1 Freitag, 5.Mai 2017 SWR2 Treffpunkt Klassik - Neue CDs: Vorgestellt von Eleonore Büning Immer noch ein Geheimtipp Severin von Eckardstein Robert Schumann: Klavierwerke CAvi 8553366 Prachtvoll gelungen Franz Schmidt Symphonie Nr.2 Richard Strauss Dreaming by the Fireside Wiener Philharmoniker, Leitung: Semyon Bychkov Sony 88985355522 Fulminante Neuaufnahme Maurice Ravel Daphnis & Chloé Complete Ballet Les Siècles François-Xavier Roth Harmonia Mundi HMM 905 280 Abschiedsgesang Claudio Monteverdi Vespro della beata vergine La Compagnia del Madrigale Glossa GDC 922807 Kleinod Berlage Saxophone Quartet In Search of Freedom Mit Werken von: Kurt Weill , Arvo Pärt , Erwin Schulhoff , Hanns Eisler Dabringhaus & Grimm MDG 903 1999-6 Signet „SWR2 Treffpunkt Klassik – Neue CDs“ …mit Eleonore Büning, ich grüße Sie! Junge Pianisten? Die gibt es wie Sand am Meer. Aber wirklich gute junge Pianisten? Da wird es schon etwas enger auf dem Klassikmarkt. Und woran erkennt man einen guten jungen Pianisten, wie kann man den einen vom anderen unterscheiden? Diese Frage ist wohl am schwersten zu beantworten. Dabei haben sich schon viele ausgewiesene Experten total geirrt, von den Jurys in den Klavierwettbewerben zu schweigen. Ich möchte Ihnen heute in Treffpunkt Klassik einen Pianisten vorstellen, der mit 38 Jahren schon fast zu alt ist, um entdeckt zu werden. Er heißt Severin von Eckardstein. Er hat kürzlich seine achte CD herausgebracht, mit Fantasien von Robert Schumann. Hier eine erste Kostprobe: 2 Robert Schumann: Fantasiestücke op.12. Nr. 2 3:08 Severin von Eckardstein spielte das zweite Stück aus den Fantasiestücken op.12 von Robert Schumann: „Aufschwung. Sehr rasch“. Dieser Pianist muss eigentlich nicht mehr entdeckt werden. Severin von Eckardstein wurde längst entdeckt. Einmal, als er 19 war, beim „Busoni“-Wettbewerb in Bozen. Und dann nochmal, als er 25 war und den „Reine Elisabeth Wettbewerb“ in Brüssel gewann. Und den Leeds-Wettbewerb, den hat er auch gewonnen. Er konzertiert heute mit großen Orchestern und Dirigenten, wie Paavo Järvi oder Marek Janowski, er reist mit Solorecitals um die Welt, von München über Moskau nach Tokyo. Im Berliner Konzerthaus kuratiert er zurzeit eine Kammermusikserie, die heißt „Klangbrücken“. In Amsterdam am Concertgebouw hat man ihn für die Solorecital-Serie „Meesterpianisten“ engagiert. Und doch: Von dieser achtbaren Mittel-Etage ganz hoch rauf in die Weltkarriere, wo dann Carnegiehall und Majorlabels zugreifen und der Name Eckardstein auf allen Plakaten prangt – dieser Sprung ist Severin von Eckardstein bisher nicht geglückt. Das geht vielen preisgekrönten jungen Pianisten so, dass sie auf ihrem Weg nach oben unterwegs irgendwo stecken bleiben. Nicht nur Pianisten, auch jungen Geigern, Cellisten usw.. Aber beim Klavier ist der Konkurrenzkampf gewiss am härtesten. Warum? Erstens gibt es nun mal keine Stellen für „Orchesterpianisten“. Zweitens wird Klavierspielen immer auch als Hochleistungssport betrieben. In diesem Klischee bleiben die meisten stecken. Aber Musik ist kein Sport, die unfallfrei schnellsten Pianisten sind nicht die besten. Drittens ist der Klavierklang heikel. Jeder kann doch auf so eine Klaviertaste drücken, bitte sehr, schon ist ein Ton ist da. Aber ob dieser Ton nun singt und redet, ob er stumpf bleibt; ob er eine eigne Farbe hat; wie sich verschieden Töne und Farben zu einer ausdrucksstarken Klangrede oder Phrase gestalten, die uns in die Seele greift: Das ist schwer zu erlernen, das kann nicht jeder. Man nennt das, glaube ich: Musik. Severin von Eckardstein ist ein wahrhaft genialer Musiker: Er kann das alles. Bevor wir ihn gleich noch einmal hören, sei geschwind verraten, was es außerdem noch an