Zusammenfassungen Stefan Berger, Wege und Irrwege des

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Zusammenfassungen
Stefan Berger, Wege und Irrwege des demokratischen Sozialismus. Das Verhältnis von Labour Party
und SPD zum Kapitalismus im 19. und 20. Jahrhundert
Die britische Labour Party und die deutsche Sozialdemokratie gehören zu denjenigen
sozialdemokratischen Parteien, die für die programmatische Orientierung der internationalen
Sozialdemokratie in ihrer nun bald 150-jährigen Geschichte sicher Erhebliches geleistet haben. In
einem Überblick zu den Wegen und Irrwegen beider Parteien vom 19. Jahrhundert bis zur Gegenwart
gehe ich vergleichend der Frage nach, welche programmatischen Wege Labour Party und SPD jeweils
zum demokratischen Sozialismus nahmen und welche Rolle sie dabei für die internationale
Sozialdemokratie spielten. Dabei konzentriere ich mich auf die Spannungen, die aus zwei
Grundelementen sozialistischer Programmatik resultierten: der programmatischen Ambition der
Überwindung des Kapitalismus und der programmatischen Ambition der Demokratisierung von
Politik und anderen Lebensbereichen. Diese Spannungen sind ein Grundphänomen der Geschichte der
Sozialdemokratie im 19. und 20. Jahrhundert.
Bernard Degen, Die Sozialdemokratie im Wahlsystem der Schweiz
Die schweizerische Sozialdemokratie konnte sich nicht als Vorkämpferin der Demokratie
profilieren. Diese Stellung hatte bereits vor der Gründung der politischen Arbeiterorganisationen eine
bürgerlich-kleinbürgerliche Demokratiebewegung besetzt. Die Mängel des 1848 auf nationaler Ebene
durchgesetzten allgemeinen, gleichen und direkten Wahlrechts beruhten zu einem großen Teil auf
lokalen und regionalen Interessenkonstellationen und eigneten sich kaum als Basis für eine
allgemeine Agitation. Das Mehrheitswahlrecht bot Arbeiterorganisationen schlechte
Erfolgsaussichten und verwies sie immer wieder in die undankbare Rolle des Juniorpartners
linksbürgerlicher Kräfte. Damit fehlte für den Aufbau einer autonomen Partei lange eine Perspektive.
Hinzu kam, dass in der politisch stark segmentierten Schweiz im 19. Jahrhundert vielerorts die
kritische Masse für eine nachhaltige Organisation fehlte. Zusammen mit anderen Minderheiten konnte
die Sozialdemokratie nach zwei gescheiterten Anläufen gegen Ende des Ersten Weltkriegs das
Verhältniswahlrecht durchsetzen. In diesem neuen System stieg zwar ihre Sitzzahl im Nationalrat; der
Wähleranteil blieb aber immer unter 30%.
Bernd Faulenbach, Zur Bedeutung der Umwälzung 1989/90 für die deutsche Sozialdemokratie im
europäischen Kontext
Bislang laufen die wissenschaftlichen Diskurse über den »Strukturbruch« westeuropäischer
Gesellschaften während der 1980er und 1990er Jahre auf der einen Seite und über die finale Krise
Sowjetkommunismus, die Umwälzung in Osteuropa 1989/90 und ihre Folgen auf der anderen Seite
fast unverbunden nebeneinander. Der Beitrag behandelt den Umgang mit beiden Komplexen durch
die zeitgenössische Sozialdemokratie. Diese stemmte sich in den 1980er Jahren gegen den
Neoliberalismus, griff jedoch Impulse der Alternativbewegungen auf. Ihre erfolgreiche Ostpolitik
versuchte sie weiterzuführen, hatte aber Mühe, Dissidenz und Oppositionsbewegungen in
Ostmitteleuropa in ihr Politikmodell zu integrieren. Auf diesem Hintergrund überrascht es nicht, dass
die Sozialdemokratie auf die Umwälzung 1989/90 uneinheitlich reagierte. Nur ein Teil, darunter
Willy Brandt und andere ältere Sozialdemokraten sowie die neugegründete Sozialdemokratie in der
DDR versuchten, die veränderten Handlungschancen offensiv zu nutzen. Doch es gelang beiden nicht,
dem Umbruch einen sozialdemokratischen Stempel aufzudrücken. Die Gleichzeitigkeit sehr
verschiedener Anforderungen hat während der 1980er und 1990er Jahre zu einer partiellen
Überforderung der Sozialdemokratie und ihres Politikbegriffs geführt.
