Professor Dr. Sabine Henze-Döhring Musikwissenschaftlerin im

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Sendung vom 29.7.2013, 21.00 Uhr
Professor Dr. Sabine Henze-Döhring
Musikwissenschaftlerin
im Gespräch mit Hans-Jürgen Mende
Mende:
Herzlich willkommen zum alpha-Forum, meine Damen und Herren. Zu
Gast ist heute eine Opernliebhaberin, eine Opernkennerin, eine
Opernforscherin, nämlich Frau Sabine Henze-Döhring, Professorin für
den Bereich "Oper", wenn ich das mal so sagen darf. Der Anlass dieser
Sendung ist der 200. Geburtstag von Giuseppe Verdi. Wir wissen, es gibt
ein Verdi- und ein Wagnerjahr 2013: Viele haben sich auf Wagner
gestürzt, Sie jedoch, Frau Professor, auf Verdi. Warum ein neues VerdiBuch? Es ist ja nicht so, dass es bis heute zu wenig über Verdi gäbe.
Henze-Döhring:
Nun, warum ein Verdi-Buch? Sie sagen mit Recht, dass es genügend
Verdi-Bücher gibt. Mir kam es jedoch sehr darauf an, Verdi auch mal aus
einer anderen Perspektive in den Blick zu nehmen. Ich wollte seine
musikalischen Werke selbstverständlich ganz genau betrachten, aber ich
wollte doch auch ein bisschen die Patina von Verdi wegnehmen und
pragmatischer auf seine Musik schauen. Und ich wollte mir den
Menschen Verdi genauer anschauen. Wir wissen, Verdi gilt als der Bauer
von Roncole, aus armen, armen Verhältnissen stammend. Noch in
einigen Büchern, die in diesem Jahr erschienen sind, kann man das
nachlesen. Aber in unserem Fach ist längst bekannt, dass das alles gar
nicht so gewesen ist, dass das ein ganz knallharter Geschäftsmann
gewesen ist, dass er ein sehr gebildeter Mensch gewesen ist usw. Der
"Bauer von Roncole" passt da herzlich wenig zu ihm. Ich wollte so ein
bisschen Aufklärungsarbeit leisten und ihn ein bisschen zurechtrücken.
Ich habe aber auch seine Vorgeschichte und seine postume Wirkung
betrachtet. Man feiert ihn ja als großen Revolutionär, als Galionsfigur der
italienischen Einigungsbewegung, als politisch engagiert, also liberal, als
Volkstribun usw. Aber wenn man genauer hinschaut, wenn man die
Quellen genauer studiert, wenn man sich also mit dieser Materie genau
befasst, dann merkt man sehr, sehr schnell, dass das Sichtweisen des
späten 19. Jahrhunderts waren – wenn nicht des 20. Jahrhunderts. Man
merkt dann, dass man aus Verdi eine Figur gemacht hat, die für etwas
anderes steht und die nicht für das genommen wird, was er eigentlich
gewesen ist. Das wollte ich auf diesen 123 Seiten ein wenig
zurechtrücken. Ich wollte vor allem nicht nur eine reine Biografie
schreiben, denn das hätte mich in der Tat nicht interessiert, sondern ich
wollte eine Werkdarstellung machen, eine Betrachtung seiner Werke
unternehmen. Dies wollte ich jedoch einbetten und in Beziehung setzen
zu seiner Biografie und zu allgemeinen operngeschichtlichen
Phänomenen.
Mende:
Das heißt, Sie wollen Verdi nicht demontieren ...
Henze-Döhring:
Nein, das will ich nicht.
Mende:
Es wird in Ihrem Buch deutlich, dass Sie auf der einen Seite ein Herz für
die Musik, für die Opern von Verdi haben. Aber das ganze Drumherum
wird von Ihnen sehr kritisch betrachtet. Heute würde man ja von einer
perfekten PR in Sachen Verdi sprechen. Diese perfekte PR wollen sie
jedoch hinterfragen.
Henze-Döhring:
Ja, hinterfragen wollte ich sie natürlich auch, aber ich wollte vor allem
ganz nüchtern und auch mit einer klar verständlichen Sprache die Dinge
richtigstellen und sagen: Das war ein Mann, der aus bürgerlichen
Verhältnissen kam, sein Vater war Gastwirt und besaß nebenbei einen
Krämerladen. Verdi hatte das große, große Glück, dass man sehr früh
sein Talent erkannt hat, dass er professionell gefördert wurde. Und dann
kam Verdi nach Mailand: Da war nichts mehr zu spüren von diesem
vermeintlichen Bauernsohn aus Roncole, aus angeblich ganz, ganz
armen Verhältnissen, denn da kam er aufgrund von Umständen, die uns
bis heute nicht zu 100 Prozent bekannt sind – aber wir können das ja
vom Ergebnis her nehmen – in adelige Kreise, wo er wirklich gefördert
und gesponsert wurde. Wäre das nicht so gewesen, dann wäre es
überhaupt nicht denkbar gewesen, dass dieser Mann, dass dieser
Nobody gleich mit seinem ersten Werk an der Scala landete. Denn
normalerweise fingen die Opernkomponisten in der Provinz an mit einer
kleinen Opera buffa. Wenn sie Glück hatten, machten sie dort noch eine
zweite und anschließend traten sie ihre Tour durch Oberitalien an. Und
wenn sie dann immer noch gut waren, dann durften sie vielleicht mal
nach Venedig oder nach Mailand. Aber dass jemand sofort als Nobody
mit seinem ersten Werk in Mailand an der Scala landete, also am ersten
oder zumindest einem der ersten Häuser Italiens, beruht ganz wesentlich
darauf, dass man das Talent dieses Mannes erkannt hatte, dass er eine
gute Bildung hatte, dass er eine gute musikalische Grundausbildung
besaß usw. Er war wirklich ein anderer als der, zu dem man ihn im Zuge
der späteren Rezeption gemacht hat.
Mende:
Woher kam das bei ihm? Gab es für ihn musikalische Vorbilder? Gab es
jemanden in seiner Familie, der sehr tief in der Kultur verwurzelt gewesen
wäre?
Henze-Döhring:
Nein, in seiner unmittelbaren Familie nicht. Aber er hatte ja die Förderung
durch die Barezzis.
Mende:
Das heißt, er hatte eine Familie als Mäzen, die ihn stark gefördert und
unterstützt hat.
Henze-Döhring:
Ja, von denen wurde er promotet. Und dann kam er nach Mailand. Dort
hatte er allerdings zunächst einmal die Enttäuschung zu verarbeiten,
dass er nicht aufgenommen wurde am Mailänder Konservatorium. Aber
vom Endergebnis her gesehen kann ich nicht erkennen, wo und wie ihm
das großartig geschadet hätte. Denn wenn man sich seinen Weg ansieht
und die Geschwindigkeit, die er dabei an den Tag legte, fragt man sich
schon: "Mein Gott, was hat er schon verpasst am Konservatorium? Wohl
nichts."
Mende:
Wie haben Sie denn Verdi kennengelernt? Was war denn Ihre erste
Begegnung mit einer Verdi-Oper?
