Anorexie und Bulimie - Revue Médicale Suisse

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Quadrimed 2011
Anorexie und Bulimie
B. Isenschmid
Dr med Bettina Isenschmid
Fachärztin Psychiatrie
und Psychotherapie FMH,
Psychosomatik SAPPM
Chefärztin Kompetenzzentrum
Essverhaltensstörungen, Adipositas
und Metabolismus
Spitalzofingen AG, 4800 Zofingen
[email protected]
Rev Med Suisse 2011 ; 7 : 264-5
Eine erhebliche Anzahl von Mädchen
und junge Frauen, aber auch jüngere
Männer in der Schweiz leiden an Stö­
rungen des Essverhaltens. Je schnel­
ler die Diagnose gestellt wird und die
Betreuung einsetzt, desto grösser sind
die Chancen für eine umfassende Genesung,
welche definiert ist durch ein aus­ge­woge­
nes und unbeschwertes Essverhalten und
Erreichen eines gesunden Gewichtsbe­
reichs mit Wiedereinsetzen von regelmäs­
sigen und spontanen Menstruationsblut­
ungen (korrelierend mit einem BMI 18,5
kg/m2 bzw. M (10. -) 25. BMI-Perzentile).
Follow-ups über 20 Jahre zeigen, dass ca.
30% der Fälle vollständig gebessert, 35%
teilweise gebessert, 25% chronisch krank
und 10% verstorben waren. In der Früher­
kennung und -intervention sind also vor al­
lem Hausärztinnen und Hausärzte zuneh­
mend gefordert. Aber auch bei günstigem
Verlauf verbleiben oft Restsymptome wie
übermässige Beschäftigung mit Körper, Ge­
wicht und Essverhalten. Häufig ist auch ein
Wechsel vom restriktiven Essverhalten bei
der Anorexie zu Essattacken und der Ent­
wicklung einer Bulimie oder eines Binge
Eatings. Für eine günstige Prognose spre­
chen frühes Erkrankungsalter und kurze
Krankheitsdauer vor Therapiebeginn. Un­
günstig sind eine lange Vorgeschichte mit
massivem Gewichtsverlust oder Gewichts­
schwankungen vor der Behandlung, beglei­
tende Persönlichkeits- und Verhaltenspro­
bleme sowie ein ungünstiges soziales Um­
feld. Die meisten Todesfälle sind direkte
Folge medizinischer Komplikationen oder
geschehen durch Suizid.
diagnostische kriterien
(icd-10)
Anorexia nervosa
Selbst herbeigeführter/aufrechterhaltener
Gewichtsverlust, Untergewicht mit BMI
l 18 kg/m2, sekundäre endokrine und
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metabolische Veränderungen, u.a. Ausfall
der Hypophysen-Gonaden-Achse mit Ame­
norrhoe, Störung der Körperselbstwahr­
nehmung mit Gewichtsphobie und aktiven
Mass­nahmen zur Gewichtsreduktion, Kon­
trollgefühl und Selbstbestätigung durch die
weitere Gewichtsabnahme.
Bulimia nervosa
Ständige gedankliche Beschäftigung mit
Figur und Gewicht, regelmässige Kontroll­
verluste mit Heisshungeranfällen (Binges,
mind. 3 x/Woche über 2 Monate), dazu kom­
pensatorische Massnahmen (Purging) wie
Erbrechen, Abführen, körperliche Aktivität,
Fastenphasen Gefühle wie Scham, Schuld
und Selbstekel.
differentialdiagnose –
was könnte es sonst sein ?
Somatisch : Chronische Infekte, z.B. Tu­
ber­kulose oder HIV, gastrointestinale Krank­
heiten, z.B. Zöliakie, Morbus Crohn, Colon
irritabile, und Lactoseintoleranz, endokrine
Krankheiten, z.B. Diabetes mellitus oder
Hy­perthyreose, Malignome sowie einzelne
neu­romuskuläre Erkrankungen. Psychia­
trisch : Depressive Reaktionen, Substanz­
missbrauch, Ernährungsstörungen bei Angstund Zwangserkrankungen sowie Schizo­
wichtigste aufgabe der
grundversorger : früh­
symptome erkennen
Erste Anlaufstelle sind oftmals Kinderärz­
tinnen, Hausärztinnen und Gynäkologinnen.
Die Patientinnen präsentieren sich meist mit
unspezifischen und für die Pubertätszeit
nicht ungewöhnlichen Symptomen wie Mü­
digkeit, Schwindel, Muskelschwäche oder
Amenorrhoe, während die Gewichtsverän­
derung oft nicht spontan erwähnt wird. Ess­
gestörte Patientinnen versuchen so lange
wie möglich den Eindruck aufrecht zu er­
halten, sich gut und fit zu fühlen. Viele sind
ausgesprochen fleissig und leistungsorien­
tiert.
Die Summe aus angegebenen Sympto­
men und Beobachtungen der Bezugsper­
sonen suggerieren oder ermöglichen die
Diagnose (Tabelle 1).
