SWR2 Musikstunde

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SWR2 MANUSKRIPT
ESSAYS FEATURES KOMMENTARE VORTRÄGE
SWR2 Musikstunde
Ouvertüren (4)
Von Stephan Hoffmann
Sendung:
Redaktion:
Donnerstag, 14. Januar 2016
Bettina Winkler
9.05 – 10.00 Uhr
Bitte beachten Sie:
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Musikstunde „Ouvertüre“. Folge 4 (14. 1. 2015)
Heute mit Stephan Hoffmann. „Weil sie die Thür zu den folgenden Sachen
aufschließet“. Der Schlüssel zu den „folgenden Sachen“ ist die Ouvertüre, und um
die geht es in dieser Musikstunden-Woche, heute unter anderem um die so
genannte Potpourri-Ouvertüre.
Es muss ein spektakulärer Erfolg gewesen sein. Erst nach der 49. Aufführung wurde
Johann Strauss' „Fledermaus“ für einige Zeit abgesetzt – aber nicht, weil die
Nachfrage nach der Operette nachließ, sondern weil die Darstellerin des Prinzen
Orlowski krank wurde. Auf die Wiener Uraufführung im Jahre 1874 habe das
Publikum „mit einem Beifallstosen“ reagiert, „das das Haus erzittern machte“,
war in einer Zeitung zu lesen, und ein anderes Blatt berichtete: „Fast jede
Nummer setzte die Hände des Auditoriums in Bewegung, und nach den
Aktschlüssen konnte der schweißgebadete Strauß nicht rasch genug sein
Dirigentenpult verlassen, um der freundlichen Zuhörerschaft von der Bühne aus
für ihr Wohlwollen zu danken.“ Ein Kritiker sah sogar die moralische Untadeligkeit
des Komponisten in Gefahr: „Wir wollen seine Operette nicht in den Himmel
heben, sondern hübsch auf Erden bleiben, dass der Mann nicht übermütig
werde.“ Noch schwerer als der Erfolg der Uraufführung wiegt die Tatsache, dass
die „Fledermaus“ den Sprung von Operettentheatern in eine Staatsoper schaffte:
1894 in Hamburg. Der Dirigent hieß Gustav Mahler.
Der turbulente Charakter des ganzen Stücks wird durch den Beginn der
Ouvertüre vorweg genommen. Doch auch dieser Beginn bezieht sein
thematisches Material aus einer Nummer der Operette, in diesem Fall aus
Eisensteins Selbstentlarvung „Ja, ich bin's, den ihr betrogen. Aber rächen will ich
mich jetzt fürchterlich“. Dieses musikalische Zitat ist der Beginn zu einem
„Fledermaus“-Medley, in dem sämtliche Hits des Werkes wie an einer Perlenkette
fein säuberlich aufgereiht sind: vom Finale der Operette über Rosalindes
Abschiedsnummer von ihrem Ehemann Eisenstein, der zu einigen Tagen
Gefängnis verdonnert wurde, bis zum Finale des zweiten Aktes. Die Ouvertüre ist
ein klassisches Potpourri.
--------------Musik 1: Johann Strauß, Die Fledermaus. Ouvertüre. Royal Concertgebouw
Orchestra, Dir: Nikolaus Harnoncourt.
Teldec 2292-42427-2. CD 1, Tr. 1. Dauer: 9'03“
-------------Nikolaus Harnoncourt dirigierte das Concertgebouw Orchestra mit der Ouvertüre
zur wohl populärsten Operette überhaupt, zu Johann Strauss' „Fledermaus“.