Henze-Döhring:
Ich stamme ja aus einer Kleinstadt in Westfalen. In dieser Kleinstadt
gastierte eines Tages die Detmolder Landesbühne. Dort habe ich als
Kind mal seine Oper "Die Macht des Schicksals" gesehen. Das hat mich
unglaublich fasziniert. Im Anschluss daran hatte ich natürlich nur sehr
selten die Möglichkeit, eine Verdi-Oper zu sehen, denn dafür musste
man in die größeren und weiter entfernt liegenden Städte fahren. Aber im
Studium kam dann so allmählich die absolute Begeisterung für diese
Musik. In meiner Kindheit haben wir natürlich Platten gehört von morgens
bis abends. Das waren damals noch diese sogenannten
Querschnittplatten, auf denen nur die Highlights drauf waren. Die
deutsche Übersetzung davon konnten wir wirklich auswendig und haben
das vor uns hingesungen. Das heißt, meine Begeisterung für diese Musik
wurde bereits in früher Kindheit geprägt. Wie gesagt, kennengelernt habe
ich das alles über diese Querschnittplatten, die heute kein Mensch mehr
kennt und die sich auch niemand mehr auflegen würde.
Mende:
Sie waren auch noch meistens in deutscher Sprache gehalten.
Henze-Döhring:
Ja, mit diesen wabernden Zwischentexten! Herrlich!
Mende:
Ja, ich kenn die auch noch.
Henze-Döhring:
Sie kennen die noch? Aber die gibt es heute gar nicht mehr.
Mende:
Das heißt, Sie sind damals wohl auch mit diesem Gefühl aufgewachsen,
das damals sehr stark propagiert wurde: Wagner macht tolle Musik, ist
aber ein fieser Typ, ein unangenehmer Mensch, während Verdi auch
tolle Musik macht, aber eben ein Mensch ist, den man auch lieben kann,
den man als Menschen toll finden kann. Es gibt ja auch diese vielen
Bilder von Verdi: Er sah grandios aus, hatte mächtige graue Haare und
alle Welt weiß von seinem Altersheim Casa Verdi und seinem sozialen
Engagement. Mit diesen Bildern sind Sie vermutlich auch aufgewachsen,
oder?
Henze-Döhring:
Nein, als Kind oder in meiner Jugendzeit, also noch vor meinem
Studium, habe ich mich ehrlich gesagt um diesen Mann selbst gar nicht
gekümmert.
Mende:
Es war Ihnen also ganz egal, wer diese Musik geschrieben hat?
Henze-Döhring:
Ja, diese Frage hat sich für mich nicht gestellt. Ich habe meine herrlichen
Platten angehört und lauthals mitgesungen, d. h. ich habe mich einfach
an der Musik erfreut. Wagner? Mit Wagner bin ich eigentlich in meiner
Kindheit oder frühen Jugend überhaupt nicht in Berührung gekommen.
Auch in meinem Studium habe ich dann eher einen Bogen um ihn
gemacht. Denn in meinem Studium habe ich meine Doktorarbeit über
Mozarts "Don Giovanni" und über die Opera seria, die Opera buffa um
Mozart herum und in dessen Vorzeit gemacht. Mozart war in meiner
Kindheit mein absolutes Idol – und eben diese Opern. Mit Wagner bin ich
überhaupt nicht in Berührung gekommen – und ich weiß auch gar nicht,
ob ich das bedauern soll.
Mende:
Heute noch?
Henze-Döhring:
Ja (lacht).
Mende:
Da könnten wir jetzt lange diskutieren, aber das wollen wir nicht, denn
heute geht es ja um Verdi. Sie haben es soeben schon kurz angedeutet
und vielleicht schicken wir das einfach mal voraus: Was macht denn
eigentlich ein Musikwissenschaftler mit dem Spezialthema "Oper"? Was
ist seine Aufgabe? Man kann sich ja vorstellen, was ein Sänger mit Verdi
macht oder ein Instrumentalist oder ein Dirigent oder ein Regisseur. Aber
was macht ein Musikwissenschaftler? Sucht er Quellen? Forscht er nach
Unentdecktem? Wo liegt da Ihre Aufgabe?
Henze-Döhring:
Normalerweise betreibt ein Opernforscher Quellenforschung,
Quellensuche. Man fährt in die Archive, schaut sich die Partituren an, die
noch keiner gesehen hat, und versucht, einen historischen Bezug
herzustellen und einen opernkompositionsgeschichtlichen Kontext zu
erschließen. Bei Verdi ist das etwas einfacher, weil doch ein Großteil
seiner Partituren inzwischen in sogenannten kritischen Ausgaben
vorliegt.
Mende:
Da gibt es also zuerst einmal und im besten Fall die Handschrift eines
Komponisten. Diese handschriftliche Komposition wurde dann gedruckt,
nachdem sie von irgendwelchen Kopisten übertragen und von
Schriftsetzern gesetzt worden ist. Und dann gab es, wie bei Büchern,
über Jahrhunderte hinweg immer wieder Neuauflagen. Aber da schlichen
sich eben auch immer wieder Fehler ein. Die Aufgabe der
Musikwissenschaft besteht nun darin, herauszufinden, was denn
ursprünglich in einer Komposition gestanden hat. Das, was man eine
"kritische Ausgabe" nennt, ist eben eine Ausgabe, die die Fehler, die sich
eingeschlichen haben, herausgenommen hat.
Henze-Döhring:
Ja, eine kritische Ausgabe versucht diesen sogenannten ursprünglichen
Text zu rekonstruieren. Die modernere Sichtweise einer kritischen
Ausgabe besteht darin, dass sie versucht, bei einem Werk verschiedene
Fassungen, verschiedene Formen, zusätzliche Kompositionen
mitzuteilen, also die Vielfalt an Quellen und Texten, die das Gesamtwerk
z. B. bei der Oper "La Traviata" ausmachen. Denn es hat sich oft
irgendwann eine kanonisierte Form eines Werks durchgesetzt, die aber
nicht unbedingt dem entsprechen muss, was die Gesamtheit und die
Ganzheit des Werks ausmacht. Es wird dann in einer kritischen Ausgabe
all das kritisch studiert, kommentiert und belegt usw. Aber um auf Ihre
Frage zurückzukommen, was die Aufgabe des Musikhistorikers, des
Musikwissenschaftlers ist – und nicht des reinen Opernforschers, denn
da würden ja auch die Libretti dazugehören: Die Herausforderung
besteht nun darin – und das ist es auch, warum das für mich so
außerordentlich interessant ist und warum mich das mein ganzes Leben
bisher so fasziniert und beschäftigt hat –, dass man sich da wirklich mit
einer dramatischen Kunst befasst, einer dramatischen Kunst, die um
Grundfragen der Menschheit kreist: um Liebe, Eifersucht, Wettkampf, um
die Schlauheit der kleinen Bäuerin, um den Geizhals, der bloßgestellt
wird usw. Das sind alles wirklich grundsätzliche Menschheitsfragen und
die sind in ein Drama gegossen. Dieses Drama wird dann sozusagen
noch in Musik übertragen. Es ist ja nicht so, dass der Komponist sagen
würde: "Ah, das ist also der Text, da gieße ich jetzt ein wenig Musiksoße
drüber." Nein, diese Musik hat ja eine Struktur: Es ist ja ein geistiger Akt,
der zu dem geführt hat, was wir Musik nennen, d. h. es ist eine
intellektuelle, ganz bewusste, ganz überlegt und durchdacht
vorgenommene Tätigkeit, dieses Drama in Musik zu übertragen.