Joris Gijsenbergh, Die Semantik des Begriffs »Demokratie« bei Sozialdemokratischen Parteien. Die
Niederlande, Deutschland und Schweden, 1917–1939
Der Aufsatz untersucht wie Sozialdemokraten in den Niederlanden, Deutschland und
Schweden in der Zwischenkriegszeit den Begriff der »Demokratie« verstanden und benutzten. Der
Fokus liegt dabei auf der niederländischen SDAP und ihres Blicks auf die Schwesterparteien,
während das Beispiel der SPD und der schwedischen SAP zum Vergleich herangezogen wird.
Untersucht wird, wie die Parteien »Demokratie« und verwandte Ausdrücke benutzten, wann und
warum sie verschiedene Konnotationen des Begriffs betonten und wie sie dieses Vokabular
einsetzten, um ihre politischen Ziele durchzusetzen. Darin unterscheidet sich dieser Aufsatz von
Arbeiten, welche in erster Linie den Grad der Befürwortung parlamentarischer Politik durch
Sozialdemokraten untersuchen. Befürworter von Revolution und Reform in der Sozialdemokratie
benutzten nicht nur unterschiedliche Formen des Sprechens über die demokratische Staatsform und
eine demokratische Gesellschaft, sie sprachen auch über Demokratie als eine Lebensform. In diesen
Debatten bezogen sich Sozialdemokraten auf ganz unterschiedliche Typen von Demokratie. Eine
Untersuchung ihrer internen Debatten über Demokratie zeigt, dass es dabei um mehr ging als nur um
eine Entscheidung für oder gegen die Benutzung parlamentarischer Institutionen zum Machterwerb.
Susanne Götze, Die »Parti socialiste unifié« (PSU) in den 1960er Jahren. Eine sozialistische
Neukonzeption jenseits von SFIO und PCF als ›Dritter Weg‹ im Kalten Krieg
Von linksradikalen Ansätzen bis zu revisionistischen Konzepten: Die französische »Parti
socialiste unifié« (PSU) war eine Partei zwischen den Stühlen. Deren heterogene Mitgliedschaft
wagte nach dem Ende der IV. Republik 1958 ein ganz neues linkes Projekt unter dem Vorzeichen der
Krise von traditionell linken Parteien wie der SFIO und der PCF. Enttäuschte Kommunisten,
Trotzkisten, Sozialisten, Rätekommunisten und Mendesisten versuchten sich ab 1960 an einer neuen
Sozialismusdefinition, die die Fehler der traditionellen Linken ausräumen sollte. Die PSU-Mitglieder
formierten somit ein intellektuelles »Laboratorium« im Vorfeld der Mairevolte von 1968. Bei allen
inneren Auseinandersetzungen – wodurch die Partei politisch 30 Jahre erfolglos blieb – stellten die
Mitglieder der PSU sich geschlossen gegen Kolonialismus, Zentralismus, Autoritarismus und
Kapitalismus. Die PSU konnte sich weder mit dem westlichen Modell eines kapitalistischen
Wohlfahrtsstaats noch mit dem sowjetischen »Realsozialismus« anfreunden. Sie versuchte mit ihren
Positionen, ein modernes sozialistisches Denken als eine Art »Dritten Weg« im Europa des Kalten
Kriegs zu etablieren.
