SWR2 MANUSKRIPT ESSAYS FEATURES KOMMENTARE VORTRÄGE SWR2 Musikstunde Ouvertüren (3) Von Stephan Hoffmann Sendung: Redaktion: Mittwoch, 13. Januar 2016 Bettina Winkler 9.05 – 10.00 Uhr Bitte beachten Sie: Das Manuskript ist ausschließlich zum persönlichen, privaten Gebrauch bestimmt. Jede weitere Vervielfältigung und Verbreitung bedarf der ausdrücklichen Genehmigung des Urhebers bzw. des SWR. Mitschnitte auf CD von allen Sendungen der Redaktion SWR2 Musik sind beim SWR Mitschnittdienst in Baden-Baden für € 12,50 erhältlich. Bestellungen über Telefon: 07221/929-26030 Kennen Sie schon das Serviceangebot des Kulturradios SWR2? Mit der kostenlosen SWR2 Kulturkarte können Sie zu ermäßigten Eintrittspreisen Veranstaltungen des SWR2 und seiner vielen Kulturpartner im Sendegebiet besuchen. Mit dem Infoheft SWR2 Kulturservice sind Sie stets über SWR2 und die zahlreichen Veranstaltungen im SWR2-Kulturpartner-Netz informiert.Jetzt anmelden unter 07221/300 200 oder swr2.de 2 Musikstunde „Ouvertüre“. Folge 3 (13. 1. 2015) Heute mit Stephan Hoffmann. „Weil sie die Thür zu den folgenden Sachen aufschließet“ ist der Titel der Musikstunde in dieser Woche. Es geht um die Ouvertüre, die der Schlüssel ist zu allen möglichen Werken, zu Opern wie zu Schauspielen, zu Balletten wie zu Suiten oder die auch einfach nur für sich stehen kann. Heute geht es um die Entstehung der Programm-Ouvertüre. „Indessen sollte doch billig eine Sinfonie...einigen Zusammenhang mit dem Inhalte der Oper oder zum wenigsten mit dem ersten Auftritte derselben haben; und nicht allezeit mit einem lustigen Menuett, wie mehrenteils geschieht, schließen.“ Johann Joachim Quantz, der Flötist und Flötenlehrer Friedrichs des Großen, hatte genug von lustigen Menuetten als Opern-Einleitung und schrieb diese Sätze seinen komponierenden Zeitgenossen 1752 ins Stammbuch. Wenige Jahre zuvor hatte sich Johann Adolf Scheibe in der von ihm selbst verantworteten Zeitschrift „Der critische Musicus“ ganz ähnlich geäußert: „Es würde sehr lächerlich heraus kommen, wenn man zu einem Trauerspiele eine freudige und muntere Symphonie machen wollte, so wie es ebenso abgeschmackt seyn würde, wenn man einem Freudenspiele eine traurige und klägliche Symphonie vorsetzen wollte.“ Die Zeit der Opern-Ouvertüren, die mit dem Inhalt der Oper und ihrer Musik rein gar nichts zu tun hatten, war definitiv vorbei. Zwar hatte es auch früher schon Versuche gegeben, Opern und ihre Ouvertüren in eine erkennbare Beziehung zu setzen, aber jetzt, um die Mitte des 18. Jahrhunderts, beschäftigten sich auch die Musiktheoretiker verstärkt mit diesem Zusammenhang. Und da auch in der Musik die Theorie in der Regel der Praxis hinterher hinkt, ist dies ein untrügliches Zeichen dafür, dass die Verbindung zwischen Ouvertüre und Oper in allen Bereichen des Musiklebens angekommen war. Üblich waren zu dieser Zeit zwei Formen der Oper: Opera seria, also die ernste Oper, die sich aber durch die Künstlichkeit ihres Gesangs und durch die Weltfremdheit ihrer Libretti weit von der Lebenswirklichkeit der Menschen entfernt hatte. Der entgegengesetzte Operntyp, die Opera buffa, also die komische Oper, war auch ordentlich in die Jahre gekommen, wie bei der opera seria waren auch ihre Formen erstarrt, die immer gleichen Personen-Konstellationen und Witzchen waren verbraucht. Eine grundsätzliche Opernreform musste her und der Mann, der sie realisierte, hieß Christoph