Zusammenfassungen Stefan Berger, Wege und Irrwege des demokratischen Sozialismus. Das Verhältnis von Labour Party und SPD zum Kapitalismus im 19. und 20. Jahrhundert Die britische Labour Party und die deutsche Sozialdemokratie gehören zu denjenigen sozialdemokratischen Parteien, die für die programmatische Orientierung der internationalen Sozialdemokratie in ihrer nun bald 150-jährigen Geschichte sicher Erhebliches geleistet haben. In einem Überblick zu den Wegen und Irrwegen beider Parteien vom 19. Jahrhundert bis zur Gegenwart gehe ich vergleichend der Frage nach, welche programmatischen Wege Labour Party und SPD jeweils zum demokratischen Sozialismus nahmen und welche Rolle sie dabei für die internationale Sozialdemokratie spielten. Dabei konzentriere ich mich auf die Spannungen, die aus zwei Grundelementen sozialistischer Programmatik resultierten: der programmatischen Ambition der Überwindung des Kapitalismus und der programmatischen Ambition der Demokratisierung von Politik und anderen Lebensbereichen. Diese Spannungen sind ein Grundphänomen der Geschichte der Sozialdemokratie im 19. und 20. Jahrhundert. Bernard Degen, Die Sozialdemokratie im Wahlsystem der Schweiz Die schweizerische Sozialdemokratie konnte sich nicht als Vorkämpferin der Demokratie profilieren. Diese Stellung hatte bereits vor der Gründung der politischen Arbeiterorganisationen eine bürgerlich-kleinbürgerliche Demokratiebewegung besetzt. Die Mängel des 1848 auf nationaler Ebene durchgesetzten allgemeinen, gleichen und direkten Wahlrechts beruhten zu einem großen Teil auf lokalen und regionalen Interessenkonstellationen und eigneten sich kaum als Basis für eine allgemeine Agitation. Das Mehrheitswahlrecht bot Arbeiterorganisationen schlechte Erfolgsaussichten und verwies sie immer wieder in die undankbare Rolle des Juniorpartners linksbürgerlicher Kräfte. Damit fehlte für den Aufbau einer autonomen Partei lange eine Perspektive. Hinzu kam, dass in der politisch stark segmentierten Schweiz im 19. Jahrhundert vielerorts die kritische Masse für eine nachhaltige Organisation fehlte. Zusammen mit anderen Minderheiten konnte die Sozialdemokratie nach zwei gescheiterten Anläufen gegen Ende des Ersten Weltkriegs das Verhältniswahlrecht durchsetzen. In diesem neuen System stieg zwar ihre Sitzzahl im Nationalrat; der Wähleranteil blieb aber immer unter 30%. Bernd Faulenbach, Zur Bedeutung der Umwälzung 1989/90 für die deutsche Sozialdemokratie im europäischen Kontext Bislang laufen die wissenschaftlichen Diskurse über den »Strukturbruch« westeuropäischer Gesellschaften während der 1980er und 1990er Jahre auf der einen Seite und über die finale Krise Sowjetkommunismus, die Umwälzung in Osteuropa 1989/90 und ihre Folgen auf der anderen Seite fast unverbunden nebeneinander. Der Beitrag behandelt den Umgang mit beiden Komplexen durch die zeitgenössische Sozialdemokratie. Diese stemmte sich in den 1980er Jahren gegen den Neoliberalismus, griff jedoch Impulse der Alternativbewegungen auf. Ihre erfolgreiche Ostpolitik versuchte sie weiterzuführen, hatte aber Mühe, Dissidenz und Oppositionsbewegungen in Ostmitteleuropa in ihr Politikmodell zu integrieren. Auf diesem Hintergrund überrascht es nicht, dass die Sozialdemokratie auf die Umwälzung 1989/90 uneinheitlich reagierte. Nur ein Teil, darunter Willy Brandt und andere ältere Sozialdemokraten sowie die neugegründete Sozialdemokratie in der DDR versuchten, die veränderten Handlungschancen offensiv zu nutzen. Doch es gelang beiden nicht, dem Umbruch einen sozialdemokratischen Stempel aufzudrücken. Die Gleichzeitigkeit sehr verschiedener Anforderungen hat während der 1980er und 1990er Jahre zu einer partiellen Überforderung der Sozialdemokratie und ihres Politikbegriffs geführt. Joris Gijsenbergh, Die Semantik des Begriffs »Demokratie« bei Sozialdemokratischen Parteien. Die Niederlande, Deutschland und Schweden, 