Seminar Pathopsychologie, durchgeführt von Dr. D. Regli, 19.12.2000 1 COLOMBA LARDIERI | RENÉ LEHMANN | PAMELA LOOSLI | NATHALIE WÜTHRICH ESSSTÖRUNGEN KLASSIFIKATION Das DSM-IV sieht für die Klassifikation von Essstörungen im Erwachsenenalter drei Kategorien vor. Die Anorexia Nervosa, die Bulimia Nervosa und als Restkategorie die nicht näher bezeichneten Essstörungen. Übergewicht stellt entsprechend dem DSM-IV keine psychische Störung mit Krankheitswert dar. Anorexia Nervosa (Magersucht) Die Anorexia Nervosa ist charakterisiert durch die Weigerung, ein Minimum des normalen Körpergewichts zu halten. Diese Weigerung wird begleitet von grosser Angst vor Gewichtszunahme, einer erheblichen Wahrnehmungsstörung der eigenen Figur und des Körpergewichts und gegebenenfalls einer Amenorrhoe (Ausbleiben der Menstruation über mehr als drei Zyklen). Unterschieden wird zwischen dem Restriktiven Typus und dem "Binge-Eating/Purging"-Typus. Prävalenzschätzung: 0.4-1%. Der Beginn der Krankheit liegt im Durchschnitt bei 17 Jahren. Bulimia Nervosa (Ess-Brechsucht) Die Bulimia Nervosa ist gekennzeichnet durch "Fressattacken" und unangemessene, einer Gewichtszunahme entgegensteuernde Massnahmen. Bei den "Fressattacken" wird eine ungewöhnlich grosse, meist hochkalorische Nahrungsmenge konsumiert, begleitet von dem Gefühl, dabei die Kontrolle über das Essverhalten zu verlieren, bis sich ein schmerzhaftes Völlegefühl einstellt. Im Gegensatz zu A. N. sind sie in der Lage, in etwa ein normales Körpergewicht zu halten. Prävalenzschätzung: 0.9-4%. Durchschnittlicher Beginn mit 22 Jahren. Nicht näher Bezeichnete Essstörungen Diese Kategorie dient der Einordnung von Essstörungen, die die Kriterien für eine spezifische Essstörung nicht erfüllen. Adipositas (Fettleibigkeit) Übergewicht stellt entsprechend dem DSM-IV keine psychische Störung mit Krankheitswert dar, im ICD-10 wir sie als medizinischer Krankheitsfaktor aufgeführt. DIAGNOSTIK Für die Differentialdiagnose werden vor allem Fragebögen (z.B. FFB, EDI) oder Tagebücher (Marburger Essanfallstagebuch, Marburger Ernährungstagebuch) eingesetzt. Als Richt- wert zur Bestimmung von Normal- bzw. Unter- oder Übergewicht wird meist der BMI (Body Mass Index: BMI=m/s2 [m]=kg, [s]=m) herangezogen. ERKLÄRUNGSANSÄTZE FÜR ANOREXIA NERVOSA UND BULIMIA NERVOSA Die Theoretiker vertreten heute meist einen multidimensionalen Risikoansatz. Je mehr Schlüsselfaktoren (soziokulturelle Belastungen, familiäres Milieu, Lernerfahrungen, ...) vorhanden sind, desto grösser ist das Risiko, dass eine Person eine solche Störung entwickelt. Soziokulturelle Belastungen Die körperliche Attraktivität ist vor allem bei Frauen eine wichtige Determinante des Selbstwertgefühls. Sie unterliegen deshalb dem starken Druck, dem heutigen Schlankheitsideal zu entsprechen. Die westliche Gesellschaft schafft auch ein Klima von Vorurteilen und Feindseligkeit gegen übergewichtige Menschen, so dass wir nach Schlankheit streben und eine Gewichtszunahme fürchten, und steigern somit das Risiko von Essstörungen. Familiäres Milieu Das Familiensystem essgestörter Patientinnen ist durch spezifische Interaktionsmuster gekennzeichnet: Verstrickung, Rigidität, Überbehütung, Konfliktvermeidung und Mangel an Konfliktbewältigung. Patientinnen haben die Funktion, das Gleichgewicht der Familie aufrechtzuerhalten und offene Konflikte zu verhindern. Lernerfahrungen Das Essen gilt als Mittel der Ablenkung, Belohnung, Entspannung und um unangenehme Situationen und Gefühle zu entgehen. Sie verlernen dadurch normale Hunger- und Sättigungsgefühle. Biologische Faktoren Ein wesentlicher Risikofaktor kann in einem genetisch bedingten relativ niedrigen Energieverbrauch und damit einer Prädisposition zu einem höheren Gewicht bei normaler Nahrungsaufnahme liegen. Psychoanalytische Ansätze Psychoanalytiker sehen die Essstörung als orale Störung. Sie thematisieren Triebkonflikte oder Defizite in der Ich-Entwicklung. Hilde Bruch geht da noch weiter und vereinigt die Ich-Schwäche mit kognitiven Störungen. Kinder können aufgrund unangemessener Reaktionen der Eltern kein kohärentes Selbst entwickeln. Da sich diese Kinder nicht auf ihre inneren Bedürfnisse ausrichten können, halten sie sich an die Richtlinien der Eltern und entwickeln kein echtes Selbstvertrauen. Die empfundene Hilflosigkeit überwinden sie mit extremer Selbstkontrolle über ihren Körper. Seminar Pathopsychologie, durchgeführt von Dr. D. Regli, 19.12.2000 2 COLOMBA LARDIERI | RENÉ LEHMANN | PAMELA LOOSLI | NATHALIE WÜTHRICH ERKLÄRUNGSANSÄTZE FÜR ADIPOSITAS Gestörte Regulation der Sättigung Fehlender oder