Willibald Gluck. „Mein Sinn war darauf gerichtet, die Musik wieder auf ihr wahres Amt zurückzuführen: dem Drama in seinem Ausdruck zu dienen, ohne die Handlung zu unterbrechen oder sie durch unnützen und überflüssigen Schmuck zu erkälten," schrieb er über seine Oper „Alceste“. Natürlich sollte auch die Ouvertüre diesem Zweck dienen und den Hörer auf die Oper vorbereiten. Das war immer dann gewährleistet, wenn die Ouvertüre ohne Unterbrechung in die Oper überging wie etwa bei Glucks 3 „Alceste“. Man kann diese Form der Ouvertüre zur Unterscheidung von anderen Formen Programm-Ouvertüre nennen. --------------Musik 1: Chr. W. Gluck, Alceste. Ouvertüre + Opern-Beginn. Chor und Symphonieorchester des Bayer. Rundfunks, Dir. Serge Baudo. Orfeo C 027 823F. CD 1, Tr. 1 - Tr. 2, 0'21“. Dauer: 6'23“ --------------Das waren die Ouvertüre und der Beginn der Oper „Alceste“ von Christoph Willibald Gluck, musiziert vom Chor und Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks unter Serge Baudo. Bei diesem Beispiel ging es vor allem darum, den Hörer durch die Ouvertüre auf die tragische Grundstimmung des gesamten Werkes einzustellen, weniger um motivische Verwandtschaften zwischen Ouvertüre und Oper – ganz so, wie man es 1807 in einem Lexikon nachlesen konnte: „Die Ouvertüre hat eigentlich keinen bestimmten Charakter, sondern sie nimmt den Charakter des Kunstwerkes an, dem sie als Eröffnungsstück vorhergehet.“ Beim Ritter Gluck gibt es alles, er hat ja nun auch wirklich genügend Opern geschrieben: solche mit dreisätzigen italienischen Ouvertüren, die musikalisch nichts mit der nachfolgenden Oper zu tun haben; solche mit einsätzigen Ouvertüren, die aber auch nichts mit der zugehörigen Oper zu tun haben; es kommt bei ihm auch der Fall vor, dass er dieselbe Ouvertüre für zwei verschiedene Opern verwandte – eigentlich erstaunlich bei einem Komponisten, der sich zumindest später so vehement für eine Verbindung von Ouvertüre und Oper einsetzte. Es gibt Opern wie die „Alceste“, deren Grundstimmung sich in der Ouvertüre wieder spiegelt; und es gibt Werke wie die Oper „Iphigenie in Aulis“ von 1774, bei der die Oper nicht nur bruchlos aus der Ouvertüre hervorgeht, sondern auch das gleiche thematische Material benutzt. -------------Musik 2: Chr. Willibald Gluck, Iphigenie in Aulis, Ouvertüre und Auftritt I (Agamemnon). José van Dam (Agamemnon), Orchestre de l'Opera de Lyon, Dir. John Eliot Gardiner. Archiv-Nr. 19077833. CD 1, Tr. 1+2. Dauer: 7'50“ -------------José van Dam als Agamemnon und das Orchestre de l'Opera de Lyon unter John Eliot Gardiner waren das mit der Ouvertüre und der ersten Szene aus Christoph Willibald Glucks Oper „Iphigenie in Aulis“. Dass sich Richard Wagner ganz besonders für Glucks „Iphigenie in Aulis“ interessierte, hat nicht nur musikalische Gründe. Natürlich fühlte Wagner eine geistige Verwandtschaft mit einem Komponisten, der 100 Jahre vor ihm selbst musiktheatralische Ideen entwickelt hatte, die in eine ganz ähnliche Richtung gingen wie Wagners eigene. Dass darüber hinaus „Iphigenie in Aulis“ von Wagners absolutem Lieblingsthema handelt, nämlich von der Opferbereitschaft 4 einer Frau, wird Wagner sicher gleichfalls fasziniert haben. Jedenfalls brachte er in seiner Zeit als Sächsischer Hofkapellmeister, also in den 1840er Jahren und kompositorisch zwischen „Tannhäuser“ und „Lohengrin“, das Werk des verehrten Gluck auf die Bühne. Wagners