BMBF-Statusseminar 2016 25./26. April 2016 | Berlin Ethik-Universität zur Regenerativen Medizin – ein Modell zur Förderung der „Ethics Literacy“ Hirschberg I1, Neitzke G1, Werdecker L1, Bossert S1, Meyer A2, Seidel G2, Dierks ML2, Strech D1 1 Institut für Geschichte, Ethik und Philosophie der Medizin 2 Institut für Epidemiologie, Sozialmedizin und Gesundheitssystemforschung; Patientenuniversität an der MHH Hintergrund Zielsetzung Bürgerbeteiligung gewinnt in der Forschung zunehmend an Bedeutung. Laut Empfehlung des Nuffield Council on Bioethics [1] sollte während der Entwicklung von „emerging biotechnologies” ein öffentlicher Diskurs initiiert werden. Voraussetzung für eine substanzielle Beteiligung der Bürger ist deren Kompetenz im Umgang mit normativ anspruchsvollen Fragen, eine Kompetenz, die hier als „Ethics Literacy“ bezeichnet wird. Ethics Literacy basiert auf der Synthese des Health Literacy-Konzeptes [2] und der Konzeption einer „Ethikexpertise“ nach Birnbacher [3]. Ethics Literacy umfasst die drei aufeinander aufbauenden Dimensionen: Information, Interaktion, Reflexion (Abb. 1). Diese Dimensionen sollen für die Entwicklung einer fundierten und diskursiv unterstützten Meinungsbildung zu ethischen Fragestellungen geschult werden. Im Rahmen einer Ethik-Universität zum Thema „Regenerative Medizin“ wird erprobt, wie sich dieses Bildungsangebot zur Wissensvermittlung und zur Anregung einer fundierten Meinungsbildung in ethischen, rechtlichen und sozialen Fragen eignet. Ferner werden die zugrundeliegenden Konzepte zur Vermittlung von Wissen und Ethikkompetenzen sowie zur Diskursförderung zwischen Experten und Laien evaluiert und weiterentwickelt. Information Interaktion Reflektion − Ethische Prinzipien, Werte und Begriffe − „Ethik-Betrieb“ − Gremien, Meinungsbildung, Instanzen − Thematischer Hintergrund, hier: Regenerative Medizin − Einfühlungsvermögen (Empathie) für die Standpunkte anderer − Ambiguitätstoleranz = Aushalten von Mehrdeutigkeiten und Ambivalenzen − Zurückhalten spontaner moralischer Urteile − Konfliktmediation: Die eine Seite für die Sichtweise der anderen Seite sensibilisieren − Begründung („Ich halte die Forschung mit menschlichen Embryonen für ethisch angemessen, WEIL …“) − Logik, Konsistenz („Wenn ich die Forschung mit 4 Tage alten menschlichen Embryonen für ethisch angemessen halte, kann ich die Forschung mit 4 Monate alten Embryonen nur dann ablehnen, wenn …“) Durchführung Die Ethik-Universität vermittelt Ethikexpertise auf der Basis von didaktisch-pädagogischen Anteilen der Gesundheitsbildung, wie sie in der Patientenuniversität der MHH entwickelt und erprobt werden. Expertenvorträge werden kombiniert mit interaktiven Lernstationen. Zudem werden bei der Ethik-Universität in moderierten Kleingruppen Interaktions- und Reflexionsfähigkeit auf Basis von Fallvignetten und -szenarien geschult. Die Lernstationen und Kleingruppen werden u.a. von speziell dafür geschulten studentischen Tutoren betreut. Themenbereiche sind u.a. Stammzellforschung/-therapie, Status des Embryos; Gentransfer / Gentherapie; Humanisiertes Tiergewebe (Chimärismus, Tierschutz, Status von Tieren als Quellen für regenerative Biomaterialien); Umgang mit Krankheit, Fragen des Menschenbilds; Rahmenbedingungen für „gute“ frühe klinische Forschung (z.B. Aufklärung / Einwilligung, Begutachtung durch eine Ethikkommission). Abb 1: Definition Ethics Literacy Survey: Interesse, Einstellungen Survey: Interesse, Einstellungen Methodisches Vorgehen und Evaluation Tag 1 Tag 2 Tag 3 Tag 4 TN 1. Durchgang 4 x formale Evaluation prä post Survey: