„Ich esse meine Suppe nicht“ Essen und Trinken am Lebensende – Probleme der Altenpflege aus hospizlicher Sicht Vortrag im „Haus der Wissenschaft“ Bremen, gehalten am 11. Mai 2013 Dr. med. Hans Schottky, Bremen „Am fünften Tage endlich gar der Kaspar wie ein Fädchen war“ Heinrich Hoffmann 1845 1 Vortrag „Ich esse meine Suppe nicht“ am 11. 5. 2013 im Haus der Wissenschaft. Meine Damen und Herren, ich bedanke mich für die Gelegenheit, an dieser Stelle wiederum einige Gedanken und Gesichtspunkte aus der Sicht der Hospizidee darstellen zu können. Ich darf mich kurz vorstellen: Ich bin von Haus aus Anaesthesist und Intensivmediziner. 2003 wurde ich pensioniert und bin seither für den ambulant tätigen Verein Hospiz Horn e. V. als Ehrenamtlicher tätig. Hospiz Horn ist Partner der Bremer Heimstiftung, insofern hat diese Gruppe mehr mit Heimbewohnern zu tun als andere ambulante Hospizvereine. Ich selbst hatte vor einige Jahren Gelegenheit, an dieser Stelle etwas zur Ethischen Fallbesprechung zu sagen, später hat unsere Mitstreiterin in Sachen Ethik-Moderation Frau Ilse Knapp etwas aus ihrer Erfahrung vorgetragen. Auch die Erfahrungen, von denen ich heute erzählen will, beruhen zum Teil auf den Protokollen und Diskussionen der Ethischen Fallbesprechungen, von denen im Jahr etwa 20 bis 30 anfallen, überwiegend für die Einrichtungen der BHS, aber auch für andere Träger. Hinzkommen die Kontakte mit Pflegenden aus dem sogenannten Runden Tisch, bei denen Pflegende aus einer Einrichtung Gelegenheit bekommen, Sorgen und Nöte, die sich aus der Betreuung von Bewohnern in der Lebensendphase ergeben, mit uns zu diskutieren, aus Kontakten mit der Qualitätsabteilung der Heimstiftung und anderen Mitarbeitern, und natürlich aus meiner eigenen Arbeit als Begleiter von Menschen in ihrer letzten Lebensphase. Im Zentrum dieser Betrachtungen soll der Begriff der Selbstbestimmtheit, der Autonomie im Alter und insbesondere bei Demenz stehen. Es leuchtet ein, dass Hochaltrige, insbesondere Demente als „vulnerable Gruppe“ besonders in Gefahr sind, Verletzungen ihrer Grundrechte zu erleiden. Alle Abhängigkeitsverhältnisse bergen die Gefahr der Grundrechtsverletzung und der Mißachtung der Menschenwürde bis hin zur Gewaltausübung. Die Patientenverfügung, bei deren Abfassung die Hospizdienste Hilfestellung und Beratung anbieten und die insofern besonderes Anliegen der Hospizlichkeit sind, sind ja nichts anderes, als der Versuch, Autonomie für die letzte Lebensphase zu garantieren. Erzwingen wäre zuviel gesagt; sie kann nur kooperativ und im Konsens erarbeitet werden. Bei der Diskussion über Autonomie und Selbstbestimmung am Lebensende kommen dem Erfahrenen sofort die Verweigerungshaltungen beim Essen und 2 Trinken, und auch die allgemeine – gefürchtete – Pflegeverweigerung in den Sinn. Beides häufige und schwierige Situationen in der Altenpflege, die ein hohes Maß von Professionalität erfordern und eben auch Kommunikation, genaue Klärung und Absprachen. Ein wunderbares Beispiel für ein absolut selbstbestimmtes Verhalten einer alten Dame vor und bis zu ihrem Tod wurde im Journal of the American Medical Association im Jahre 1994 von David Eddy veröffentlicht. Er spricht von seiner Mutter1. Sie war mit 84 Jahren nicht gesund, aber doch soweit aktiv und mobil, dass sie sich selbst – mit Hilfe – versorgen konnte, kleinere Einkäufe in der Nachbarschaft machen, lesen und sozial aktiv sein konnte. Sie genoss ihr Dasein. Alles das, was ihre Lebensqualität ausgemacht hatte, brach nach einer Kette von medizinischen Katastrophen zusammen. Sie wurde vollständig stuhlinkontinent, bettlägering, praktisch blind. Sie sah keinen Wert mehr in ihrem Leben und fragte ihren Sohn, seines Zeichens ja Mediziner, ob man „da nichts machen könnte“ – die Rede war von Euthanasie. Gewiss, sagte der Sohn, aber es ist illegal. „Was ist, wenn ich nichts mehr esse?