Neuheiten zu hören gibt, heute, in dieser Sendung. Erstens: die Wiener Philharmoniker; sie haben die zweite Symphonie von Franz Schmidt eingespielt, mit Semyon Bychkov. Dann: „Les Siècles“, das französische Spezialorchester von Francois-Xavier Roth, mit einer Neuaufnahme von Ravels „Daphnis et Chloé“; schließlich die spanische Compagnia del Madrigale, mit der Marienvesper von Claudio Monteverdi. Und gegen Ende der Sendung, last, but not least, stelle ich Ihnen das neueste Album des famosen Saxophon-Quartetts Berlage ((Bärrlaache) vor, mit Musik von Weill bis Pärt. Jetzt aber geht es weiter mit dem Pianisten Severin von Eckardstein. „Sehr rasch und mit leidenschaftlichem Vortrag“: Robert Schumann, op.111, dritter Satz: Robert Schumann: Fantasiestücke op.111. Daraus: Nr.1 „Sehr rasch und mit leidenschaftlichem Vortrag“, so heißt dieser dritte Satz aus Robert Schumanns Fantasiestücken op.111. Gespielt von Severin von Eckardstein. 2:23 3 Op.111 ist ein spätes Werk Schumanns, das man nicht sehr oft im Konzertsaal zu hören bekommt. Entstanden 1851, hat man darin schon erste Depressions-Spuren der drei Jahre später ausbrechenden Krankheit entdecken wollen. Dass Severin von Eckardstein seine neue CD ausgerechnet mit dieser Rarität eröffnet, ist typisch für sein Musikdenken. Dieser Pianist bewegt sich nicht auf den ausgetretenen Repertoirepfaden. In seiner Diskographie findet sich fast ausschließlich Neues, Vergessenes und/oder Wiederzuentdeckendes: Klaviermusik von Alexander Glasunow oder Nicolai Medtner, zum Beispiel. Auch für zeitgenössische Musik und für Kammermusik interessiert sich Eckhardstein, und damit lässt sich im quotenabhängigen Klassikbetrieb kein großer Blumentopf gewinnen. Das mag einer der Gründe dafür sein, warum Severin von Eckardstein, trotz seiner Preise und Erfolge, immer noch ein Geheimtip ist. Jetzt aber hat er ein reines Schumann-Programm eingespielt: nichts als Schumann, lauter Fantasiestücke. Darunter die beliebten Fantasiestücke op.12 von 1837 sowie die große C-Dur-Fantasie op.17, eine verkappte Sonate, in etwa so schwer und so legendär wie die Beethovensche Hammerklaviersonate. Diese C-Dur-Fantasie, die muss jeder Pianist draufhaben. Die wurde schon dreidutzendfach eingespielt, jeder hat das im Ohr, man kann es vergleichen. Mit diesem Stück kann sich Severin von Eckardstein nun an anderen messen. Und zwar, wie Sie gleich hören können: an den Besten der Besten. Eckardstein ist virtuos. Will sagen: Er beherrscht die Materie. Aber wo die schiere Virtuosität aufhört und die Musik anfängt, da wird es erst interessant! Eckardstein denkt analytisch, sein Gestaltungswille ist stark, die Ausdrucksmittel, die ihm zur Verfügung stehen, sind atemraubend vielfältig. So bringt er den komplexen Klaviersatz zum Reden: mit einer quasi natürlich fließenden, flexibel gehandhabten Agogik, mit Tempostauchungen, Tempodehnungen ; mit einem weichen gesanglichem Legato, mit spitz leuchtendem Markato, feindosierter Ornamentik und schön ausbalancierten Mittelstimmen, aber auch mit einer Modulation der Klangfarbgebung, die selbst einzelne Töne lebendig macht. Im Ergebnis hört sich so an, als müsse das genau so sein, als könne man das gar nicht anders spielen – und, (was vielleicht das Schönste ist): als sei es das Natürlichste von der Welt, so Klavier zu spielen. Wir hören jetzt einen längeren Ausschnitt, nämlich den kompletten ersten Teil der C-DurFantasie op.17 von Robert Schumann, „Durchaus phantastisch und leidenschaftlich vorzutragen“ - mit Severin von Eckardstein: Robert Schumann: Fantasie C-Dur op.17 I. Satz 12:38 Aus der C-Dur-Fantasie op.17 von Robert Schumann spielte Severin von Eckardstein den ersten Satz. Diesen Namen, Eckardstein, muss