Die Potpourri-Ouvertüre, bei der einfach einige Melodien aus der zugehörigen
Oper aneinander gereiht werden, hatte bei der Uraufführung der „Fledermaus“
schon eine jahrzehntealte Tradition. Einer der ersten, der sich dieses praktischen,
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weil zeitsparenden Verfahrens bediente – schließlich konnte man zu fast 100
Prozent auf musikalische Ideen zurückgreifen, die in der Oper selbst bereits fertig
formuliert zur Verfügung standen – einer der ersten, der Potpourri-Ouvertüren
komponierte, war Carl Maria von Weber; nicht nur, aber auch in der populärsten
seiner Opern, im „Freischütz“. Bei Potpourri-Ouvertüren hält sich der Komponist
sinnvollerweise an den von ihm selber formulierten Notentext, über die Abfolge
der einzelnen Themen aber kann er frei entscheiden, er ist nicht an die
Reihenfolge in der Oper gebunden. Auch wie oft und wie ausführlich ein Thema
vorkommt, liegt ganz im Ermessen des Komponisten. Das folgende Thema aus
der „Freischütz“-Ouvertüre stammt aus der Arie des Max aus dem ersten Akt, es
ist die Musikalisierung der Textworte „Doch mich umgarnen finstre Mächte! Mich
fasst Verzweiflung, foltert Spott!“
-----------Musik 2: Carl Maria von Weber, Der Freischütz. Ouvertüre. Berliner Philharmoniker,
Dir: Nikolaus Harnoncourt.
Teldec 4509-97758-2. CD 1, Tr. 1, 7'02“ - 9'52“. Dauer: 2'50“
------------Das Ende der „Freischütz“-Ouvertüre von Carl Maria von Weber mit den Berliner
Philharmonikern unter Nikolaus Harnoncourt.
Am vergangenen Montag, in der ersten Musikstunde dieser Woche, war die Rede
schon einmal vom musikgeschichtlich einmaligen Fall, dass ein Komponist zu ein
und derselben Oper vier verschiedene Ouvertüren verfasst hat: Ludwig van
Beethoven zu seiner einzigen Oper „Fidelio“ beziehungsweise, wie sie
ursprünglich hieß, „Leonore“. Wir verdanken Felix Mendelssohn Bartholdy mehrere
musikgeschichtliche Großtaten, beispielsweise die Wiederentdeckung von Bachs
Matthäuspassion im Jahre 1829, die Voraussetzung für die intensive Bach-Pflege
im Grund bis heute. Mendelssohn war es auch, der 1840 als erster in einem
Konzert alle vier Ouvertüren zu „Fidelio“ aufführte – ein erstaunlich modernes
Konzept-Programm.
Die vier Ouvertüren entstanden für vier „Fidelio“-Aufführungen: 1805, 1806, 1808
und 1814. Nur dass die Aufführung, die 1808 in Prag geplant war, gar nicht
stattfand. Außerdem gab der Wiener Verleger Tobias Haslinger ihr die
Numerierung „Erste Leonoren-Ouvertüre“ mit auf den verworrenen Lebensweg –
tatsächlich ist es die dritte. Interessanterweise ist die „Fidelio“-Ouvertüre von 1814,
die heute bei Aufführungen der Oper immer gespielt wird, mit Abstand die
knappste der Ouvertüren und sie hat thematisch mit der Oper wenig zu tun. Das
ist bei den Leonoren-Ouvertüren anders. Die Ouvertüre „Leonore I“ hat anstelle
der Durchführung einen langsamen Mittelteil, in dem Motive aus der Kerker-Szene
des zweiten Aktes zitiert werden. Doch weil es die Aufführung in Prag nie gab, hat
Beethoven diese Ouvertüre mit hoher Wahrscheinlichkeit nie gehört. Aber Sie
können sie jetzt hören, und zwar mit dem Radio-Sinfonieorchester Stuttgart unter
Neville Marriner
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------------Musik 3: Ludwig van Beethoven, Ouvertüre Leonore I op. 138. RadioSinfonieorchester Stuttgart, Dir. Neville Marriner.
