Spektrum der Woche Aufsätze • Notizen FEUILLETON Die zwanziger Jahre in München Die Kenntnis der deutschen Kunstszene zwischen 1918 und 1945 ist immer noch lückenhaft. Die 1978 in der Berliner Akademie der Künste gezeigte Ausstellung „Zwischen Widerstand und Anpassung" war diesem guten Titel mit ihrer Auswahl kaum gerecht geworden. Auf viel soliderem Boden steht die bis zum 30. September dauernde Ausstellung „Die zwanziger Jahre in München" im Stadtgeschichtlichen Museum München, St.-Jacobs-Platz 1. Ein gleichzeitig eingeweihter Erweiterungstrakt ermöglichte dem Stadtgeschichtlichen Museum eine synoptische Mammutschau von Kommunalpolitik, Presse, Literatur, Bühne, Plakat- und Druckkunst, Malerei und Plastik, Kunsthandwerk, Bauwesen und Mode. Der Katalog wiegt zweieinhalb Kilogramm und umfaßt 768 Seiten. Dazu erschien eine Gemeinschaftsarbeit des Historischen Instituts der Universität über die Münchner Revolution 1919 (30 DM bzw. 24 DM). Die Thematik ist weitgehend neu. München, noch um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert die Kunststadt par excellence mit den Malerfürsten Franz v. Stuck und Franz Lenbach (in deren Schatten der viel bedeutendere Wilhelm Leibl in die „Provinz" abgewandert war), wurde zwar noch die Wiege des „Blauen Reiters" und der abstrakten Malerei, aber die rote Revolution von 1919 und vier Jahre später der braune Putsch erzeugten in den zwanziger Jahren ein so zwiespältiges politisches Klima, mit dem Gegeneinander von „progressiv" und „reaktionär", daß sich nach 1920 keine herausragende Kunstrichtung mehr entwickelte, zumal München seine führende Rolle an die Metropolen Berlin und Paris abgegeben hatte und kleinere Zentren wie das Bauhaus in Weimar und Dessau oder die Weißenhofsiedlung in Stuttgart tonangebend geworden waren. Die Ausstellung zeigt, daß es aus diesen stagnierenden Jahren noch viel zu entdecken gibt. Die Funde werden neutral und ohne politische und künstlerische Bevormundung dem Besucher präsentiert. In der Literatur beherrscht zwar — neben Alverdes, Britting, Carossa, Feuchtwanger, G. von le Fort, H. Johst, A. Neumann u. a. — Thomas Mann die Szene, aber sowohl Frank Wedekind als auch Oskar Maria Graf und Ludwig Thoma, schließlich auch Georg Queri, erleben heute eine mächtige Renaissance. Bei Thoma ist sofort der in seiner politischen Wirkung nicht hoch genug einzuschätzende „Simplizissimus" zu nennen, mit seinen Zeichnern Arnold, Gulbransson, Th. Th. Heine; als progressive Verleger wirkten Albert Langen und der dem literarischen und künstlerischen Expressionismus zugetane Kurt Wolff, ferner Reinhard Piper. Dem Baustil der zwanziger Jahre sprechen die Autoren des Katalogs sogar einen eigenständigen „Münchner Weg" zu, der schon erstaunlich funktionalistisch dachte und gegen die grobe Glätte des Bauhausstils ebenso imposant wie persönlich abstach (zum Beispiel die Borstei, das Altersheim St. Joseph oder die in den Jahren von 1926 bis 1928 gebaute Dermatologische Klinik). Spätimpressionismus und sich anbahnende neue Sachlichkeit Maßgebliches tat sich auch auf dem Gebiet der Malerei und Plastik, in dem Nebeneinander von akademischem Formalismus und der sich anbahnenden neuen Sachlichkeit, für die vor allem Georg Schrimpf herangezogen wird. Die stärksten Kräfte sind aber die Maler des Spätoder Nachexpressionismus, vor allem der das Ausstellungsplakat und das Titelblatt des Katalogs eindrucksvoll prägende Josef Scharl und der fast vergessene Walter Ja- cob, dessen bizarre Form- und Farbgebung die klassischen Expressionisten nahezu in den Schatten stellen. Eine Entdeckung ist Heinrich Ehmsen, der schonungslose Maler von Erschießungen und anderen makabren Szenen. In unerwarteter Kraft präsentieren sich u. a.: Eduard Aigner, Albert Burkart, Oskar Coester (von dem 1978 in der Münchner Residenz eine Retrospektivausstellung mit seinem nur knapp 100 Exponate zählenden CEuvre zu sehen war), H. M. Davringhausen, Adolf Erbslöh, Fritz Erler, Willi Geiger, Erich Glette, Günter Grassmann, Wilhelm Heise, A. Kanoldt, Carlo Mense, Otto Nükkel, Max Radler, Max Rauh, Erich Schilling, Adolf Schinnerer, Wilhelm Schnarrenberger, Hermann Tiebert, Walter Teutsch, Hugo Troendle, Max Unold und Karl Weinmair. Von den mehr konservativ-akademischen Malern wären zu nennen: Angelo Jank, Hermann Groeber, Ernst Haider, Heinrich v. Zügel. Leider fehlt Adolf Hartmann, Münchens erfolgreichster Porträtist, langjähriger Direktor der Kunstakademie und Bruder des großen Symphonikers Karl Amadeus Hartmann. Die Musik blieb ausgespart bei dieser Synopsis; immerhin kamen bei der feierlichen Eröffnung zwei bedeutende Münchner Komponisten zu Wort: der Max-Reger-SchülerJoseph Haas und K. A. Hartmann. Über die Münchner Maler der zwanziger Jahre ist in dieser Ausstellung sicher nicht das letzte Wort gesprochen worden. Dazu ist dieses Gebiet zu groß, zu vielschichtig, zu wenig erforscht. So kamen zum Beispiel Julius Hüther und Christian Schad zu kurz, und Josef Scharl ist viel komplexer, als es die wenigen Exponate zeigen. Er war dem internationalen Ruhm, den der Nationalsozialismus jäh zerstörte, am nächsten, und er hat ihn auch nicht durch seine Emigration in die USA retten können. Hier müssen sicherlich noch Einzelausstellungen die Malerei dieser Jahre ergänzen. A. Greither DEUTSCHES ÄRZTEBLATT Heft 28 vom 12. Juli 1979 1887