1917–1939 Der Aufsatz untersucht wie Sozialdemokraten in den Niederlanden, Deutschland und Schweden in der Zwischenkriegszeit den Begriff der »Demokratie« verstanden und benutzten. Der Fokus liegt dabei auf der niederländischen SDAP und ihres Blicks auf die Schwesterparteien, während das Beispiel der SPD und der schwedischen SAP zum Vergleich herangezogen wird. Untersucht wird, wie die Parteien »Demokratie« und verwandte Ausdrücke benutzten, wann und warum sie verschiedene Konnotationen des Begriffs betonten und wie sie dieses Vokabular einsetzten, um ihre politischen Ziele durchzusetzen. Darin unterscheidet sich dieser Aufsatz von Arbeiten, welche in erster Linie den Grad der Befürwortung parlamentarischer Politik durch Sozialdemokraten untersuchen. Befürworter von Revolution und Reform in der Sozialdemokratie benutzten nicht nur unterschiedliche Formen des Sprechens über die demokratische Staatsform und eine demokratische Gesellschaft, sie sprachen auch über Demokratie als eine Lebensform. In diesen Debatten bezogen sich Sozialdemokraten auf ganz unterschiedliche Typen von Demokratie. Eine Untersuchung ihrer internen Debatten über Demokratie zeigt, dass es dabei um mehr ging als nur um eine Entscheidung für oder gegen die Benutzung parlamentarischer Institutionen zum Machterwerb. Susanne Götze, Die »Parti socialiste unifié« (PSU) in den 1960er Jahren. Eine sozialistische Neukonzeption jenseits von SFIO und PCF als ›Dritter Weg‹ im Kalten Krieg Von linksradikalen Ansätzen bis zu revisionistischen Konzepten: Die französische »Parti socialiste unifié« (PSU) war eine Partei zwischen den Stühlen. Deren heterogene Mitgliedschaft wagte nach dem Ende der IV. Republik 1958 ein ganz neues linkes Projekt unter dem Vorzeichen der Krise von traditionell linken Parteien wie der SFIO und der PCF. Enttäuschte Kommunisten, Trotzkisten, Sozialisten, Rätekommunisten und Mendesisten versuchten sich ab 1960 an einer neuen Sozialismusdefinition, die die Fehler der traditionellen Linken ausräumen sollte. Die PSU-Mitglieder formierten somit ein intellektuelles »Laboratorium« im Vorfeld der Mairevolte von 1968. Bei allen inneren Auseinandersetzungen – wodurch die Partei politisch 30 Jahre erfolglos blieb – stellten die Mitglieder der PSU sich geschlossen gegen Kolonialismus, Zentralismus, Autoritarismus und Kapitalismus. Die PSU konnte sich weder mit dem westlichen Modell eines kapitalistischen Wohlfahrtsstaats noch mit dem sowjetischen »Realsozialismus« anfreunden. Sie versuchte mit ihren Positionen, ein modernes sozialistisches Denken als eine Art »Dritten Weg« im Europa des Kalten Kriegs zu etablieren. Joachim C. Häberlen, Kameradschaft mit dem Messer? Zum Zerfall des linksproletarischen Milieus in Leipzig am Ende der Weimarer Republik Der Aufsatz untersucht am Beispiel Leipzigs, wie das »links-proletarische« Milieu am Ende der Weimarer Republik erodierte. Dabei nimmt er soziale Praktiken an der Basis der Arbeiterbewegung in den Blick. Anhand dreier Themenbereiche entwickelt der Aufsatz Thesen darüber, wie sich der Zerfall des Milieus erklären lässt. Erstens diskutiert der Aufsatz politische Gewalt, insbesondere zwischen Sozialdemokraten und Kommunisten, zweitens die Auswirkungen der umstrittenen Parteipolitisierung des Milieus, sowie drittens die Rolle von Vertrauen und Misstrauen in den Beziehungen der beiden Parteien der Arbeiterbewegung. Dabei zeigt sich insbesondere, welch unterschiedliche Vorstellungen politischer Praxis und damit politischer Partizipation aufseiten von SPD und KPD bestanden, was eine Zusammenarbeit der Parteien gegen die Nationalsozialisten massiv erschwerte. Lutz Häfner, »Genossen«? Sozialismuskonzeption und politische Praxis der Partei der Sozialrevolutionäre Russlands und ihr Verhältnis zur SPD 1902–1914 Die »Partei der Sozialrevolutionäre« (PSR) verfolgte eine von der europäischen Sozialdemokratie