“ Natürlich führe das zum Tode, aber es dauert Wochen bis Monate. Angenehm ist es nicht. „Und was ist, wenn ich nichts mehr trinke?“ Dann, so der Sohn, dauert es wenige Tage, meist weniger als eine Woche, bis man stirbt. „OK, das mache ich.“ Und so geschah es. Die alte Dame feierte ihren 85. Geburtstag im Kreise ihrer Lieben, und von Stund an aß und trank sie nicht mehr. Sie blieb 4 Tage bei klarem Bewußtsein, empfing Besuche und war guter Dinge. Insbesondere litt sie nicht. Am 5. Tage begann sie wegzudämmern, am 6. Tage starb sie. Spontane Reaktion einer Bekannten, der ich das erzählte: Wie furchtbar für die Angehörigen! Ist es wirklich so furchtbar? Bleibt – neben der Trauer – nicht letztlich eher das Bild einer ungemein starken und selbstbewussten Frau zurück, an die man sich gerne als Vorbild erinnert? Es ist klar, dass bei einem alten Menschen, der kognitiv intakt ist und energisch genug, seine Belange zu vertreten, das Problem der autonomen Entscheidung nicht existiert. Ich möchte aber an dieser Stelle an einen Punkt erinnern, der leider immer noch aktuell ist, obwohl Palliativversorgung ja nun nichts Neues mehr ist. Das ist das Problem des Durstes am Lebensende, des Durstgefühls und seine Behandlung. 1 David M. Eddy, MD, PhD: A Conversation With My Mother. Journal of American Medical Association (JAMA) 20. Juli 1994 Vol 272, No. 3 p. 179 - 181 3 Der aktive Verzicht auf jede Flüssigkeitszufuhr erweckt bei den meisten die Vorstellung der Tantalusqual unerträglichen Durstes. Und auch heute noch wird eine Infusionstherapie beim Sterbenden mit der drohenden Frage durchgesetzt: „Sie wollen doch Ihren Vater/Mutter usw. nicht verhungern und verdursten lassen!“ Die Vorstellung, die dahinter steht, ist falsch, zumindest was das hohe Alter und die Sterbesituation betrifft. Die alte Dame in dem erwähnten Beispiel litt nicht unter Durst. Eine empirische Untersuchung an Sterbenden einen Tag vor ihrem Tode ergab: Ein Drittel hatte keinen Durst, ein Drittel hatte Durstgefühl, litt aber nicht darunter. Nur der Rest hatte unangenehmen Durst. Dieser Durst hängt nicht von der Flüssigkeitsbilanz, sondern vom Zustand der Schleimhäute ab. Systematische Schleimhautbefeuchtung lindert den Durst weit zuverlässiger als Infusionen. Ein Sterbender braucht keine Infusionstherapie. Hinzu kommt – ich erwähne das nur am Rande – , dass die gängigen Infusionen meistens viel zu viel Kochsalz enthalten und den Sterbenden durch Lungenstauung und Ödeme belästigen, ihm Atemnot verursachen und das Leiden im Sterbevorgang verschlimmern können. Auch Sauerstoff lindert übrigens die Atemnot nicht; fundamentale Aussagen der Palliativmedizin. Ich zeige Ihnen hier das bekannte Bild des Suppenkaspers aus dem Struwwelpeter von dem Arzt Heinrich Hoffmann, zuerst veröffentlicht 1846. Die Idee, für meinen kleinen Vortrag hier einen Bezug zu diesem klassischen Bild von Nahrungsverweigerung herzustellen, stammt von unserer seinerzeitigen Vorsitzenden, Frau Erika Nola. Wie Sie wissen, ist der Kinderbuchklassiker in den 80er Jahren des vorigen Jahrhunderts unter massive Kritik geraten, als angsterzeugend, gewaltbehaftet, ein Element schwarzer Pädagogik. Sicher nicht ganz falsch, aber man muss Hoffmann zumindest zugute halten, dass er die anarchisch-antiautoritären Impulse bei Kindern wenigstens gesehen und auch ernstgenommen, wenn auch nicht gebilligt hat. Ob die ironische Übertreibung die drohende Grimasse dahinter verbirgt, sei dahingestellt. 