Mende:
Mit dem Ziel, das Drama emotional erfassbarer zu machen?
Henze-Döhring:
Ja. Ich sage meinen Studenten immer: "Oper ist, wenn man ein Drama
hat und dieses Drama vom Komponisten in Musik gegossen wurde!"
Denken Sie als Beispiel an Alfredo, wenn er zu Violetta sagt, diese Liebe
sei wie "der Herzschlag des Universums". Und dazu kommt nun diese
Musik. Ich kann das jetzt leider nicht vorsingen, ich bitte um Verständnis.
Mende:
Schade.
Henze-Döhring:
Ja, schade, aber ich kann das wirklich nicht bringen. Diese Aussage ist
also in diese wunderbare Verdi-Musik getaucht. Ich sage immer, das ist
so, als würde diese Musik direkt ins Herz greifen: "Ja, das ist die Liebe!
So wie der Herzschlag des Universums!" Diese Musik wirkt unglaublich
und bewegt die Menschen ganz tief und ergreift sie – insofern man
überhaupt dafür empfänglich ist, denn das ist, wie in allem, die
Voraussetzung dafür. Wenn man aber dafür empfänglich ist, dann ist das
etwas so Wunderbares, dass man sich nichts Schöneres vorstellen kann
– ich jedenfalls kenne nichts Besseres. Die Aufgabe des
Wissenschaftlers besteht nun darin, von diesen Emotionen zunächst
einmal Abstand zu nehmen und wirklich gezielt zu überlegen: Wie hat
der Komponist das gemacht? Wie geht der Komponist da mit den Arien
um? Wie geht er mit dem, wie wir das nennen, Formmodell einer Arie
um? Was hat er sich bei dem und dem Tonsatz überlegt? Alles wird
genau betrachtet und so zu deuten versucht, dass die Studenten bzw. in
diesem Fall die Leser das verstehen und danach dann eben dieses
Stück belehrter oder erfahrener hören und mit dem, was wir das
Wunderwerk "Oper" nennen, bewusster umgehen können.
Mende:
Das ist ja schrecklich! Können Sie eigentlich noch in die Oper gehen und,
ohne wissenschaftlich zu denken, einfach die Augen zumachen und die
Musik genießen?
Henze-Döhring:
Ja, und wie!
Mende:
Das geht also noch?
Henze-Döhring:
Ja, natürlich, es ist immer wieder ein großer Augenblick, wenn wirklich
alles passt. Ich habe vor einiger Zeit "Die Hugenotten" in Brüssel
gesehen oder "La Traviata" in Hannover mit der wunderbaren Nicole
Chevalier. Da habe ich mir schon gedacht: "Lieber Gott, ich bin ja so
dankbar, dass ich da dabei sein durfte!"
Mende:
Es gibt ja, wie ich neulich gelernt habe, neben der “ersten
Unmittelbarkeit“ auch den Ausdruck "zweite Unmittelbarkeit". Denn
Musikstücke, die über alle Zeiten hinweg geschätzt werden, haben
beides: Sie verursachen beim Hörer einen ersten emotionalen Eindruck.
So ein Hörer geht einfach völlig unbedarft in die Oper, hat vorher nichts
gelesen darüber und sitzt dann trotzdem da und sagt: "Ha, ist das toll!"
Die zweite Unmittelbarkeit ist diejenige, die auch noch jemanden wie Sie
ergreifen kann, nämlich den Hörer, der sich auskennt, der sich damit
intensiv beschäftigt hat.
Henze-Döhring:
Ich bin der felsenfesten Überzeugung, dass man dann, wenn man
diesen zweiten Schritt gemacht hat, mehr davon hat. Ich will das – wie
Sie es genannt haben – unbedarfte Hören einer Oper überhaupt nicht
kritisieren. Wenn sich einer in die Oper setzt und sagt: "Ich will einfach
nur einen schönen Abend haben und höre mir das jetzt mal an! Ob ich
das verstehe oder begreife, wer da wen liebt oder nicht lieben darf, ist mir
vollkommen egal! Ich lass das einfach mal auf mich wirken." Das ist völlig
legitim. Und es ist auch völlig legitim, wenn jemand sagt: "Ich will
wenigstens wissen, wer wen liebt, und lese mir halt vorher das Textbuch
durch oder ein Programmheft." Auch das ist völlig legitim, es gibt da
nämlich keine Gesetze. Aber ich bin davon überzeugt, dass man diese
Musik dann, wenn man ein bisschen eingedrungen ist in die Sache,
wenn man anfängt, davon etwas zu verstehen, noch ganz anders
genießen kann. Denn da erschließt sich einem plötzlich eine ganz Welt.
Man versteht viel besser! Man fühlt nicht nur, sondern man versteht.
Diese Zweiheit von sinnlicher Wahrnehmung und Verstehen ist bei der
Musikwahrnehmung sehr, sehr wichtig. Da geht es mir nicht um
irgendwelche unwichtigen Buchstaben im Text oder um eine bestimmte
Grammatik usw. Nein, es geht mir um das Verstehen im tieferen Sinne.
Damit die Menschen dieses tiefere Verstehen bekommen können, dafür
arbeitet der Opernforscher, wie ich ihn verstehe. Ich sehe jedenfalls
meine Aufgabe als Musikwissenschaftlerin genau darin. Ich möchte also
diese beiden Teile überhaupt nicht voneinander trennen.
Mende:
Denn es wäre ja tatsächlich schlimm, wenn das auf einmal nur mehr über
den Kopf liefe.
Henze-Döhring:
Ja, das wäre aber so was von furchtbar! Es gibt ja solche Leute, aber
mein Gott, die nehme ich nicht ernst, die sind halt so.
Mende:
Sie haben vorhin gesagt, dass die Musik von Verdi einem direkt ins Herz
greift. Kann man sagen, dass das etwas ist, was Verdi besonders gut
konnte?
Henze-Döhring:
Ja. Sie haben ja vorhin die Quellen angesprochen. Wir haben heute
aufgrund von sehr viel Forscherfleiß die Briefe von Verdi in sehr guten
Editionen vorliegen – noch nicht alle, denn es gibt noch keine VerdiGesamtausgabe der Briefe. Aber es gibt z. B. die dreibändige Ausgabe
des Briefwechsels von Verdi mit dem Verleger Ricordi, es gibt Bücher
zum Briefwechsel von Verdi mit seinen Librettisten. Wenn man das artig
liest, dann ist man sozusagen Gast in der Werkstatt von Verdi. Mit Piave
z. B. pflegte er einen recht kumpelhaften Ton und schreibt immer wieder:
"Komm! Mach mal!"
Mende:
Piave war einer seiner Librettisten.