man sich merken. Diese Aufnahme sollte man haben. Auch, wenn Sie schon ein oder zwei Lieblingsaufnahmen der C-Dur-Fantasie besitzen - diese hier könnte die dritte im Bunde werden! Außer der großen C-Dur-Fantasie enthält das neue Album von Severin von Eckardstein auch noch Schumanns Fantasiestücke op.12 und op.111, eine Produktion von Radio Bremen, für das Label Avi-Service für Music, Köln, im Vertrieb von harmonia mundi. Wen man nicht mehr entdecken muss, weil sie sowieso Weltspitze sind: Das sind die Wiener Philharmoniker. Heuer wird groß in Wien und auf der Welt der 175ste Geburtstag dieses Orchesters gefeiert, just heut Abend schauen sie auf ihrer Tournee im Festspielhaus BadenBaden vorbei, mit Mozart und Bruckner im Gepäck. Aber auch Wiens Philharmoniker können, wenn sie mal ausnahmsweise nicht Mozart, sondern etwas Neues, Rares und Unerhörtes spielen, echt Ärger kriegen. Als sie im September 1958 das Werk eines 4 Komponisten auf das Programm setzten, der einst jahrzehntelang als Cellist in ihren eigenen Reihen gewirkt hatte, da hagelte es blutige Verrisse. Der gefürchtete Wiener Kritiker Karl Löbl, schrieb, jung und scharf, im Wiener Express, diese Symphonie habe zwar zwischendurch manchmal, dank der Persönlichkeit des Dirigenten Dimitri Mitropoulos, „fast wie ein gutes Stück geklungen. An ihrer akademisch fundierten, schönseligen, wenn auch durchaus achtbaren Hinterwäldler-Mentalität vermochte allerdings auch er nichts zu ändern.“ „Hinterwäldlerisch“! Das ist echt fies! Gemeint ist damit die zweite Symphonie Es-Dur des Komponisten, Pianisten, Cellisten, Kammermusiker und Musikprofessors Franz Schmidt, der achtzehn Jahre lang als Cellist bei den Wiener Philharmonikern mitgespielt hatte, teils unter Gustav Mahler. Das Stück beginnt mit einem wunderlichen Wiener-Wald-Weben, mit einem pastorale-lieblichen Bachgeriesel das sich alsbald weitet zu orchestraler Superprächtigkeit, mit bis zu acht Hörnern, vierfachen Holzbläsern, wobei jedes einzelne Orchesterinstrument seinem Affen tüchtig Zucker geben darf: Franz Schmidt: Symphonie Nr.2 Es-Dur, 1.Satz 4:12 Ein Lichtwechsel mit Paukenwirbel, Pianississimo: Soweit der Anfang des ersten Satzes aus der Symphonie Nr.2. Es-Dur von Franz Schmidt. Die Wiener Philharmoniker spielten, unter Leitung von Semyon Bychkov. Entstanden ist diese Neuaufnahme im September 2015 im Großen Saal des Musikvereins in Wien, dort, wo schon 1913 die Uraufführung stattgefunden hatte und wo 1958 auch Karl Löbl und andere Kritiker saßen, und ihre Verrisse schrieben. Was das betrifft, war Schmidt freilich Kummer gewöhnt. Bereits einer seiner ersten Lehrer, Theodor Leschetitzky, hatte ihm geraten: „Wenn einer Schmidt heißt, soll er nicht Künstler werden.“ Trotzdem ging Schmidt unbeirrt seinen Weg. Er fand zu einem ausgeprägten Personalstil, der ihn, in dieser Umbruchzeit, zu einem Unikat machte, ja, zu einem Außenseiter. Aus Pressburg gebürtig, dem heutigen Bratislawa, brachte Franz Schmidt einen womöglich angeborenen siebten Sinn fürs Musikantische mit. Seine kunstvolle Instrumentation, lustvoll, üppig, bleibt allezeit durchsichtig, trotz der Masse des Materialaufgebots, worum ihn sogar Richard Strauss beneidet hat. Aber anders als die Orchesterwerke von Strauss und als die von Schmidts großem Mentor Gustav Mahler weisen diese Musiken nicht nach vorn, ins 20ste Jahrhundert. Sie blicken rückwärts, ins 19te, entwickeln ihre romantischen Themen immer noch aus Liedund Tanz-Formen und Kirchenformen, harmonisch eine unfassbar weit ausufernde Klangpracht auseinanderfaltend, uferlos monumentale Geschichten erzählend. Man könnte sagen: Ähnlich den Gurreliedern Schönbergs treiben die vier großen Symphonien Schmidts die Spätromantik