Gluck-Begeisterung ging so weit, dass er die Ouvertüre mit einem ordentlichen Schluss versah, um sie für den Konzertsaal verwendbar zu machen. Hier der Schluss von Wagners Bearbeitung. -------------Musik 3: Gluck/Wagner, Iphigenie in Aulis. Ouvertüre. Festival Strings Lucerne, Dir. Rudolf Baumgartner. Archiv-Nr. 1920779. Tr. 1, 8'14“ - 10'29“ (Track-Ende). Dauer: 2'15“ ------------Die Festival Strings Lucerne unter Rudolf Baumgartner mit Richard Wagners hinzu komponiertem Schluss zu Glucks „Iphigenie in Aulis“-Ouvertüre. Eigentlich ist das ja erstaunlich: Ausgerechnet Richard Wagner, der zu dieser Zeit schon längst an seinem Kunstwerk der Zukunft bastelte, bei dem es ihm gerade darum ging, die Ouvertüre – oder das Vorspiel, wie Wagner es nannte – als integralen Teil der Oper zu begreifen und eben keine Zäsur zwischen Vorspiel und Oper zuzulassen, ausgerechnet Wagner trennt bei Gluck das Vorspiel von der Oper, obwohl das dort gar nicht nicht vorgesehen ist. Wagners Wunsch, die „Iphigenie in Aulis“-Ouvertüre im Konzertsaal zu hören oder zu spielen, muss schon sehr groß gewesen sein. Aber natürlich hat Wagner nicht nur die Ouvertüren älterer Kollegen bearbeitet, sondern auch selber welche geschrieben – doch, beim frühen Wagner heißen die wirklich Ouvertüre und noch nicht Vorspiel. Und es gibt eine ganze Menge davon, seit der 17jährige Wagner eine Konzertouvertüre in B-Dur verfasste. Schon mehr von Wagners Personalstil steckt in der Faust-Ouvertüre. Er schrieb sie 1840, überarbeitete sie aber 1855 und hatte eigentlich den Plan, eine komplette FaustSinfonie zu schreiben, mehr als ein Satz – eben diese Ouvertüre – ist dabei allerdings nicht heraus gekommen. Folgende Zeilen aus der Studierzimmer-Szene aus dem ersten Akt von Goethes Dichtung gab Wagner seiner Ouvertüre mit auf den Weg: „Der Gott, der mir im Busen wohnt, kann tief mein Innerstes erregen; der über allen meinen Kräften thront, er kann nach außen nichts bewegen. Und so ist mir das Dasein eine Last, der Tod erwünscht, das Leben mir verhasst.“ -------------Musik 4: Richard Wagner, Faust-Ouvertüre. Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks. Dir: Jeffrey Tate. EMI Classics 7 05514 2. The Other Wagner. CD 1, Tr. 1. Dauer: 11'28“ --------------Das Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks unter Jeffrey Tate war das mit Richard Wagners Faust-Ouvertüre in der überarbeiteten Fassung von 1855. Die radikalste Form der Ouvertüre – nein, jetzt heißt sie wirklich Vorspiel – entwickelte Wagner im „Ring des Nibelungen“. Es sind eigentlich gar keine 5 eigenständigen musikalischen Gebilde mehr, sie sind auch, gemessen an der monströsen Dauer der vier „Ring“-Abende, erstaunlich kurz. Gar nicht zu vergleichen mit dem „Meistersinger“- oder „Parsifal“-Vorspiel, die zwar auch bruchlos in die Oper münden, aber doch so etwas wie eine eigene Physiognomie besitzen. Nicht zufällig kann man etwa dem „Meistersinger“Vorspiel gelegentlich in Konzerten begegnen trotz des etwas gewaltsam herbeigeführten Schlusses, den es so bei Wagner nicht gibt. Dennoch wäre eine solche Verwendung im Konzertbetrieb beim „Rheingold“- oder „Walküre“Vorspiel kaum denkbar. Deren Vorspiele sind schon Teil der ersten Szene. ------------Musik 5: Richard Wagner, Das Rheingold. Vorspiel Beginn 1. Szene. Gabriele Fontana, Woglinde; Ildiko Komlosi, Wellgunde; Margareta Hintermeier, Flosshilde. Cleveland Orchestra, Dir: Christoph