Übersichtsarbeit © Schattauer 2009 Neurobiologie der Zwangsstörung Teil 1: Konzepte zur Pathophysiologie und Genetik B. Zurowski; F. Hohagen; A. Kordon Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie, Universitätsklinikum Schleswig-Holstein, Lübeck Schlüsselwörter Keywords Neurobiologische Modelle Zwang, Basalganglion, orbitofrontaler Kortex, Tourette-Syndrom OCD, basal ganglion, orbitofrontal cortex, Tourette syndrome Kortikostriatale Regelkreise Zusammenfassung Summary In dieser Übersicht werden pathophysiologische Konzepte der Zwangsstörung vor dem Hintergrund aktueller neurobiologischer Befunde vorgestellt. Diese speisen sich aus klinischer und experimenteller Pharmakologie, Neurobildgebung sowie Neurophysiologie und entwickeln sich in Wechselwirkung mit neurologischen Konzepten von Basalganglienerkrankungen, speziell dem TouretteSyndrom. Neue Analysen von Genpolymorphismen und Symptomausprägung unterstützen nicht nur die Heredität, sondern auch die genetische Heterogenität der Störung, die sich wahrscheinlich mittelbar in differenzierteren diagnostischen, aber auch therapeutischen Konzepten niederschlagen wird. In this review we discuss pathophysiological concepts of obsessive-compulsive disorder (OCD) based on current neurobiological findings. Neurobiological concepts of OCD are based on findings from clinical and experimental pharmacology, neuroimaging and neurophysiology. They have been developed with reference to neurological disorders of the basal ganglion, in particular the Tourette syndrome. Current associations of genetic polymorphisms with clinical phenotypes support both, heredity and genetic heterogeneity of the disorder. Indirectly, these observations will have an impact on diagnostic concepts and even treatment of OCD. Korrespondenzadresse Dr. med. Bartosz Zurowski Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie Universitätsklinikum Schleswig-Holstein Ratzeburger Allee 160, 23538 Lübeck Tel. 0451/500-2471, Fax -4957 [email protected] Neurobiology of obsessive-compulsive disorder Part 1: Pathophysiological and genetic concepts Nervenheilkunde 2009; 28: 625–630 Eingegangen am: 7. Juni 2009; angenommen am: 8. Juni 2009 Die Zwangsstörung ist mit einer Lebenszeitprävalenz von etwa 2% eine der häufigsten psychiatrischen Erkrankungen. Sie ist durch sich wiederholende aufdrängende Intrusionen (z. B. An der Türklinke könnten HIV-Viren sein!) und Gedanken sowie durch stereotype, oftmals ritualisierte Verhaltensweisen charakterisiert. Die Betroffenen empfinden, dass sich diese Zwangsgedanken und Zwangshandlungen gegen ihren Willen aufdrängen. Wegen der damit verbundenen Angst scheint es den Zwangspatienten unmöglich, die Zwangshandlungen nicht auszuführen. Häufige klinische Erscheinungsbilder stellen Befürchtungen vor Kontamination (Ich könnte mich mit AIDS anstecken!) mit Wasch- und Putzritualen sowie Kontroll-, Ordnungs-, Symmetrie- und Sammelzwänge (zwanghaftes Horten) dar. Die im Laufe der Zeit etablierten Rituale (z. B. Händewaschen mit Zählritual) und Vermeidungsstrategien (z. B. Türklinken nicht anfassen) zielen ebenso wie gedankliche Rituale im Sinne kognitiver Zwangshandlungen darauf ab, Anspannung und Unwohlsein im Zusammenhang mit den Zwangsbefürchtungen vorübergehend (!) zu reduzieren. Die Betroffenen empfinden, dass sich diese Zwangsgedanken und Zwangshandlungen gegen ihren Willen aufdrängen. Diese Übersicht soll die Bandbreite heutiger neurobiologischer Untersuchungsparadigmen und Befunde hinsichtlich der Zwangsstörung an ausgewählten Forschungsrichtungen darstellen. Dabei wurden Befunde aus der Humanforschung eindeutig in den Vordergrund gestellt, sodass der interessante Bereich der tierphysiologischen Forschung, ebenso