Psychosomatik WS 05/06 Fall 3 Junge Patientin, die vom Zahnarzt wegen stark kariöser Zähne und Oberbauchbeschwerden zum Allgemeinarzt überwiesen wurde. Befund: Junge Patientin in gutem Allgemeinzustand bei normalem bis schlankem Ernährungszustand (60 kg/ 168 cm; BMI 21,3 kg/m2). Hautturgor normal, sichtbare Schleimhäute gut durchblutet, Temperatur ax. 37,0 °C, Parotis bds. Deutlich vergrößert und druckdolent, Oberbauch deutl. druckdolent; kariöser Zahnstatus; übriger Befund unauffällig. Anamnese: Die Patientin wirkt freundlich, aber sichtlich verschämt und berichtet, dass sie sich vor 2 Jahren zu dick gefühlt habe und deshalb eine Diät angefangen habe. Sie habe seit dem 5kg abgenommen. Es falle ihr schwer die Diät durchzuhalten, da sie häufig Heißhunger habe und dann heimlich große Mengen esse, die sie dann aus panischer Furcht vor dem zunehmen wieder erbreche. „Sie esse mittlerweile kaum noch normal“ 1. Differentialdiagnostische Überlegungen 1. 2. 3. 4. 5. Bulimia nervosa Anorexia nervosa (purging type) Passagestörungen im GI-Trakt Psychische Erkrankungen (hohe Komorbidität von Anorexie und Bulimia nervosa mit Affektiven Störungen, Angststörungen und Zwangsstörungen)) Heißhungerattacken bei somatischen Erkrankungen (Tumoren des ZNS oder SHT) 2. zusätzliche Fragen zur Absicherung der Diagnose 1. Familienanamnese: Gibt es Fälle von Essstörungen in der Familie? (Prävalenz von Essstörungen bei betroffen Familienmitgliedern um das 7-12 fache erhöht) 2. Intrafamiläre Konflikte ? Familienstruktur? 3. Aktuelle Zufriedenheit mit der eigenen Figur und dem eigenen Aussehen ( häufiges Wiegen?) 4. Anorexia nervosa in der Vorgeschichte? Gab es starke Gewichtsschwankungen in der Vorgeschichte? 5. Gibt es konkrete Anlässe für die Fressanfälle? Anlass für den ersten Anfall (Scheidung /Verlust durch Tod/ Enttäuschung in der Beziehung)? Wie ist das Essverhalten zwischen den Anfällen? Wie ist die Stimmung vor und nach dem Anfall? Hat die Patientin Kontrolle über die Anfälle? Planung der Essanfälle? 6. Frage nach weitern Maßnahmen der Verhinderung der Gewichtszunahme (Laxantien, Diuretika, SDHormone, Appetitzügler) 7. Suizidgedanken? 8. Konzentrationsstörungen? 9. Fragen zum sozialen Umfeld (sozialer Rückzug?, Verlust von Freunden? Isolation?) 10. Zyklusstörungen ? 11. Sexueller Missbrauch? (unspezifischer Risikofaktor, scheint aber durch so genannte „biologische Narben“ die Prognose bei bulimischen Essstörungen zu verschlechtern) 3. Diagnose Die Diagnose lautet V.a.Bulimia nervosa, da der Befund typisch ist. Die Kriterien für Bulimia nervosa nach ICD-10 werden erfüllt. Diese sind im Einzelnen: i. Heißhungerattacken (heimlich), bei denen eine große Menge Nahrung in kurzer Zeit zu sich genommen wird ii. Versuche, dem dick machenden Effekt des Essens entgegenzuwirken (Erbrechen) iii. Krankhafte Furcht, zu dick zu werden ( Gewichtsphobie) Der Zahnstatus ( starke Kariesbildung) ist typisch und ist durch das häufige Erbrechen erklärbar. Für die Diagnose spricht ebenfalls, dass die Patientin den Krankheitswert ihres Essverhaltens erkennt („Mittlerweile esse ich kaum noch normal“), sich aber für die Symptomatik schämt („Patientin freundlich, aber sichtlich verschämt“). Die Speicheldrüsenschwellung ist auch ein typischer körperlicher Befund bei Essstörungen (aber nicht spezifisch für Bulimie). 4. mögliche Komplikationen/ weitere klinische Auffälligkeiten somatische Komplikationen, wie massive Elektrolytstörungen * Selbstverletzungsverhalten* Entwicklung einer Persönlichkeitsstörung* Drogenmissbrauch* Soziale Isolation Endokrinologische Störungen (Hypothalamus- Hypophsen ,-Schildrüsenachse, -Gonadenachse, -NNRachse) Übrige (der Vollständigkeit halber) : Pseudoathrophia cerebri, Ösophagitis, EKGVeränderungen, Hypotonus, Bradykardie, NW von Laxantienabusus (z.B. Obstipation usw.) * Indikation für stationäre Behandlung 5. weitere somatische Untersuchungen: 6. Inspektion: Ganzkörperstatus (Schwielen an Fingern oder Läsionen am Handrücken durch häufiges Auslösen von Erbrechen ?) Labor: Elektrolytstatus (Hypokaliämie?), Transaminasen?, Amylase?, harnpflichtige Substanzen? und Blutbild CT,MRT ( ZNS-Tumoren?), Sono der Speicheldrüsen ( Ursache für Schwellung?) EKG Therapie Die Therapie stützt sich auf drei Säulen: Somatische Rehabilitation und Ernährungstherapie Individuelle psychotherapeutische Behandlung (Verhaltenstherapie) Einbeziehung der Familie Im vorliegenden Fall sollte eine Normalisierung/Regulierung des Essverhaltens angestrebt werden (Erstellung eines Ernährungstagebuches und Essensplans). Wichtig ist eine Veränderung der dysfunktionalen Gedanken, die zur Aufrechterhaltung der Essstörungen beitragen ( kognitive Verhaltenstherapie). Eine psychoanalytisch orientierte konfliktzentrierte Einzeltherapie (Aufbau und Konsolidierung des Selbstwertgefühls) sollte in Kombination mit einer familientherapeutischen Therapie (Lösung eventueller intrafamiliärer Konflikte) zur Anwendung kommen. Wenn in der weiteren psychischen Exploration eine Komorbidität mit psychischen Krankheiten auffällt, müssen diese natürlich behandelt werden. Defizite in der Affektregulation sollten ausgebessert werden (Einzeltherapie). Eine medikamentöse Therapie mit SSRI kann zur Verringerung der Frequenz der Essattacken eingeleitet werden. 7. Quellen 1. Anorexia und Bulimia nervosa im Kindes- und Jugendalter; Kristian Holtkamp, Beate Herpertz-Dahlmann; Dtsch Arztebl 2005; 102: A 50-58 (Heft 1-2) 2. Dt.Ges.f. Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie u.a. (Hrsg.): Leitlinien zur Diagnostik und Therapie von psychischen Störungen im Säuglings-, Kindes- und Jugendalter. 2. überarbeitete Auflage 2003, Deutscher Ärzte Verlag, ISBN: 3-7691-0421-8 3. Praxisleitlinien in Psychiatrie und Psychotherapie, Band 4: Behandlungsleitlinie Eßstörungen, Steinkopff, Darmstadt 4. Uexküll, Psychosomatische Medizin, 4.Auflage, Kapitel 47; Seite 616 –636: 5. Neurologie und Psychiatrie für Studium und Praxis : unter Berücksichtigung des Gegenstandskataloges und der mündlichen Examina in den ärztlichen Prüfungen. - Aufl. 4. 2004/05. - Breisach : Med. Verl.- und Informationsdienste, 1998