4 Drei Aussagen assoziiere ich mit dem Suppenkasper: 1. Die Autorität steht in wildem Konflikt mit den autonomen Impulsen – des Kindes, des abhängigen Pflegebedürftigen. 2. Nahrungsverweigerung ist unordentlich und antisozial. Der Mensch muss essen. 3. Nichtessen hat furchtbare physische Folgen. Die physischen Folgen, die dem Fehlverhalten strafend folgen, habe ich bei Stichwort Durst schon apostrophiert. Das Stichwort „Ordnung“ erinnert mich sehr an medizinische Vergangenheiten, die Zeiten des unhinterfragten Paternalismus, getreu dem Motto „doctor knows best“. Ich glaube nicht, dass die Zeiten unhinterfragter Ordnungsvorstellungen vorbei sind, weder in der Pflege noch in der Medizin. Sie nehmen gerne die Maske von Professionalität an: Richtige Pflege, richtige Medizin hat so und so und nicht anders zu sein. Wissenschaftliche Attitüde ist gelegentlich nichts anderes als autoritäres Gebahren; die unterstellte wissenschaftliche Evidenz ist nicht selten Täuschung, eine Mischung aus Gewohnheit und dem sogenannten Gesunden Menschenverstand 2. Ärzte sehen ihre Aufgabe darin, für den Patienten zu denken, was ihrer Fürsorgepflicht entspricht. Das ist gut und richtig so, hat aber seine Grenzen, die nicht immer scharf erkannt werden. Nicht der Arzt oder „die Medizin“, oder auch „die Pflege“ entscheiden über das, was zu tun ist. Sie leisten ihren Beitrag, indem sie beschreiben, was machbar und empfehlenswert ist. Die Entscheidung muss aus der Perspektive des Kranken gefunden werden, wenn dieser sie nicht selbst fällen kann. So ist das heutige wohlbegründete Verständnis sowohl von Recht als auch von Ethik. Die Entwicklung von Ethischer Kultur, dem sich auch unsere HospizGruppe verschrieben hat und an der sie sich beteiligt, hat zum Ziel, den Gedanken der Selbstbestimmung zum Tragen zu bringen, nicht nur in der schwierigen Einzelentscheidung (wenn es z. B. um die Frage geht, ob eine Sondenernährung durchgeführt werden soll oder nicht), sonder auch und gerade in der scheinbar banalen Alltagssituation. Um das zunächst ein bißchen theoretisch aufzuhellen, möchte ich ganz kurz an die sogenannte Prinzipien-Ethik erinnern, die sich in der Medizin weitgehend durchgesetzt hat, und die in gewisser Weise Modell steht für andere Entscheidungsbereiche – allerdings mit deutlichen Unterschieden und Begrenzungen gegenüber der Pflegeethik. Die Prinzipien sind 2 Der gesunde Menschenverstand ist eigentlich nur eine Anhäufung von Vorurteilen, die man bis zum 18. Lebensjahr erworben hat. - Albert Einstein 5 Ordnungsschemata für Argumente der verschiedenen Kategorien, die die Diskussion strukturieren und somit die Entscheidung bahnen können. Selbstläufer sind sie nicht. Zur Erinnerung: Die meistbenutzte Basis für medizinethische Entscheidungen ist die Prinzipienethik nach Beachamp und Childress, mit den Prinzipien von Nutzen für den Kranken Nichtschaden Autonomie und Gerechtigkeit. Nun lassen sich diese Prinzipien in dieser abstrakten Form nicht unmittelbar zur Ordnung praktischer Argumente nutzen, weswegen es Vorschläge gibt, sie sozusagen in andere Schubladen zu sortieren, in denen dann jeweils mehr oder weniger von den Grundprinzipien vorhanden ist. Ein vielgenutzter praktischer Vorschlag ist dieses Ordnungsschema: Medizinische Indikation Wahl des Patienten Lebensqualität Sonstige Gesichtspunkte, z. B. Finanzen. Man erkennt, dass in beiden Schemata das Prinzip der Selbstbestimmung tragende Bedeutung hat, und so lässt sich denn auch für die Altenpflege zwanglos die Formulierung vertreten: Die Achtung vor der Selbstbestimmung ist das tragende ethische Prinzip auch in der Altenpflege. Hospiz