wie neurohumorale Aspekte nur kursorisch erwähnt werden. Umso mehr Raum wurde der Neurobildgebung der Zwangsstörung gewidmet, deren Befunde gesondert und syste- matisch in einem weiteren Artikel auf der Grundlage dieser konzeptuellen Übersicht vorgestellt werden (43). Die Bemühung um Aktualität der Befunde und Konzepte, ungeachtet ihres teilweise noch spekulativen Charakters, rechtfertigt z. B. die Berücksichtigung neuerer evolutionsbiologischer Überlegungen zur Zwangsstörung. Ebenso erschien es uns wichtig, die Phänomenologie der Zwangsstörung in den Kontext aktueller Befunde zum Belohnungssystem (reward system) des Gehirns zu stellen. Aus der Perspektive des Belohnungssystems sind alle wiederholt auftretenden Verhaltensweisen entweder durch Maximierung von Belohnung/Lustgewinn oder Vermeidung von Unlust/Bestrafung zu begründen. Die Bedeutung wesentlicher Strukturen des Belohnungssystems, insbesondere des ventralen Striatums für die Zwangsstörung (43) sowie die psychometrisch ausgeprägte Bestrafungssensitivität und Tendenz zur Risikovermeidung bei Patienten mit Zwangsstörung (11), Nervenheilkunde 9/2009 Downloaded from www.nervenheilkunde-online.de on 2017-06-03 | IP: 88.99.70.242 For personal or educational use only. No other uses without permission. All rights reserved. 625 626 B. Zurowski; F. Hohagen; A. Kordon: Zwangsstörung Abb. 1 Der physiologische Zustand kortiko-striato-thalamo-kortikaler (CSTC) Regelkreise (modif. nach 20). Rot dargestellt sind exzitatorische synaptische Verbindungen (vorwiegend glutamaterg), blau dargestellt sind inhibitorische synaptische Verbindungen (vorwiegend GABAerg). Die Darstellung ist stellvertretend für mehrere parallel angelegte Schleifenverbindungen. Diese sind somatotop organisiert, sodass spezifische kortikale Ausgangsregionen (z. B. lateraler orbitofrontaler Kortex) spezifische striatale Projektionsregionen (z. B. ventromedialer Ncl. caudatus) haben. Die direkte Schleife verläuft weiter über den Globus pallidus internus über eine thalamische Verschaltung wieder zurück zum Kortex. Es resultiert ein positives Feedback. Die indirekte Schleife beginnt ebenfalls mit einer Projektion vom Kortex zum Striatum, verläuft aber über den Globus pallidus externus („indirektes Basalganglien-Kontrollsystem“) zum Globus pallidus internus und schließlich von dort über den Thalamus wieder zum Kortex. Sie bewirkt durch Aktivierung des inhibierenden Globus pallidus internus ein negatives Feedback, sodass ein Gleichgewicht erregender und hemmender Einflüsse (gleiche Pfeildicke) hergestellt ist. legt eine Betrachtung der Störung im Kontext des Belohnungssystems nahe: Während bei Patienten mit einer Impulskontrollstörung die Symptomatik durch eine Präferenz für schnell verfügbare Belohnung bei hoher Risikobereitschaft (z. B. pathologisches Glücksspiel) gekennzeichnet ist, bevorzugen Patienten mit Zwangsstörungen schnell verfügbare, als sicher etablierte Strategien zur Vermeidung von Unwohlsein und zum Erreichen einer „gefühlten“ Risikoverminderung – etwa Zwangshandlungen. In beiden Fällen geschieht dies häufig zu Ungunsten langfristig belohnender Ziele und führt zu einer Aufrechterhaltung und Chronifizierung der Symptomatik. Nicht selten sind Zwangsstörungen und eine gestörte Impulskontrolle gleichzeitig vorhanden, z. B. bei Komorbidität mit hyperkinetischen Störungen. Klinisches Erscheinungsbild, genetische Asso- ziationen zwischen der Zwangsstörung, dem Gilles-de-la-Tourette-Syndrom (TS), den Ticstörungen, der Trichotillomanie (zwanghaftes Haare rausreißen) und Körperdysmorphobie sowie die übergreifende Beteiligung bestimmter neuroanatomischer Strukturen lassen die Suche nach gemeinsamen pathophysiologischen Korrelaten