DAS THEMA Keine Regeneration durch die Jugend Weder der romantische Blick auf die Arbeiterkultur des 19. Jahrhunderts noch ein linkspopulistischer Nationalprotektionismus ist für Sozialdemokraten im zweiten Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts wohl eine realistische bzw. wünschenswerte Richtschnur. Die Sozialdemokraten können 2013 nicht mehr »alte SPD« spielen. Für eine Kehrtwende hat sich die SPD sozial, personell und programmatisch zu sehr und unter allzu großen Schmerzen verändert. Die gewandelte SPD ist jetzt eine gemäßigt linksliberale, gemäßigt kosmopolitische Partei der gemäßigt halblinken Mitte der deutschen Gesellschaft. Die Steinbrück-, Weil-, Scholz-, Kraft-, Albig-Partei ist zur politischen Agentur integrierter Arbeitnehmer sowie Rentner und Pensionäre geworden. Zu einer robusten antikapitalistischen Strategie, zu einem harten Konflikt mit den bürgerlichen Globalisierungs- eliten – was alles ungeheuer viel mehr bedeutet als die Kleinbürgerrhetorik von der Reichensteuer – ist die SPD hingegen weder fähig noch wirklich willens. Insofern sollte sie auch erst gar nicht so tun, als könne sie diese Karte jederzeit wieder spielen. Schließlich: In Deutschland steht fast die Hälfte der SPD-Wählerschaft außerhalb des Erwerbslebens – dies steht im deutlichen Gegensatz zu den Anhängern libertär-ökologischer Parteien, die bis zu vier Fünfteln einen Beruf ausüben. Die sozialdemokratische Volkspartei von früher scheint sich in den nachfolgenden Generationen nicht mehr hinreichend zu regenerieren. Was wäre eigentlich ein sozialdemokratisches Exposé für neue Kohorten in neuen Soziallagen mit neuen Problemen auf neuen Konfliktfeldern? Die Sozialdemokraten wissen es nicht. Schlimmer noch: Man hat den Eindruck, dass sie hierzulande längst aufgehört haben, darüber noch mit Eindringlichkeit nachzudenken. Thomas Meyer Zwischenruf: Der utopische Überschuss der Sozialdemokratie E ine Partei, die 150 Jahre Geschichte nicht nur »in alter Frische« überleben, sondern diese, den tief veränderten Umständen gemäß, mit neuem Elan und einer in der jetzigen Zeit mitreißenden Mission fortführen will, muss zum Wandel zur rechten Zeit fähig sein. Sie kann dabei freilich nicht dem Modell der »Quasikristalle« folgen, das es der Einfühlung des Betrachters überlässt, in den vielen divergenten Episoden, aus denen sich im Verlaufe der wechselnden Umstände von Opposition und Regierung ihre Praxis zusammensetzt, etwas Verbindendes zu erkennen. Die SPD hat sich, den Notwendigkeiten entsprechend, in ihrer langen Geschichte mehr als einmal Thomas Meyer (*1943) ist emeritierter Professor für Politikwissenschaften an der Universität Dortmund und Chefredakteur der Neuen Gesellschaft/ Frankfurter Hefte. Zuletzt im VS Verlag erschienen: Soziale Demokratie. Eine Einführung und: Was ist Fundamentalismus? [email protected] an Haupt und Gliedern erneuert. Von der sozialistischen »Zukunftsgesellschaft« der Gründungsjahre zum Grundwerte gestützten »Demokratischen Sozialismus« als stetigem Reformprozess Godesberger Typs führten erst Jahrzehnte währende Auseinandersetzungen. Die Nach-Godesberger N G | F H 5 | 2 0 13 59 DAS THEMA Identität der SPD hatte dann viel mit der Erfahrung des goldenen Zeitalters der sozialen Demokratie der ersten drei Jahrzehnte nach dem Zweiten Weltkrieg zu tun, in denen der alte Kapitalismus, wie man ihn kannte, in seinen hässlichsten Zügen nach den historischen beispiellosen Katastrophen von Faschismus und Weltkrieg halbwegs gezähmt schien. Mehr noch, es sprach in dieser Zeit fast alles dafür, dass der lange