Capriccio 10549. Tr. 7. Dauer: 9'32“
------------Das Radio-Sinfonieorchester Stuttgart unter Neville Marriner spielte Beethovens
erste Leonoren-Ouvertüre, die in Wahrheit die dritte ist, was aber bis vor wenigen
Jahrzehnten nicht bekannt war; bis dahin ging man allgemein davon aus, dass
die Zählung auch der Reihenfolge der Entstehung entspricht.
Verwirrung gibt es bei Ouvertüren sowieso häufiger – meistens waren die
Komponisten daran nicht ganz unschuldig, weil sie eine gerade benötigte
Ouvertüre oft genug einem anderen ihrer Werke entnahmen – aus Zeitgründen
oder warum auch immer. So zum Beispiel im Falle von Franz Schuberts
„Rosamunden“-Ouvertüre. Eine eigene „Rosamunden“-Ouvertüre hat Schubert
nämlich nie komponiert. Immerhin erhielt er 1823 den Auftrag, für das Schauspiel
„Rosamunde, Fürstin von Zypern“ aus der Feder von Helmina von Chézy eine
Schauspielmusik zu verfassen, was er auch tat – bis auf die Ouvertüre, die
entnahm er seiner Oper „Alfonso und Estrella“. Helmina von Chézy hatte sich
empfohlen durch das Libretto von Carl Maria von Webers „Euryanthe“, das sie
verfasst hatte. Doch das änderte nichts daran, dass „Rosamunde“ bei Publikum
und Kritik krachend durchfiel. Das Stück erlebte genau zwei Aufführungen, am 20.
und 21. Dezember 1823, dann wurde es abgesetzt. Es ist tatsächlich eine heillos
krude Handlung. Schuberts Musik allerdings hatte den Leuten ganz gut gefallen.
Völlig unklar ist aber, warum Schubert in seiner Vierhändig-Bearbeitung der
Rosamunden-Ouvertüre gar nicht die Einleitung von „Alfonso und Estrella“
verwandte, sondern die zur „Zauberharfe“, also zu einer ganz anderen seiner
Opern. Um die Verwirrung komplett zu machen, gab er dieser Ouvertüre, also der
zur „Zauberharfe“, dieselbe Opusnummer 26 wie der RosamundeSchauspielmusik. Hören Sie jetzt also Schuberts „Rosamunden“-Ouvertüre, die in
Wirklichkeit die Ouvertüre zur „Zauberharfe“ ist.
------------Musik 4: Franz Schubert, Die Zauberharfe. Ouvertüre. Chamber Orchestra of
Europe, Dir. Claudio Abbado.
DG 431 655-2. Tr. 1. Dauer: 10'13“
------------Das Chamber Orchestra of Europe unter Claudio Abbado war das mit Franz
Schuberts so genannter Rosamunden-Ouvertüre, die eigentlich die Ouvertüre zur
„Zauberharfe“ ist. Eine eigene Rosamunden-Ouvertüre gibt es nämlich gar nicht.
Ein bisschen Verwirrung stiftete auch Giuseppe Verdi mit dem Preludio, dem
Vorspiel, zu „Simone Boccanegra“. Die Oper entstand 1857 und war ein
furchtbarer Misserfolg, wofür Verdi einiges Verständnis hatte: „Die Partitur ist, so,
wie sie jetzt ist, nicht aufführbar,“ schrieb er an seinen Verleger. „Sie ist zu traurig,
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zu trostlos.“ Er brauchte einen anderen Librettisten und fand ihn fast 25 Jahre
später in Arrigo Boito, der eine ausgesprochene Doppelbegabung war: ein
begabter Dichter und ein bemerkenswerter Komponist. Der straffte das Libretto,
Verdi straffte die Musik, er änderte sie hier und dort, ersetzte das ursprüngliche
eher konventionelle Vorspiel, schrieb stattdessen die schönste Opern-Ouvertüre
seines Lebens, und schon wurde Simone Boccanegra ein Erfolg. Für mich ist es
wirklich die schönste Opern-Ouvertüre, die Verdi schrieb, wenn nicht die schönste
überhaupt. Eine Freundin, bekennende Opernliebhaberin, sagte mal, dies sei die
einzige Ouvertüre, bei der sie den Einsatz der Singstimmen, die genial in das
Vorspiel eingebettet sind, bedauere. Aber urteilen Sie selbst.