abweichende Sozialismuskonzeption. Sie war weder eine Avantgardeorganisation von Berufsrevolutionären noch eine proletarische Massenpartei. Sie nahm für sich in Anspruch, eine Partei aller Werktätigen zu sein: Arbeiter, Bauern und Intelligenzija. Dass die PSR in hohem Maße die Bauern ansprach, war mehreren Gründen geschuldet: dem geringeren Industrialisierungsgrad sowie der Sozialstruktur des agrarisch geprägten Zarenreichs. Aber auch die Kenntnis der innerhalb der SPD Mitte der 1890er Jahre heftig umstrittenen Agrarfrage, die die Bauern der Partei eher entfremdete, dürfte die PSR beeinflusst haben. Charakteristika des PSR-Programms waren Antikapitalismus, die Sozialisierung des Bodens und der Terrorismus als ein wichtiges Mittel der politischen Auseinandersetzung mit der Autokratie. Bis zur Revolution von 1905 kannte das Zarenreich keine funktionierende Öffentlichkeit: weder ein Versammlungsrecht noch ein Parlament oder eine Presse, deren Freiheit die Zensur nicht beschnitt. Die »Propaganda der Tat« gegen hochrangige Repräsentanten des Staats fand gerade in der internationalen Öffentlichkeit, auch in der SPD, in den Jahren 1902 bis 1905 breites Verständnis, weil die Autokratie als Tyrannei galt. Harm Kaal, Die Konstruktion einer sozialistischen Wählerschaft. Die sozialdemokratische Sprache des Politischen in den Niederlanden von 1890 bis 1950. Der Beitrag untersucht die Sprache des Politischen der niederländischen »SociaalDemocratische Arbeiderspartij« (SDAP) in den Wahlkämpfen zwischen 1894 und 1948. Er hinterfragt, inwieweit die SDAP, einer vorherrschenden Auffassung zufolge, tatsächlich als die politische Vertreterin der Arbeiterklasse verstanden werden kann. Denn lange bevor die »Volkspartei« zu einem Kernbegriff der Wahlkampfpolitik wurde, versuchten die Sozialdemokraten ihre Zielgruppe auszuweiten und sprachen dazu spezifische Berufsgruppen außerhalb der Arbeiterklasse wie Bauern, Ladenbesitzer und Gemüsegärtner an. Die SDAP verwendete darüber hinaus schon zu einem frühen Zeitpunkt einen religiösen Diskurs, um die traditionelle Wählerschaft der konfessionellen Parteien zu gewinnen. Ende der 1930er Jahre reformulierte die Partei ihren politischen Diskurs. Das Ziel der Schaffung einer Volkspartei mit breiter Basis wurde von nun an durch eine auf die Praxis bezogene, vorwiegend nicht-religiöse und nicht-marxistische, aber dennoch antikapitalistische Sprache des Politischen unterstützt, welche die sozialökonomische Agenda der Partei in den Vordergrund stellte. Diese blieb bis in die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg dominant. Philipp Kufferath, Netzwerke als strategische Allianzen und latente Ressource. Etablierungsversuche der linken Opposition im SPD-Milieu nach 1945 Die linke Opposition im SPD-Milieu etablierte sich zwischen 1945 und 1960 am Rande der Partei über persönliche Kontakte und informelle Netzwerke. Eine wichtige Rolle spielten die gewachsenen Verbindungen der Widerstands- und Exilgeneration. Vertrauliche und auf persönlichen Freundschaften beruhende Zirkel wurden zeitlich begrenzt als strategische Allianzen genutzt, um hinter den Kulissen Einfluss auf Entscheidungen von SPD und Gewerkschaften zu nehmen. Andere Kontakte dienten einzelnen Akteuren als latente Ressource, die situativ für politische oder persönliche Anliegen aktiviert werden konnte. Zwischen den Generationen ergaben sich sowohl Lernprozesse als auch habituelle und politische Spannungen. Der zentralistische Parteiaufbau und die politische Kultur des Kalten Kriegs untergruben eine demokratische Streitkultur und erschwerten die Zusammenarbeit zwischen den theoretisch und politisch profilierten Einzelpersonen, Kreisen und Zeitschriften. Der Umgang mit dem Kommunismus und das Spannungsverhältnis von Parteiloyalität und eigenen Überzeugungen stellten die linkssozialistischen Netzwerke vor besondere Herausforderungen, die