erhoffte lineare Fortschrittsprozess, die immer bessere, immer weitergehende Zivilisierung des ungezügelten Raubtiers zum nützlichen Haustier einer sozialen und demokratischen Gesellschaft, nun endlich in Gang kommen würde. Dieser sozialdemokratische Optimismus war freilich, anders als manche seiner linken Gegner meinten, nie blind. In allen einschlägigen Programmen, in Deutschland und Europa, war er stets auf die Voraussetzung bezogen, dass die weitergehende demokratische Kontrolle des großen Produktionsmitteleigentums und die Regulation der Märkte gelingen würden. Das konnte allerdings eine sich allmählich einspielende Diskrepanz zwischen dieser eher skeptischen Analyse und einer an sozialer Harmonie orientierten politischen Gebrauchsphilosophie nicht ganz verhindern. In diese waren die sozialdemokratischen Reformversprechen fest und, wie es schien, solide eingebettet. Die ökologische Häutung der alten Arbeiterpartei als Antwort auf die großen Umweltkrisen und das Erstarken der Neuen Sozialen Bewegungen seit den 70er Jahren gelang nach einem teils erbitterten Ringen von immerhin anderthalb Jahrzehnten. Nun hat in der letzten Zeit das vermeintliche Haustier der sozialen Demokratie, der gezähmte Kapitalismus, kräftig an seiner Leine gerissen, nachdem diese, den anscheinend ehernen Gesetzen der Globalisierung gehorchend, zuvor schon schrittweise gelockert und durch Verschleiß brüchig geworden war. Zwar der Kontrolle noch nicht ganz entglitten, hat er jedoch 60 N G | F H 5 | 2 0 13 schon durch seinen gefährlich erweiterten Spielraum das Wohlergehen und die Sicherheit sehr vieler Menschen in aller Welt sowie den sozialen Frieden in Europa empfindlich unterminiert. Die irritierende Hilflosigkeit und das unverständliche Zögern bei den politischen Versuchen, die Anstrengungen zu seiner Zähmung aufgrund der gemachten Erfahrung jetzt wirkungsvoll zu erneuern, nähren die Furcht, diese Versuche könnten bald gänzlich scheitern. Der neue Finanzmarktkapitalismus hat ja mit seinen »finanziellen Massenvernichtungsmitteln« (Warren Buffett) ein so weitreichendes Destruktionspotenzial angesammelt und gleichzeitig so viele neue Abhängigkeiten geschaffen, dass viele zu fragen beginnen, auch in den politischen Eliten, ob sein Griff nach der politischen Herrschaft überhaupt noch erfolgreich abgewehrt werden kann, ohne die Weltwirtschaft in völlige Verwirrung zu stürzen. Mittlerweile haben diese Übergriffe jedoch auch Empörung und Widerstand in einem lange Zeit ungekanntem Ausmaß in fast allen betroffenen Ländern ausgelöst, in Europa aus gegebenem Anlass besonders massiv. Das einige jahrzehntelang offensichtlich erfolgreiche historische Projekt der Zähmung des rohen Kapitalismus – nach der kombinierten Katastrophe von Weltwirtschaftskrise, europäischem Faschismus und Weltkrieg – war die soziale Demokratie. Zwar ist es auch in deren goldenem Zeitalter, den ersten drei Jahrzehnten der Nachkriegszeit, nirgends gelungen, dieses Projekt umfassend zu realisieren. Die großen Lücken klafften vor allem in seinem politökonomischen Kernbereichen. Aber es machte in der Mehrzahl der europäischen Länder, zumal im Norden beträchtliche Fortschritte. Und selbst in den USA hatten die beiden Wellen partiell sozialdemokratischer Politik, der Great Deal als Antwort auf die Weltwirtschaftskrise der 30er und Präsident Johnsons Great Society als Antwort auf die große soziale Protest- DAS THEMA welle der Ghettos in den 60er Jahren durchaus mehr als nur einen Hauch Sozialer Demokratie beschert, massive Regulationen im Finanzsektor inbegriffen – die freilich in