Henze-Döhring:
Genau. Da kann man sehen, wie er sich die Dinge wirklich genau
überlegt hat. Das Allerwichtigste, das er begriffen hatte, bestand in
Folgendem: Die Musik bei Rossini, bei Donizetti usw. hatte einfach
immer zu lange gedauert! Da gab es immer wieder lange Phrasen aus
acht Takten und dann noch einmal acht Takten in der Wiederholung.
Oder es gab lange Rezitative, in denen die Handlung erklärt und erläutert
wurde, damit man auch jede Einzelheit genau versteht usw. Verdi hat
jedoch zu seinem Librettisten Piave gesagt: "Fasse dich kurz! Die Leute
wollen diese langweiligen Rezitative nicht mehr haben! Fasse dich also
kurz! Wenn du etwas in einem Wort statt in zwei Worten sagen kannst,
dann sag es in einem!" Und dann kam bei Verdi noch dieser Anspruch
bzw. seine große Leistung hinzu, eine Phrase, eine Melodik zu erfinden,
die eben knapp, prägnant und in sich komplex war. Denn er hat erkannt,
dass die Kategorie des Klanges, der Klangfarbe entscheidend ist, dass
sich die dramatische Situation nicht nur über die Melodik mitteilt, sondern
ganz wesentlich über die Kategorie des Klanges. Hierfür hat er das
berühmte Wort von der "tinta musicale", also von der Farbe der Musik
geprägt. Er sagte immer: "Ich habe die Tinta bereits im Kopf! Ich brauch
das nur noch hinzuschreiben!" Mit "Tinta" meinte er die Klangfarbe, die
genau zum Sujet passen musste. Dafür wollte er jeweils eine ganz
bestimmte Klanglichkeit entwickeln. Spezifisch für ihn ist auch noch diese
Knappheit, diese ungeheure Dichte seiner Musik, seiner melodischen
Formulierung, der knappen Phrase: Da wird nichts mehr erklärt, da ist
nichts mehr redundant, da sitzt alles! Das war sein Anliegen und das
macht auch seine Größe aus.
Mende:
Lassen Sie uns jetzt noch ein wenig zum Text, zur Sprache kommen. Ich
habe neulich mit jemandem diskutiert, der sowohl Verdi wie auch
Wagner singt. Es gibt ja nur ganz wenige Sänger und Sängerinnen,
denen es vergönnt ist, beides zu können. Dieser Sänger sagte mir, der
Unterschied bestünde darin, dass bei Wagner das Wort, der Text, die
Bedeutung des Textes ganz wichtig sei, während Verdi sogar mal gesagt
hätte: "Es reicht, wenn man pro Arie zwei, drei Worte erkennt, um zu
wissen, worum es so ungefähr geht." Bei Verdi herrscht also ein Vorrang
der Musik und der musikalischen Stimmung.
Henze-Döhring:
Auch dafür gibt es einen Fachausdruck.
Mende:
Es gibt dazu einen berühmten Satz von ihm.
Henze-Döhring:
Ja, das ist die Parola scenica. Das meint das knappe und prägnante
Wort, das wirklich sitzt: mit einem Schlag, mit einer knappen
Formulierung, mit einer sprachlichen Geste, die die Situation voll erfasst.
Das meinte ich vorhin, als ich von der Knappheit, der Dichte im Werk von
Verdi gesprochen habe. Knappheit könnte ja auch bedeuten, dass etwas
weggenommen wird oder dass etwas weniger wird. Aber bei ihm wurde
auf der rein textlichen Ebene nur dieses redundante Erläutern und
Erklären weggenommen. Und durch die Musik kam dafür etwas hinzu.
Aber eben nicht irgendeine Musik, sondern Musikdramatik. Und das hat
er meisterhaft verstanden.
Mende:
Es gab ja auch vorher schon hervorragende Komponisten wie Donizetti,
Rossini oder auch Bellini, der großen Einfluss auf Verdi hatte. Heißt das,
dass diese Vorgänger von ihm all das nicht so "zusammenfassen"
konnten? Denn das Besondere von Verdi war wohl, dass er diese
Sachen konzentrieren konnte. Und dennoch gibt es Opern von Verdi wie
z. B. "Don Carlos", die, wenn man sie fünfaktig spielt, auch in etwa
viereinhalb Stunden lang sind. Das heißt, es bleibt trotzdem auch bei
Verdi immer noch eine ganze Menge Musik und Wort.
Henze-Döhring:
Diese Oper dauert in der Tat länglich, und wenn man die komplette
Fassung nimmt mit dem Fontainebleau-Akt, dann stimmt das. Aber
schauen wir uns das mal im Detail an. Dieser Fontainebleau-Akt, der
zwar in der italienischen Bearbeitung immer weggefallen ist, dann aber
durch die wunderbare Editionsarbeit von Ursula Günther wiederentdeckt
wurde, wird seit ungefähr Mitte der 70er Jahre wieder öfter gespielt. In
diesem Akt kommt es erstmals zu der Begegnung zwischen Elisabeth
und Carlos. Er will schauen, wer denn nun diese Frau ist, die ihm als
Ehefrau zugesprochen worden ist. Es kommt also so allmählich zu der
Begegnung zwischen den beiden. Er begreift dann: "Das ist die Frau
meines Lebens! Diese Frau liebe ich! Das ist sie!" Sie wiederum fühlt das
Gleiche: Mit einem Schlag ist auch bei ihr die große Liebe da! Und in
dem gleichen Moment wird im Hintergrund der Frieden verkündet.
Mende:
Und das bedeutet, dass diese Ehe zwischen Elisabeth und Don Carlos
nun nicht mehr sein darf.
Henze-Döhring:
Ja, sie darf nun nicht mehr sein. In diesem einen Duett wird wirklich
zugleich, also zu gleicher Zeit erfasst, dass das wirklich eine große Liebe
ist – diese Liebe ist ja politisch geplant gewesen, weswegen es gut hätte
sein können, dass sich die beiden überhaupt nicht lieben – und dass
diese große Liebe mit der Haupt- und Staatshandlung, wie man das
früher genannt hat, auf eine ganz bestimmte Weise verknüpft ist, nämlich
mit diesem Friedensschluss. Fontainebleau ist zwar die ganze Zeit hinten
zu sehen, zunächst völlig unscheinbar, aber auf einmal leuchtet es in
ungeheurem Glanz und es kommt die Nachricht vom Friedensschluss,
der für die beiden eine Katastrophe bedeutet, denn Elisabeth soll nun
nicht mehr Carlos heiraten, sondern dessen Vater Philipp II.
