Ist ein Mauerfall nicht genug?

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Sonnabend/Sonntag, 2./3. März 2013
Bundesrat
stoppt vorerst
Fiskalpakt
68. Jahrgang/Nr. 52 ● Bundesausgabe 1,90 €, Auslandspreis 1,80 €
Ist ein Mauerfall nicht genug?
Demonstranten verhindern in Berlin Teilabriss der East Side Gallery
Länder fordern mehr
Ausgleichsgelder
Berlin (dpa/nd). Die Länder haben die Umsetzung des EU-Fiskalpaktes in Deutschland gestoppt
und bringen damit Kanzlerin Angela Merkel (CDU) auf europäischer Bühne in die Bredouille. Die
Opposition nutzte am Freitag ihre
neue Mehrheit im Bundesrat und
lehnte ein entsprechendes Gesetz
ab. Die Länder fordern mehr Geld
vom Bund als Ausgleich für Belastungen aus dem Fiskalpakt.
Nun müssen Bundestag und
Länder im Vermittlungsausschuss
nach einem Kompromiss suchen.
Für Merkel ist die Hängepartie
unangenehm, weil der Fiskalpakt
ihre Handschrift trägt. In den südlichen Krisenländern dürfte aufmerksam registriert werden, dass
ausgerechnet »Sparkommissar«
Deutschland bei der Umsetzung
spät dran ist.
Die Bundesregierung reagierte
dementsprechend
verschnupft.
Das Finanzministerium erklärte,
das Verhalten der Länder sei völlig unverständlich. Der rheinlandpfälzische Finanzminister Carsten
Kühl (SPD) betonte dagegen, die
Bundesregierung habe bei der
Fiskalpakt-Einigung im vergangenen Sommer den Ländern verbindliche Zusagen gemacht und
halte diese nicht ein. »Das hat
nichts mit Blockadehaltung zutun.
Wir wollen Planungssicherheit.«
Das Regelwerk wurde vor einem Jahr von 25 EU-Staaten unterzeichnet, ratifiziert ist es bisher
allerdings nur in zwölf davon. Zwei
EU-Länder – Großbritannien und
Tschechien – machen nicht mit.
Tagesthema Seite 2
Unten links
Das Papstamt gehört zu den wenigen
Anstellungen, bei deren Besetzung
jeder mitreden darf. Umfragen in der
Fußgängerzone von Bad Säckingen
ergaben, dass die Mehrheit eher einen Kandidaten aus dem katholischen Spektrum präferiert. Er könnte
durchaus auch Priester sein. Natürlich weiß niemand, ob das Konklave
solchem Ansinnen folgt. Dort müssen
schließlich auch andere Ideen berücksichtigt werden. So wünscht sich
Gerald Asamoah endlich einen Papst
aus Afrika, Ilka Bessin einen aus
Marzahn und Udo Walz einen aus der
Friseurbranche. Volker Beck (Grüne)
fordert einen gleichgeschlechtlichen
Papst und Rainer Brüderle (FDP) einen im Dirndl-Ornat. Alice Schwarzer
tritt vehement für eine weibliche
Doppelspitze ein. Der LINKEN ist das
Geschlecht egal – Hauptsache, der
neue Papst ist fortschrittlich und
nicht katholisch. Der ADAC setzt auf
einen Pontifex, der alle Formen der
Autoerotik erlaubt und auf Geschwindigkeitsbeschränkungen beim
Rücktritt verzichtet.
ibo
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ISSN 0323-3375
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Kolumne
Wie ein Staat aus
der vierten Welt
Von Tom Strohschneider
Demokratie ist, so ließe sich in Anlehnung an
ein geflügeltes Wort des Schriftstellers Otto Julius Bierbaum sagen, wenn man trotzdem
wählt. Freilich macht es einem die Politik nicht
gerade einfach, sich dem Ärger über Parteien
und parlamentarischer Selbstbezogenheit zum
Trotz dafür zu begeistern. Wann immer hierzulande Bürger befragt werden, wie zufrieden
sie mit dem Funktionieren der Demokratie
sind, winkt ein großer Teil ab. Das hat Gründe.
Und es sind vor allem die Parteien, deren Ansehen mit Beständigkeit sinkt und die beharrlich genau dies provozieren.
Ein Beispiel, das in der Woche der Papstschlagzeilen und Ernährungsskandale eher am
Rande lief: Die SPD hat sich dafür ausgesprochen, Analphabeten durch eine Bebilderung
von Stimmzetteln beim Wählen zu helfen. Es
geht um Hunderttausende, vielleicht Millionen.
Experten sind zwar nicht sicher, wie vielen
Menschen Kandidatenfotos und Parteilogos
tatsächlich den Weg eröffnen könnten, ihr
Stimmrecht besser in Anspruch zu nehmen.
