Psychosomatische Erkrankungen im Kindes-und Jugendalter Referent: Dr. Dirk Büchter Ostschweizer Kinderspital St. Gallen Definition Psychosomatik wir definiert als ein Konzept, das psychische Faktoren und Konflikte in der Entstehung/oder Entwicklung organbezogener, läsioneller oder funktioneller psychischer Krankheiten einbezieht. Die Pathophysiologie gibt Antworten auf das „Wie“ Die Psychopathologie gibt Antwort auf das „Warum“ Abklärungsuntersuchung • Alter und Geschlecht des Patienten • Dauer, Häufigkeit und Intensität eines Symptoms • Besondere Lebensumstände (Geburt eines Geschwisters, Schulwechsel etc.) • Art des sozio-kulturellen Milieus • Zahl der psychischen Bereiche, die durch die Symptomatik betroffen sind • Verknüpfungen der vorliegenden psychosomatischen Symptome mit Verhaltensänderungen • Situationsspezifisches Auftreten? Abklärungsuntersuchungen • Subjektives Leiden des Kindes und der Eltern unter der Symptomatik • Soziale Restriktionen im Zusammenhang mit der Symptomatik • Beeinträchtigung der psychischen Entwicklung von Kind und Eltern • Beeinträchtigung der weiteren Umgebung durch das Symptom • Was will das Symptom wem sagen? Wem dient es wozu? Notwendige Aussagen der Abklärungsuntersuchungen • • • • • • Genetische und perinatal erworbene Faktoren Frühkindliche Erfahrungen Persönlichkeitsstruktur des Patienten Familiencharakteristika Soziokulturelle Faktoren Beziehung des Untersuchenden zum Patienten Psychodynamische Grundlinien psychosomatischer Krankheitsentstehung • Die Dekompensation im Sinne einer regressiven Reaktivierung archaischer körperlicher Reaktionsmuster, die sich in ICHDefekten und Störungen der Objektbeziehungen ausdrücken, bei sehr frühen Persönlichkeitsstörungen. • Erhebliche ICH Störungen, mit Neigung zu ICH Fragmentierung, diese führen dazu, dass ein Beziehungspartner fusionär als Spiegelbild benutzt wird. • Störung im Selbstgefühl, bei konsistentem ICH führt zur Anklammerung und Idealisierung einer Bezugsperson, sog. Weiche Beziehungsrealität. Entwicklung psychosomatischer Krankheiten • Der Zusammenbruch eines „falschen Selbst“. • Der anhaltende Gebrauch von pathologischen projektiven Identifikationen. Konfliktlösungsversuche 1. Konversionsvorgang: widersprüchliche Impulse werden intrapsychisch symbolisiert und mittels entsprechenden Phantasmen in einer Art Körpersprache ausgedrückt. Es handelt sich um eine Art Appell ohne Schrei, Wunsch ohne Bitte. 2. Somatisierungsstörung: Zustand zwischen Gesundheit und körperlicher Krankheit, er repräsentiert eine Art des Erlebens und Kommunizierens von Unwohlsein und entspricht einer ungenügenden „coping“- Strategie. So kann mit Schwierigkeiten des Alltags einigermassen existiert werden. Somatisierungsstörungen • Es können keine organischen Krankheiten verantwortlich gemacht werden • Veranlasst den Betroffen Medikamente einzunehmen oder einen Arzt aufzusuchen • Tritt nicht nur in Panikattacken auf Familiendynamik Eine angemessene Elternschaft zeichnet sich aus durch: 1. Gute Zusammenarbeit der Partner, ohne Abspaltungen unliebsamer Affekte. Situationen der Spaltung der Eltern von Seiten des Kindes gibt es nicht 2. Offene, direkte Kommunikation, mit klarem, ehrlichem Gefühlsausdruck 3. Kontinuität und Kohärenz in den Beziehungen 4. Festigkeit und Flexibilität der interfamiliären Regelsysteme Charakteristika sog. psychosomatischer Familien • eine spezifische physiologische Vulnerabilität und / oder organische Dysfunktion beim Individuum • spezifische interaktionelle Eigenheiten innerhalb der Familien, insbesondere eine zu schwache oder zu starke Abgrenzung jedes einzelnen oder von familialen Subsystemen Problemprozesse im Familiensystem • • • • • Rückkopplungsprozesse Identifikationen Rollenzuschreibungen Vermächtnisse Intrapsychisch/Intrafamilial Das diagnostische Gespräch mit der Familie • • • • • • Stimmen geschilderte und beobachtete Beziehungsgeflechte? Welche Qualität kommt der Elternschaft zu Auffälligkeiten bzgl. Kommunikation, - Inhalt