Deutsches Ärzteblatt 1979: A-1887

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Spektrum der Woche
Aufsätze • Notizen
FEUILLETON
Die zwanziger Jahre in München
Die Kenntnis der deutschen Kunstszene zwischen 1918 und 1945 ist
immer noch lückenhaft. Die 1978 in
der Berliner Akademie der Künste
gezeigte Ausstellung „Zwischen Widerstand und Anpassung" war diesem guten Titel mit ihrer Auswahl
kaum gerecht geworden. Auf viel soliderem Boden steht die bis zum 30.
September dauernde Ausstellung
„Die zwanziger Jahre in München"
im Stadtgeschichtlichen Museum
München, St.-Jacobs-Platz 1. Ein
gleichzeitig eingeweihter Erweiterungstrakt ermöglichte dem Stadtgeschichtlichen Museum eine synoptische Mammutschau von Kommunalpolitik, Presse, Literatur, Bühne, Plakat- und Druckkunst, Malerei
und Plastik, Kunsthandwerk, Bauwesen und Mode. Der Katalog wiegt
zweieinhalb Kilogramm und umfaßt
768 Seiten. Dazu erschien eine Gemeinschaftsarbeit des Historischen
Instituts der Universität über die
Münchner Revolution 1919 (30 DM
bzw. 24 DM).
Die Thematik ist weitgehend neu.
München, noch um die Wende vom
19. zum 20. Jahrhundert die Kunststadt par excellence mit den Malerfürsten Franz v. Stuck und Franz
Lenbach (in deren Schatten der viel
bedeutendere Wilhelm Leibl in die
„Provinz" abgewandert war), wurde
zwar noch die Wiege des „Blauen
Reiters" und der abstrakten Malerei,
aber die rote Revolution von 1919
und vier Jahre später der braune
Putsch erzeugten in den zwanziger
Jahren ein so zwiespältiges politisches Klima, mit dem Gegeneinander von „progressiv" und „reaktionär", daß sich nach 1920 keine herausragende Kunstrichtung mehr
entwickelte, zumal München seine
führende Rolle an die Metropolen
Berlin und Paris abgegeben hatte
und kleinere Zentren wie das Bauhaus in Weimar und Dessau oder die
Weißenhofsiedlung in Stuttgart tonangebend geworden waren.
Die Ausstellung zeigt, daß es aus
diesen stagnierenden Jahren noch
viel zu entdecken gibt. Die Funde
werden neutral und ohne politische
und künstlerische Bevormundung
dem Besucher präsentiert.
In der Literatur beherrscht zwar —
neben Alverdes, Britting, Carossa,
Feuchtwanger, G. von le Fort, H.
Johst, A. Neumann u. a. — Thomas
Mann die Szene, aber sowohl Frank
Wedekind als auch Oskar Maria Graf
und Ludwig Thoma, schließlich
auch Georg Queri, erleben heute eine mächtige Renaissance. Bei Thoma ist sofort der in seiner politischen Wirkung nicht hoch genug
einzuschätzende „Simplizissimus"
zu nennen, mit seinen Zeichnern Arnold, Gulbransson, Th. Th. Heine;
als progressive Verleger wirkten Albert Langen und der dem literarischen und künstlerischen Expressionismus zugetane Kurt Wolff, ferner Reinhard Piper.
Dem Baustil der zwanziger Jahre
sprechen die Autoren des Katalogs sogar einen eigenständigen
„Münchner Weg" zu, der schon erstaunlich funktionalistisch dachte
und gegen die grobe Glätte des Bauhausstils ebenso imposant wie persönlich abstach (zum Beispiel die
Borstei, das Altersheim St. Joseph
oder die in den Jahren von 1926 bis
1928 gebaute Dermatologische
Klinik).
Spätimpressionismus
und sich anbahnende
neue Sachlichkeit
Maßgebliches tat sich auch auf dem
Gebiet der Malerei und Plastik, in
dem Nebeneinander von akademischem Formalismus und der sich
anbahnenden neuen Sachlichkeit,
für die vor allem Georg Schrimpf
herangezogen wird. Die stärksten
Kräfte sind aber die Maler des Spätoder Nachexpressionismus, vor allem der das Ausstellungsplakat und
das Titelblatt des Katalogs eindrucksvoll prägende Josef Scharl
und der fast vergessene Walter Ja-
cob, dessen bizarre Form- und Farbgebung die klassischen Expressionisten nahezu in den Schatten
stellen.
Eine Entdeckung ist Heinrich Ehmsen, der schonungslose Maler von
Erschießungen und anderen makabren Szenen. In unerwarteter Kraft
präsentieren sich u. a.: Eduard Aigner, Albert Burkart, Oskar Coester
(von dem 1978 in der Münchner Residenz eine Retrospektivausstellung
mit seinem nur knapp 100 Exponate
zählenden CEuvre zu sehen war), H.
M. Davringhausen, Adolf Erbslöh,
Fritz Erler, Willi Geiger, Erich Glette,
Günter Grassmann, Wilhelm Heise,
A. Kanoldt, Carlo Mense, Otto Nükkel, Max Radler, Max Rauh, Erich
Schilling, Adolf Schinnerer, Wilhelm
Schnarrenberger, Hermann Tiebert,
Walter Teutsch, Hugo Troendle, Max
Unold und Karl Weinmair. Von den
mehr konservativ-akademischen
Malern wären zu nennen: Angelo
Jank, Hermann Groeber, Ernst Haider, Heinrich v. Zügel. Leider fehlt
Adolf Hartmann, Münchens erfolgreichster Porträtist, langjähriger Direktor der Kunstakademie und Bruder des großen Symphonikers Karl
Amadeus Hartmann.
Die Musik blieb ausgespart bei dieser Synopsis; immerhin kamen bei
der feierlichen Eröffnung zwei bedeutende Münchner Komponisten
zu Wort: der Max-Reger-SchülerJoseph Haas und K. A. Hartmann.
Über die Münchner Maler der zwanziger Jahre ist in dieser Ausstellung
sicher nicht das letzte Wort gesprochen worden. Dazu ist dieses Gebiet
zu groß, zu vielschichtig, zu wenig
erforscht.
So kamen zum Beispiel Julius Hüther und Christian Schad zu kurz,
und Josef Scharl ist viel komplexer,
als es die wenigen Exponate zeigen.
Er war dem internationalen Ruhm,
den der Nationalsozialismus jäh zerstörte, am nächsten, und er hat ihn
auch nicht durch seine Emigration
in die USA retten können. Hier müssen sicherlich noch Einzelausstellungen die Malerei dieser Jahre ergänzen. A. Greither
DEUTSCHES ÄRZTEBLATT Heft 28 vom 12. Juli 1979
1887
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