Horn führt im Jahr etwa 20 bis 30 Ethische Fallbesprechungen durch, meist, aber nicht ausschließlich für die Bremer Heimstiftung. Die Themen dieser Besprechungen lassen sich praktisch stets einer dieser vier Gruppen zuordnen: Essen und Trinken am Lebensende Herausforderndes Verhalten bei Demenz Konflikte zwischen Angehörigen und Pflegenden Ängste und emotionale Belastungen von Pflegenden. Ob es sich bei diesen Besprechungen wirklich stets um ethische Probleme und Entscheidungen handelt, ist an dieser Stelle nicht von Bedeutung. Tatsächlich ist die Thematik häufig von einer Beratung zur Versorgung nicht abzugrenzen, aber das ist vermutlich ein Spezifikum der Altenpflege, dem ich hier nicht weiter nachgehen möchte. 6 Ich möchte mich im folgenden auf zwei Problemfelder konzentrieren, die große praktische Bedeutung haben, nämlich die sogenannte PEG3 und die Nahrungsverweigerung bei Dementen. Beide Problemkreise hängen zusammen. Fehl- und Mangelernährung des Alten Menschen ist eines der großen Themen der Gerontologie, Nahrungsverweigerung eines der Hauptthemen der Altenpflege. Es gibt dafür sogar eine eigene Webseite: www.nahrungsverweigerung.de. Die Versuchung, das Problem der Ernährung mit einer Sonde zu lösen, ist groß. Die PEG – Percutane Endoskopische Gastroenterostomie – ist eine durch die Bauchhaut direkt in den Magen eingeführte Ernährungssonde. Um diese Sonden gibt es viele Diskussionen und auch rechtliche Auseinandersetzungen. Eine sei hier zitiert: Viele von Ihnen werden sich erinnern, dass im Jahre 2010 der BGH ein Urteil fällte in einem Totschlag-Prozess gegen einen bekannten Anwalt in München. Dieser hatte einer betreuenden Angehörigen geraten, eine PEG bei ihrer Mutter zu entfernen, die seit langem im Wachkoma lag. Die Patientin hatte genau für diesen Fall bestimmt, keine lebenserhalten Maßnahmen zu wünschen. Ich habe diesen Fall auf unserer Homepage etwas ausführlicher gewürdigt. Der Konflikt ging typischerweise von der Pflegedienstleitung aus. Nachdem die Tochter die PEG entfernt hatte, wurde eine sofortige Krankenhauseinweisung und Neuanlage der Sonde veranlasst sowie Anzeige wegen Tötung erstattet. Die Kranke starb eine Woche später. Der Anwalt wurde in erster Instanz zu Geldstrafe und Haft verurteilt. Der BGH sprach die Beteiligten frei und bezeichnete das Verhalten des Anwalts als ehrenhaft. Das Urteil wurde nahezu einhellig begrüßt. Man sollte meinen, dass bei dem Öffentlichkeits-Echo, das dieses Verfahren hervorgerufen hatte, die Rechtslage bei den Professionellen nun bekannt sei. Dem ist nicht so. Noch im vorigen Jahr hat Hospiz Horn eine Fallbesprechung durchgeführt, bei der genau diese Fallkonstellation strittig war und zu emotionalen Reaktionen seitens der Pflege führte. Es verwundert nicht, dass nach der Erfindung der PEG als einem kleinen unproblematischen Eingriff, der die Ernährung sichert, es zu einem epidemieartigen Anschwellen der Zahlen kam. Es soll Heime gegeben haben, die Demenzkranke ohne PEG garnicht erst aufnahmen. Diese Epidemie ist inzwischen abgeflaut, u. a. deswegen, weil sich zeigte, dass Demenzkranke mit PEG nicht länger leben als ohne. Damit entfällt die 3 Percutane Endoskopische Gastroenterostomie: Eine per Magenspiegelung eingeführte und durch die Bauchhaut herausgeleitete dünne Ernährungssonde. 