Joachim C. Häberlen, Kameradschaft mit dem Messer? Zum Zerfall des linksproletarischen Milieus
in Leipzig am Ende der Weimarer Republik
Der Aufsatz untersucht am Beispiel Leipzigs, wie das »links-proletarische« Milieu am Ende
der Weimarer Republik erodierte. Dabei nimmt er soziale Praktiken an der Basis der
Arbeiterbewegung in den Blick. Anhand dreier Themenbereiche entwickelt der Aufsatz Thesen
darüber, wie sich der Zerfall des Milieus erklären lässt. Erstens diskutiert der Aufsatz politische
Gewalt, insbesondere zwischen Sozialdemokraten und Kommunisten, zweitens die Auswirkungen der
umstrittenen Parteipolitisierung des Milieus, sowie drittens die Rolle von Vertrauen und Misstrauen in
den Beziehungen der beiden Parteien der Arbeiterbewegung. Dabei zeigt sich insbesondere, welch
unterschiedliche Vorstellungen politischer Praxis und damit politischer Partizipation aufseiten von
SPD und KPD bestanden, was eine Zusammenarbeit der Parteien gegen die Nationalsozialisten
massiv erschwerte.
Lutz Häfner, »Genossen«? Sozialismuskonzeption und politische Praxis der Partei der
Sozialrevolutionäre Russlands und ihr Verhältnis zur SPD 1902–1914
Die »Partei der Sozialrevolutionäre« (PSR) verfolgte eine von der europäischen
Sozialdemokratie abweichende Sozialismuskonzeption. Sie war weder eine Avantgardeorganisation
von Berufsrevolutionären noch eine proletarische Massenpartei. Sie nahm für sich in Anspruch, eine
Partei aller Werktätigen zu sein: Arbeiter, Bauern und Intelligenzija. Dass die PSR in hohem Maße
die Bauern ansprach, war mehreren Gründen geschuldet: dem geringeren Industrialisierungsgrad
sowie der Sozialstruktur des agrarisch geprägten Zarenreichs. Aber auch die Kenntnis der innerhalb
der SPD Mitte der 1890er Jahre heftig umstrittenen Agrarfrage, die die Bauern der Partei eher
entfremdete, dürfte die PSR beeinflusst haben. Charakteristika des PSR-Programms waren
Antikapitalismus, die Sozialisierung des Bodens und der Terrorismus als ein wichtiges Mittel der
politischen Auseinandersetzung mit der Autokratie. Bis zur Revolution von 1905 kannte das
Zarenreich keine funktionierende Öffentlichkeit: weder ein Versammlungsrecht noch ein Parlament
oder eine Presse, deren Freiheit die Zensur nicht beschnitt. Die »Propaganda der Tat« gegen
hochrangige Repräsentanten des Staats fand gerade in der internationalen Öffentlichkeit, auch in der
SPD, in den Jahren 1902 bis 1905 breites Verständnis, weil die Autokratie als Tyrannei galt.
Harm Kaal, Die Konstruktion einer sozialistischen Wählerschaft. Die sozialdemokratische Sprache
des Politischen in den Niederlanden von 1890 bis 1950.
Der Beitrag untersucht die Sprache des Politischen der niederländischen »SociaalDemocratische Arbeiderspartij« (SDAP) in den Wahlkämpfen zwischen 1894 und 1948. Er
hinterfragt, inwieweit die SDAP, einer vorherrschenden Auffassung zufolge, tatsächlich als die
politische Vertreterin der Arbeiterklasse verstanden werden kann. Denn lange bevor die
»Volkspartei« zu einem Kernbegriff der Wahlkampfpolitik wurde, versuchten die Sozialdemokraten
ihre Zielgruppe auszuweiten und sprachen dazu spezifische Berufsgruppen außerhalb der
Arbeiterklasse wie Bauern, Ladenbesitzer und Gemüsegärtner an. Die SDAP verwendete darüber
hinaus schon zu einem frühen Zeitpunkt einen religiösen Diskurs, um die traditionelle Wählerschaft
der konfessionellen Parteien zu gewinnen. Ende der 1930er Jahre reformulierte die Partei ihren
politischen Diskurs. Das Ziel der Schaffung einer Volkspartei mit breiter Basis wurde von nun an
durch eine auf die Praxis bezogene, vorwiegend nicht-religiöse und nicht-marxistische, aber dennoch
antikapitalistische Sprache des Politischen unterstützt, welche die sozialökonomische Agenda der
Partei in den Vordergrund stellte. Diese blieb bis in die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg dominant.
