Zwangserkrankungen Priv.-Doz. Dr. med. Katarina Stengler Klinik und Poliklinik für Psychiatrie und Psychotherapie Universitätsklinikum Leipzig, AöR (Direktor: Prof. Dr. med. Ulrich Hegerl) Historische Entwicklung 1838 Esquirol: erstmals Beschreibung von Zwangsphänomenen 1867 Krafft-Ebing: Zwangsvorstellungen „...die sich dem Kranken auf dem Boden einer depressiven Verstimmung mit Unwiderstehlichkeit aufdrängen..“ 1868 Griesinger: krankhafte Grübel- und Fragesucht 1877 Westphal: Zwangsvorstellungen „...solche, die bei ... intakter Intelligenz ...., gegen den Willen des betreffenden Menschen in den Vordergrund des Bewusstseins treten, sich nicht verscheuchen lassen, .....welche der Befallene als abnorm, ihm fremdartig anerkennt und denen er mit seinem gesunden Bewusstsein gegenübersteht...“ Historische Entwicklung 1894 Freud: analytisches Modell zur „Zwangsneurose“ 1903 Janet: Psychasthenie - Konzept der Zwangserkrankungen Unvollständigkeitsgefühl, relativer Verlust der Realitätsfunktionen, Erschöpfung 1912 Jaspers 1972 E. Bleuler: Ausführliche, z.T. bis heute gültige Beschreibungen der Psychopathologie bei Zwangsstörungen Operationalisierte Kriterien erstmals im DSM-III für „Obsessive-compulsive disorder (OCD) ICD 10/ DSM IV Abgrenzung Rituale, magisches Denken, zwangsähnliche Phänomene auch bei gesunden Menschen (Aufrechterhalten einer bestimmter Ordnung, bestimmte Reihenfolge von Handlungen, unbedingte Sauberkeit) Kindesalter: magische Geisteshaltung normal („nicht auf Spalten der Gehwegplatten treten....“, „Gute – Nacht Ritual..“) Psychopathologisch relevante Zwänge: Einengung im Denken, Fühlen, Handeln, sozialen Verhalten Konsequenzen: Sozialer Rückzug und Isolation, Behinderung Klassifizierung nach ICD 10 F 42 Zwangsstörung A. Entweder Zwangsgedanken (ZG) oder Zwangshandlungen (ZH) (oder beides) an den meisten Tagen über einen Zeitraum von mindestens zwei Wochen. B. Die Zwangsgedanken (Ideen oder Vorstellungen) und Zwangshandlungen zeigen sämtliche folgende Merkmale: 1. 2. 3. 4. Sie werden als eigene Gedanken/ Handlungen von den Betroffenen angesehen und nicht als von anderen Personen oder Einflüssen eingegeben Sie wiederholen sich dauernd und werden als unangenehm empfunden und mind. ein ZG oder eine ZH werden als übertrieben und unsinnig erkannt Die Betroffenen versuchen Widerstand zu leisten, gegen mind. einen ZG oder ZH ist dies aktuell erfolglos. Die Ausführung eines ZG oder einer ZH an sich ist nicht angenehm. Klassifizierung nach ICD 10 F 42 Zwangsstörung C. D. Die Betroffenen leiden unter den ZG und ZH oder werden in ihrer sozialen oder individuellen Leistungsfähigkeit behindert, meist durch den besonderen Zeitaufwand. Ausschlussvorbehalt: Die Störung ist nicht bedingt durch eine andere psychische Störung, wie F2 oder F3. F 42.0 vorwiegend Zwangsgedanken und Grübelzwang F 42.1 vorwiegend Zwangshandlungen (Rituale) F 42.2 Zwangsgedanken und -handlungen, gemischt F 42.8 sonstige Zwangsstörungen F 42.9 nicht näher bezeichnete Zwangsstörung Klassifizierung nach DSM IV Angststörungen 300.3 Zwangsstörung Kriterien A. – E. – Vergleiche ICD 10 Zusätzlich: Bestimme, ob: Mit wenig Einsicht: wenn die Person während der meisten Zeit der aktuellen