auf die Spitze. Schon zu Lebzeiten galt Franz Schmidt aus seiner Zeit gefallen. Erst recht galt das im Avantgardejahr 1958, als Karl Löbl seinen Superverriß über Schmidts Zweite schrieb. Zwar, Löbl irrte. Aber er hat es doch zugleich mit herbeigeschrieben, dass bis heute nicht einmal eine Handvoll Tonaufnahmen von dieser Es-Dur-Symphonie existieren. Diese neueste hier, mit den Wiener Philharmonikern, hat einen entsprechend hohen Repertoirewert. Diese Aufnahme ist prachtvoll gelungen, kompromißlos kulinarisch musiziert und wunderschön, von der ersten Pastoralsszene bis zum letzten protestantischen Choralthema. Und dazwischen geht es immer wieder um die Apotheose des Wiener Walzer, auch im „Allegretto con variazioni“: 5 Franz Schmidt: Symphonie Nr.2 Es-Dur, 3.Satz 6:03 Franz Schmidt war und bleibt Außenseiter. Seine zweite Symphonie Es-Dur ist und bleibt eine Rarität im Repertoire. Um so beglückender, dass die Wiener Philharmoniker jetzt, nach jener ersten Aufnahme mit Mitropoulos aus den Fünfzigern, diese zweite, luxuriös klangfreudige Aufnahme neu produziert haben. Sie hörten daraus zuletzt das Finale aus dem zweiten Satz, „Allegretto con variazioni“. Ergänzt wird das Programm des Albums mit dem Symphonischen Zwischenspiel „Intermezzo“ von Richard Strauss. Verlegt wurde es vom Label Sony. Und damit vom Walzer aus Wien zum „son de l’orchestre francaise“. Das ist eine völlig andere Baustelle! Und doch: Es gibt ein paar beunruhigende Parallelen: Anno 1913, ein Jahr vor Weltkriegsbeginn, hatte Franz Schmidt diese retrotrunkene Wiener-WaldApotheose, die wie eben hörten, herausgebracht. Fast zeitgleich, nämlich 1912, kam in Paris das retrotrunkene Meisterwerk eines großen französischen Komponisten heraus – der sich übrigens nebenbei gesagt seinerseits auch den Wiener Walzer vornahm und zertrümmerte. Aber hier, in besagtem Meisterwerk, ging es Maurice Ravel um etwas anderes. Hier geht es ums nationale Musikerbe der Franzosen. Es sei, so sagt es der Dirigent Francois-Xavier Roth, keineswegs übertrieben, wenn man Ravels choreographische Symphonie „Daphnis et Chloé“ als die „letzte große Comédie-Ballet in der Geschichte der französischen Musik“ betrachte: Schließlich: Wir wissen um die Liebe Ravels für Rameau und Couperin! Maurice Ravel: Daphnis & Chloé, Troisiéme Partie “Lever du jour” 5:38 Francois-Xavier Roth dirigierte sein Orchester „Les Siècles“ sowie das Vokal-Ensemble Aedes, welches sich in den Orchesterklang einmischt mit geheimnisvollen Liedern ohne Worte. Diese Vokalisen, ein Chor von wortlosen Menschenstimmen aus dem Off, sind eine französische Spezialität. Schon Hector Berlioz liebte so etwas, auch Claude Debussy, man denke etwa an „Sirènes“. Hier, in der Morgenstimmung – „Lever du jour“ – aus der Ballettmusik „Daphnis et Chloé“, die Maurice Ravel im Jahr 1912 im Auftrag von Sergej Diaghilew bei den Ballet Russes in Paris herausbrachte, sind die Stimmen aus dem Off so etwas wie die organische Stimme der Natur. Sie sind der antike Chor, der eine klassische Pastoralszene aus dem alten Griechenland kommentiert. Folgendes passiert in dieser höchst künstlichen Retro-Comédie-Ballett: Ein Hirte liebt eine Nymphe, die wird von Piraten entführt, Gott Pan rettet sie, natürlich in letzter Minute und alle kriegen sich und vereinigen sich und sind glücklich, für den Augenblick, und vielleicht auch forever after. Und vom Anfang bis zum Ende wird gesummt und getanzt, und die Vögel zwitschern und die Bienen summen und das Orchester breitet einen wunderbaren Blumenteppich aus impressionistischen Farben aus, wie es ihn zuvor noch nie gegeben hatte, und auch der auskomponierte Orgasmus im Finale, den hat es in der Musik so deutlich jedenfalls, bis dahin