Philipp Kufferath, Netzwerke als strategische Allianzen und latente Ressource. Etablierungsversuche
der linken Opposition im SPD-Milieu nach 1945
Die linke Opposition im SPD-Milieu etablierte sich zwischen 1945 und 1960 am Rande der
Partei über persönliche Kontakte und informelle Netzwerke. Eine wichtige Rolle spielten die
gewachsenen Verbindungen der Widerstands- und Exilgeneration. Vertrauliche und auf persönlichen
Freundschaften beruhende Zirkel wurden zeitlich begrenzt als strategische Allianzen genutzt, um
hinter den Kulissen Einfluss auf Entscheidungen von SPD und Gewerkschaften zu nehmen. Andere
Kontakte dienten einzelnen Akteuren als latente Ressource, die situativ für politische oder persönliche
Anliegen aktiviert werden konnte. Zwischen den Generationen ergaben sich sowohl Lernprozesse als
auch habituelle und politische Spannungen. Der zentralistische Parteiaufbau und die politische Kultur
des Kalten Kriegs untergruben eine demokratische Streitkultur und erschwerten die Zusammenarbeit
zwischen den theoretisch und politisch profilierten Einzelpersonen, Kreisen und Zeitschriften. Der
Umgang mit dem Kommunismus und das Spannungsverhältnis von Parteiloyalität und eigenen
Überzeugungen stellten die linkssozialistischen Netzwerke vor besondere Herausforderungen, die
strategisch unterschiedlich angegangen wurden.
Wim van Meurs, Demokratie oder Sozialismus? Bauernparteien in Südosteuropa um die
Jahrhundertwende als Träger der Demokratisierung. Eine Skizze
In der Zwischenkriegszeit kannte sowohl Rumänien als auch Bulgarien eine mitgliederstarke
Bauernpartei. Bei der Umsetzung sozialwirtschaftlicher Reformen zugunsten der Landbevölkerung
entschied sich die rumänische Bauernpartei für den parlamentarischen Weg, ihr bulgarisches Pendant
dagegen für eine autoritäre Radikalisierung. Dies geschah obwohl die ökonomische Subsistenz der
Bauern in Rumänien problematischer war, die Ausweitung des Wahlrechts seit dem späten
neunzehnten Jahrhundert in beiden Ländern ähnlich verlaufen war und russisches agrarpopulistisches
Gedankengut in Rumänien wie in Bulgarien vorhanden war. In diesem Aufsatz wird argumentiert,
dass weder Ideengeschichte noch Agrarverfassung und Wirtschaftslage diese divergierenden
Entwicklungen erklären können. Schlüsselfaktoren waren stattdessen die gegensätzlichen
Folgewirkungen des Ersten Weltkriegs und die Konfliktlinien der nationalen Parteipolitik: Rumänien
war als Sieger aus dem Krieg hervorgegangen, vollendete damit die Nationalstaatsbildung, und die
Liberalen waren die politischen Hauptgegner der Bauernpartei. Bulgarien hatte sich mit
Gebietsverlusten und Kriegsentschädigungen abfinden müssen, und die politische
Auseinandersetzung fand zwischen Bauernbewegung und Kommunisten statt.
Thomas Oellermann, Die deutsche Sozialdemokratie in der Ersten Tschechoslowakischen Republik.