heuristisch sinnvoll erscheinen. Die genannten Erkrankungen werden auch als Zwangsspektrumserkrankungen (ZS) zusammengefasst. Noch existiert kein in sich geschlossenes und allgemein akzeptiertes pathophysiologisches Modell der ZS. Es liegt jedoch nahe von einer Beeinträchtigung der kortiko-striato-thalamokortikalen Regelschleife auszugehen, deren physiologischer Zustand in 씰Abbildung 1 stark schematisiert dargestellt ist. Zahlreiche neuropsychologische, klinisch-bildgebende, wie tierexperimentelle Befunde weisen auf ei- ne Dysfunktion des orbitofrontalen Kortex und des anterioren Zingulums bei Zwangserkrankungen hin, während bei Ticstörungen und TS dem sensomotorischen Kortex bzw. dem dorsolateralen Präfrontalcortex von einigen Autoren die analoge Rolle zugesprochen wird. Diese kortikalen Strukturen steuern jeweils spezialisierte striatale Kernbereiche an, die im dorsolateralen und ventromedialen Ncl. caudatus, Putamen und Ncl. accumbens liegen und mit dem Globus pallidus als Ausgangskern verbunden sind. Der Globus pallidus kommuniziert mit ventralen und medialen Thalamuskernen, die schließlich eine Rückprojektion zu den kortikalen Ausgangsstrukturen vermitteln. Ein solcher Regelkreis könnte die Evaluation der Stimuli und die Auswahl der Stimulusantwort aus dem Verhaltensrepertoire ebenso wie die Ausbildung von Routinehandlungen vermitteln. Eine Dysfunktion des Regelkreises (씰Abb. 2) könnte die Ausbildung inadäquater Stereotypien durch mangelnde Inhibition von Verhaltensprogrammen erklärbar machen. Ein favorisierter Mechanismus ist die Überstimulation kortikaler Zielregionen durch den Wegfall des inhibitorischen Einflusses striataler Strukturen auf den Thalamus (씰Abb. 2). So postulierten ursprünglich Alexander und Mitarbeiter (1), dass das Striatum über eine „direkte“ Regelschleife tonisch-inhibitorisch wirkt und damit letztlich den Einfluss des Thalamus auf kortikale Effektorsysteme verstärkt, womit instinktive, „fest verdrahtete“ motorische Programme aktiviert werden. Demgegenüber ermöglicht die Aktivierung der „indirekten“ Regelschleife über eine Unterdrückung der thalamo-kortikalen Projektionen situationsangepasstes und flexibles Antwortverhalten (씰Abb. 1). Zur Erklärung der Zwangssymptomatik wurde ein Ungleichgewicht zugunsten des direkten Regelkreises vorgeschlagen (3) (씰Abb. 2). Ungeachtet seiner Vorläufigkeit liegt ein Vorteil des aus neurologischen Basalganglienerkrankungen abgeleiteten Modells (20) darin, dass Störungen an unterschiedlichen Stationen eines Regelkreises eine ähnliche oder gar gleiche Symptomatik hervorbringen können. Hierfür gibt es auch experimentelle Nachweise: Die Läsionierung des orbitofrontalen Kortex oder des medialen Striatums bei Affen beeinträchtigt in gleicher Weise eine bei Zwangspatienten bekannte kritisch beein- Nervenheilkunde 9/2009 © Schattauer 2009 Downloaded from www.nervenheilkunde-online.de on 2017-06-03 | IP: 88.99.70.242 For personal or educational use only. No other uses without permission. All rights reserved. B. Zurowski; F. Hohagen; A. Kordon: Zwangsstörung trächtigte Leistung: das sogenannte „reversal learning“ (6, 7, 43). Schließlich können Zwangssymptome bei gesunden Personen sowohl durch traumatische Läsionen des orbitofrontalen Kortex (28) als auch der Basalganglien (35) auftreten. Mit einer solchen „Multiläsionierbarkeit“ könnte die anzunehmende ätiologische Heterogenität der Zwangsstörung erklärt werden. Zwangssymptome können bei gesunden Personen sowohl durch traumatische Läsionen des orbitofrontalen Kortex als auch der Basalganglien auftreten. Einen Ansatz zum Verständnis der klinischphänomenologischen Heterogenität der Erkrankung bietet eine vergleichsweise seltene Unterform der Zwangsstörung. So