Tabelle 1. Symptomen und Warnsignale
Beobachtungen und Warnsignale
• Fortschreitende Abmagerung oder massive Gewichtsschwankungen
• Selbstabwertende Bemerkungen zu Figur und Gewicht
• Zwanghaftes Diäten, trotz Norm- oder Untergewicht
• Intensives Interesse an gesunder Ernährung, «Kalorien-Lexikon»
• Genaue Unterscheidung zwischen «verbotenen» und «erlaubten» Nahrungsmitteln
• Kälteempfindlichkeit, Blauverfärbung von Finger und Zehen
• Zyklusunregelmässigkeiten
• Schwindel und Kollapsneigung
• Konzentrations- und Aufmerksamkeitsstörungen, Gedächtnisprobleme
• Erschöpfung und Schwächeanfälle werden verleugnet oder bagatellisiert
• Konsum von Medikamenten und Substanzen, die das Abnehmen unterstützen
• Rückzug aus dem sozialen Umfeld, sich abkapseln, isolieren
• Verabredungen nicht mehr einhalten, andere blöd und undiszipliniert finden
• Überlegenheitsgefühl («ich brauche nicht, was andere brauchen»)
• Übertriebene körperliche Betätigung, Sport dient zum Abnehmen und als Beweis dafür, diszipliniert
zu sein
• Starke motorische Unruhe, nicht oder kaum Stillsitzen können, immer helfen wollen
• Starke Stimmungsschwankungen, Konfliktängste
Bei Essanfällen/Erbrechen
• Spuren von Erbrochenem (auf Toilette oder Kleidung)
• Vernarbungen auf Fingern oder Handrücken (Russell-Zeichen)
• Wunde Mundwinkel, gerötete Konjunktiven
• Hamsterbacken infolge geschwollener Speicheldrüsen
• Bei Essanfällen oder Substanzabusus delikthaftes Verhalten (Stehlen von Nahrungsmitteln oder Geld,
Verschuldung)
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phreniformen Störungen. Die sorgfältige
Anam­nese, auch unter Beizug von Anga­
ben Dritter, ist das zentrale diagnostische
Instrument. Sie umfasst Fragen nach Ge­
wichtsverlauf, Diätverhalten und Kontrollver­
lusten, kompensatorischen Massnahmen,
physischer Aktivität sowie körperlichen und
psychischen Folgen von Essverhaltens und
Gewichtsabnahme.
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wie sollen betroffene
angesprochen werden ?
Angesichts von lebensgefährlicher Selbst­
kasteiung fühlt sich die Umwelt ohn­mäch­
tig. Schuld-, Versagens- oder Ekelgefühle
können das Gespräch oder den Gang zu
einer Anlaufstelle behindern. Sprechen Sie
die Patientin zunächst alleine an, auch wenn
sie sich noch in elterlicher Obhut befindet.
Teilen Sie Ihre Beobachtungen mit (z.B.
«mir fällt auf, dass Sie schon sehr schlank
sind und sich trotzdem für das Abnehmen
interessieren») und dass Sie sich Sorgen
machen. Erwähnen Sie, dass dies mit einer
Essstörung zu tun haben könne, dass je­
doch nur die Betroffene dies weiss. Geben
Sie Ihren eigenen Gefühlen (Unsicherheit,
Angst) Ausdruck, ohne verletzend zu werden.
Vereinbaren Sie eine definierte Verant­wort­
ungsübernahme. Bieten Sie regelmässig
Gespräche an, aber vermeiden Sie primär
die Übernahme von Kontrollfunk­tionen. So
zerbrechlich die Betroffene wirkt, reduzie­
ren Sie sie nicht auf die Magersucht und
schaffen Sie keinen künstlichen Schon­raum.
Besprechen Sie die Situation im Behand­
lungsteam : Bestimmen Sie eine oder wenige
Kontaktperson(en), um den Manipulations­
spielraum gering zu halten.
somatische behandlung
der essstörungen
Ausmass und Frequenz der somatischen
Kontrollen hängen vom Schweregrad und
der Krankheitsdauer ab. Aufgrund relativer
Beschwerdefreiheit und meist unauffälligem
Labor wird der Schweregrad oft unterschätzt.
Folgende körperlichen Untersuchungen und
Messwerte sind grundsätzlich für die Erstoder Verlaufsbeurteilung wichtig :
•Wöchentliche bis 14tägliche Gewichts­
kontrollen (in Unterwäsche bei entleerter
Blase, wenn möglich in der gleichen Tages­
hälfte).
•bei Jugendlichen Messung der Körper­
grösse alle 3 Monate.
•Puls und Blutdruck liegend/stehend
(Cave : Wenn Oberarmumfang l 14 cm Kin­
dermanschette verwenden !), Ruhe EKG.
•Blutbild (incl. Lc-Diff und Tc).
•Na, K, Cl, Mg, P.