Die Arbeiterbewegung einer Minderheit
Die deutsche Sozialdemokratie in den böhmischen Ländern und in der Tschechoslowakischen
Republik war eine bedeutende politische Kraft. Sie stellte sich nach 1918 zuerst gegen den
entstandenen Staat von Tschechen und Slowaken, war dann aber grundsätzlich zu einer Mitarbeit in
diesem bereit. Seit 1929 war sie an der Regierung beteiligt. Auch unter dem Eindruck der nach 1933
aufkommenden Sudetendeutschen Partei bekannte sich die deutsche Sozialdemokratie bis 1938 zur
Tschechoslowakischen Republik und zur Demokratie. Die Historiografie hat sich bislang fast
ausschließlich mit dem Verhältnis der Sozialdemokratie als Partei einer nationalen Minderheit zum
Staat der Mehrheitsnationen beschäftigt. Hierbei fand die Tatsache, dass es sich bei der deutschen
Sozialdemokratie in den böhmischen Ländern um eine klassische Arbeiterbewegung mit zahlreichen
Organisationen und Verbänden handelte, kaum Berücksichtigung. Der vorliegende Beitrag bietet
anhand unterschiedlicher Aspekte eine Innenansicht auf diese Bewegung. Die Debatte um die
Integration der Frauen zeigt, wie sich der formulierte Anspruch einer Emanzipation in der Realität
darstellte. Die misslungene Integration der Fußballer wiederum unterstreicht, wie schwer sich diese
Arbeiterbewegung tat, neue kulturelle Formen der Arbeiterbewegung anzunehmen. Dies gilt auch für
die hier behandelten Bemühungen der Arbeiterabstinenzler. Fernab von der Frage, wie sich die
deutsche Sozialdemokratie als politische Kraft einer nationalen Minderheit gegenüber dem
tschechoslowakischen Staat positionierte, zeigt das Beispiel des Genter Systems, dass es auch andere
Ebenen gab, auf denen sich diese schwierige Beziehung abspielte.
Mike Schmeitzner, Ambivalenzen des Fortschritts. Zur Faszination der proletarischen Diktatur in der
demokratischen Revolution 1918–1920
Deutschlands Niederlage im Ersten Weltkrieg mündete Ende 1918 in einer revolutionären
Umgestaltung, deren Träger USPD und MSPD zuerst gleichermaßen waren: Die von ihnen
verfochtenen Ziele einer Demokratisierung und Sozialisierung (von Schlüsselindustrien) ließen sich
jedoch infolge der Ergebnisse der Wahlen zur Nationalversammlung nicht ohne Weiteres realisieren.
Während die MSPD mit den demokratischen Kräften des Bürgertums eine Koalition einging und
daher in wirtschaftspolitischer Hinsicht entscheidende Abstriche machen musste, radikalisierten sich
immer größere Teile der USPD in der Opposition. Die Enttäuschung über den Ausgang der Wahlen
und die überharte Militärpolitik der Regierung im Inneren ließ Vorstellungen über eine reine Diktatur
des Proletariats, wie sie bereits Marx und Engels umrisshaft beschrieben und die Bolschewiki in
Russland propagiert hatten, schnell an Boden gewinnen – sogar in manchen Hochburgen der MSPD.
Über die »Innenausstattung« einer derartigen Diktatur gingen allerdings die Meinungen weit
auseinander. Der Faszination einer solchen »proletarischen Demokratie« tat dies keinen Abbruch, wie
die Reichstagswahlen von 1920 zeigten: Fast die Hälfte der organisierten (sozialistischen)
Arbeiterschaft stimmte für diese reine Arbeiterherrschaft, nur noch die andere Hälfte optierte für die
parlamentarische Demokratie.
Jürgen Schmidt, Zivilgesellschaft, sozioökonomische Spannungslinien und sozialmoralisches Milieu.
Arbeiterbewegung und Arbeiterparteien in Deutschland von 1860 bis 1914
Um den vielfältigen Zugängen zur Geschichte der deutschen Sozialdemokratie im 19.