strategisch unterschiedlich angegangen wurden. Wim van Meurs, Demokratie oder Sozialismus? Bauernparteien in Südosteuropa um die Jahrhundertwende als Träger der Demokratisierung. Eine Skizze In der Zwischenkriegszeit kannte sowohl Rumänien als auch Bulgarien eine mitgliederstarke Bauernpartei. Bei der Umsetzung sozialwirtschaftlicher Reformen zugunsten der Landbevölkerung entschied sich die rumänische Bauernpartei für den parlamentarischen Weg, ihr bulgarisches Pendant dagegen für eine autoritäre Radikalisierung. Dies geschah obwohl die ökonomische Subsistenz der Bauern in Rumänien problematischer war, die Ausweitung des Wahlrechts seit dem späten neunzehnten Jahrhundert in beiden Ländern ähnlich verlaufen war und russisches agrarpopulistisches Gedankengut in Rumänien wie in Bulgarien vorhanden war. In diesem Aufsatz wird argumentiert, dass weder Ideengeschichte noch Agrarverfassung und Wirtschaftslage diese divergierenden Entwicklungen erklären können. Schlüsselfaktoren waren stattdessen die gegensätzlichen Folgewirkungen des Ersten Weltkriegs und die Konfliktlinien der nationalen Parteipolitik: Rumänien war als Sieger aus dem Krieg hervorgegangen, vollendete damit die Nationalstaatsbildung, und die Liberalen waren die politischen Hauptgegner der Bauernpartei. Bulgarien hatte sich mit Gebietsverlusten und Kriegsentschädigungen abfinden müssen, und die politische Auseinandersetzung fand zwischen Bauernbewegung und Kommunisten statt. Thomas Oellermann, Die deutsche Sozialdemokratie in der Ersten Tschechoslowakischen Republik. Die Arbeiterbewegung einer Minderheit Die deutsche Sozialdemokratie in den böhmischen Ländern und in der Tschechoslowakischen Republik war eine bedeutende politische Kraft. Sie stellte sich nach 1918 zuerst gegen den entstandenen Staat von Tschechen und Slowaken, war dann aber grundsätzlich zu einer Mitarbeit in diesem bereit. Seit 1929 war sie an der Regierung beteiligt. Auch unter dem Eindruck der nach 1933 aufkommenden Sudetendeutschen Partei bekannte sich die deutsche Sozialdemokratie bis 1938 zur Tschechoslowakischen Republik und zur Demokratie. Die Historiografie hat sich bislang fast ausschließlich mit dem Verhältnis der Sozialdemokratie als Partei einer nationalen Minderheit zum Staat der Mehrheitsnationen beschäftigt. Hierbei fand die Tatsache, dass es sich bei der deutschen Sozialdemokratie in den böhmischen Ländern um eine klassische Arbeiterbewegung mit zahlreichen Organisationen und Verbänden handelte, kaum Berücksichtigung. Der vorliegende Beitrag bietet anhand unterschiedlicher Aspekte eine Innenansicht auf diese Bewegung. Die Debatte um die Integration der Frauen zeigt, wie sich der formulierte Anspruch einer Emanzipation in der Realität darstellte. Die misslungene Integration der Fußballer wiederum unterstreicht, wie schwer sich diese Arbeiterbewegung tat, neue kulturelle Formen der Arbeiterbewegung anzunehmen. Dies gilt auch für die hier behandelten Bemühungen der Arbeiterabstinenzler. Fernab von der Frage, wie sich die deutsche Sozialdemokratie als politische Kraft einer nationalen Minderheit gegenüber dem tschechoslowakischen Staat positionierte, zeigt das Beispiel des Genter Systems, dass es auch andere Ebenen gab, auf denen sich diese schwierige Beziehung abspielte. Mike Schmeitzner, Ambivalenzen des Fortschritts. Zur Faszination der proletarischen Diktatur in der demokratischen Revolution 1918–1920 Deutschlands Niederlage im Ersten Weltkrieg mündete Ende 1918 in einer revolutionären Umgestaltung, deren Träger USPD und MSPD zuerst gleichermaßen waren: Die von ihnen verfochtenen Ziele einer Demokratisierung und Sozialisierung (von Schlüsselindustrien) ließen sich jedoch infolge der Ergebnisse der Wahlen zur Nationalversammlung nicht ohne Weiteres realisieren. Während die MSPD mit den demokratischen Kräften des Bürgertums eine Koalition einging und daher in wirtschaftspolitischer