und –Art Umgang mit Nähe und Distanz Fähigkeit Probleme und Konflikte zu lösen Wer und wie werden Inhalte, Bedürfnisse und Emotionen zum Ausdruck gebracht? Schulverweigerung Schulphobie Schulangst Schulschwänzen Angst in der Schulsituation stark ausgeprägt vorhanden, wechselnde Intensität fehlt Somatisierung stark wechselnd fehlt Persönlichkeit ängstlich, sensitiv ängstlich, sensitiv aggressiv, dissozial Intelligenz durchschnittlich bis hoch durchschnittlich durchschnittlich bis niedrig Lernstörungen fehlen häufig vorhanden häufig vorhanden Elternverhalten überprotektiv, bindend unspezifisch vernachlässigend Schulbesuch mit Wissen der Eltern unterbrochen mit Wissen der Eltern sporadisch unterbrochen ohne Wissen der Eltern unterbrochen Differentialdiagnose zur Schulabwesenheit • Schulphobie: Trennungsangst • Schulschwänzen: Störung des Sozialverhaltens • Schulangst: soziale Ängstlichkeit, generalisierte Angststörung, Mobbing, Angst vor Lehrpersonal • Andere: Krankheiten Ess-und Fütterstörungen im DMS-5 und ICD-11 • • • • • • • • • • • Anorexia nervosa Bulimia nervosa Binge Eating Störung Atypische Anorexie Bulimie von geringer Frequenz oder Dauer Binge-Eating Störung mit geringer Frequenz oder Dauer Purging-Syndrom Night-eating Syndrom Ruminationsstörungen Vermeidende/Restriktive Nahrungsaufnahmestörung Andere spezifische Ess-und Fütterstörung Jährliche Inzidenzrate der Essstörungen • Anorexia nervosa 14 Frauen versus einem Mann • Bulima nervosa 28 Frauen versus 1.5 Männer • Unspezifische Essstörungen 28 Frauen versus 4 Männern Jeweils bezogen auf 100000 Einwohner Stand 2009 Zehn Warnsignale zur Früherkennung von Essstörungen • Ein Jugendlicher nimmt nicht altersentsprechend an Gewicht zu • Der Betroffene verliert an Gewicht und versteckt seinen dünnen Körper unter weiten Pullovern • Es wird vermieden, mit der Familie zu essen; jedoch wird für die ganze Familie gekocht, ohne selbst mit zu essen • Aufnahme grosser Mengen Obst, aber keine kohlehydatreiche oder fettreiche Kost • Sehr langsames Essen, die Nahrung wird in winzige Stücke geschnitten • Übermässiges Lernen bei Jugendlichen Zehn Warnsignale zur Früherkennung von Essstörungen • Extreme Aktivität, stundenlanges Joggen etc. • Grosse Nahrungsmengen verschlingen aus dem Kühlschrank oder dem Vorratsraum • Die Toilette mehrmals täglich besetzt, auch in der Nacht • Laxantien werden wiederholt eingenommen aus Treasure 2001 Fallbeispiel 16 6/12 jährige Patientin wird mit einem Gewicht von 35 kg bei 155 cm Grösse zugewiesen. War bis vor einem Jahr vor Zuweisung im Skisport sehr aktiv; da sie jedoch zu leicht für grosse Erfolge war, wechselte die Patientin auf Empfehlung des Sportarztes in den Laufsport. Dort kam es zu grossen Leistungsproblemen diese versuchte die Patientin mit noch intensiverer Diät zu begegnen. Diagnostische Kriterien der Anorexia nervosa • Tatsächliches Körpergewicht mindestens 15% unter dem erwarteten durch Gewichtsverlust oder nie erreichtes Gewicht oder BMI <17.5 • Der Gewichtsverlust ist selbst herbei geführt durch a) Vermeidung von hochkalorischen Speisen sowie b) Selbst induziertes Erbrechen (purging -Verhalten) c) Selbst induziertes Abführen (purging-Verhalten) d) Übertriebene körperliche Aktivität e) Gebrauch von Appetitzüglern oder Diuretika • Körperschema-Störung in Form einer spezifischen psychischen Störung: Die Angst zu dick zu werden, besteht als eine tief verwurzelte überbewertete Idee. Die Betroffenen legen eine sehr niedrige Gewichtsschwelle für sich selbst fest. • Eine endokrine Störung auf Hypothalamus-HypophysenGonaden-Achse. Sie manifestiert sich bei Frauen als Amenorrhoe und bei Männern als Libido und Potenzverlust. Erhöhte Spiegel von Wachstumshormon und Kortisol, Änderungen des peripheren Metabolismus von Schilddrüsenhormonen und Störungen der Insulinsekretion können ebenfalls vorliegen. • Bei Beginn der Erkrankung vor der Pubertät ist die Abfolge der pubertären Entwicklungsschritte verzögert oder gehemmt. • Nach