entsteht die Zwangssymptomatik bei der seltenen juvenilen autoimmunen Variante der ZS (PANDAS) durch antikörpervermittelte Entzündungsprozesse in den Basalganglien nach einer Streptokokkeninfektion. Es liegt vermutlich an der topologischen Anordnung der beschriebenen Regelkreise, dass durch solche Anti-Basalganglien-Antikörper isolierte motorische Tics oder eine Kombination aus Tics und Zwangssymptomen ausgelöst werden kann. Besondere Schwierigkeiten bereitet nach wie vor die Frage, welche Veränderungen die Primärpathophysiologie der Zwangsstörung konstituieren und welche Auffälligkeiten als kompensatorisch zu verstehen sind. Neurotransmittersysteme Die klinische Wirksamkeit von SerotoninWiederaufnahmehemmern (SRI) und Beobachtungen eines Wiederauftretens von Zwangssymptomen nach deren Ausschleichen oder nach Gabe des Serotoninantagonisten Metergolin deutet auf eine zumindest modulierende Beteiligung des serotonergen Systems. Interessanterweise verbessert sich die serotonerge Neurotransmission nach SRI-Gabe zunächst im lateralen Frontalkortex und verzögert im medialen Frontalkortex, was sich in der klinischen Beobachtung widerspiegeln könnte, dass die antidepressive Wirkung (ca. vier Wochen) der SRIs früher eintritt als die antiobsessionale (ca. acht Wochen). Letztere könnte durch die Herabregulierung von 5HT-1D-Autorezeptoren im or- Abb. 2 Zustand der kortiko-striato-thalamo-kortikalen Schleife bei der Zwangsstörung (modif. nach 20). Das Gleichgewicht zwischen dem inhibierenden Einfluss der indirekten Schleife und dem erregenden Einfluss der direkten Schleife auf die thalamo-kortikalen Projektionen ist zugunsten der direkten Schleife verschoben (Pfeildicke). Es überwiegen inhibierende Einflüsse auf das Pallidum internum, dessen hemmende Wirkung auf den (ventromedialen) Thalamus damit reduziert ist. Dies hat eine übermäßige Aktivität der thalamokortikalen Projektionen zur Folge (roter Pfeil rechts im Bild). Der repetitive Charakter von Zwangssymptomen könnte erklärbar sein durch Informationseinheiten (z. B. Zwangsbefürchtungen), die in einen „Selbstverstärkungskreislauf“ einer pathologisch überaktiven direkten Schleife geraten. Gleichzeitig ist der inhibierende Einfluss der indirekten Schleife reduziert. Durch einen solchen disinhibierten „Aufschaukelungsprozess“ innerhalb der direkten Schleife könnten die Anspannungsverläufe bei Patienten mit Zwangsstörungen erklärt werden: Die Anspannung steigt bis sie für den Patienten nur durch eine Zwangshandlung auf ein subjektiv erträgliches Maß vorübergehend reduziert werden kann. Dies könnte im Modell z. B. durch ein dopaminerges Signal vermittelt werden. Dieses würde zu einem vorübergehenden Ausgleich der Dysbalance führen, bis ein neuer Aufschaukelungsprozess innerhalb der direkten Schleife autochthon oder durch eine neue in den Kreislauf eingespeiste Information seinen Ausgang nimmt. bitofrontalen Kortex erfolgen (9). Überzeugende Belege für eine dominierende Rolle eines Serotoninmangels bei der Zwangsstörung fehlen jedoch weitgehend und die vorliegenden lassen zumeist die Frage nach der Berücksichtigung der häufig komorbiden Depression offen. Im Gegensatz zur Zwangsstörung sind bei Ticstörungen DopaminD2-Antagonisten am wirksamsten, obwohl die serotonerge Neurotransmission in den Basalganglien vermindert zu sein scheint. Interessanterweise profitiert ein Teil der Patienten mit ZS und Tics von Neuroleptika zusätzlich zur SRI-Gabe. Einer differenziellen Metaanalyse zufolge (4) finden sich bei der Zwangsstörung signifikante Augmentationseffekte für Haloperidol und Risperidon, nicht aber für Olanzapin und Quetiapin, zu denen inkonsistente Befunde vorliegen (15, 16). Eine naheliegende Erklärung für diesen