Hinsicht entscheidende Abstriche machen musste, radikalisierten sich immer größere Teile der USPD in der Opposition. Die Enttäuschung über den Ausgang der Wahlen und die überharte Militärpolitik der Regierung im Inneren ließ Vorstellungen über eine reine Diktatur des Proletariats, wie sie bereits Marx und Engels umrisshaft beschrieben und die Bolschewiki in Russland propagiert hatten, schnell an Boden gewinnen – sogar in manchen Hochburgen der MSPD. Über die »Innenausstattung« einer derartigen Diktatur gingen allerdings die Meinungen weit auseinander. Der Faszination einer solchen »proletarischen Demokratie« tat dies keinen Abbruch, wie die Reichstagswahlen von 1920 zeigten: Fast die Hälfte der organisierten (sozialistischen) Arbeiterschaft stimmte für diese reine Arbeiterherrschaft, nur noch die andere Hälfte optierte für die parlamentarische Demokratie. Jürgen Schmidt, Zivilgesellschaft, sozioökonomische Spannungslinien und sozialmoralisches Milieu. Arbeiterbewegung und Arbeiterparteien in Deutschland von 1860 bis 1914 Um den vielfältigen Zugängen zur Geschichte der deutschen Sozialdemokratie im 19. Jahrhundert sowie der komplexen Ausbildung eines sozialmoralischen Milieus im 19. Jahrhundert gerecht zu werden, sondiert dieser Beitrag Strukturen, Verhalten, Werte, Kultur und Mitgliedschaft der sozialdemokratischen Arbeiterbewegung auf zwei unterschiedlichen Ebenen. Der erste Teil analysiert die frühe sozialistische/sozialdemokratische Arbeiterbewegung (bis in die 1870er Jahre) aus einer zivilgesellschaftlichen Perspektive. Ein Akteur wird vorgestellt, der sich durch bürgerschaftlichpolitisches Engagement auszeichnete und zur Partizipation und Teilhabe ausgegrenzter Gesellschaftsgruppen beitrug. Im zweiten Teil wird das sozialdemokratische Milieu in einer lokalen Fallstudie für die Zeit nach 1890 dargestellt. Dabei wird das Mit- und Gegeneinander der beiden zentralen Akteure des Milieus, der Gewerkschafts- und der Parteibewegung, in die Interpretation und Analyse einbezogen. Dabei werden auch sozioökonomische Spannungslinien berücksichtigt. Der Beitrag stellt die Fragen: Welchen Ort in der Gesellschaft nahm die sozialistische Arbeiterbewegung in Deutschland im 19. Jahrhundert ein? Wie entwickelte das Milieu jene Stabilität, die bis in die unmittelbare Vorkriegszeit des Ersten Weltkriegs hielt? Jens Späth, Was heißt Antifaschismus nach 1945? Das Beispiel der italienischen Sozialisten in westeuropäischer Perspektive. In einer ersten Annäherung lässt sich Antifaschismus als ein leitendes Paradigma begreifen, über das sich Sozialisten definierten. Zudem bildete er ein Handlungsmuster für eine Demokratisierungsbewegung in inter- und transnationaler Perspektive. Um diese Hypothesen zu überprüfen, sollen exemplarisch für Westeuropa italienische Sozialisten in der Zeit zwischen 1945 und 1963 untersucht werden. Der »Partito Socialista Italiano« ist deshalb besonders interessant, weil er als einzige westeuropäische sozialistische Partei auch nach Ausbruch des Kalten Kriegs die Einheitsfront mit den Kommunisten aufrecht erhielt. Um Brüche und Kontinuitäten in Diskurs und Handeln aufzuzeigen, werden zunächst die Erfahrungen ausgewählter Sozialisten vor 1945 rekapituliert. Anschließend fragt die Studie danach, was nach dem Zweiten Weltkrieg geschah, als eine neue Definition des Antifaschismus erforderlich wurde und Momente der Erinnerung ein immer größeres Gewicht in der italienischen politischen Kultur einnahmen. Zuletzt werden die italienischen Befunde in einem kurzen Vergleich mit deutschen und französischen Sozialisten in einen westeuropäischen Rahmen eingeordnet. Christoph Stamm, Zur politischen Lage 1932. Unbekannte Aufzeichnungen über zwei Sitzungen des Parteiausschusses der SPD Die beiden Dokumente enthalten Berichte über Sitzungen des Parteiausschusses der SPD vom 4.5. und 20.9.1932 in Berlin, die der Forschung