Jahrhundert sowie der komplexen Ausbildung eines sozialmoralischen Milieus im 19. Jahrhundert
gerecht zu werden, sondiert dieser Beitrag Strukturen, Verhalten, Werte, Kultur und Mitgliedschaft
der sozialdemokratischen Arbeiterbewegung auf zwei unterschiedlichen Ebenen. Der erste Teil
analysiert die frühe sozialistische/sozialdemokratische Arbeiterbewegung (bis in die 1870er Jahre) aus
einer zivilgesellschaftlichen Perspektive. Ein Akteur wird vorgestellt, der sich durch bürgerschaftlichpolitisches Engagement auszeichnete und zur Partizipation und Teilhabe ausgegrenzter
Gesellschaftsgruppen beitrug. Im zweiten Teil wird das sozialdemokratische Milieu in einer lokalen
Fallstudie für die Zeit nach 1890 dargestellt. Dabei wird das Mit- und Gegeneinander der beiden
zentralen Akteure des Milieus, der Gewerkschafts- und der Parteibewegung, in die Interpretation und
Analyse einbezogen. Dabei werden auch sozioökonomische Spannungslinien berücksichtigt. Der
Beitrag stellt die Fragen: Welchen Ort in der Gesellschaft nahm die sozialistische Arbeiterbewegung
in Deutschland im 19. Jahrhundert ein? Wie entwickelte das Milieu jene Stabilität, die bis in die
unmittelbare Vorkriegszeit des Ersten Weltkriegs hielt?
Jens Späth, Was heißt Antifaschismus nach 1945? Das Beispiel der italienischen Sozialisten in
westeuropäischer Perspektive.
In einer ersten Annäherung lässt sich Antifaschismus als ein leitendes Paradigma begreifen,
über das sich Sozialisten definierten. Zudem bildete er ein Handlungsmuster für eine
Demokratisierungsbewegung in inter- und transnationaler Perspektive. Um diese Hypothesen zu
überprüfen, sollen exemplarisch für Westeuropa italienische Sozialisten in der Zeit zwischen 1945
und 1963 untersucht werden. Der »Partito Socialista Italiano« ist deshalb besonders interessant, weil
er als einzige westeuropäische sozialistische Partei auch nach Ausbruch des Kalten Kriegs die
Einheitsfront mit den Kommunisten aufrecht erhielt. Um Brüche und Kontinuitäten in Diskurs und
Handeln aufzuzeigen, werden zunächst die Erfahrungen ausgewählter Sozialisten vor 1945
rekapituliert. Anschließend fragt die Studie danach, was nach dem Zweiten Weltkrieg geschah, als
eine neue Definition des Antifaschismus erforderlich wurde und Momente der Erinnerung ein immer
größeres Gewicht in der italienischen politischen Kultur einnahmen. Zuletzt werden die italienischen
Befunde in einem kurzen Vergleich mit deutschen und französischen Sozialisten in einen
westeuropäischen Rahmen eingeordnet.
Christoph Stamm, Zur politischen Lage 1932. Unbekannte Aufzeichnungen über zwei Sitzungen des
Parteiausschusses der SPD
Die beiden Dokumente enthalten Berichte über Sitzungen des Parteiausschusses der SPD vom
4.5. und 20.9.1932 in Berlin, die der Forschung bisher nicht bekannt gewesen sind. Der
Parteiausschuss bildete die Schnittstelle zwischen der zentralen Parteiführung und der
Parteiorganisation in den Regionen und sollte die Integration der Parteiflügel fördern. Die Dokumente
behandeln die damals für die SPD beherrschenden Probleme: Maßnahmen gegen
Massenarbeitslosigkeit, die Tolerierungspolitik gegenüber dem Kabinett Brüning, das Verhalten
gegenüber der Regierung Papen, die Frage der Reaktion auf die Absetzung der preußischen
Regierung, der Umgang mit der KPD und die Bekämpfung des aufsteigenden Nationalsozialismus.
