SWR2 MANUSKRIPT ESSAYS FEATURES KOMMENTARE VORTRÄGE SWR2 Musikstunde Ouvertüren (4) Von Stephan Hoffmann Sendung: Redaktion: Donnerstag, 14. Januar 2016 Bettina Winkler 9.05 – 10.00 Uhr Bitte beachten Sie: Das Manuskript ist ausschließlich zum persönlichen, privaten Gebrauch bestimmt. Jede weitere Vervielfältigung und Verbreitung bedarf der ausdrücklichen Genehmigung des Urhebers bzw. des SWR. Mitschnitte auf CD von allen Sendungen der Redaktion SWR2 Musik sind beim SWR Mitschnittdienst in Baden-Baden für € 12,50 erhältlich. Bestellungen über Telefon: 07221/929-26030 Kennen Sie schon das Serviceangebot des Kulturradios SWR2? Mit der kostenlosen SWR2 Kulturkarte können Sie zu ermäßigten Eintrittspreisen Veranstaltungen des SWR2 und seiner vielen Kulturpartner im Sendegebiet besuchen. Mit dem Infoheft SWR2 Kulturservice sind Sie stets über SWR2 und die zahlreichen Veranstaltungen im SWR2-Kulturpartner-Netz informiert.Jetzt anmelden unter 07221/300 200 oder swr2.de 2 Musikstunde „Ouvertüre“. Folge 4 (14. 1. 2015) Heute mit Stephan Hoffmann. „Weil sie die Thür zu den folgenden Sachen aufschließet“. Der Schlüssel zu den „folgenden Sachen“ ist die Ouvertüre, und um die geht es in dieser Musikstunden-Woche, heute unter anderem um die so genannte Potpourri-Ouvertüre. Es muss ein spektakulärer Erfolg gewesen sein. Erst nach der 49. Aufführung wurde Johann Strauss' „Fledermaus“ für einige Zeit abgesetzt – aber nicht, weil die Nachfrage nach der Operette nachließ, sondern weil die Darstellerin des Prinzen Orlowski krank wurde. Auf die Wiener Uraufführung im Jahre 1874 habe das Publikum „mit einem Beifallstosen“ reagiert, „das das Haus erzittern machte“, war in einer Zeitung zu lesen, und ein anderes Blatt berichtete: „Fast jede Nummer setzte die Hände des Auditoriums in Bewegung, und nach den Aktschlüssen konnte der schweißgebadete Strauß nicht rasch genug sein Dirigentenpult verlassen, um der freundlichen Zuhörerschaft von der Bühne aus für ihr Wohlwollen zu danken.“ Ein Kritiker sah sogar die moralische Untadeligkeit des Komponisten in Gefahr: „Wir wollen seine Operette nicht in den Himmel heben, sondern hübsch auf Erden bleiben, dass der Mann nicht übermütig werde.“ Noch schwerer als der Erfolg der Uraufführung wiegt die Tatsache, dass die „Fledermaus“ den Sprung von Operettentheatern in eine Staatsoper schaffte: 1894 in Hamburg. Der Dirigent hieß Gustav Mahler. Der turbulente Charakter des ganzen Stücks wird durch den Beginn der Ouvertüre vorweg genommen. Doch auch dieser Beginn bezieht sein thematisches Material aus einer Nummer der Operette, in diesem Fall aus Eisensteins Selbstentlarvung „Ja, ich bin's, den ihr betrogen. Aber rächen will ich mich jetzt fürchterlich“. Dieses musikalische Zitat ist der Beginn zu einem „Fledermaus“-Medley, in dem sämtliche Hits des Werkes wie an einer Perlenkette fein säuberlich aufgereiht sind: vom Finale der Operette über Rosalindes Abschiedsnummer von ihrem Ehemann Eisenstein, der zu einigen Tagen Gefängnis verdonnert wurde, bis zum Finale des zweiten Aktes. Die Ouvertüre ist ein klassisches Potpourri. --------------Musik 1: Johann Strauß, Die Fledermaus. Ouvertüre. Royal Concertgebouw Orchestra, Dir: Nikolaus