Durchblutungsstörungen in Händen und Füssen, Buchstabenhaut Ohrgeräusche, Hörprobleme, Lärmempfindlichkeit Schwindel Geschmacksstörungen häufiges und/oder schmerzhaftes Wasserlassen Schlaflosigkeit 15 Myoarthropathie (Kiefergelenkschmerz): Symptome • Schmerzhafte maximale Mundöffnung und Unterkieferbewegungen (zur Seite/vorne), verstärkt durch Belastungen des Kausystems • Druckschmerzhaftigkeit von mind. 4 Muskelregionen und Kiefergelenksregion • Parafunktion (Gefühl Zähne passen nicht zusammen) • Bruxismus (Zähneknirschen in der Nacht) • Begleitsymtome: – Schlafstörungen, Kopf- oder andere Schmerzen am Bewegungsapparat, Reizdarm 16 Negativer, krankmachender Stress • Stress wird verursacht durch das subjektive Erleben eines Menschen, Dinge nicht mehr positiv steuern und Probleme nicht mehr lösen zu können. 17 Entstehung und Wahrnehmung von Stress • Stress entsteht in dem Moment, in dem für den einzelnen Menschen dieser Anpassungsprozess nicht mehr funktioniert, und zwar unter folgenden Bedingungen: Die subjektive Wahrnehmung des Menschen löst die Befürchtung aus, dass eine gegen die eigene Person gerichtete, belastende und lang andauernde Situation wahrscheinlich nicht vermieden werden kann. Die betroffene Person sieht keine Möglichkeit, die Situation selber zu beeinflussen oder durch den Einsatz von Ressourcen (Untersützung) zu bewältigen. 18 19 Hintergrund von Burnout: Dysbalance / übermässiger Stress Einsatz (Aufwand) Burnout = Befriedigung (Ertrag) 20 Was erhält gesund oder wie sieht gesunde Arbeit aus? Sense of coherence (Kohärenzgefühl) • Comprehensibility (erfassbar) • Manageability (bewältigbar) • Meaningfulness (sinnvoll) Hardiness (Herzhaftigkeit) • Commitment (Engagement) • Control (Kontrolle) • Challenge (Herausforderung) Antonovsky (1987), Kobasa (1982) 21 Stress und Burnout : Modulierende Faktoren Einsatz und Befriedigung hängen ab von: • Erwartungen und Ansprüchen – des Betroffenen („Tendenz zur Selbstüberforderung“, „immer allen alles recht machen“) – des Betriebs, der Kunden, Normen etc.: bewusste oder unbewusste Ausbeutung (Stress von oben, Sparmassnahmen) • Umgang des Betroffenen mit diesen: – Selbstsicherheit, Durchsetzungs- und Abgrenzungsvermögen – Unrealistische Selbsteinschätzung, ev. wegen Mangel an Anerkennung oder Rückmeldungen, Unterstützung – Zufriedenheit mit Arbeit, Lohn etc. 22 Zunahme von stressbedingten Symptomen bei Erwerbstätigen in der Schweiz (Auswahl) 1984 - 1998 Häufigkeit der Antworten "oft/sehr oft" in % Kopfschmerzen Schlafstörungen Nacken/Schultern Nervosität Rückenbeschwerden 0 5 10 15 BIGA 1984 20 25 SECO 1998 Quelle: Seco Stress-Studie, 1999 23 Tendenz zu Selbstüberforderung – Leistungsorientierung: hartes, pausenloses Arbeiten, Verausgabung, wenig Erholung – Selbstwertprobleme: Anerkennung von Leistung abhängig, Selbstentwertungstendenz – Angst vor Kritik und Verstossung: Perfektionismus, Überanpassung, Überwachsamkeit – Vermeidung von Abhängigkeit: Mangel an Urvertrauen, forcierte Selbständigkeit, Mühe Hilfe zu beanspruchen, Bindung an abhängige Partner – Aggressionshemmung: geringes Durchsetzungsvermögen, konfliktscheu, Harmoniesucht – Alexithymie: Unfähigkeit, v.a. unangenehme Gefühle wahrzunehmen und auszudrücken 24 Tamara‘s Traum Nachts starkes Gewitter, sie geht zu Bett, hört Geräusche in Haus, Hunde bellen. Beruhigt sie, geht nachsehen. Trifft schwarzen Mann auf Treppe, sieht ihn in Keller gehen, er plündert ihre Vorratskammer. Sie ruft die Polizei an. Es ist nur ein Mann auf dem Posten, will nicht allein kommen, habe Angst, werde am Morgen kommen, wenn sie zu zweit sind. Sie soll im Schlafzimmer bleiben. Sie hört den Mann das Haus verlassen, geht ins Bett ... 25 Sie können ja gar nichts sehen. ? Test für Verhalten in Konfliktsituationen Testinstruktion: "Stellen Sie sich vor, was die andere Person auf dem Bilde antworten würde." aus: RosenzweigPicture-FrustrationTest, Hogrefe, Göttingen 1957 26 RPF: Antwortbeispiele 27 Keel, Fibromyalgie, Gustav Fischer, Stuttgart, 1995 28 Psychosomatische Zusammenhänge: Stress macht krank! ... macht Kopfweh oder Bauchweh ... liegt auf dem Herzen, drückt auf den Magen 29 .. er kann sogar töten Stress macht nicht nur krank ... 