Mehr als ein Clown | 3 Kalter Krieg 2.0 | W8 Beppe Grillos Bewegung hat Italiens Parteiensystem gesprengt In Frank Schirrmachers Buch »Ego« verschmelzen Mensch und Maschine Hausbesetzer in Spanien Sonnabend/Sonntag, 2./3. März 2013 Bundesrat stoppt vorerst Fiskalpakt 68. Jahrgang/Nr. 52 ● Bundesausgabe 1,90 €, Auslandspreis 1,80 € Ist ein Mauerfall nicht genug? Demonstranten verhindern in Berlin Teilabriss der East Side Gallery Länder fordern mehr Ausgleichsgelder Berlin (dpa/nd). Die Länder haben die Umsetzung des EU-Fiskalpaktes in Deutschland gestoppt und bringen damit Kanzlerin Angela Merkel (CDU) auf europäischer Bühne in die Bredouille. Die Opposition nutzte am Freitag ihre neue Mehrheit im Bundesrat und lehnte ein entsprechendes Gesetz ab. Die Länder fordern mehr Geld vom Bund als Ausgleich für Belastungen aus dem Fiskalpakt. Nun müssen Bundestag und Länder im Vermittlungsausschuss nach einem Kompromiss suchen. Für Merkel ist die Hängepartie unangenehm, weil der Fiskalpakt ihre Handschrift trägt. In den südlichen Krisenländern dürfte aufmerksam registriert werden, dass ausgerechnet »Sparkommissar« Deutschland bei der Umsetzung spät dran ist. Die Bundesregierung reagierte dementsprechend verschnupft. Das Finanzministerium erklärte, das Verhalten der Länder sei völlig unverständlich. Der rheinlandpfälzische Finanzminister Carsten Kühl (SPD) betonte dagegen, die Bundesregierung habe bei der Fiskalpakt-Einigung im vergangenen Sommer den Ländern verbindliche Zusagen gemacht und halte diese nicht ein. »Das hat nichts mit Blockadehaltung zutun. Wir wollen Planungssicherheit.« Das Regelwerk wurde vor einem Jahr von 25 EU-Staaten unterzeichnet, ratifiziert ist es bisher allerdings nur in zwölf davon. Zwei EU-Länder – Großbritannien und Tschechien – machen nicht mit. Tagesthema Seite 2 Unten links Das Papstamt gehört zu den wenigen Anstellungen, bei deren Besetzung jeder mitreden darf. Umfragen in der Fußgängerzone von Bad Säckingen ergaben, dass die Mehrheit eher einen Kandidaten aus dem katholischen Spektrum präferiert. Er könnte durchaus auch Priester sein. Natürlich weiß niemand, ob das Konklave solchem Ansinnen folgt. Dort müssen schließlich auch andere Ideen berücksichtigt werden. So wünscht sich Gerald Asamoah endlich einen Papst aus Afrika, Ilka Bessin einen aus Marzahn und Udo Walz einen aus der Friseurbranche. Volker Beck (Grüne) fordert einen gleichgeschlechtlichen Papst und Rainer Brüderle (FDP) einen im Dirndl-Ornat. Alice Schwarzer tritt vehement für eine weibliche Doppelspitze ein. Der LINKEN ist das Geschlecht egal – Hauptsache, der neue Papst ist fortschrittlich und nicht katholisch. Der ADAC setzt auf einen Pontifex, der alle Formen der Autoerotik erlaubt und auf Geschwindigkeitsbeschränkungen beim Rücktritt verzichtet. ibo www.neues-deutschland.de twitter.com/ndaktuell Einzelpreise Tschechien 65/75 CZK Polen 6,60/9,50 PLN ISSN 0323-3375 x Kolumne Wie ein Staat aus der vierten Welt Von Tom Strohschneider Demokratie ist, so ließe sich in Anlehnung an ein geflügeltes Wort des Schriftstellers Otto Julius Bierbaum sagen, wenn man trotzdem wählt. Freilich macht es einem die Politik nicht gerade einfach, sich dem Ärger über Parteien und parlamentarischer Selbstbezogenheit zum Trotz dafür zu begeistern. Wann immer hierzulande Bürger befragt werden, wie zufrieden sie mit dem Funktionieren der Demokratie sind, winkt ein großer Teil ab. Das hat Gründe. Und es sind vor allem die Parteien, deren Ansehen mit Beständigkeit sinkt und die beharrlich genau dies provozieren. Ein Beispiel, das in der Woche der Papstschlagzeilen und Ernährungsskandale eher am Rande lief: Die SPD hat sich dafür ausgesprochen, Analphabeten durch eine Bebilderung von Stimmzetteln beim Wählen zu helfen. Es geht um Hunderttausende, vielleicht Millionen. Experten sind zwar nicht sicher, wie vielen Menschen