Befund wäre die unterschiedliche Affinität der Substanzen zum Dopamin-D2-Rezeptor. Im Gegensatz zur Zwangsstörung sind bei Ticstörungen Dopamin-D2-Antagonisten am wirksamsten. Welche Rolle spielt nun Dopamin im kortikostriato-thalamo-kortikalen Regelkreis? Aus Ableitungen an striatalen Neuronen bei Affen weiß man, dass Dopaminentzug die Ausbildung regelhaften Antwortverhaltens auf konditionierende Stimuli verhindert. Umgekehrt fördert bei Ratten die Stimulierung der dopa- © Schattauer 2009 Nervenheilkunde 9/2009 Downloaded from www.nervenheilkunde-online.de on 2017-06-03 | IP: 88.99.70.242 For personal or educational use only. No other uses without permission. All rights reserved. 627 628 B. Zurowski; F. Hohagen; A. Kordon: Zwangsstörung minergen Neurotransmission stereotypes Verhalten, als dessen neuronales Korrelat eine erhöhte Aktivität des striosomalen Kompartments beobachtet wurde, einer Struktur des Striatums, die vorwiegend ins anteriore Zingulum und in den orbitofrontalen Kortex projiziert (5). Aufgrund der massiven glutamatergen Projektionen des ventralen Frontalkortex zum Ncl. caudatus und der Beobachtung eines ausgeprägten Abfalls der Glutamatkonzentration im Ncl. caudatus nach Ablation des Frontalkortex rückt dieser ubiquitäre exzitatorische Transmitter in den Fokus humaner neurochemischer Untersuchungen, namentlich mittels Magnetresonanzspektroskopie. Interessanterweise sind modulierende Effekte von Glutamat auf die Serotoninausschüttung bekannt (31). Seit Kurzem existiert darüber hinaus ein komorbides transgenes Mausmodell für TS und ZS, das eine Hyperaktivität kortikolimbischer glutamaterger Projektionsneurone zu striatalen Zielregionen aufweist (27). Schließlich gibt es vielversprechende Hinweise auf die Wirksamkeit antiglutamaterger Substanzen wie Riluzole oder D-Cycloserin bei Patienten mit Zwangsstörung (30). Die Substanz D-Cycloserin hat im Rahmen einer Verhaltenstherapie einen extinktionsbeschleunigenden Effekt bei Gabe unmittelbar vor einer Exposition in vivo gezeigt. Auch neue Befunde zur Wirkungsweise der Serotonin-Wiederaufnahmehemmer lassen eine Revision der klassischen Serotonindefizithypothese sinnvoll erscheinen (25, 39, 41, 42). Aspekte der Genese und Genetik Die Bedeutung genetischer Einflussfaktoren wird bereits aus der Beobachtung deutlich, dass bei der Zwangsstörung die Konkordanzrate von 22 bis 47% bei zweieiigen, auf 53 bis 87% bei eineiigen Zwillingen ansteigt. Einer Studie (29) zufolge ist die Lebenszeitprävalenz für Zwangsstörungen bei Verwandten ersten Grades 10,3 gegenüber 1,9% bei Kontrollpersonen. Diese Ergebnisse sind von anderen Arbeitsgruppen weitestgehend repliziert worden (13, 26). Subgruppenanalysen zeigen, dass insbesondere bei Patienten mit frühem Erkrankungsbeginn, Ordnungs- und Symmetriezwängen und komorbider Ticstörung genetische Faktoren eine große Rolle spielen. Dabei scheinen Ordnungs- und Symmetriezwänge bei Patienten mit TouretteSyndrom einem dominanten Erbgang zu folgen. Verwandte von Menschen mit hohen Ordnungs- und Symmetriescores haben eine hohe Wahrscheinlichkeit ebenfalls diese Symptome aufzuweisen (12). Die Bedeutung genetischer Einflussfaktoren wird bereits aus der Beobachtung deutlich, dass bei der Zwangsstörung die Konkordanzrate von 22 bis 47% bei zweieiigen, auf 53 bis 87% bei eineiigen Zwillingen ansteigt. Mittels fMRT während einer Planungsaufgabe (Tower-of-London-Task) wurde gezeigt, dass nicht nur bei Patienten mit Zwangsstörung, sondern deren gesunden eineiigen Zwillingsgeschwistern eine Minderaktivierung mehrerer für die Aufgaben wichtiger kortikaler Strukturen vorliegt (8). Diese wirkte sich bei Patienten deutlich stärker auf die Leistungen aus. Analoge neurofunktionelle Defizite