Mende:
Es gibt Opern von Verdi, wenn man da versucht, deren Geschichte zu
erzählen, bekommt man zuerst einmal einen Schweißausbruch und
braucht mindestens fünf Stunden, um das alles darzulegen, weil da so
unglaublich viel Vorgeschichte usw. mit dabei ist. Das ist sicherlich etwas,
was einen verwirrt. Selbst wenn man eine ganzseitige Inhaltsangabe
gelesen hat, weiß man von der Geschichte, die sich auf der Bühne
abspielt, noch nicht allzu viel. Dieses hat freilich einen Vorläufer, denn
gerade bei der Belcanto-Oper sind die Geschichten ja oft nur ein äußerer
Anlass für etwas. Das heißt, die Arien sind in ihrem textlichen Gehalt
kaum erkennbar. Nehmen wir mal die berühmte Wahnsinn-Arie der
Lucia aus "Lucia di Lammermoor": Wenn man das hört, ohne zu wissen,
was das ist, dann könnte man wirklich alles Mögliche in diese Arie
hineininterpretieren. Ist der Umstand, dass für Verdi das einzelne Wort,
der Text nicht so wichtig gewesen ist, sondern dass es ihm viel eher auf
die Tinta, auf diese Grundfarbe angekommen ist, der Grund dafür, dass
er sich Libretti andrehen ließ, von denen man sagen kann, dass sie
eigentlich noch mal richtig überarbeitet gehört hätten? Nehmen wir mal
die Oper "Il Trovatore", also "Der Troubadour": Das ist doch eine
haarsträubende Geschichte!
Henze-Döhring:
Na ja, so haarsträubend ist sie gar nicht. Ich muss aber ehrlich sagen, als
ich noch jünger war, ...
Mende:
... haben Sie das auch gedacht?
Henze-Döhring:
Ja, da hatte ich das gelesen und kaum hatte ich es gelesen, hatte ich es
schon wieder vergessen. Als ich dieses Buch nun geschrieben habe,
musste ich mich aber wieder intensiv damit beschäftigen. Das Problem
dabei ist ja der Transferprozess, denn ich wollte einen knappen Text
produzieren. Ich kann heute sagen, dass man diese Geschichte sehr
wohl begreift und man begreift sie auch sehr schnell. Aber bis in jedes
Detail hinein muss man diese Geschichten gar nicht verstehen, um die
ganze Oper zu verstehen. Bei Verdi ist es ja so, dass er sich diese Texte
selbst ausgesucht hat. Es ist ja auch so ein Irrtum, wenn man immer
sagt, Verdi sei halt ein typischer Italiener gewesen: Bekommt einen Text
vorgelegt und dann muss dieser arme Kerl so eine Tragödie mit so
einem verwirrenden Text irgendwie vertonen. Aber so war es gar nicht,
sondern er hat sich nach den ersten zwei, drei Opern die Sachen selbst
ausgesucht. Das Hauptproblem bestand immer darin, eine gute Vorlage
zu bekommen. Er hat immer gesucht, gesucht, gesucht, bis er fündig
geworden ist. Und dann erst hat er sich an die Arbeit gemacht. Und er
hat eben auch selbst mit seinem Librettisten das Libretto erarbeitet und
hat sich diese Textvorlage dabei so zugeschnitten, dass sie zu seinen
dramatischen, zu seinen operndramaturgischen Vorstellungen passte.
Piave und Verdi haben oft Seite an Seite zusammengesessen und
haben an den Texten letzte Hand angelegt. Er, Verdi, hat da halt oft in
seiner typisch harschen Art Kommandos erteilt, wie das zu funktionieren
hat. Die Libretti von Verdis Opern sind meiner Meinung nach keine
Lesedramen oder Lesestücke, sondern es Stücke für das Theater im
Allgemeinen und für das Musiktheater im Besonderen. Aus diesem
Grund habe ich das bei meinem Büchlein eben anders gemacht als in
normalen Opernführern, wo erst langatmig die Handlung geschildert wird,
dann der Kommentar dazu folgt und am Ende ein paar Sätze zur Musik
verloren wird. Stattdessen führe ich den Leser eigentlich durch das
vertonte Werk. Das war mir sehr wichtig und das habe ich da umgesetzt.
Ich habe also nicht geschrieben: "1. Akt: So und so lieben sich, aber der
und der ist dagegen!" Ich habe stattdessen versucht, das dramatische
Geschehen in Verbindung zu bringen mit dem in Musik übertragenen
Geschehen – denn das ist auch Ereignis, das ist auch Handlung, eben in
Musik gegossene dramatische Handlung.
Mende:
Wagner hat daraus ja die Konsequenz gezogen und gesagt: "Ich
schreibe meine Texte selbst!" Sie sagten soeben, dass die Texte, dass
auch die frühen Texte der frühen Opern doch nicht so verwirrend sind,
wenn man sie liest. Oft werden da ja historische Ereignisse verarbeitet,
die dann auch noch meistens mit einer Liebesgeschichte verknüpft
werden – selbst dann, wenn die reale Vorlage eine rein politische
Geschichte gewesen ist. Glauben Sie nicht, dass der Erfolg einer Oper
mit einer nachvollziehbaren Geschichte zusammenhängt? Oder war
damals der Gang in die Oper für die Menschen so etwas wie der
sonntägliche "Tatort"? Die Menschen damals wollten einfach eine
spannende Geschichte erleben?
Henze-Döhring:
Der Opernbesuch war nicht etwas für die allgemeine, also die
sogenannte breite Bevölkerung, denn das war einfach teuer. Wenn wir
an die italienische Oper der Verdi-, Rossini-, Donizetti- oder Bellini-Zeit
denken, dann war etwas ganz wichtig, was wir heute gelegentlich
vergessen, weil unsere Wahrnehmung heute eine ganz andere ist: Der
Gesang war zentral.
Mende:
Kann man sagen, dass den Menschen damals die Geschichte, die Story
selbst nicht so wichtig gewesen ist?
Henze-Döhring:
Nun, ich kann die Menschen von damals ja nicht mehr befragen und ich
kann auch in deren Köpfe nicht mehr hineinschauen. Aber wenn man
sich die damaligen Selbstzeugnisse anschaut, dann merkt man, dass wir
aus heutiger Sicht den Gesang doch oft unterschätzen. Das merkt man
auch, wenn man sich anschaut, wie sehr die Komponisten darauf
geachtet haben, wer diese Partien überhaupt interpretiert. Die
Hauptsorge der Komponisten war ja immer, die richtigen Sänger zu
finden. Bei Giacomo Meyerbeer war das ganz stark ausgeprägt, denn er
hat teilweise seine Werke ewig liegen lassen, weil er die geeigneten
Sänger nicht hatte. Bei Verdi war das nicht viel anders. Wer überhaupt
singt, wer die Partien interpretiert, war ihm sehr, sehr wichtig. Denken Sie
an den berühmten Felice Varesi, der in der Uraufführung der Oper
"Rigoletto" den titelgebenden Hofnarren gesungen hat, denn da merkt
man einen sogenannten Wandel im Denken dessen, was bei einem
Sänger wichtig ist: kein reiner Schöngesang mehr, sondern der Gesang
muss dramatisch wahr sein, muss dramatisch charakterisiert sein. Wenn
man die damaligen Rezensionen liest, dann stellt man fest, dass die
Handlung nur kurz erzählt wird, während man sehr ausführlich auf die
Sänger einging. Diese Begeisterung für den Gesang! Das ist die Ebene,
die uns eine Antwort geben kann bei der Frage, warum die Menschen
damals in so großer Schar in die Oper gegangen sind: Es ging ihnen
meiner Meinung nach in erster Linie um die Sänger.