Harnoncourt. Teldec 2292-42427-2. CD 1, Tr. 1. Dauer: 9'03“ -------------Nikolaus Harnoncourt dirigierte das Concertgebouw Orchestra mit der Ouvertüre zur wohl populärsten Operette überhaupt, zu Johann Strauss' „Fledermaus“. Die Potpourri-Ouvertüre, bei der einfach einige Melodien aus der zugehörigen Oper aneinander gereiht werden, hatte bei der Uraufführung der „Fledermaus“ schon eine jahrzehntealte Tradition. Einer der ersten, der sich dieses praktischen, 3 weil zeitsparenden Verfahrens bediente – schließlich konnte man zu fast 100 Prozent auf musikalische Ideen zurückgreifen, die in der Oper selbst bereits fertig formuliert zur Verfügung standen – einer der ersten, der Potpourri-Ouvertüren komponierte, war Carl Maria von Weber; nicht nur, aber auch in der populärsten seiner Opern, im „Freischütz“. Bei Potpourri-Ouvertüren hält sich der Komponist sinnvollerweise an den von ihm selber formulierten Notentext, über die Abfolge der einzelnen Themen aber kann er frei entscheiden, er ist nicht an die Reihenfolge in der Oper gebunden. Auch wie oft und wie ausführlich ein Thema vorkommt, liegt ganz im Ermessen des Komponisten. Das folgende Thema aus der „Freischütz“-Ouvertüre stammt aus der Arie des Max aus dem ersten Akt, es ist die Musikalisierung der Textworte „Doch mich umgarnen finstre Mächte! Mich fasst Verzweiflung, foltert Spott!“ -----------Musik 2: Carl Maria von Weber, Der Freischütz. Ouvertüre. Berliner Philharmoniker, Dir: Nikolaus Harnoncourt. Teldec 4509-97758-2. CD 1, Tr. 1, 7'02“ - 9'52“. Dauer: 2'50“ ------------Das Ende der „Freischütz“-Ouvertüre von Carl Maria von Weber mit den Berliner Philharmonikern unter Nikolaus Harnoncourt. Am vergangenen Montag, in der ersten Musikstunde dieser Woche, war die Rede schon einmal vom musikgeschichtlich einmaligen Fall, dass ein Komponist zu ein und derselben Oper vier verschiedene Ouvertüren verfasst hat: Ludwig van Beethoven zu seiner einzigen Oper „Fidelio“ beziehungsweise, wie sie ursprünglich hieß, „Leonore“. Wir verdanken Felix Mendelssohn Bartholdy mehrere musikgeschichtliche Großtaten, beispielsweise die Wiederentdeckung von Bachs Matthäuspassion im Jahre 1829, die Voraussetzung für die intensive Bach-Pflege im Grund bis heute. Mendelssohn war es auch, der 1840 als erster in einem Konzert alle vier Ouvertüren zu „Fidelio“ aufführte – ein erstaunlich modernes Konzept-Programm. Die vier Ouvertüren entstanden für vier „Fidelio“-Aufführungen: 1805, 1806, 1808 und 1814. Nur dass die Aufführung, die 1808 in Prag geplant war, gar nicht stattfand. Außerdem gab der Wiener Verleger Tobias Haslinger ihr die Numerierung „Erste Leonoren-Ouvertüre“ mit auf den verworrenen Lebensweg – tatsächlich ist es die dritte. Interessanterweise ist die „Fidelio“-Ouvertüre von 1814, die heute bei Aufführungen der Oper immer gespielt wird, mit Abstand die knappste der Ouvertüren und sie hat thematisch mit der Oper wenig zu tun. Das ist bei den Leonoren-Ouvertüren anders. Die Ouvertüre „Leonore I“ hat anstelle der Durchführung einen langsamen Mittelteil, in dem Motive aus der Kerker-Szene des zweiten Aktes zitiert werden. Doch weil es die Aufführung in Prag nie gab, hat Beethoven diese Ouvertüre mit hoher Wahrscheinlichkeit nie