von Patienten und Angehörigen während einer „reversal learning“ Aufgabe wurde beobachtet (6). Eine weitere Studie legt nahe, dass Defizite der Handlungsplanung und Handlungsunterdrückung einen „neurokognitiven Endophänotyp“ der Zwangsstörung konstituieren könnten (23). Defizite in der Handlungsunterdrückung waren in dieser Studie bei Patienten und Angehörigen mit dem Ausmaß der Volumenminderung der grauen Substanz im orbitofrontalen Kortex und Volumenzunahme im Striatum, im anterioren Zingulum und im Parietalkortex korreliert. Untersuchungen genetischer Polymorphismen und deren Rolle für die Ausprägung der Zwangsstörung zeigen Assoziationen für Genloci, die die Bedeutung aller drei erwähnten Neurotransmittersysteme unterstützen. Es sind jeweils mehrere relevante Polymorphismen von Genen gefunden worden, die für Serotonintransporter (SERT) und Dopaminrezeptoren (DRD2, DRD4) kodieren und für die Vulnerabilität bei der Zwangsstörung eine Rolle spielen könnten (24). Neuer und überzeugender sind analoge Befunde zu Genpolymorphismen, die das Gen für den neuronalen Glutamattransporter (SLC1A1) in der chromosomalen Region 9p24 betreffen (2, 19, 33, 34, 37). Darüber hinaus ist ein Genlocus auf dem Chromosom 19 identifiziert worden, der speziell für die Ausprägung des zwanghaften Hortens mitverantwortlich sein könnte. Eine aktuelle Studie mit 325 Patienten stützt die Befunde zur Bedeutung des Glutamattransporters auch hinsichtlich diesbezüglicher Polymorphismen, die eine Spezifität für das zwanghafte Horten zeigten (38). Zu genetischen Befunden bei der Zwangsstörung, speziell bezüglich ihrer einzelnen Symptomfaktoren (Phänotypen) liegt eine Übersicht von Experten verschiedener Arbeitsgruppen vor (24). Wie bei anderen Angststörungen liegt bei der Zwangsstörung häufig ein hohes Erregungsniveau und eine hohe Sensitivität für realistische ebenso wie für unrealistische Gefahren vor. Evolutionsbiologisch wäre die Persistenz subklinischer Ausprägungen von Kontrollverhalten, Reinigungsritualen und Horten zu erklären, wenn diese Eigenschaften ihren Trägern ein Reproduktionsvorteil gäben, vielleicht im Sinne balancierender Selektion besonders unter ungünstigen Umweltbedingungen wie Krankheitsepidemien und Nahrungsknappheit (10, 22). Wie bei anderen Angststörungen liegt bei der Zwangsstörung im Allgemeinen ein hohes Erregungsniveau und eine hohe Sensitivität für realistische ebenso wie für unrealistische Gefahren vor. Die meisten für die Zwangsstörung typischen Befürchtungen und die damit verbundenen Verhaltensweisen sind tatsächlich geeignet, in bestimmten Situationen reale Gefahren abzuwenden, z. B. durch ausgeprägtes Reinigungsverhalten bei unhygienischen Verhältnissen oder durch Horten in Zeiten von Nahrungsmangel (10, 22). In diesem Sinne ließe sich auch das vorübergehende und variabel ausgeprägte Kontrollverhalten gesunder Eltern gegenüber ihren Säuglingen verstehen (18, 21, 40). Dem potenziellen Nutzen eines ausgeprägten adaptiven Kontrollverhaltens für den Nachwuchs steht möglicherweise eine Zunahme des Erkrankungsrisikos gegenüber: In der Peripartalzeit wurden je nach Untersuchung immerhin beachtliche 11 bis 47% der Erstmanifestationen der Zwangsstörung bei Frauen beobachtet (18, 21, 40). Auch in der Pubertät, die wie die Peripartalzeit mit raschen physiologischen hormonellen und neurofunktionellen Veränderungen einhergeht, findet sich ein klarer Inzidenzgipfel bei der Zwangsstörung. Dabei gibt es Hinweise Nervenheilkunde 9/2009 © Schattauer 2009 Downloaded from www.nervenheilkunde-online.de on 2017-06-03 | IP: 88.99.70.242 For personal or educational use only. No other uses without permission. All rights reserved. B. Zurowski; F. Hohagen; A. Kordon: Zwangsstörung