7 Indikation, und die Gefahren der Methode, vor allem die des Refluxes und der Aspiration, traten in den Vordergrund. Heute kann man sagen, dass die Zahl der PEG in einem Heim ein umgekehrter Maßstab für die Versorgungsqualität in der Altenpflege ist. Man kann erleichtert feststellen, dass Bremen gut dasteht, insbesondere auch die BHS, deren Zahlen noch deutlich unter dem Bremer Durchschnitt liegen. Die Zahlen verdanke ich Frau Rosa Mazzola von der Uni Bremen. Häufigkeiten PEG: BHS Januar 2010 - in 16 Häusern 33 – das sind überschlagsweise etwas über 2 % Bremen - Aussage des Gesundheitsamtes für Bremen (Stadt) stat. Langzeitpflege 2003 - 7,8 % stat. Langzeitpflege 2009 - 6,7% Deutschland 2007 : demenzkranke Bewohner: 9 % schwer demenzkranke Bewohner: 14 % Mit der Aussage, dass eine PEG, wenn nicht indiziert oder vom Willen und/oder Interesse des Patienten nicht autorisiert, zu entfernen oder wenigstens nicht zu benutzen ist, sind wir keineswegs am Ende der Probleme angekommen. Zunächst einmal: Eine Sondenernährung, die nach strengen Kriterien rechtswidrig ist, muss in der Tat beendet werden. Begonnene Maßnahmen, auch eine Beatmung, sind kein Automatismus, ihre Beendigung keine aktive Handlung (z. B. Tötung), sondern die Unterlassung einer rechtswidrigen Maßnahme. Damit haben sowohl Angehörige als auch Pflegende Probleme. Pflegende möglicherweise aus Gründen falsch verstandener Professionalität oder auch aus weltanschaulichen Gründen, Angehörige, weil sie nicht loslassen können. In einem Fall eines schwer hirngeschädigten Patienten – nicht Apalliker, sonder das, was man heute als Minimal conscious state bezeichnet – konnte die betreuende Ehefrau der gänzlichen Nichternährung nicht zustimmen, obwohl sie ausdrücklich vom Kranken für diesen Fall vorgesehen war. Man einigte sich auf kalorienfreie Flüssigkeitszufuhr. Man darf vermuten, dass der Kranke wenigstens unter seinem Zustand der Nicht-Ernährung nicht gelitten hat. Jedenfalls war nach etwa 4 Wochen der Verfall so offensichtlich, dass man sich nun auf eine Beendigung der Maßnahmen einigen konnte. Ein fauler Kompromiss? Vielleicht. Jedenfalls ein Weg, der für Pflegende und Angehörige akzeptabel war. Wir haben ein ausführliches Nachgespräch mit den Pflegenden geführt und damit die emotionale Belastung ansprechen können. 8 Beim diesen Diskussionen muss man in jedem Fall bedenken, dass mit der PEGAnlage eines der letzten Elemente von Lebensqualität für den Kranken zerstört werden kann. Die Nahrungsaufnahme hat für den Schwerkranken, um den es sich hier handelt, eine völlig andere Bedeutung als für den Gesunden. Sie ist Genuss, soziale Ansprache – vor allem in den neuen DemenzWohngemeinschaften –, und eines der wenigen verbliebenen Elemente der Tages-Gestaltung. Nun einige Worte zur Nahrungsverweigerung. Um noch einmal kurz auf Hoffmanns groteske Geschichte vom Untergang des Suppenkaspers zurückzukommen: Die für uns heutige einzig sinnvolle Frage wäre ja gewesen, warum das unglückliche Kind die Suppe so energisch verweigert. Viele Eltern haben mit dem bizarren Eßverhalten von Kindern leidvolle Erfahrungen. Sie wissen aber eins: Zwang ist sinnlos. Und das wenigstens ist eine Gemeinsamkeit mit der Altenpflege. Ich möchte am Rande erwähnen, dass auch in Bremen bis in die jüngste Zeit Zwangsernährungen, nämlich über die berühmte 50er Spritze, mit der Sondennahrung seitlich in den Mund geflöst wurde, durchaus vorkamen. Sie waren einfach üblich. Das wurde natürlich gestoppt, nicht nur weil es rechtswidrige Gewalt, sonder auch weil es einfach riskant ist. Auf den Aspekt der Würde komme ich noch kurz zu sprechen. Nahrungsverweigerung erfordert zunächst eine professionelle Fahndung nach möglichen und behebbaren Ursachen. Hier eine Liste , wie sie – algorithmisch abgearbeitet – für Pflegende hilfreich sein kann (nach „Demenz aktuell“ vom 8. 4. 