Aber einmal abgesehen von der Selbstverständlichkeit des Ansinnens, sehen Grundgesetz und internationale Verpflichtungen genau
dies vor: allen, auch denen mit Handicap gleich
welcher Art, Zugang zur praktizierten Demokratie zu ermöglichen.
Rainer Brüderle, dessen Partei sich des Liberalismus rühmt, wies den SPD-Vorstoß mit
dem Hinweis zurück, die Bundesrepublik dürfe
mit Bildchen auf Wahlzetteln doch nicht so tun,
»als seien wir ein Staat aus der vierten Welt«.
Zudem sei es wichtiger, für bessere Bildungsstandards zu sorgen. Ja sicher, aber davon haben jene, die jetzt nicht lesen können, wenig.
Brüderles Schnoddrigkeit gegenüber dem
Wahlrecht ist kein Einzelfall. Erst in dieser
Woche haben Verbände und Oppositionspoli-
Berlin (nd). Nach gut 23 Jahren ist die Berliner
Mauer – bzw. das, was von ihr noch übrig ist –
wieder heiß umkämpft. Hatte im Herbst 1989
die SED-Führung die Grenze unter dem Druck
von Protesten und Massenflucht geöffnet (Bild
unten), so verhinderten gestern empörte Demonstranten den Teilabriss der East Side
Gallery. Jener einige hundert Meter lange Mauerrest im Bezirk Friedrichshain-Kreuzberg
wurde weltberühmt, nachdem Künstler aus
zahlreichen Ländern aus der Betonwand eine
riesige Freiluftgalerie gemacht hatten.
Nun sollen 22 Meter entfernt werden, weil
ein Investor eine Luxuswohnanlage am Spreeufer bauen will. Hunderte Demonstranten (Bild
oben) protestierten am Freitag gegen einen
weiteren Schritt der Gentrifizierung ebenso
wie gegen Geschichtsvergessenheit, die sich
ihrer Meinung nach im Abriss des denkmalgeschützten Mauerabschnitts ausdrückt. Ein
Segment wurde per Kran entfernt, dann stürmten Demonstranten das potenzielle Baugelände und erzwangen den vorläufigen Abbruch der
Arbeiten. Die symbolbeladene Auseinandersetzung um die East Side Gallery könnte zu einem Dauerbrenner der nächsten Wochen werden, bei dem es um Erinnerungspolitik, den
Kampf gegen steigende Mieten und die Sorge
um eine Touristenattraktion geht.
Seite 13
Fotos: Ulli Winkler, AFP/Gerard Malie
Tom Strohschneider
ist Chefredakteur des
»neuen deutschland«.
nd-Foto: Camay Sungu
tiker wieder gefordert, Teilhabe nicht länger
dadurch zu untergraben, dass man dieser oder
jener Gruppe auch künftig erschwert, ihr
Wahlrecht wahrzunehmen. Oder sie gleich
ganz ausschließt, wie etwa Menschen, die aufgrund einer Behinderung betreut werden und
deshalb bisher keine Stimme haben. Dafür
kann es keinen guten Grund geben. Und der
nun von der Union ins Feld geführte ist auch
kein solcher: dass es nun einmal Menschen
gebe, für die das Wahlrecht aufgrund von Einschränkungen »nur eine theoretische Größe«
sei, wie es der CDU-Politiker Günter Krings in
dieser Woche formuliert hat.
Nur eine theoretische Größe? Die Stimmabgabe ist doch keine Möglichkeiten unter vielen,
etwas, dass ein Herr Krings hier gewährt und
über das sich ein Herr Brüderle dort belustigen
kann. Mit Bierbaum gesagt: Demokratie wäre
erst, wenn man trotz allem wählen kann. Das
ist nicht nur eine Frage des formalen Zugangs
und der Gestaltung der Wahlzettel. Aber sie ist
es, neben sozialen und ausländerrechtlichen
Hürden, eben auch. Solange Parteipolitiker dies
für eine Lächerlichkeit halten, solange sie seit
langem geforderte Veränderungen unter Verweis auf ausstehende Studien ewig vertrösten,
solange muss sich auch niemand über den Ansehensverlust von Parteien wundern.
Denen vertrauen, so hat in dieser Woche
mal wieder eine Umfrage ergeben, drei Viertel
der Bürger nur noch wenig bis überhaupt nicht
mehr. In einem Land, das sonst sehr viel auf
seine Demokratie hält. Und das in manchen
Fragen der politischen Teilhabechancen von
Hunderttausenden doch eher dem Brüderleschen Bild entsprich: »wie ein Staat aus der
vierten Welt« zu sein.
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