Kernstücken wieder kassiert wurden, sobald das Schlimmste vorüber schien. Nun sind im Gefolge der großen Krise – und teilweise schon zuvor im Glauben, sie könne dadurch abgewendet werden – in den letzten beiden Jahrzehnten lange Zeit sicher geglaubte, sozusagen auf der historischen Haben-Seite der sozialen Demokratie fest verbuchte Errungenschaften der Sicherheit und Teilhabe, der sozialen Gleichheit und Mobilität und des Vorrangs der Demokratie vor der Wirtschaftsmacht demontiert worden. Das geschah zunächst auf leisen Sohlen, in kleinen Schritten, an vielen Fronten, aber ohne nennenswerte große Rechtfertigungsdebatten und ohne das offene Visier einer demokratischen Entscheidung. Unsere Gesellschaften, so müssen wir plötzlich feststellen, ähneln wieder stärker ihrer Gestalt im vor-sozialdemokratischen Zeitalter. Sie weisen wieder krassere Züge blockierter Klassengesellschaften auf mit schwindenden Aufstiegschancen und einem größeren Risiko des Absturzes in die prekäre Unterklasse, die Gegenmacht der Gewerkschaften ist geschwächt und der demokratische Staat scheint die Macht zu verlieren, der Wirtschaft die Gesetze des Handelns vorzugeben. Eine Schärfung des Profils Heftiger und rascher als zu vermuten war, hat sich auf diese Weise »objektiv«, in den realen Verhältnissen selbst, ein »Sozialdemokratischer Moment« ergeben, der nach der passenden Antwort geradezu schreit. Vielleicht sind es nicht wirklich 99 % der Menschen, die nach dem Urteil des Wirtschaftsnobelpreisträgers Joseph Stiglitz als Geschädigte in den weltweiten Empörungsruf einstimmen, aber in Europa doch viel mehr als zu jedem anderen Zeitpunkt seit dem politischen Neubeginn nach dem Zweiten Weltkrieg. Haltbare, vor allem glaubwürdige Antworten auf die für die Sozialdemokratie durch diese Entwicklung gestellte Identitäts-Frage »Was tun?« setzen zunächst die Klärung der Frage voraus: »Wie war das möglich?« Drei Deutungen verdienen unser besonderes Augenmerk. Erstens hat sich die These Karl Polanyis zum zweiten Mal in überschaubarer Frist eindrucksvoll bestätigt, dass die soziale Bändigung des Kapitalismus kein linearer Fortschrittsprozess ist, sondern immer nur das prekäre Zwischenergebnis im stets unsicher bleibenden Auf und Ab zwischen den Phasen der Entgrenzung des Marktkapitalismus, wenn die sozialen Widerstandskräfte erlahmen und Zeiten seiner gelingenden gesellschaftlichen Einbettung, wenn die Empörung gegen seine Übergriffe wächst. Zweitens: Die Marktglobalisierung ist nicht nur Realität, sondern auch Vorwand. Als Realität erhöht sie in einigen, keineswegs allen Bereichen den Wettbewerbsdruck zwischen Unternehmen und – ebenfalls nur teilweise – auch zwischen sozialen Ordnungen. Die angelsächsische Antwort darauf ist der Abbau sozialer Einbettung und Regulierung, die skandinavische die Modernisierung beider. Demokratisch gewählten Regierungen steht die Entscheidung zwischen beiden Alternativen in Grenzen frei. Zu viele Länder, teilweise auch Deutschland, sind unter dem Druck der Globalisierung als Ideologie eine weite Strecke dem ersten Weg gefolgt. Drittens: Es war ein ohne Zweifel guter Glaube, der sozialdemokratische Regierungen veranlasste, die soziale Marktregulierung in der Annahme zu lockern, dass das im verschärften Wettbewerb am schnellsten Beschäftigung und Einkommen zurückbringe und damit zugleich soziale Inklusion und die Festigung der Grundlagen des Sozialstaats sichere. Diese Hoffnung hat sich nur zum Teil erfüllt, während dabei N G | F H 5 | 2 0 13 61 DAS THEMA die ebenfalls essenziellen sozialdemokratischen Ziele der sozialen