2013) körperliche Beschwerden (schlechtsitzender Zahnersatz, Schmerzen ...). Auch zu viele Medikamente können Ursache für Inappetenz sein. vergisst zu essen glaubt, dass er bereits gegessen hat mag lieber etwas Anderes (süß statt herzhaft) weiß nicht wie man isst, findet keinen Anfang hat Angst, dass er für das Essen bezahlen muss mag die Person nicht, die das Essen anreicht Umgebung ist zu laut, zu hektisch Des weiteren haben Demenzpflegende Strategien entwickelt, ihren Schützlingen das Essen akzeptabel und schmackhaft zu präsentieren, z. B. als Fingerfood und Häppchen, die sie im Gehen und nebenbei konsumieren. Körperliche und psychologische Ursachen sollten ausgeschlossen sein, bevor die Pflege zu dem Schluss kommt, dass der Kranke das Essen wirklich als Nahrung aktiv ablehnt. Das fällt den Pflegenden nicht leicht, und es bleibt vielleicht ein 9 Rest von Unsicherheit, ob sie sich irren, ob sie etwas übersehen haben, was man tun könnte. Genau in dieser Situation suchen sie nicht selten den Rückhalt in einer Ethischen Fallbesprechung, in der dann noch einmal Raum ist für ein Brainstorming, was man für den Kranken tun kann, um seine Nahrungsverweigerung zu ändern. Unsere Überzeugung ist, dass auch ein hochgradig Dementer noch ein nicht explizites Bewußtsein hat davon, was Nahrungsaufnahme bedeutet. Insofern ist sein Verhalten dann der letzte Rückzugsort seiner Selbstbestimmtheit. Man könnte es so formulieren: Nahrungsaufnahme – letztes Element von Lebensqualität, aber: Nahrungsverweigerung – letzte Insel der Autonomie. In dieser Situation sind Maßnahmen zur künstlichen Ernährung nicht angezeigt. Eine Infusionstherapie kann nur als Behandlungsversuch gerechtfertigt werden in der Hoffnung, dass die Haltung des Kranken reversibel ist. Das Behandlungsziel sollte ausdrücklich definiert werden, damit hier Therapie nicht zum zum hirnlosen Automatismus verkommt. Ein der Nahrungsverweigerung verwandtes Pflegeproblem ist die Pflegeabwehr, die allerdings nicht die gleiche vitale Bedeutung hat. Beide Problemfelder zeigen übrigens, dass in der Altenpflege Versorgungsprobleme und Ethische Probleme weniger klar zu trennen sind als in der Medizinethik; das nur am Rande. Auch Pflegeabwehr und –verweigerung ist Gegenstand von Ethischen Fallbesprechungen. Ich möchte einen besonders gravierenden Fall zum Anlass nehmen, über den wichtigen Begriff der Würde nachzudenken. Die totale Pflegeabwehr eines Bewohners führte nicht nur zu körperlicher Verwahrlosung, Verschmutzung und Vernachlässigung von Wohnung und Kleidung, sondern auch zur Geruchsbelästigung des ganzen Bereichs. Insofern waren eben auch Dritte von dem Problem betroffen, abgesehen von dem Ruf des Hauses („wie kann man es soweit kommen lassen . .“) und dem nicht auszuschließenden Leidenszustand des Betroffenen, der ja seinen Zustand vielleicht auch irgendwie leidend wahrnahm. Die Pflegenden gingen mit dem Problem äußerst zurückhaltend um: Kein Zwang, keine Gewalt, keine medikamentöse Fesselung, nur um einen Zusand äußerer Normalität herzustellen. Lediglich die Verlegung der Wohnung in einen weniger auffälligen Bereich erschien als zumutbare Option. Wir haben dieses Problem mit den Pflegenden eines sehr renommierten externen Hauses diskutiert, und die spontane Äußerung eines dortigen Pflegedienstleiters war: „Ich wundere mich. Man muss doch zunächst einmal die Würde des 10 Bewohners herstellen.