Kandidatenfotos und Parteilogos tatsächlich den Weg eröffnen könnten, ihr Stimmrecht besser in Anspruch zu nehmen. Aber einmal abgesehen von der Selbstverständlichkeit des Ansinnens, sehen Grundgesetz und internationale Verpflichtungen genau dies vor: allen, auch denen mit Handicap gleich welcher Art, Zugang zur praktizierten Demokratie zu ermöglichen. Rainer Brüderle, dessen Partei sich des Liberalismus rühmt, wies den SPD-Vorstoß mit dem Hinweis zurück, die Bundesrepublik dürfe mit Bildchen auf Wahlzetteln doch nicht so tun, »als seien wir ein Staat aus der vierten Welt«. Zudem sei es wichtiger, für bessere Bildungsstandards zu sorgen. Ja sicher, aber davon haben jene, die jetzt nicht lesen können, wenig. Brüderles Schnoddrigkeit gegenüber dem Wahlrecht ist kein Einzelfall. Erst in dieser Woche haben Verbände und Oppositionspoli- Berlin (nd). Nach gut 23 Jahren ist die Berliner Mauer – bzw. das, was von ihr noch übrig ist – wieder heiß umkämpft. Hatte im Herbst 1989 die SED-Führung die Grenze unter dem Druck von Protesten und Massenflucht geöffnet (Bild unten), so verhinderten gestern empörte Demonstranten den Teilabriss der East Side Gallery. Jener einige hundert Meter lange Mauerrest im Bezirk Friedrichshain-Kreuzberg wurde weltberühmt, nachdem Künstler aus zahlreichen Ländern aus der Betonwand eine riesige Freiluftgalerie gemacht hatten. Nun sollen 22 Meter entfernt werden, weil ein Investor eine Luxuswohnanlage am Spreeufer bauen will. Hunderte Demonstranten (Bild oben) protestierten am Freitag gegen einen weiteren Schritt der Gentrifizierung ebenso wie gegen Geschichtsvergessenheit, die sich ihrer Meinung nach im Abriss des denkmalgeschützten Mauerabschnitts ausdrückt. Ein Segment wurde per Kran entfernt, dann stürmten Demonstranten das potenzielle Baugelände und erzwangen den vorläufigen Abbruch der Arbeiten. Die symbolbeladene Auseinandersetzung um die East Side Gallery könnte zu einem Dauerbrenner der nächsten Wochen werden, bei dem es um Erinnerungspolitik, den Kampf gegen steigende Mieten und die Sorge um eine Touristenattraktion geht. Seite 13 Fotos: Ulli Winkler, AFP/Gerard Malie Tom Strohschneider ist Chefredakteur des »neuen deutschland«. nd-Foto: Camay Sungu tiker wieder gefordert, Teilhabe nicht länger dadurch zu untergraben, dass man dieser oder jener Gruppe auch künftig erschwert, ihr Wahlrecht wahrzunehmen. Oder sie gleich ganz ausschließt, wie etwa Menschen, die aufgrund einer Behinderung betreut werden und deshalb bisher keine Stimme haben. Dafür kann es keinen guten Grund geben. Und der nun von der Union ins Feld geführte ist auch kein solcher: dass es nun einmal Menschen gebe, für die das Wahlrecht aufgrund von Einschränkungen »nur eine theoretische Größe« sei, wie es der CDU-Politiker Günter Krings in dieser Woche formuliert hat. Nur eine theoretische Größe? Die Stimmabgabe ist doch keine Möglichkeiten unter vielen, etwas, dass ein Herr Krings hier gewährt und über das sich ein Herr Brüderle dort belustigen kann. Mit Bierbaum gesagt: Demokratie wäre erst, wenn man trotz allem wählen kann. Das ist nicht nur eine Frage des formalen Zugangs und der Gestaltung der Wahlzettel. Aber sie ist es, neben sozialen und ausländerrechtlichen Hürden, eben auch. Solange Parteipolitiker dies für eine Lächerlichkeit halten, solange sie seit langem geforderte Veränderungen unter Verweis auf ausstehende Studien ewig vertrösten, solange muss sich auch niemand über den Ansehensverlust von Parteien wundern. Denen vertrauen, so hat in dieser Woche mal wieder eine Umfrage ergeben, drei Viertel der Bürger nur noch wenig bis überhaupt nicht mehr. In einem Land, das sonst sehr viel auf seine Demokratie hält. Und das in manchen Fragen der politischen Teilhabechancen von Hunderttausenden doch eher dem Brüderleschen Bild entsprich: »wie ein Staat aus der vierten Welt« zu sein.