Gleichheit und Sicherheit sowie der demokratischen Wirtschaftskontrolle weitgehend verletzt wurden. Eine fragwürdige Bilanz. Sie hat der Sozialdemokratie viel Glaubwürdigkeit gekostet, ein Schaden, der auf dem Papier schon großenteils reguliert wurde, aber nicht in der Praxis. Die Gelegenheit zum nun fälligen glaubwürdigem Handeln ist in der neuen Lage gegeben, solange der »sozialdemokratische Moment« andauert. Ihre Nutzung verlangt die Erfüllung von zwei Voraussetzungen: Die Sozialdemokratie muss ein politisches Profil vorweisen, das in der Klarheit seiner Problemsicht und in der »Radikalität« seiner Vision der Krise, die es zu meistern gilt, wirklich gewachsen ist. Sie muss also ohne Verdruckstheit und ohne demoskopische Weichspülung zur Sprache bringen, dass es ihr um die Überwindung von gesellschaftlicher Ungleichheit und sozialen Klassen geht, um die Bändigung des Finanzmarktkapitalismus und um die Schaffung eines solidarischen Europa als Bedingung für all das, in das die reicheren Gesellschaften nun einmal mehr investieren müssen als die ärmeren. Es geht also um die Vision einer Rückgewinnung der in der Realität beschädigten Sozialen Demokratie und um ihre Neufassung als glaubwürdige Vision für eine gute Gesellschaft gegen den Finanzmarktkapitalismus. Woher aber der Elan? Die neue Antwort muss ehrgeizig sein und über die heute und morgen erreichbaren Ziele hinausschießen, nicht als Utopismus des bloßen Wünschens, sondern als eine realistische Utopie mit konkreten Begründungen der Machbarkeit. Es ist nach den gemachten Erfahrungen und den reichlich geführten Debatten der letzten Jahre nicht schwer zu sagen, was das heißt. Es geht um 62 N G | F H 5 | 2 0 13 die zeitgerechte Erneuerung der fünf großen Ziele, für die die Sozialdemokratie historisch angetreten ist: Gesellschaftliche Gleichheit, Überwindung der Klassengesellschaft, universeller, die gesellschaftliche Inklusion sichernder Sozialstaat, soziale/menschliche Sicherheit und Vorrang demokratisch entschiedener Politik vor der Macht von großem Eigentum und Märkten. Nichts ist veraltet oder überholt an diesem Programm einer realistischen Utopie, nun müssen ihm wieder die Zähne geschärft werden: in der Sprache, in den Symbolen, in der Sache. Es ist immer noch radikal in seinem Anspruch, sogar wieder mehr als vor dem gegenwärtigen Rückschlag des Polanyischen Pendels. Sozialdemokratie unterschied sich vom linken Utopismus zu allen Zeiten aber darin, dass sie sich nicht vom Verbalradikalismus fortreißen ließ mit seinen populistischen Schablonen und leeren Versprechungen. Woher aber, so fragen Skeptiker, soll die Begeisterung für einen solchen Neuaufbruch nach 150 Jahren kommen? Ist die SPD nach einer so langen Geschichte mit ihren vielen sozial saturierten Funktionären, Mandatsträgern und Wählern in ihrem Veränderungswillen nicht längst erlahmt? Gewiss, eine gute Frage. Es gibt aber auch eine gute Antwort auf sie. Woher denn sollten Ansehen, Glaubwürdigkeit, Leben und damit auch der Erfolg einer Partei der Sozialen Demokratie unter den Bedingungen des politischen Wettbewerbs heute kommen, wenn nicht aus dem Aufsaugen und Bündeln aller Interessen, Kräfte, aller Empörung und Leidenschaft, die auf eine bessere Gesellschaft drängen? Und im Übrigen, das alles gibt es auch nach 150 Jahren keineswegs nur außerhalb, sondern, durch die gesellschaftliche Rückentwicklung bedingt, verstärkt auch wieder innerhalb der Partei. Schließlich empören die soziale Ungerechtigkeit und die politische Entmündigung, die uns der neue Finanzmarktkapitalismus zumutet, ja auch uns alle.