Interesse, Einstellungen Tag 1 Tag 2 Tag 3 Tag 4 TN 2. Durchgang 4 x formale Evaluation prä WarteKontrollgruppe post Die Ethik-Universität wurde in 2012 und 2013 in zwei Durchgängen erstmals für Schüler durchgeführt [4]. Sie wird nun – basierend auf Evaluation und Erfahrungen – für interessierte Erwachsene > 18 Jahre modifiziert angeboten. Eine Vorbildung zu ethischen und medizinischen Grundlagen ist nicht erforderlich. Für 2016 sind zwei Durchgänge (Februar/März und Juni) mit je 4 Terminen à 3 Stunden für je 80-100 Teilnehmer geplant. Die Rekrutierung erfolgte u.a. über den Kulturverteiler Hannover (z.B. Bibliotheken, Bürgerämter), die lokale Presse, einen lokalen Radiosender, über Mailinglisten sowie über den Verteiler der Patientenuniversität Hannover. Für die Evaluation erfolgen 1.) eine formale Veranstaltungsevaluation zu Ablauf und Durchführung zu jedem der vier Veranstaltungstage sowie 2.) eine Evaluation mit Blick auf die Entwicklung von Ethics Literacy (Abb. 2). Die Evaluation zu Ethics Literacy erfolgt mittels einer diskursanalytischen Auswertung von Tonbandtranskripten der Gruppendiskussionen und einer standardisierten Erhebung zur Meinungs- und Willensbildung (Survey: Prä/Post-Erhebung mit Teilnehmern des 2. Durchgangs als Wartekontrollgruppe). Abb 2: Evaluationskonzept. (TN = Teilnehmer) Erste und erwartete Ergebnisse Beim ersten Durchgang der Ethik-Universität im Februar/März 2016 nahmen 74-93 Erwachsene teil (63,6 % weiblich / 36,4 % männlich, Alter 18-86 Jahre); für Juni konnten bisher 85 Teilnehmer rekrutiert werden. Das erste Feedback zu Inhalten und Ablauf war überwiegend sehr positiv, vereinzelt gab es z.B. Kritik am Zeitmanagement/-planung (zu wenig Zeit für Gruppendiskussionen) und den Wunsch nach noch mehr „Ethik-Anteilen“ bzw. kritischen Positionen zur Regenerativen Medizin, aber auch nach mehr medizinischem Hintergrund. Durch den Prä/Post-Vergleich von Meinungen, Einstellungen und Interesse der Teilnehmerinnen und Teilnehmer sowie durch die Analyse von Diskurseinheiten während der Veranstaltungsreihen soll die mögliche Entwicklung von Ethics Literacy nachvollziehbar gemacht werden. Hierdurch kann zum einen ein Beitrag zur Weiterentwicklung des Konzepts der Ethics Literacy geleistet werden; zum anderen dient die Auswertung auch der Bewertung und ggf. Anpassung des Konzepts der Ethik-Universität selbst. Aus den Erfahrungen der EthikUniversität mit Schülern (2012 und 2013) und mit Erwachsenen (2016) können Hinweise für die mögliche zukünftige Durchführung von ähnlichen Informations- und Diskursprojekten abgeleitet werden und für andere Kontexte nutzbar gemacht werden, z.B. für eine Stärkung der Bürgerbeteiligung in forschungsethischen Diskursen. Literatur [1] Nuffield Council on Bioethics (2012). Emerging biotechnologies: technology, choice and the public good. [2] Nutbeam D (2008). The evolving concept of health literacy. Soc Sci Med 67(12):2072-2078. [3] Birnbacher D (2002). Wofür ist der "Ethik-Experte" Experte? In: Gesang B (Hrsg). Angewandte Ethik. Aufgaben, Methoden, Selbstverständnis. Paderborn: 97-114. [4] Strech D, Hirschberg I, Meyer A, Baum A, Hainz T, Neitzke G, Seidel G, Dierks ML (2016). Ethics literacy and 'ethics university'. Two intertwined models for public involvement and empowerment in bioethics. Frontiers in public health 287. Kontakt Prof. Dr. Dr. Daniel Strech / Dr. Irene Hirschberg, MPH [email protected], 0511-532 2709/6498 [email protected], 0511-532 8241 Prof. Dr. Marie-Luise Dierks / Antje Meyer, MSc. PH [email protected], 0511-532 4458 [email protected], 0511-532 4038