gehört. Aber Sie können sie jetzt hören, und zwar mit dem Radio-Sinfonieorchester Stuttgart unter Neville Marriner 4 ------------Musik 3: Ludwig van Beethoven, Ouvertüre Leonore I op. 138. RadioSinfonieorchester Stuttgart, Dir. Neville Marriner. Capriccio 10549. Tr. 7. Dauer: 9'32“ ------------Das Radio-Sinfonieorchester Stuttgart unter Neville Marriner spielte Beethovens erste Leonoren-Ouvertüre, die in Wahrheit die dritte ist, was aber bis vor wenigen Jahrzehnten nicht bekannt war; bis dahin ging man allgemein davon aus, dass die Zählung auch der Reihenfolge der Entstehung entspricht. Verwirrung gibt es bei Ouvertüren sowieso häufiger – meistens waren die Komponisten daran nicht ganz unschuldig, weil sie eine gerade benötigte Ouvertüre oft genug einem anderen ihrer Werke entnahmen – aus Zeitgründen oder warum auch immer. So zum Beispiel im Falle von Franz Schuberts „Rosamunden“-Ouvertüre. Eine eigene „Rosamunden“-Ouvertüre hat Schubert nämlich nie komponiert. Immerhin erhielt er 1823 den Auftrag, für das Schauspiel „Rosamunde, Fürstin von Zypern“ aus der Feder von Helmina von Chézy eine Schauspielmusik zu verfassen, was er auch tat – bis auf die Ouvertüre, die entnahm er seiner Oper „Alfonso und Estrella“. Helmina von Chézy hatte sich empfohlen durch das Libretto von Carl Maria von Webers „Euryanthe“, das sie verfasst hatte. Doch das änderte nichts daran, dass „Rosamunde“ bei Publikum und Kritik krachend durchfiel. Das Stück erlebte genau zwei Aufführungen, am 20. und 21. Dezember 1823, dann wurde es abgesetzt. Es ist tatsächlich eine heillos krude Handlung. Schuberts Musik allerdings hatte den Leuten ganz gut gefallen. Völlig unklar ist aber, warum Schubert in seiner Vierhändig-Bearbeitung der Rosamunden-Ouvertüre gar nicht die Einleitung von „Alfonso und Estrella“ verwandte, sondern die zur „Zauberharfe“, also zu einer ganz anderen seiner Opern. Um die Verwirrung komplett zu machen, gab er dieser Ouvertüre, also der zur „Zauberharfe“, dieselbe Opusnummer 26 wie der RosamundeSchauspielmusik. Hören Sie jetzt also Schuberts „Rosamunden“-Ouvertüre, die in Wirklichkeit die Ouvertüre zur „Zauberharfe“ ist. ------------Musik 4: Franz Schubert, Die Zauberharfe. Ouvertüre. Chamber Orchestra of Europe, Dir. Claudio Abbado. DG 431 655-2. Tr. 1. Dauer: 10'13“ ------------Das Chamber Orchestra of Europe unter Claudio Abbado war das mit Franz Schuberts so genannter Rosamunden-Ouvertüre, die eigentlich die Ouvertüre zur „Zauberharfe“ ist. Eine eigene Rosamunden-Ouvertüre gibt es nämlich gar nicht. Ein bisschen Verwirrung stiftete auch Giuseppe Verdi mit dem Preludio, dem Vorspiel, zu „Simone Boccanegra“. Die Oper entstand 1857 und war ein furchtbarer Misserfolg, wofür Verdi einiges Verständnis hatte: „Die Partitur ist, so, wie sie jetzt ist, nicht aufführbar,“ schrieb er an seinen Verleger. „Sie ist zu traurig, 5 zu trostlos.