------------Musik 5: Giuseppe Verdi, Simone Boccanegra. Giovanni de Angelis, Paolo;
Stefano Rinaldi-Miliani, Pietro. Tokyo Symphony Orchestra, Dir. Roberto
Paternostro.
Capriccio 60018-2. CD 1, Tr. 1. Nach 4'40 ausblenden. Dauer: 4'40“
------------Giovanni de Angelis als Paolo, Stefano Rinaldi-Miliani als Pietro und das Tokyo
Symphony Orchestra unter Roberto Paternostro waren das mit dem Vorspiel zu
Giuseppe Verdis Oper „Simone Boccanegra“.
Sicher, mit Verismo, dieser naturalistischen Opernspielart, hat „Simone
Boccanegra“ nichts zu tun – alleine schon deshalb nicht, weil die Verdi-Oper
einen historischen Stoff behandelt und weil ihre Titelfigur der Doge von Venedig
ist, also ein Staatenlenker, während die Opern des Verismo in der damaligen
Gegenwart spielen und unter einfachen Leuten. Immerhin wurde die zweite
Fassung der Verdi-Oper, die mit dem wunderbaren Vorspiel, 1880 uraufgeführt,
und das ist zeitlich nicht gar so weit weg von den Leuchttürmen des Verismo.
Einer dieser Leuchttürme ist Pietro Mascagnis Opern-Einakter „Cavalleria
rusticana“, uraufgeführt 1890. Das Stück, mit dem Mascagni einen
Kompositionswettbewerb gewann, spielt laut Libretto um das Jahr 1880 und in
einem sizilianischen Dorf. Es gibt zwar ein Orchestervorspiel – Mascagni nennt es
genau wie Verdi „Preludio“ -, doch dieses Vorspiel ist bereits Teil der Szene. Es
wird unterbrochen, damit Turridu, die männliche Hauptperson, seine
Liebeserklärung an Lola loswerden kann, die ihn verlassen hat. Damit sind für die
nachfolgende Eifersuchtsgeschichte alle Voraussetzungen geschaffen, denn Lola
ist bereits verheiratet und macht trotzdem Turridu Avancen, was dem natürlich
gefällt. Die Sache geht aus, wie es in tragischen Opern halt üblich ist: Lolas
eifersüchtiger Mann fordert Turridu zum Kampf mit dem Messer und ersticht ihn.
Doch zurück zu Turridus gesungener Liebeserklärung in der Anfangsszene:
Danach setzt das Orchestervorspiel genau an der Stelle weder ein, an der es
durch den Gesang unterbrochen wurde. Auch diese Verschmelzung von
Orchester-Einleitung und Szene haben die Veristen bei Verdi abgeguckt – im
„Simone Boccanegra“ war das kompositorische Verfahren ganz ähnlich.
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-------------Musik 6: Pietro Mascagni, Cavalleria rusticana. Preludio. Plácido Domingo,
Turridu. Philharmonia Orchestra, Dir. Giuseppe Sinopoli.
DG 429 568-2. Tr. 1-3. Dauer: 7'45“ (auf Ende einblenden!)
-------------Das waren Plácido Domingo als Turridu und das Philharmonia Orchestra unter
Giuseppe Sinopoli mit dem Beginn von Pietro Mascagnis Operneinakter
„Cavalleria rusticana“
Und das war auch die vierte Folge der Musikstunde mit Stephan Hoffmann zum
Thema Ouvertüre. In der morgigen letzten Folge geht es um die Ouvertüre im 20.
und 21. Jahrhundert – wenn man da überhaupt noch von Ouvertüren sprechen
kann.
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