Mende:
Heute ist es ja fast schon umgekehrt: Da wird ausführlichst über die
Inszenierung geschrieben und nur relativ wenig über die Sänger. Anders
war wohl auch, dass sich die Besucher der Oper relativ wortreich
verhalten haben. Es gibt einen Bericht von Berlioz über eine DonizettiOper, in dem er schreibt, er hörte überhaupt niemanden mehr singen, er
habe nur noch gesehen, wie da die Sänger auf der Bühne ihre Münder
auf und zu gemacht hätten. Das heißt, das heute übliche andachtsvolle
Ausharren im Opernhaus ohne zu sprechen war damals noch nicht
bekannt. Wenn heute jemand hustet, dann wird sofort "pssst!" gemacht.
Damals war das nicht so: Eine Oper war ein Unterhaltungsunternehmen.
Henze-Döhring:
Ja, man ging das damals ganz entspannt an: Das war eben
Unterhaltung, wirklich Unterhaltung. Aber ich möchte gerne noch darauf
eingehen, warum heute die Regie so wichtig geworden ist. Das hängt,
wie ich vermute – wissen kann ich das nicht, ich kann das wirklich nur
vermuten –, damit zusammen, dass die Menschen heute doch sehr viel
mehr Wert auf das Visuelle Wert legen. Man nimmt heute in allen
Bereichen des Lebens vor allem visuell wahr: Man schaut. Damals
jedoch war die Attraktion eben der Gesang.
Mende:
Gab es denn eine regelrechte Inszenierung bereits zu Verdis Zeiten? Ich
habe mal gelesen, dass Goethe einer der Ersten gewesen ist, der
damals als Intendant in Weimar regelrecht inszeniert hat. Die damaligen
Schauspieler hätten daraufhin gefragt, ob Goethe einen Vogel habe: "Der
will uns erzählen, wie wir den Text aufzusagen und wo wir zu stehen
haben!" Die Opernsänger damals jedenfalls reisten von Ort zu Ort, weil
sie als Gäste engagiert wurden. Sie hatten wohl auch alle ihre eigenen
Kostüme mit dabei. Gab es denn damals schon einen Regisseur, der
gesagt hat: "Du kommst von dort unten, singst hier im Liegen und dann
lässt du dich von dort oben runterfallen!"?
Henze-Döhring:
Es gab einen Spielleiter, aber man hatte damals noch nicht das, was
man ein Regiekonzept nennen könnte. Was jedoch sehr wichtig war, war
die Ausstattung. Gerade bei Verdi kann man in seinen frühen Opern wie
z. B. "Alzira" bereits sehr gut beobachten, wie er überlegt und mitdenkt:
"Als Komponist kann ich doch nicht nur auf das in Musik gegossene
Drama an sich achten. Ich muss doch bei meiner Musik auch überlegen,
welchen Schauplatz ich z. B. habe." Das nannte man damals "Couleur
locale": Die Wiege dieser Art zu komponieren – also mit "Couleur locale"
und "Couleur de temps", also mit der Farbe des Ortes und der Zeit – war
in Paris in den Jahren ungefähr um 1830. Verdi hat sehr, sehr früh darauf
reagiert und hat sich Gedanken darüber gemacht, in welcher Zeit sein
Musikdrama eigentlich spielt. Und dann hat er versucht, so etwas wie
Couleur locale und Couleur de temps mit in seine Komposition
einzubeziehen. Aber den Regisseur, der gesagt hätte: "So, das ist also
das Stück, aber jetzt will ich mal sehen, was ich daraus mache oder wie
ich das interpretiere oder wie ich glaube, dass die Menschen das
verstehen müssen!", den hat es nicht gegeben.
Mende:
Ich kann mir vorstellen, dass nun viele, die Sie sehen und Ihnen zuhören,
sagen: "Ach Gott, was war das für eine schöne Zeit damals! Gäbe es die
doch heute auch noch!"
Henze-Döhring:
Man kann ja sehr wohl das eine tun, ohne das andere zu lassen. Ich
kenne wunderbare Regiekonzepte, die wirklich überzeugend sind. Das
ist einfach unsere heutige Zeit und dabei kann es von mir aus auch
bleiben. Aber man darf auch nicht die Regieleistung diskreditieren, die
das eben nicht macht, die nicht eine Metaebene mitinszeniert.
Mende:
Die ersten Opern von Verdi waren kein Erfolg, die erste Oper, die wirklich
großen Erfolg hatte, war "Nabucco". Danach gab es diese berühmte
mittlere Phase, in der er drei ganz große Erfolge komponiert hat.
Anschließend kam sozusagen die Spätphase und daraufhin eine lange
Ruhepause. Und zum Schluss kamen noch als Alterswerke "Otello" und
"Falstaff". In seinem langen Leben hat Verdi natürlich nicht nur
komponiert, sondern auch ein persönliches, ein privates Leben geführt.
Seine erste Frau ist relativ früh gestorben, seine zwei Kinder ebenfalls
und er wollte aufhören zu komponieren. Danach hat er dann zwölf Jahre
in "wilder Ehe" mit der Sängerin Giuseppina Strepponi zusammengelebt,
bevor er sie geheiratet hat. Findet sich dieses private Leben denn in
seinen Werken wieder? Wir haben vorhin schon über "La Traviata"
gesprochen. In dieser Oper geht es um die von der Gesellschaft
ausgegrenzte Frau: Hatte das etwas mit seiner zweiten Frau zu tun, die
ja von der Gesellschaft damals sehr misstrauisch beäugt worden war?
Wie viel persönliches Leben hat denn Verdi in seine Werke
hineingegeben?
Henze-Döhring:
Ich persönlich sehe keinen Bezug zu seinem Privatleben und zu seinen
Werken. Ich kenne, wie ich mir einbilde, die Quellen sehr genau. Die
Strepponi hat selbstverständlich mit geschaut bei seiner Textauswahl. Er
hatte ja so eine kleine Anthologie spanischer Dramen: Es kann sein,
dass sie ihm das nahegebracht hat und dass sie vielleicht gemeinsam
nach neuen Vorlagen gesucht haben. Sie hat sicherlich einen sehr, sehr
großen Anteil an seinem Leben auch als Komponist und hat an seiner
Berufstätigkeit im weitesten Sinne partizipiert. Aber dass persönliche
Erfahrungen auf so eine ganz psychologische Art in die Werke
eingegangen wären, ist außerhalb meines Vorstellungsvermögens.
Stattdessen glaube ich, dass er sich einfach sehr, sehr intensiv mit der
Literatur auseinandergesetzt hat. Denn das war ja Literatur, das waren
keine realen Lebensgeschichten. Das waren z. B. Romane von Victor
Hugo, das waren Theaterstücke von Shakespeare oder von Schiller usw.
Mende:
Das, was dann bei ihm dabei herausgekommen ist, war aber, wie man
wohl sagen muss, immer Shakespeare oder Schiller "light".
Henze-Döhring:
Das war eben kein Sprechtheater, sondern das war eben Musiktheater.
Das heißt, er musste diese Literatur, diese Dramen im Grunde
genommen in ein ganz anderes Medium übertragen.