Episode nicht erkennt, dass die Zwangsgedanken und Zwangshandlungen übertrieben oder unbegründet sind. Zwänge Zwangsgedanken - Eigene Unfähigkeit in moralischer Hinsicht; Aggression und Gewalt gegenüber sich und andere; Themen: Aggression, Sexualität, Blasphemie Zwangshandlungen - Kontroll-/ Ordnungszwänge - Befürchtung, durch eigenes Versagen Schaden für sich/ andere anzurichten – Kontrollieren und Ordnen - Kontaminations- und Reinigungszwänge - Sorge um Tod, Krankheit, Schmutz, ‚Widerliches‘ – Waschen, Reinigen - Zwanghafte Langsamkeit - Verharren in Handlungsabläufen, Herstellen des „richtigen“ Gefühls Zwangsspektrumstörungen Tourette-Syndrom Hypochondrie Dysmorphophobie Zwang Trichotillomanie Eßstörungen Unheilverhinderung Spannungsreduktion Psychologische Testverfahren Fragebögen Hamburger Zwangsinventar – Kurzform (HZI-K) Klepsch et al. 1993 • Maudsley Obsessive Compulsive Inventory (MOCI) Hodgson & Rachman 1976 • Leyton Obsessional Inventory (LOI) Cooper 1979 Interviews Yale-Brown Obsessive Compulsive Scale (Y-BOCS) Deutsche Fassung: Büttner-Westphal & Hand 1991 • Y-BOCS – Checkliste Differentialdiagnose Depression: anhaltendes Grübeln über unangenehme Umstände; stimmungskongruent z.B.: Gedanke, wertlos zu sein – nicht ich-dyston Wahnhafte Störung/ Schizophrenie: Abgrenzung/ Realitätstestung auf Kontinuum – DD: „wahnhafte Zwangsstörung“ – mit wenig Einsicht Hypochondrie: ausschließlich Furcht, ernsthaft erkrankt zu sein/ werden – keine zusätzlichen Rituale Spezifische Phobie: Sorge bezieht sich auf eine einzige Erkrankung, keine Rituale Zwanghafte Persönlichkeitsstörung: keine ZG/ ZH, sondern durchgängig Beschäftigtsein mit Ordentlichkeit, Perfektionismus und Kontrolle Komorbidität Affektive Störungen: 13% (Rasche-Räuchle, 1995) – 67% (Rasmussen, 1996) Angststörungen: 4% (Rasche-Räuchle, 1995) – 54% (Crino, 1996) Schizophrenie: 12% (Karno, 1998) Persönlichkeitsstörungen: 15% – 56% (Mavissakalian, 1990) – [v.a. vermeidend und dependent sowie Borderline und histrionisch] (Ecker, 1994) Epidemiologie Lebenszeitprävalenz: 2% - 2,5% Erkrankungsalter: zwei Gipfel – juvenile Zwangsstörung vor dem (17.) 18. Lebensjahr adulte Zwangsstörung ca. 20.- 25. Lebensjahr nach dem 25.Lebensjahr erkranken nur noch 10-15% der Patienten Erkrankungsdauer bei Therapiebeginn: 7-10 (15) Jahre Erkrankungshäufigkeit für Männer und Frauen etwa gleich (keine signifikanten Unterschiede) keine kulturellen Unterschiede Ätiopathogenese Psychologisch Neuropsychologie Psychosozial Neuroanatomie Genetik Neurophysiologie Biologisch Neuroimmunologie Neurochemie Multifaktorielles ätiopathogenetisches Modell Ätiologie und Pathogenese (wichtige) Neurobiologische Erklärungsmodelle 1. Neuroanatomisches Modell: - Dysfunktionalität des orbito-frontal-subkortikalen Schaltkreises (Orbitofrontaler Kortex, Nucleus caudatus, Globus pallidus, Thalamus) neuronale Überaktivität im frontoorbitalen Kortex und verringerte modulatorische Aktivität in den Basalganglien [Zald & Kim 1996; Saxena et al. 1998] 2. Neurochemisches - Modell (Serotoninmangel – Hypothese) therapeutische Wirksamkeit von SerotoninWiederaufnahmehemmer (SSRI) [Pigott 1999] 123-I--CIT-SPECT/PET: Serotonin-Transporter-Studien [Stengler et al. 2004, 2006] Ätiologie und Pathogenese Weiter neurobiologische Modelle 3. Beziehung zu neurologischen Erkrankungen (Schädigung der Basalganglien) - - von Economo (1931) Zwangssymptomatik und extrapyramidalmotorische Bewegungsstörungen (ParkinsonSyndrom) als Folge einer Encephalitis lethargica Assoziation von Zwangsphänomenen mit Chorea Huntington oder mit dem Gilles-de-la-Tourette-Syndrom Komorbidität zu Ticstörungen (Roessner et al., 2005) neurological soft signs and therapy response (Hollander et al., 2005) 4. Neuroimmunologie - PANDAS (pediatric autoimmune neuropsychiatric disorders) Patienten mit Tics/ OCD und Assoziation mit Streptokokkeninfektionen (Leonard & Swedo, 2001) Ätiologie und Pathogenese Weiter neurobiologische Modelle 5. Genetik (Grados et al., Brain & Development; 2003) - Familienstudien: - - „Hopkins-OCD-Family-Study“ (Nestadt et al., Arch Gen Psychiatry; 2000) Prävalenz unter Angehörigen 1. Grades 11,7% vs Kontrollen 2,7% - Korrelation zu frühem Krankheitsbeginn (< 18 Jahre) Zwillingsstudien: - - - zwischen 63% (Rasmussen et al., 1984) und 87% (Carey & Gottesman, 1981) Konkordanzraten für Zwangssymptome bei monozygoten Zwillingen moderate Vererbbarkeit bis 30%; Jonnal et al., 2000 Segregationsanalysen, Linkage und Assoziationsstudien: - Polygenmodell - ?genetisch determinierter Subtyp Verschiedene Kandidatengene (Hemmings et al., 2003, Grados et al., 2003) Funktioneller Polymorphismus in der Promoterregion des SERT (Flattem & Blakely, 2000) Ätiologie und Pathogenese Neurobiologische Erklärungsmodelle Ätiologie und Pathogenese Psychologische Erklärungsmodelle 1. Lerntheorien: kognitiv-behaviorale Modelle (z.B. Salkovskis, 1996) interne Bewertungsprozesse („1.a“: Psychasthenie-Konzept Janet) 2. - - Psychoanalytische Ansätze triebdynamische Beschreibung nach Freud (1908) entwicklungsdynamischer Zusammenhang zwischen Zwangserkrankung und spezifischen sexuellen und aggressiven Trieberfahrungen in der analen Phase neuere Modelle nach Benedetti 1993; Joraschky 1996 Psychasthenie - Konzept 1903 Pierre Janet Unvollständigkeitsgefühl – Gefühl, die seelischen Aktivitäten seien „unvollständig“, etwas ist „nie ganz vollendet“ – Betrifft Defizite der Aufmerksamkeit, Entscheidung und Entschluss, Handlung, Gedächtnisanteile Relativer Verlust der Realitätsfunktionen – Als Konsequenz des Unvollständigkeitsgefühls – „Wirklichkeitsverlust“ (Derealisations- und Depersonalisationserleben) Erschöpfung – „nervöse Erschöpfung“: rasche Ermüdbarkeit, Energiemangel Kognitive-behaviorales Modell Hintergrund: - normaler Gedankenablauf enthält unangenehme, aggressive, unmoralische ....Gedanken, Impulse, Vorstellungen - bei Zwangserkrankten: v.a. strenge, starre Überzeugungen („belief systems“) in der individuellen Lerngeschichte unangenehme, „gefährlichen“ Gedanken mittels Bewertung und Selektion herausgefiltert als mit dem eigenen belief-system inkompatibel empfunden Themen: Schuld, Verantwortlichkeit, Unsicherheit, Zweifel, Annahme eines negativen Ausgangs (Bsp.: negativ denken, heißt, negatives tun...) Psychologisch: „Zwangsspirale“ Kognitives Modell der Zwangserkrankung (nach Salkovskis 1996) Bedeutung/ Bewertung schlimm, furchtbar... katastrophal, Aufdringlicher Gedanke Meine Hände sind nicht richtig sauber ... Gefühle Schwitzen, Unruhe, Wut, Verzweiflung Neutralisieren Intensives Waschen der Hände... Psychosoziale Bedingungen Regeln, Normen, Grundannahmen „Wenn ich besonders gut, ordentlich und sauber bin, werde ich geliebt…“ „Nur leistungsstarke Menschen finden Anerkennung…, du musst einfach einen starken Willen haben!