30 ... aber bei somatoformen Störungen? Zusammenhang oft verleugnet, weil ... • • • • chronischer Stress (Dauerspannung) nicht wahrgenommen: als „normal“ erlebt; Überwachsamkeit hat Schutzfunktion verdrängte Probleme: unangenehm, bedrohlich, (scheinbar) unlösbar (Sachzwänge), Angst vor Veränderung (Gefühl zu Versagen, Schuldgefühle), Angst vor Alleinsein, Rücksicht auf Kinder ... Zwang „allen alles recht zu machen“, sozial erwünschtes Verhalten: Suche nach Akzeptanz (Anerkennung, Liebe) bei Angst vor erneuter Verstossung; Abwehr von Chaos, Schmutz, Streit (Handlungen haben unbewusste Schutzfunktion) hartes Arbeiten, hart mit sich selbst: Schutz und Selbsthass, fehlende Fürsorglichkeit, Gefahr der Ausbeutung 31 Fibromyalgie Dysfunktion des autonomen Nervensystems (Hyporeaktivität) • Symptome: – – – – – – – ausgedehnte Schmerzen Schlafstörung Müdigkeit Pseudo-Raynaud Phänomen Sicca-Syndrom (trockene Augen, Mund) intestinale Reizbarkeit orthostatische Hypotonie Literaturübersicht: Wallace DJ, Clauw DJ, Fibromyalgia & Other Central Pain Syndromes. Philadelphia: Lippincott Williams & Wilkins; 2005 32 Fibromyalgie Symptome des Wachstumshormonmangels – – – – – – Energielosigkeit allg. schlechte Gesundheit verringerte Ausdauerkapazität Muskelschwäche Kälteunverträglichkeit Dysthymie Literaturübersicht: Wallace DJ, Clauw DJ, Fibromyalgia & Other Central Pain Syndromes. Philadelphia: Lippincott Williams & Wilkins; 2005 33 Therapeutisches Vorgehen bei somatoformen Störungen 1. Sicherung des Vertrauensverhältnisses: Beschwerden ernst nehmen umfassende Anamnese, gründliche körperliche Untersuchung 2. Therapeutische Grundhaltung: Einfühlung, positive Wertschätzung, Echtheit; Gesprächstechnik: aktives Zuhören 3. Aktive Krankheitsbewältigung mit Patient: Information, Führung, Selbsthilfemassnahmen, ev. symptomatische Therapie der Schlafstörung 34 „Leben mit dem Schmerz / der Müdigkeit etc.“ Symptome kennen lernen (Symptome, Hintergründe, Behandlungsmöglichkeiten) ... verstehen lernen (Zusammenhänge mit Belastungen, Lebensstil) ... beeinflussen lernen (Selbsteffizienz verbessern durch Selbsthilfemassnahmen ⇒ Psychotherapie; Schlaf schützen) 35 Psychotherapie bei somatoformen Störungen kognitive SchmerzSchmerz- /Symptomkontrolle Einfluss von Stimmung, Gefühlen, Gedanken und Interpretationen auf Beschwerdenwahrnehmung Verhaltensänderung (Stress abbauen) Ziele (Perfektionismus, Überwachsamkeit) überdenken, sich abgrenzen, sich durchsetzen Entspannung Autogenes Training, progressive Muskelrelaxation, andere Entspannungstechniken (Biofeedback, Imagination) Pausen einschalten, Ausgleich suchen, sich Erholung gönnen (Genusstraining) Schlafhygiene, ev. Medikamente 36 Stressbewältigung: Massnahmen gegen Tendenz zu Selbstüberforderung direkt, aktiv • Ziele, Engagement überprüfen – Perfektionismus, Überhilfsbereitschaft, Wachsamkeit abbauen • Stressbelastung verringern – Nein sagen, Forderungen stellen, Delegieren, Pausen machen • Ärger und Frustrationen vermeiden – Sich wehren, Änderungen fordern Psychotherapie: Energie sparen, Selbstfürsorge 37 Stressbewältigung: Massnahmen gegen Tendenz zu Selbstüberforderung direkt, aktiv (Forts.) • Kommunikation verbessern – Klare Abmachungen • Konflikte bewältigen statt schlucken – Streiten lernen, Gespräch suchen • Erfolgserlebnisse schaffen – „Rosinen picken“, Spezialisierung, Anerkennung und Feed-back holen • Humor und Abwechslung in Arbeit – Gemeinschaftserlebnisse – Spassfaktor, ungewöhnliche Ideen 38 Stressbewältigung: Massnahmen gegen Tendenz zu Selbstüberforderung indirekt, aktiv • Abwechslung schaffen – "Diversifikation" der Aufgaben • Ausgleich/ Entspannung suchen – Familie, Freizeit, Sport, Fitness, Entspannungstechniken, Wohlbefinden pflegen, Genusstraining • soziale Unterstützung – fachlich, emotional / Kollegen, Freunde – Weiterbildung, Supervision, Therapie (Coaching) 39 Weniger günstige Reaktionen bei Tendenz zu Selbstüberforderung direkt, passiv • Belastung ignorieren – weniger wachsam werden, Gleichgültigkeit, Abstumpfung • Belastung leugnen – Zynismus, kühl, latent sadistisch • Innere Kündigung – Dienst nach Vorschrift, Minimalismus, auf Freizeit, Ferien, Pensionierung warten mit Mass ev. hilfreich! 40 Ungünstige Reaktionen bei Tendenz zu Selbstüberforderung indirekt, passiv • Keine Bewältigung! – Hilflosigkeit, Resignation • Erschöpfung, Leistungseinbusse – depressive Entwicklung, Krankheit • Flucht in Sucht – Medikamente, Alkohol, Drogen ! Aber: Trizyklische Antidepressiva (Trimipramin u.a.) oder Mirtazapin (Remeron®) können eine grosse Hilfe sein für erholsamen Schlaf! 41