Mende:
Das ist wohl so, wie wenn man z. B. ein Buch verfilmt, oder?
Henze-Döhring:
Ja, genau. Man überträgt ein Werk eines bestimmten Mediums in ein
neues Medium: z. B. ein Schauspiel in eine Oper. Man kann das, wenn
Sie unbedingt wollen, als defizitär betrachten, aber dann misst man so
eine Oper an Maßstäben, die man an eine Oper nicht anlegen sollte.
Verdis Opern sind Opern und keine vertonte Literatur! Denn das ist der
springende Punkt. Nehmen wir den Vergleich von "Don Carlos" bei
Schiller und Verdi. Ich habe mich mit diesem Thema selbst mal intensiv
auseinandergesetzt und auch mal vor einigen Jahren einen Vortrag
gehalten über "Schillers Belcanto-Opern". Bei diesem Buch nun habe ich
erneut gemerkt: Das eine ist das eine und das andere ist das andere!
Das heißt, das ist nicht Schillers Drama mit Musik, sondern etwas
anderes, Neues.
Mende:
Man sollte also das Drama von Schiller möglichst gar nicht kennen, wenn
man diese Oper anschaut. Das ist vermutlich so, wie wenn man in einen
Film geht und den Roman, der dem Film zugrunde liegt, vorher bereits
gelesen hat: Das ist meistens enttäuschend. Wagner hatte ja nach der
gescheiterten Revolution des Jahres 1848, an der er ja doch so weit
beteiligt gewesen war, dass er steckbrieflich gesucht wurde und vielleicht
sogar füsiliert worden wäre, wenn er nicht nach Zürich geflohen wäre,
jedenfalls das Gefühl, er müsse nun die Welt mittels der Kunst verändern
und bessern. Was wollte denn Verdi mit seinen Opern?
Henze-Döhring:
Verdi wollte erfolgreiche Opern schreiben.
Mende:
Er war also jemand, der Karriere machen wollte, der den Erfolg genießen
und Geld verdienen wollte.
Henze-Döhring:
Richtig. Da gibt es bei Verdi überhaupt kein Vertun: Er wollte mit seinen
Opern nicht die Welt verbessern. Verdi war gleichwohl politisch sehr
interessiert und hat sehr wohl wahrgenommen, was um ihn herum
passierte. Aber er wollte mit seinen Opern nicht die Welt verbessern.
Wenn das jemand behaupten sollte, kann ich nur sagen, dass es dafür
überhaupt keinen Beleg gibt. Er hat, das wird z. B. sehr oft vergessen,
gar nicht so regelmäßig in Italien gelebt, sondern er war über Jahre
hinweg in Paris. Eine Kollegin von mir hat vor Jahren penibel Tag für Tag
recherchiert, wo er wann gewesen ist: Er war viele Jahre in Paris, ist dort
viel ins Theater gegangen und hat einfach sein "Ding gemacht" als
Opernkomponist. Er wollte ein erfolgreicher Opernkomponist sein und er
wollte Geld damit verdienen, möglichst viel Geld. Er wollte an seinen
Werken auch Verwertungsrechte haben, wie er das in Paris gelernt hat,
denn er hat das dann auch für Italien mit seinem Verleger Ricordi
ausgehandelt.
Mende:
Es ging ihm also um die Urheberrechte, die es in diesem Sinne davor in
Italien gar nicht gegeben hat. Donizetti hat, glaube ich, 70 Opern in 20
Jahren schreiben müssen, um davon leben zu können. Denn wenn seine
Oper fertig war, wurde sie aufgeführt und er besaß keine Rechte mehr
daran. Jeder konnte sie hinterher jeder aufführen, wann und so oft er
wollte.
Henze-Döhring:
Genau. Und in Paris hat Verdi eben so etwas wie ein Urheberrecht
kennengelernt. Er hat das im Zuge seiner frühen Oper "Jérusalem"
mitbekommen, denn diese Oper wurde in den 1840er Jahren in Paris
uraufgeführt und sollte dann auch in Italien gespielt werden. Deswegen
hat er dann damit begonnen, mit seinem Verleger Ricordi Verträge
abzuschließen, die ihm eine Partizipation an den sogenannten
Verwertungsrechten sicherten. Das klappte dann aber nicht sofort, denn
zunächst einmal sollte das eine große fixe Summe sein. Man stellte dann
aber fest, dass in schlechten Zeiten die Leute nicht mehr in die Oper
gingen, sodass sich das nicht hinten und nicht vorne rechnete. Also hat
man eine prozentuale Beteiligung ausgehandelt usw. Verdi war einfach
ein gewiefter Geschäftsmann und wollte Geld verdienen. Für Verdi gab
es, das kann ich hier klipp und klar sagen, keinen künstlerischen Erfolg,
wenn die Kasse nicht stimmte.
Mende:
Das widerspricht einfach sehr den gängigen Vorstellungen von Verdi. Ihr
Buch rückt da wohl einiges zurecht. Man hat ja so die Vorstellung von
Verdi als gutem Menschen ...
Henze-Döhring:
Auch ein erfolgreicher Geschäftsmann kann durchaus ein guter Mensch
sein. Das schließt sich ja nicht aus.
Mende:
Hat er denn diese PR gefördert oder hat man das sozusagen über ihn
drübergestülpt? Waren das andere, die dieses ganz extrem positive Bild
des Menschenfreunds Verdi gezeichnet haben?
Henze-Döhring:
Das kam erst in späterer Zeit. Das stammt aus der zweiten Hälfte des 19.
Jahrhunderts. Das, was Sie als professionelles Marketing bezeichnet
haben, kam z. T. schon auf, als der Verleger Giulio Ricordi für die späten
Opern "Otello" und "Falstaff" mit unglaublichem Geschick Verdi
vermarktete. Nehmen Sie als Beispiel die frühe Verdi-Biografie von
Arthur Pougin und diese Geschichte mit "Nabucco" und dass Verdi nur
einen Blick gebraucht hätte, um festzustellen: "Ah, das ist das Stück!"
Das sind ja alles Legenden, die von meinen Kollegen und Kolleginnen
längst enthüllt wurden – d. h. ich kann da von deren Kärrnerarbeit nur
profitieren. Das war also ein Image. Diese Biografie von Pougin ist ja in
Frankreich in einer Vorform in einer Zeitung in 18 Teilen erschienen. Dort
stehen all diese Anekdoten noch nicht drin. Später kam diese Biografie in
Mailand in Buchform heraus. Da standen dann plötzlich in den Anhängen
zu den Kapiteln all diese Anekdoten drin. Und Anekdoten sind nun
einmal immer lustiger als die Wahrheit.
Mende:
Liegt dem auch das Bedürfnis des Publikums zugrunde, dass ein
Mensch, der Großes geschaffen hat, auch ein lieber, guter Mensch
gewesen sein muss? Das ist ja das, was die Leute bei Wagner so stört,
wenn sie sagen: "Das ist tolle Musik, aber das muss man von ihm als
Person trennen, denn er als Mensch war ein Ekel. Aber seine Musik ist
großartig." Man hätte also so gerne, dass beide Eigenschaften in einer
Person zusammenkommen, das Gute und das Große.