“ Sicherheit, Tabuisierungen „Im Grunde genommen ist die Welt gefährlich, risikohaft,… unüberschaubar…“ „Über Sexualität soll man öffentlich nicht sprechen, weil sie immer auch etwas verbotenes, etwas schmutziges hat…“ Annahmen bei Zwangsstörungen (Salkovskis 1985) 1. Das Denken an eine Handlung ist im Grunde dasselbe, wie ihre Durchführung. 2. Schaden für sich oder für andere nicht zu verhindern (oder nicht zu versuchen zu verhindern), ist moralisch dasselbe, wie die schädlichen Folgen zu verursachen. 3. Die Verantwortung für die schädlichen Folgen kann durch keine mildernden Umstände reduziert werden. 4. Wenn man an schlimme Dinge denkt und die dann notwendigen Rituale unterlässt, ist das dasselbe, wie wenn man die schlimmen Dinge geschehen lassen will. 5. Man sollte (müsste) seine Gedanken kontrollieren. Therapie der Zwangserkrankung Mittel der ersten Wahl: (kognitive) Verhaltenstherapie [Kozak & Foa 2001] *1 Kombination mit Pharmakotherapie [Hohagen et al. 1998] *1 SSRI SSRI und atypische Neuroleptika Ergänzende therapeutische Maßnahmen Soziales Kompetenztraining, Entspannungsverfahren Soziotherapie Angehörigenarbeit [Van Noppen et al. 1997; Stengler-Wenzke & Angermeyer 2002] *1 Evidenzbestätigung durch S3-Leitliniengruppe der DGPPN (11/09) Verhaltenstherapie • Kognitives Modell als theoretische Grundlage • Stärkung bzw. Aufbau sozialer Kompetenzen entsprechend individueller Problembereiche • Verhaltensbeobachtung – Situationsanalyse • Funktionalitäten der Zwänge • Expositionsübungen: in der Vorstellung und real, mit und ohne Therapeut • Einbeziehung der Angehörigen • Psychoedukation • Langfristige Perspektive: Selbsthilfe Pharmakotherapie 1. Selektive Serotonin-Wiederaufnahme- Hemmer (SSRI) Serotoninmangel-Hypothese: Fluoxetin, (Es-)Citalopram, Fluvoxamin, Paroxetin, Sertralin 2. Atypische Neuroleptika Störungen im dopaminergen System: insbesondere bei Zwangsgedanken bzw. bei Therapieresistenz: Kombination SSRI mit z.B.: Olanzapin, Risperidon etc. Schwieriger Verlauf Hohe Komorbidität mit Angsterkrankungen, affektiven und Persönlichkeitsstörungen (Nestadt et al., 2003; Angst et al., 2004) sowie mit Zwangsspektrumstörungen (z.B. Tic-Störungen, Trichotillomanie, Hollander & Zohar, 2004) unter den zehn Erkrankungen, die mit größten psychosozialen Behinderungen einhergehen (Lopez & Murray, 1998) frühzeitig somatische (Fineberg et al., 2003) und sozialmedizinisch relevante (Greist et al., 2003) Folgeschäden geringes Maß an subjektiver Lebensqualität von Zwangserkrankten und ihrer Angehörigen (Stengler et al., 2006, 2007) Verlauf und Prognose Schleichender Beginn Langzeitperspektive: etwa 50% (75%) bedeutsame Teilremission Prognostisch wichtig: Erkrankungsbeginn, Komorbidität 5-10% chronische Progredienz der Erkrankung 20-25% Therapieresistenz (Psycho-, Pharmakotherapie)