•Albumin, Transferrin, Ferritin, Kreatinin,
Harnstoff.
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•ALAT, ASAT, Gamma-GT, Alk. Phospha­
tase, Amylase.
•Lipidstatus,TSH, fT3, fT4, FSH, LH, Glu­
cose nüchtern, HbA1-c, Urinstatus.
•Elektrolyte (v.a. Kalium) bei mehrmaligem
Erbrechen/Tag : in den ersten paar Wochen
mehrmals wöchentlich empfohlen.
•Falls nach Erreichen des Minimalge­
wichts (BMI M 18,5 kg/m2 für Erwachsene
bzw. BMI M (10. -) 25. BMI-Perzentile bei
Jugendlichen) die Menstruationsblutungen
nicht innerhalb von 3-6 Monaten wieder
einsetzen : Gestagentest und Kontrolle von
Estradiol, FSH, LH, Prolaktin. Zu beachten :
Manchmal ist trotz Erreichen des Minimal­
gewichts für die Normalisierung der Hormo­
nachse ein weiterer schrittweiser Ge­wicht­
sanstieg nötig. An Schwangerschaftstest
denken !
•Allfällig ausgesprochenes Turn- und Sport­
verbot regelmässig überprüfen. Sportliche
Aktivitäten schrittweise wieder einführen
(Kreislauftraining, Muskelaufbau, Osteopo­
roseprophylaxe !).
vitamine, mineralstoffe,
spurenelemente
Bei spezifischen Mangelzuständen (z.B.
Vit-B12, Folsäure, Eisen, Kalium) wird eine
entsprechende Supplementation empfohlen.
Calcium- und Vitamin-D-Supplementation
ist hingegen allgemein empfohlen (Kombi­
präparat aus 1000 mg Calcium und 800 E
Vit D einmal täglich). Ein Multivitaminprodukt
inkl. Mineralstoffe und Spurenelemente er­
setzt nicht eine ausgewogene Ernährung !
therapie-setting
Die Indikation zur ambulanten, teilstatio­
nären oder stationären Behandlung hängt
ab vom Schweregrad der somatischen und
psychosozialen Beeinträchtigung und nicht
zuletzt auch von der Verfügbarkeit eines
qualifizierten Therapie-Angebotes. Empfoh­
len wird eine interdisziplinäre Betreuung,
bei welcher psychische wie körperliche As­
pekte der Essstörung gleichermassen be­
rücksichtigt werden. Ein absolutes Muss in
der interprofessionellen Betreuung sind der
regelmässige, lückenlose Informationsaus­
tausch und der Konsens über das therapeu­
tische Vorgehen zwischen den Betreuern.
Wird eine Hospitalisation erforderlich, sollte
die Patientin wenn möglich freiwillig in eine
Klinik eintreten. Sowohl Zwang als auch
Fürsorgerischer Freiheitsentzug (FFE) sind
antitherapeutisch und wirken in der Regel
kontraproduktiv. Handelt es sich nicht um
eine akute medizinische Notfallsituation, sollte
immer ein Gespräch mit der Patienten über
Möglichkeiten und Rahmenbedingungen
stattfinden, sie sollte an der Entscheidung
mitwirken können. Die für Fachleute in der
Schweiz empfohlenen Behandlungs-Gui­
delines sowie Adressen von spezialisierten
Anlaufstellen können auf der Homepage des
Expertennetzwerks Essstörungen ENES
konsultiert werden (www.netzwerk-esssto
erungen.ch/d/fachleute/page_5.htm).
psychopharmakologische
behandlung
Antidepressiva finden Anwendung bei
vorausgegangener und anhaltend depres­
siver Verstimmung trotz ausreichender Ge­
wichtzunahme sowie ausgeprägter Zwangs­
symptomatik. Es werden heute vor allem
Antidepressiva vom SSRI-Typ eingesetzt.
Es besteht eine gute Evidenz für die Wirks­
amkeit von SSRI in der Rückfallprophylaxe
nach Erreichen eines minimalen gesunden
Gewichts und bezüglich Reduktion von
Ess-Brech-Anfällen. Bei ausgeprägter Ge­
wichtsphobie und Körperschemastö­rung,
selbstschädigendem Bewegungsdrang und/
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oder selbstverletzendem Verhalten können
auch atypische Neuroleptika in sehr niedri­
ger Dosierung versucht werden.
Bibliographie
• Fichter MM. Anorexic and bulimic eating disorders.
Nervenarzt 2005;76:1141-53.
• Halmi, KA. The multimodal treatment of eating dis­
orders. World Psychiatry 2005;4:69-73.
• Kamber V. Essstörungen – nicht nur ein psychiatrisches Problem – Medizinische Komplikationen bei
Anorexia und Bulimia nervosa. Schweiz Med Forum
2005;5:1195-202.
• Reich G, Cierpka M. Psychotherapie bei Essstörungen. Stuttgart : Thieme-Verlag; 2. Auflage, neubearb.
u. erw. A, 2001.
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