Henze-Döhring:
Sie fragen also, ob Verdi ein guter Mensch gewesen ist?
Mende:
Nein, ich frage mich, ob dieses Zusammenfügen eines Bildes, wie das
bei Verdi geschehen ist, daher kommt, dass man sich das eben so
wünscht: dass derjenige, der Großes schafft, eben auch ein guter
Mensch ist.
Henze-Döhring:
Das mag sein. Aber das würde dann ja bei Wagner überhaupt nicht
passen.
Mende:
Ja, das ist ja diese Diskrepanz, diese Ambivalenz, die man bei ihm hat
und unter der man leidet. Jeder Wagnerianer leidet unter dieser
Diskrepanz und beginnt daher jeden Satz zu diesem Thema mit den
Worten: "Leider ..., das muss man irgendwie verstehen ..., das kann man
vielleicht nachvollziehen ..." Bei Verdi hat man es hingegen geschafft, das
Werk und diesen Menschen gleichzeitig positiv zu gestalten.
Henze-Döhring:
Hier könnte natürlich immer noch, das fällt mir gerade im Moment ein,
das Klischee in Bezug auf die italienische Oper eine Rolle spielen.
Denken Sie daran, wie man Rossini rezipiert hat: als Koch, der so gerne
und so viel und so gut isst.
Mende:
Und als jemand, der immer seine Witzchen gemacht hat, während wir
heute wissen, dass er unter Depressionen litt.
Henze-Döhring:
Ja und man beschrieb ihn als kindlich usw. usf. Heute jedoch wissen wir,
dass er ein ganz komplexer und schwieriger Charakter mit einer
eigentlich schwierigen Existenz gewesen ist. Das hat einfach mit diesem
Klischee über die italienische Oper zu tun, die im Gegensatz zur
deutschen Oper stehen soll. Die italienische Oper ist Melodie und
Belcanto und man singt, was man in der Seele fühlt, während die
deutsche Oper die Harmonie ist, der Nebel, das Gedachte, das Dunkle,
das Komplexe, das Tiefsinnige und das Tiefgründige. Die italienische
Oper soll dagegen leicht, heiter, unproblematisch sein. Das, was Sie
sagen, kann also schlicht mit diesem Klischee zusammenhängen, mit
dieser etwas antagonistischen Sichtweise von italienischer und deutscher
Musik, die wirklich ururalt ist und immer mit denselben Bildern operiert:
dunkel und harmonisch, melodisch und leicht usw. Deswegen hat man
dann vielleicht auch die Menschen so gesehen. Ich glaube nicht, dass
Verdi ein einfacher Zeitgenosse oder gar ein fröhlicher Mensch gewesen
ist – vor allem dann nicht, wenn er Schwierigkeiten hatte und nicht
komponieren konnte.
Mende:
Puccini hingegen war angeblich ein richtiger Lebemann: Er besaß das
erste Auto, das erste Motorrad überhaupt, fuhr als Erster Motorboot usw.
Das sind die Klischees, an denen man sich gerne festhält, die aber
eigentlich absolut trivial sind. Man sagt ja bis heute, ein Intendant habe,
wenn er sein Haus voll bekommen muss, sozusagen eine "ABC-Waffe",
nämlich die Opern "Aida", "La Bohème" und "Carmen". "Aida" ist auch
tatsächlich, wie ich gelesen habe, die Oper mit den allermeisten
Gesamtaufnahmen, nämlich mit über 200. Wenn man sich nun –
angeregt vielleicht auch durch diese Sendung – mit Verdi beschäftigen
möchte, sich aber nicht den Tort antun will, alle seine Opern von der
Anfangszeit bis zum "Falstaff" anzuhören, mit was sollte man dann Ihrer
Meinung nach beginnen? Bei welcher Oper "entdeckt" man sozusagen
die Mitte Verdis?
Henze-Döhring:
Ich würde mit "Rigoletto" anfangen. Ich mache gerade ein Seminar über
Verdi und hatte dabei das für mich sehr freudige Erlebnis, dass jemand,
der überhaupt noch nichts mit Verdi zu tun hatte, der nur deshalb dieses
Seminar besucht, weil er das von seinem Studienplan her so machen
muss und sich darüber zu Beginn keineswegs gefreut hat, dass also
dieser Student dann mit wirklich leuchtenden Augen und Lobgesängen
gesagt hat, er sei glücklich, dass er dadurch "Rigoletto" kennengelernt
habe. Durch "Rigoletto" hat er wirklich einen Zugang zur Musik von Verdi
gefunden. Bei einem Referat im Seminar merkt man einfach, ob jemand
das Thema nur herunterleiert oder ob jemand wirklich ein Verhältnis zum
Thema bekommen hat. Ich würde also vorschlagen, mit "Rigoletto" zu
beginnen – und mit "La Traviata". So würde ich jedenfalls einsteigen.
Nicht vergessen darf man aber die Oper "Ernani", die heute nicht mehr
so bekannt ist, die damals jedoch sehr, sehr erfolgreich gewesen ist. Und
dann sollte man sich – das ist freilich die Oper, der meine persönliche
Leidenschaft gehört – "Don Carlos" widmen. Dieses Werk liebe ich in der
fünfaktigen Fassung über alles, denn ohne den ersten Akt mag ich es
nicht so gerne: Gerade der erste Akt mit seinem Duett und seinem Finale
ist absolut wunderbar!
Mende:
Dann müssen Sie diese Oper aber in aller Regel auch auf Französisch
ertragen.
Henze-Döhring:
Ja, das stimmt.
Mende:
Es macht Ihnen also nichts aus, dass da der Italiener Verdi eine Oper mit
einem französischen Text geschrieben hat?
Henze-Döhring:
Nein. Verdi war ein Kosmopolit, er hat lange Jahre in Paris gelebt, hat
sich dort sozialisiert und ging dort auch regelmäßig ins Theater, ins
Boulevardtheater. Er hat das alles in sich aufgesogen wie ein Schwamm.
Das ist ja schon wieder dieses Klischee: der Italiener mit seiner
italienischen Musik und seiner italienischen Sprache, in der der
Volksgeist wabern soll. Das ist schon wieder das alte Klischee, von dem
ich ja gerade ein bisschen weg wollte.
Mende:
Aber die Oper lebt schon auch von den Klischees.
Henze-Döhring:
Ja, richtig, sie lebt auch von den Klischees.
Mende:
Und die genießen wir. Wie schön, wenn unsere Vorurteile und Klischees
dann auch noch Bestätigung finden. Ich danke Ihnen ganz herzlich für
diese Einblicke in Verdi und seine Zeit und in die Verdi-Opern. Alles Gute
Ihnen. Und Ihnen, meine Damen und Herren, natürlich auch ein
herzliches Dankeschön für Ihre Interesse.
Henze-Döhring:
Ich bedanke mich auch sehr, sehr herzlich, dass Sie mir die Gelegenheit
gegeben haben, hier über Verdi zu sprechen.
Mende:
Herzlich gerne.
© Bayerischer Rundfunk
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