bisher nicht bekannt gewesen sind. Der Parteiausschuss bildete die Schnittstelle zwischen der zentralen Parteiführung und der Parteiorganisation in den Regionen und sollte die Integration der Parteiflügel fördern. Die Dokumente behandeln die damals für die SPD beherrschenden Probleme: Maßnahmen gegen Massenarbeitslosigkeit, die Tolerierungspolitik gegenüber dem Kabinett Brüning, das Verhalten gegenüber der Regierung Papen, die Frage der Reaktion auf die Absetzung der preußischen Regierung, der Umgang mit der KPD und die Bekämpfung des aufsteigenden Nationalsozialismus. Wegen der Herkunft der Dokumente aus der Frauenarbeit der Partei wird auch dieser Bereich beleuchtet. Die Dokumente enthalten in namentlich zugeschriebenen Diskussionsbeiträgen Einzelheiten aus der Debatte innerhalb der SPD, die das bisherige Bild ergänzen, und sie machen die bedrückende politische Atmosphäre deutlich, in der sich die SPD-Führung um Klärung der eigenen Position bemühte und nach Handlungsmöglichkeiten suchte. Kristian Steinnes, Die Europäische Wende und das »soziale Europa«. Sozialdemokratie in Nordeuropa von 1950 bis 1985 Der Beitrag untersucht die sich wandelnde Sozialdemokratie in der Nachkriegsära am Beispiel Nordeuropas bis in die 1980er Jahre hinein. Während dieser Zeit entwickelten Sozialdemokraten eine ausgeprägte pro-europäische Position und setzten Initiativen in Gang, welche die Bildung eines sozialen Europas fördern sollten. Einerseits standen die sozialdemokratischen Parteien der europäischen Integration eher ambivalent gegenüber, sahen sie doch hierdurch ihre eigene Politik und ihre politischen Errungenschaften auf nationaler Ebene infrage gestellt. Andererseits erhofften sie sich von der supranationalen Organisation neue Handlungsmöglichkeiten mit dem Ziel, Sozialpolitik auch auf europäischer Ebene etablieren zu können. Der Beitrag untersucht den Charakter, die Gründe und die Bedingungen, welche die verschiedenen europäischen sozialdemokratischen Parteien dazu veranlassten, sich Europa zuzuwenden. Darauf aufbauend wird gezeigt, dass die Wurzeln der Europäischen Wende in einer komplexen Mischung aus sich verdichtenden Marktverflechtungen, einer reformierten sozialdemokratischen Ideologie und der Herbeiführung einer supranationalen demokratischen Politik bestanden. Florence Sutcliffe-Braithwaite, Der Begriff der »Klasse« in der Ideologie der britischen Labour Party von 1983 bis 1997 Die programmatische ›Modernisierung‹ der britischen Labour Party zwischen 1983 und 1997 ist äußerst kontrovers diskutiert worden. Politiker am linken Rand von Labour und auch einige Historiker sind der Auffassung, diese Modernisierung habe dazu geführt, dass Labour seine traditionelle Arbeiterwählerschaft, den bisher vertretenen Ansatz der »Klassenanalyse« und die Prinzipien des Kollektivismus aufgegeben habe. Der Beitrag stellt diese Behauptungen infrage. Er analysiert die Rhetorik der Labour Party zur »Klasse« in Propagandamaterialien, Reden und privaten Aufzeichnungen. Zunächst wird ein Abriss darüber gegeben, welche Vorstellungen die Modernisierer über die sich verändernde Klassenstruktur der britischen Gesellschaft hatten. Dazu werden die von ihnen herangezogenen Quellen sowie die taktischen Überlegungen untersucht, die ihre Darstellung von sozialem Wandel beeinflussten. Im Weiteren wird gezeigt, wie die Labour Party ihre Wählerschaft in der Rhetorik öffentlicher und privater Debatten neu definierte. Obwohl hier durchaus eine Verschiebung weg von der traditionellen Klassenmetaphorik zu beobachten ist, bedeutete dies dennoch nicht das Ende des politischen Ziels, für die Mehrheit der Bevölkerung bessere Lebensbedingungen schaffen zu wollen. Weiterhin ging man von einer Wählerschaft der Vielen aus, doch diese wurden nun auf andere Art und Weise beschrieben – hauptsächlich war nun die Rede von »gewöhnlichen, hart arbeitenden kleinen Leuten«.