“ Er brauchte einen anderen Librettisten und fand ihn fast 25 Jahre später in Arrigo Boito, der eine ausgesprochene Doppelbegabung war: ein begabter Dichter und ein bemerkenswerter Komponist. Der straffte das Libretto, Verdi straffte die Musik, er änderte sie hier und dort, ersetzte das ursprüngliche eher konventionelle Vorspiel, schrieb stattdessen die schönste Opern-Ouvertüre seines Lebens, und schon wurde Simone Boccanegra ein Erfolg. Für mich ist es wirklich die schönste Opern-Ouvertüre, die Verdi schrieb, wenn nicht die schönste überhaupt. Eine Freundin, bekennende Opernliebhaberin, sagte mal, dies sei die einzige Ouvertüre, bei der sie den Einsatz der Singstimmen, die genial in das Vorspiel eingebettet sind, bedauere. Aber urteilen Sie selbst. ------------Musik 5: Giuseppe Verdi, Simone Boccanegra. Giovanni de Angelis, Paolo; Stefano Rinaldi-Miliani, Pietro. Tokyo Symphony Orchestra, Dir. Roberto Paternostro. Capriccio 60018-2. CD 1, Tr. 1. Nach 4'40 ausblenden. Dauer: 4'40“ ------------Giovanni de Angelis als Paolo, Stefano Rinaldi-Miliani als Pietro und das Tokyo Symphony Orchestra unter Roberto Paternostro waren das mit dem Vorspiel zu Giuseppe Verdis Oper „Simone Boccanegra“. Sicher, mit Verismo, dieser naturalistischen Opernspielart, hat „Simone Boccanegra“ nichts zu tun – alleine schon deshalb nicht, weil die Verdi-Oper einen historischen Stoff behandelt und weil ihre Titelfigur der Doge von Venedig ist, also ein Staatenlenker, während die Opern des Verismo in der damaligen Gegenwart spielen und unter einfachen Leuten. Immerhin wurde die zweite Fassung der Verdi-Oper, die mit dem wunderbaren Vorspiel, 1880 uraufgeführt, und das ist zeitlich nicht gar so weit weg von den Leuchttürmen des Verismo. Einer dieser Leuchttürme ist Pietro Mascagnis Opern-Einakter „Cavalleria rusticana“, uraufgeführt 1890. Das Stück, mit dem Mascagni einen Kompositionswettbewerb gewann, spielt laut Libretto um das Jahr 1880 und in einem sizilianischen Dorf. Es gibt zwar ein Orchestervorspiel – Mascagni nennt es genau wie Verdi „Preludio“ -, doch dieses Vorspiel ist bereits Teil der Szene. Es wird unterbrochen, damit Turridu, die männliche Hauptperson, seine Liebeserklärung an Lola loswerden kann, die ihn verlassen hat. Damit sind für die nachfolgende Eifersuchtsgeschichte alle Voraussetzungen geschaffen, denn Lola ist bereits verheiratet und macht trotzdem Turridu Avancen, was dem natürlich gefällt. Die Sache geht aus, wie es in tragischen Opern halt üblich ist: Lolas eifersüchtiger Mann fordert Turridu zum Kampf mit dem Messer und ersticht ihn. Doch zurück zu Turridus gesungener Liebeserklärung in der Anfangsszene: Danach setzt das Orchestervorspiel genau an der Stelle weder ein, an der es durch den Gesang unterbrochen wurde. Auch diese Verschmelzung von Orchester-Einleitung und Szene haben die Veristen bei Verdi abgeguckt – im „Simone Boccanegra“ war das kompositorische Verfahren ganz ähnlich. 6 -------------Musik 6: Pietro Mascagni, Cavalleria rusticana. Preludio. Plácido Domingo, Turridu. Philharmonia Orchestra, Dir. Giuseppe Sinopoli. DG 429 568-2. Tr. 1-3. Dauer: 7'45“ (auf Ende einblenden!) -------------Das waren Plácido Domingo als Turridu und das Philharmonia Orchestra unter Giuseppe Sinopoli mit dem Beginn von Pietro Mascagnis Operneinakter „Cavalleria rusticana“ Und das war auch die vierte Folge der Musikstunde mit Stephan Hoffmann zum Thema Ouvertüre. In der morgigen letzten Folge geht es um die Ouvertüre im 20. und 21. Jahrhundert – wenn man da überhaupt noch von Ouvertüren sprechen kann.