verzögerter Appetenzverlust (Geschmacksaversion) Biologische Faktoren Genetische Faktoren. Annahme, dass die Anzahl Fettzellen genetisch festgelegt ist. Verminderter Energieverbrauch auch bei normaler Kalorienzufuhr aufgrund wiederholter Gewichtsreduktionen). THERAPIE VON ESSSTÖRUNGEN Medikamente Aufgrund abweichender Serotonin- und Endorphinwerte wurde bei der Bulimie versucht mit Antidepressiva und Opiatantagonisten einzugreifen. Der Erfolg war nur mässig. Psychoanalyse Ziel der Therapie sind eine ich-strukturelle Nachreifung und korrigierende emotionale Erfahrungen zur Ich-Entwicklung. Klientenzentrierte Gesprächstherapie Basis ist 1. die Echtheit des Therapeuten, 2. bedingungslose positive Wertschätzung des Klienten und 3. einfühlendes Verstehen. Die Therapie hat lediglich eine Wegweiserfunktion und vermag keine konkreten Veränderungen herbeizuführen. Systematische Familientherapie In der Familie beinhaltet jedes Verhalten eine Botschaft, die durch eine Reaktion beantwortet wird, die ihrerseits wieder beantwortet wird etc. Sie muss in der Therapie miteinbezogen werden um zu verhindern, dass ein anderes Familienmitglied erkrankt wenn der 'Indexpatient' gesund wird oder sich Widerstände innerhalb der Familie gegen den Patienten ergeben. Feministischer Ansatz Eine philosophische Orientierung die die Therapie in Abhängigkeit vom gesellschaftspolitischen Kontext sieht. Die Gleichberechtigung im therapeutischen Kontext und die Berücksichtigung der Geschlechterrolle sind zentral. Es wird nach der individuellen Bedeutung des Schlankseins gefragt und nach alternativen Verhaltensweisen gesucht. Verhaltenstherapie Heute spielt der SelbstmanagementTherapie-Ansatz eine grosse Rolle. Die Grundsätze sind 1. Selbstregulation, 2. Eigenverantwortung und 3. die Fähigkeit zur Selbsthilfe. Gruppentherapie Nach anfänglichen Befürchtungen wurde die Gruppentherapie wegen der 'Patientenschwemme' notwendig. Viele Vorteile wurden offensichtlich: in der Gruppe steigen Selbstexploration und Gesprächsbereitschaft. Krankheitsbedingte soziale Defizite können in der Gruppe korrigiert werden. Das Expertenwissen der Patienten kann untereinander ausgenutzt werden. Eine Studie belegt, dass der Langzeiterfolg einer Anorexie-Therapie mit der Entwicklung der sozialen Beziehungen zusammenhängt. Tagklinische Konzepte Hier verbringt der Patient nur den Tag in der Klinik. Ein grundsätzlicher Vorteil ist der geringere Kostenaufwand. Weiterhin wird der Patient nicht von seinen Angehörigen getrennt. Es ist eigenverantwortliches Handeln nötig. Ein Gefühl von Autonomie führt zu der Erkenntnis von Eigenkontrolle. Die Probleme beim Behandlungsende können minimiert werden. Wichtige Faktoren für den Erfolg sind Struktur und interpersonaler Kontakt. FALLBEISPIELE ZUM THEMA ANOREXIA NERVOSA Einige Aussagen anorektischer Patientinnen auf spezifische Fragen: Eine Patientin beschrieb dem Therapeuten ausführlich, wie gut sie esse, meinte allerdings auch einschränkend, sie achte sehr darauf, nicht zu viele Kalorien zu sich zu nehmen. "Ich würde nicht einmal eine Briefmarke anlecken, denn man weiss ja nie, wie viele Kalorien man dabei runterschluckt." Viele anorektische Patientinnen glauben, etwas ganz Besonderes zu sein. Dies soll folgende Aussage verdeutlichen: "Je mehr Gewicht ich verlor, desto überzeugter war ich, dass ich auf dem richtigen Weg war. Ich wollte auch gelobt werden dafür, dass ich etwas Besonderes war, und wünschte mir vor allem, dass man mir wegen dessen, was ich tat, Ehrfurcht entgegen brachte." Bei Anna war im Alter von siebzehn Jahren das Gewicht mit der Methode der Verhaltensmodifikation gewaltsam in die Höhe getrieben worden. Dagegen hat sie mit aller Macht protestiert: "Ich ekelte mich vor meinem neuen fetten Körper, er widerte mich an. Ich wollte mich seiner entledigen, so schnell wie möglich wieder an Gewicht verlieren. An nichts anderes konnte ich mehr denken. Mein Leben, mein klarer Entschluss, meine Kontrolle über mich – alles lag in Trümmern." Auf die Frage, ob die Patientin nicht einen enormen Hunger verspürte, antwortete sie in der Therapie folgendermassen: "Man steht tatsächlich neben sich, und damit befindet man sich in einem anderen Bewusstseinszustand und kann Schmerzen ertragen, ohne darauf reagieren zu müssen. So bin ich mit dem Hunger umgegangen. Ich wusste, dass ich Hunger hatte – ich kann mich daran erinnern, er ist mir bewusst, doch damals verspürte ich dabei keinerlei Schmerzen. Es war wie eine Selbsthypnose. Lange Zeit konnte ich überhaupt nicht darüber sprechen, weil ich schreckliche Angst hatte, man könnte es mir wegnehmen."