Remission wird die Pubertätsentwicklung häufig normal abgewickelt. Die Menarche aber verspätet. Diagnostische Kriterien der Bulimia nervosa • Häufige Episoden von Fressattacken ( >2x pro Woche min. drei Monate lang), bei denen grosse Mengen an Nahrung in kurzer Zeit konsumiert werden • Andauernde Beschäftigung mit dem Essen, eine Gier oder Zwang zu essen. • Massnahmen der Gewichtszunahme durch das Essen entgegenzuwirken a) Selbstinduziertes Erbrechen b) Missbrauch von Laxantien und Diuretika c) Zeitweilige Hungerperioden d) Gebrauch von Appetitzüglern • Selbstwahrnehmung als zu Fett mit der Furcht zu dick zu werden Diagnostische Kriterien der Binge-Eating-Störung • Regelmässige Essanfälle mit folgenden Merkmalen a) In einem abgegrenzten Zeitraum wird eine Nahrungsmenge gegessen, die deutlich grösser ist als die Menge, die andere Menschen in ähnlicher Zeit unter vergleichbaren Umständen essen würden. b) Während des Essanfalls wird der Verlust der Kontrolle über das Essen empfunden, das heisst das Gefühl, dass man einfach nicht aufhören kann zu essen und auch nicht mehr steuern kann, was und wieviel Essen man zu sich nimmt. • Die Essanfälle sind mit mindestens drei der folgenden Merkmale verbunden a) Es wird schneller gegessen als normal b) Essen bis zu einem unangenehmen Gefühl c) Es werden grosse Mengen gegessen ohne hungrig zu sein d) Es wird allein gegessen aus Verlegenheit über die Menge, die man isst e) Ekelgefühl gegenüber sich selbst, Deprimiertheit oder grosse Schuldgefühle nach einem Essanfall • Hinsichtlich der Essanfälle besteht ein deutlicher Leidensdruck • Die Essanfälle treten min. 1x wöchentlich über 3 Monate auf • Keine gewichtsregulativen Massnahmen werden ergriffen was zu Übergewicht oder Adipositas führt Psychische Komorbiditäten Anorexia nervosa: depressive Episoden 30-80% Zwangsstörungen 8-35% Angststörungen 35-70% Bulimia nervosa: Suchterkrankungen 50% Persönlichkeitsstörungen bis 80% Binge-Eating: Depressionen 50% Angststörungen 12-49% Komplikationen Die somatischen Komplikationen der Essstörungen betreffen den endokrinologischen, neurologischen, gastrointestinalen und hämatologischen Bereich Obligate Untersuchungen 1. 2. 3. 4. 5. 6. 7. Anamnese Körperliche Untersuchung Neurologische Untersuchung Psychopathologischer Status Regelmässige Laborkontrollen Knochendichtemessung Wöchentliche Gewichtskontrollen Fakultative Untersuchungen 1. 2. 3. 4. 5. EEG Echokardiographie CCT bei Verdacht auf Raumforderung Abdomenultraschall Gastroskopie Entstehungsbedingungen Essstörungen haben keine isolierten Ursachen. Es müssen immer verschiedene Risikofaktoren in einem Leben zusammentreffen, damit die Erkrankung ausbricht. Die Entstehung dieser Bedingungen sind am besten in einem bio-psycho-sozialen Krankheitsmodell abgebildet. Therapieempfehlungen Generell ist ein Gesamtbehandlungsplan bei allen Essstörungen essentiell. Im Vordergrund steht bei der Anorexie die Gewichtsnormalisierung um das, durch Mangelernährung funktionell gestörte Gehirn, wieder mit Nahrungsmitteln zu versorgen. Eine reine Psychotherapie ohne kompetente ärztliche Begleitung ist ein Kunstfehler! Einsatz von Medikamenten teilweise unabdingbar Zusammenfassung • • • • • • • Essstörungen sind selten, aber zunehmend Hoher Leidensdruck bei Patienten und deren Familien Die Entstehung ist komplex (bio-psycho-soziales Modell) Häufig psychische Komorbiditäten Sehr oft somatische Komplikationen Multimodale Therapie notwendig Langjähriger Verlauf Entscheidungsbaum zum Test auf eine depressiven Verstimmung Haben Sie diese Woche mehr geweint als früher? Nein Keine klinische relevante Depression Nein Keine klinische relevante Depression Nein Keine klinische relevante Depression Nein Keine klinische relevante Depression Ja Waren Sie diese Woche enttäuscht von sich oder haben Sie sich gehasst? Ja Sehen Sie diese Woche besonders mutlos in die Zukunft? Ja Hatten Sie diese Woche das Gefühl, eine Versagerin zu sein? Ja Klinisch relevante Depression