von Dohnányi. Decca 443 690-2. CD 1. Tr. 1 + 2. Tr. 2, nach 1' ausblenden. Dauer: 4'55“ ------------Das Cleveland Orchestra und die Rheintöchter Gabriele Fontana, Ildiko Komlosi und Margareta Hintermeier unter Leitung von Christoph von Dohnányi mit dem Vorspiel zu Richard Wagners „Rheingold“, der wohl längsten ununterbrochenen Es-Dur-Periode der Musikgeschichte: 136 Takte reines Es-Dur, bevor mit dem ersten Auftritt der Rheintöchter die erste harmonische Veränderung passiert. Dieser harmonische Extremfall – die musikalische Darstellung des Rheins - hat nur Sinn in Verbindung mit der Opernhandlung, isoliert im Konzertsaal wäre ein Stück, das ausschließlich aus der Tonart Es-Dur besteht, doch etwas dürftig. Und noch einmal eine Ouvertüre, die nicht Ouvertüre heißt, aber eine ist, die unmittelbar und ohne Unterbrechung ins dramatische Geschehen hinein führt und die ähnlich prominent ist wie das Vorspiel zum „Rheingold“: Die Einleitung zu Joseph Haydns Oratorium „Die Schöpfung“. Diese Einleitung trägt einen Titel, der über ihren Inhalt Auskunft gibt: „Die Vorstellung des Chaos“. Für einen Komponisten wie Haydn, der ganz zentral an der Schaffung des klassischen Stils beteiligt war, also an Achttaktigkeit, Periodenbildung und Funktionsharmonik, muss die Darstellung des Chaos, also des exakten Gegenteils solcher klassischer Symmetrien, ein kaum lösbares Problem gewesen sein. Und wie aus den Kompositions-Skizzen hervor geht, war es das auch. Vielleicht hat Haydn die Aussicht auf ein exorbitantes Honorar über solche Schwierigkeiten hinweg geholfen. Der Londoner Impresario Johann Peter Salomon hatte Haydn 1795 das Textbuch des Oratoriums mitgegeben, Haydn war damals gerade auf dem Weg von seiner zweiten England-Reise zurück nach Wien und Salomon handelte als kluger Geschäftsmann; er wusste, dass Haydn in London außerordentlich beliebt war. Das gleiche galt spätestens seit Georg Friedrich Händel für die Gattung Oratorium. Wenn also Haydn zu einem Oratorium überredet werden konnte, waren die ausgelobten 2250 Gulden höchstwahrscheinlich hervorragend angelegtes Geld. Viel war es allerdings wirklich, der Monatslohn eines 6 Zimmermannsgesellen betrug damals gerade mal zehn Gulden. Wie gesagt: der Monatslohn! Hier also Haydns wunderbar tonmalerische Schilderung des Zustands der Welt vor der Schöpfung, also des Chaos, und gleichzeitig das ouvertürenähnliche Einleitungsstück des Oratioriums „Die Schöpfung“ voller verminderter Akkorde, voller Trugschlüsse und voller dissonanter Wendung. Für ein Ohr um das Jahr 1800 war das das reine Chaos, das erst beendet wird durch den vielleicht eindrucksvollsten und strahlendsten C-Dur-Akkorde der ganzen Musikgeschichte: „Und es ward Licht.“ --------------Musik 6: Joseph Haydn, Die Schöpfung. Kurt Moll (Raphael). Chor und Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks, Dir. Leonard Bernstein. DG 419 765-2. CD 1, Tr. 1 + Tr. 2, bei 2'53“ ausblenden. Dauer: 9'35“ -------------Kurt Moll als Raphael und Chor und Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks unter Leonard Bernstein waren das mit der Einleitung, der „Vorstellung des Chaos“, aus Joseph Haydns „Schöpfung“. Und das war für heute auch die Musikstunde mit Stephan Hoffmann über die Programm-Ouvertüre. In der Musikstunde morgen geht es unter anderem um die Potpourri-Ouvertüre. Das klingt nach Jahrmarkt und Wunschkonzert, und ein bisschen ist das auch so.