Wegen der Herkunft der Dokumente aus der Frauenarbeit der Partei wird auch dieser Bereich
beleuchtet. Die Dokumente enthalten in namentlich zugeschriebenen Diskussionsbeiträgen
Einzelheiten aus der Debatte innerhalb der SPD, die das bisherige Bild ergänzen, und sie machen die
bedrückende politische Atmosphäre deutlich, in der sich die SPD-Führung um Klärung der eigenen
Position bemühte und nach Handlungsmöglichkeiten suchte.
Kristian Steinnes, Die Europäische Wende und das »soziale Europa«. Sozialdemokratie in
Nordeuropa von 1950 bis 1985
Der Beitrag untersucht die sich wandelnde Sozialdemokratie in der Nachkriegsära am
Beispiel Nordeuropas bis in die 1980er Jahre hinein. Während dieser Zeit entwickelten
Sozialdemokraten eine ausgeprägte pro-europäische Position und setzten Initiativen in Gang, welche
die Bildung eines sozialen Europas fördern sollten. Einerseits standen die sozialdemokratischen
Parteien der europäischen Integration eher ambivalent gegenüber, sahen sie doch hierdurch ihre
eigene Politik und ihre politischen Errungenschaften auf nationaler Ebene infrage gestellt.
Andererseits erhofften sie sich von der supranationalen Organisation neue Handlungsmöglichkeiten
mit dem Ziel, Sozialpolitik auch auf europäischer Ebene etablieren zu können. Der Beitrag untersucht
den Charakter, die Gründe und die Bedingungen, welche die verschiedenen europäischen
sozialdemokratischen Parteien dazu veranlassten, sich Europa zuzuwenden. Darauf aufbauend wird
gezeigt, dass die Wurzeln der Europäischen Wende in einer komplexen Mischung aus sich
verdichtenden Marktverflechtungen, einer reformierten sozialdemokratischen Ideologie und der
Herbeiführung einer supranationalen demokratischen Politik bestanden.
Florence Sutcliffe-Braithwaite, Der Begriff der »Klasse« in der Ideologie der britischen Labour Party
von 1983 bis 1997
Die programmatische ›Modernisierung‹ der britischen Labour Party zwischen 1983 und 1997
ist äußerst kontrovers diskutiert worden. Politiker am linken Rand von Labour und auch einige
Historiker sind der Auffassung, diese Modernisierung habe dazu geführt, dass Labour seine
traditionelle Arbeiterwählerschaft, den bisher vertretenen Ansatz der »Klassenanalyse« und die
Prinzipien des Kollektivismus aufgegeben habe. Der Beitrag stellt diese Behauptungen infrage. Er
analysiert die Rhetorik der Labour Party zur »Klasse« in Propagandamaterialien, Reden und privaten
Aufzeichnungen. Zunächst wird ein Abriss darüber gegeben, welche Vorstellungen die Modernisierer
über die sich verändernde Klassenstruktur der britischen Gesellschaft hatten. Dazu werden die von
ihnen herangezogenen Quellen sowie die taktischen Überlegungen untersucht, die ihre Darstellung
von sozialem Wandel beeinflussten. Im Weiteren wird gezeigt, wie die Labour Party ihre
Wählerschaft in der Rhetorik öffentlicher und privater Debatten neu definierte. Obwohl hier durchaus
eine Verschiebung weg von der traditionellen Klassenmetaphorik zu beobachten ist, bedeutete dies
dennoch nicht das Ende des politischen Ziels, für die Mehrheit der Bevölkerung bessere
Lebensbedingungen schaffen zu wollen. Weiterhin ging man von einer Wählerschaft der Vielen aus,
doch diese wurden nun auf andere Art und Weise beschrieben – hauptsächlich war nun die Rede von
»gewöhnlichen, hart arbeitenden kleinen Leuten«.
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