“ Implizit also: Anwendung unfreiwilliger Mittel, z. B. Sedierung, zur Herstellung von Sauberkeit und Ordnung. Was ist Würde? Würde hat das Element des Selbstwertes und der Selbstbestimmtheit, aber sie entsteht eben auch im sozialen Kontext. Sie ist vor allem auch nichts Festgefrorenes. Pflege im Intimbereich, die dem gebrechlichen Kranken oder Alten zunächst inakzeptabel erscheint, ist ihm später Gewohnheit. Einen wunderbaren Kommentar zum Würdebegriff liefert die berühmte Geschichte von Bertold Brecht: Die unwürdige Greisin. Die alte Dame ist einfach ein bißchen unkonventionell und genießt ihre neue Freiheit. Das ist unordentlich, meint jedenfalls die Verwandtschaft, das gehört sich nicht. Die Pointe liegt ja offensichtlich darin, dass just das Unordentliche ihre Würde ausmacht. Ich glaube und habe den Optimismus, dass ein sehr praktischer Begriff von Würde sich in der Pflege darin ausdrückt, dass unkonventionelles, auch unangepasstes Verhalten von Bewohnern von den Pflegenden akzeptiert und möglich gemacht wird, soweit es eben nicht schädlich oder gefährlich ist. Es muss nicht alles ordentlich sein, man muss auch nicht immer essen. Pflege bei der Akzeptanz von manchmal ungewöhnlichen Verhaltensweisen von Bewohnern zu unterstützen, ist auch ein Anliegen der Hospizlichkeit bei Fallbesprechungen. Insofern habe ich mehr Sinn für die delikate Umgangsweise mit einem Bewohner unter totaler Pflegeabwehr als für die Durchsetzung einer „würdigen“ Äußerlichkeit. Gremzen gibt es sicherlich auch da, aber die müssen von Fall zu Fall ausgelotet werden. Gegen die hier vertretene Durchschlagskraft des Prinzips Patienten- und Bewohnerautonomie wird gerne eingewandt, dass der Mensch so autonom ja garnicht sei. Seine Ansichten wandeln sich, Meinungen anderer, neue Erfahrungen, Stimmungsumschwünge und –schwankungen können seine Urteile von jetzt auf gleich fundamental verändern. Natürlich, der Mensch ist kein Bronze-Monument, sondern ein lebendes Wesen mit seinem Widerspruch, seiner Dynamik und seinen Unsicherheiten. Ärzte, Pflegende und auch sonst die unmittelbar Beteiligten sind gut beraten, wenn sie diesen Wetterumschwüngen mit unerschütterlicher Gelassenheit begegnen. Die Entwicklung einer solchen Haltung ist Gegenstand des professionellen Trainings. Sie bedeutet nicht Gleichgültigkeit. Der arme Patient, auch wenn kognitiv intakt, ist ohnedies hin- und hergerissen; kalte Abweisung macht ihn nur unglücklich. Das Gefühl der subjektiven Freiheit ist uns unglaublich wertvoll, unabhängig davon, ob es der Wirklichkeit entspricht, ja, ob Willensfreiheit überhaupt existiert. Wie Sie wissen, ist diese Frage derzeit 11 neurophilosophisch heftig umstritten. Für uns ist sie irrelevant. Ein Bewohner, ein Patient, der sich entschließt, nicht unseren Vorschlägen zu folgen, sollte sehr wohl aus den Augenwinkeln die nach wie vor helfend ausgestreckte Hand wahrnehmen. Um dieses Prinzip zu illustrieren und Ihnen etwas zur Meditation mitzugegen, stelle ich an den Schluss dieser Ausführungen das Gedicht von John Donne: No man is an island, verfasst um das Jahr 1600, mit dem unspezifischen Titel „Meditation XVII“. No man is an island, Entire of itself. Each is a piece of the continent, A part of the main. If a clod be washed away by the sea, Europe is the less. As well as if a promontory were. As well as if a manor of thine own Or of thine friend's were. Each man's death diminishes me, For I am involved in mankind. Therefore, send not to know For whom the bell tolls, It tolls for thee. Nein, niemand ist eine Insel, schon garnicht in prekärer Lage: Krankheit, Demenz, Sterbelager. John Donne entwirft das Bild der Menschheit als Kontinent, zu dem jeder Mensch als Scholle, als Fleckchen Erde integral beiträgt. Menschheit ist nichts Abstraktes, sondern der Kontinent, der wir alle sind. Er schließt mit der berühmten Zeile: Frag nicht, wem die Totenglocke läutet. Sie läutet für Dich. Der Satz könnte Motto der Hospizbewegung sein, den sie seit etwa einer Generation versucht, in die Gesellschaft zu tragen. 12