Fazit für die Praxis Ungeachtet einiger nicht einzuordnender Befunde zeigt sich bei der Zwangsstörung hinsichtlich der neuroanatomischen Lokalisation der betroffenen Hirnstrukturen eine überzeugende Konvergenz, die sich bei wenigen psychiatrischen Störungsbildern findet. Im Zentrum der gängigen pathophysiologischen Konzepte zur Zwangsstörung stehen kortio-striato-thalamo-kortikale Schleifen, und zwar speziell jene, die den orbitofrontalen und anterioren zingulären Kortex und die Amygdala mit einbeziehen. Offenbar können Läsionen an unterschiedlichen Stellen dieser Schaltkreise eine ähnliche Symptomatik hervorrufen. Andererseits lässt sich die Heterogenität der Störung mit einem unterschiedlichen Beeinträchtigungsgrad der genannten Regionen, mit unterschiedlicher Gewichtung der bei der Zwangsstörung beteiligten Neurotransmitter und -modulatoren erklären. In diese Richtung weisen auch einige Analysen genetischer Polymorphismen, die z. B. für das Horten und für Ordnungs- und Symmetriezwänge spezifische Vererbungsmodi identifiziert haben. Mit einer entsprechenden Verzögerung werden erste verhaltenstherapeutische Therapiekonzepte entwickelt, die sich speziell einem Subsyndrom der Zwangsstörung widmen (36). Ähnliche Entwicklungen sind hinsichtlich der Pharmakotherapie zu erwarten. Vor dem Hintergrund der neurobiologischen Befunde wird auf eine veränderte Sekretion von Östrogenen, Hormonen der hypothalamo-hypophysären Achse (CRH, ACTH, Cortisol) und Somatotropin. Einige Befunde, die eine Dysfunktion der hypothalamo-hypophysären Achse bei der Zwangsstörung nahelegen, finden eine epidemiologische Entsprechung in der hohen Inzidenz der Störung im Kontext herausfordernder oder belastender Lebensereignisse (14). Insgesamt sind die neuroendokrinologischen Korrelate der Zwangsstörung, auch in ihrer relativen Bedeutung, noch vergleichsweise wenig bekannt. Dennoch lässt z. B. die Beeinflussung zwangsähnlicher Verhaltensweisen durch Östradiol im Tierversuch diesen Bereich auch unter potenziell therapeutischen Gesichtspunkten interessant erscheinen, zumal die Wirksamkeit von Östradiol bei schizophrenen Patientinnen bereits gezeigt wurde (17). eine Neuklassifizierung der Zwangsstörung in künftigen Versionen gängiger Diagnosemanuale (DSM, ICD) intensiv diskutiert und vorbereitet. Hierbei könnte die kollektive Zugehörigkeit der Zwangsstörungen zu den Angststörungen fallen, zugunsten der Neuschaffung der Kategorie „Zwangsspektrumserkrankungen“, in der den phänomenologischen, neurobiologischen und genetischen Unterschieden z. B. zwischen Patienten mit Symmetriezwängen und Tics und denen mit Waschzwängen und komorbider Hypochondrie Rechnung getragen wird. Zu einer therapeutischen Haltung, die dem Patienten zum Experten seiner eigenen Erkrankung zu verhelfen sucht, gehört die Vermittlung eines neurobiologischen Konzeptes der Zwangsstörung. Dieses wird von der überwiegenden Mehrheit der Patienten nicht nur akzeptiert, es hat sich seit dem erfolgreichen Buch von Jeffrey Schwartz (32) als wertvolles psychotherapeutisches Vehikel etabliert. Die sorgfältig abgewogene Einbeziehung evolutionsbiologischer Aspekte in die psychoedukative Arbeit mit Patienten ist geeignet, verbreiteten alltagspsychologischen Konzepten von Schuld, Verursachung oder auch Abnormität zu begegnen, die nicht selten als nicht hinterfragte Überzeugungen das individuelle Krankheitskonzept der Patienten prägen und für den Therapieverlauf bedeutsam sind. Literatur 1. Alexander GE, Crutcher MD, DeLong MR. Basal ganglia-thalamocortical circuits: parallel substrates for motor, oculomotor, „prefrontal“ and limbic functions. Prog Brain Res 1990; 85: 119–46. 2. 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