noch nie gegeben. Eben wegen dieser meisterhaft malerischen Orchesteropulenz ist Ravels Ballettmusik zu „Daphnis et Chloé“ ungeheuer beliebt. Nicht etwa als Ballettmusik! Auf der Bühne kann man dieses Werk fast nie erleben. Aber im Konzertsaal andauernd, und es gibt davon inzwischen mehrere Dutzend Aufnahmen, höchst vortreffliche sind darunter, vor allem von den Dirigenten Monteux, Inghelbrecht oder Ernest Ansermet, aber auch von Boulez und Abbado. Auf diese Neuaufnahme aber, mit Francois-Xavier Roth, auf die haben wir bis jetzt umsonst gewartet. Es ist die erste Auseinandersetzung mit dem Werk auf dem Boden der historischen 6 Aufführungspraxis. Roth und sein Ensemble „Les Siècles“ spielen nicht nur auf „cordes en boyau“, also auf Darmsaiten, wie sie zu Ravels Zeit noch generell im Gebrauch waren. Sie benutzen Instrumente französischer Bauart aus der Zeit der Jahrhundertwende, was sich ganz besonders in den Farben der Holzbläser bemerkbar macht. Für die Schattierungen dieser Farben, für die erweiteren Obertonspektren hatte Ravel sein lüstern-impressionistisches Tongemälde schließlich komponiert. Das Ergebnis ist überraschend zart, überraschend durchsichtig und enorm dramatisch aufgeladen: Maurice Ravel: Daphnis & Chloé, Troisiéme Partie. Finale 8‘47 Eine fulminante Neuaufnahme der Ballettsuite „Daphnis et Chloé“ von Maurice Ravel hat Francois-Xavier Roth da mit seinem Ensemble „Les Siècles“ und den Sängern des Ensemble Aedes hingelegt. Wir hörten daraus das Finale. Erschienen ist diese Aufnahme beim Label Harmonia Mundi. SWR 2, Sie hören „Treffpunkt Klassik, Neue CDs“ - heute mit Eleonore Büning. Während die Franzosen gerade wählen und (hoffentlich) Europa retten, tönen in den deutschen Provinzen und Metropolen, wo immer es mich hin verschlägt, weiter protestantische Choräle, landauf und landab. Das Luther-Gedenkjahr brummt. Dass aber auch die Italiener etwas wirklich Lebenswichtiges zur europäischen Kultur beigetragen haben, nämlich die begleitete Monodie, davon hört man fast gar nichts. Vor 450 Jahren erblickte in Cremona, in Italien, Claudio Monteverdi, einer der Gründungsväter der Oper, das Licht der Welt. Und es ist ein spanisches Spitzenvokalensemble, das jetzt noch einmal eine neue Aufnahme von Monteverdis „Marienvesper“ vorlegt. „La Compagnia del Madrigale“ spielte die „Vespro della Beata Vergine“ plus Magnificat neu ein. 1610 von Monteverdi im Druck veröffentlicht und Papst Paul V. gewidmet, vereint dieses Werk, wie in einem kompositorischen Musterbuch, den alten mit dem neuen Stil. In der Eröffnung kreuzt sich Kirchliches und Weltliches, Diesseits und Jenseits, das neue Individuum und die alte Ständegesellschaft: Oper begegnet Liturgie. Claudio Monteverdi: Domine ad adiuvandum 2:40 „Deus in adiutorium meum intende“ – „Herr, eile, mich zu retten“ Falls Ihnen da etwas irgendwie bekannt vorkam: Diese signalartig aufsteigende Trompetenfanfare, eine Toccata, die da eben dreifach mit dem Gemeindegesang und dem Intermezzo der Instrumente abwechselte, taucht auch als Eröffnungsfanfare in einer der ersten großen Opern der Musikgeschichte auf. Sie erklingt zu Beginn von Claudio Monteverdis „Orfeo – favola in musica“, aus dem Jahr 1607. Dass Monteverdi sie hier, in anderem, kirchlichen Kontext, drei Jahre später wieder verwendet, hat einen einfachen Grund: Er komponierte den „Orfeo“ zum Geburtstag des Herzogs von Gonzaga, Francesco V, die Oper wurde am Hof zu Mantua uraufgeführt. Und die Marienvesper war ebenfalls, bevor der Borghese-Papst die Ehre der Zuwidmung erfuhr, zunächst einmal für die Gonzagas in Mantua entstanden. Die Toccata aber, diese Trompetenfanfare, ist die Erkennungsmelodie der Gonzagas, ihr „musikalisches Wappen“. Monteverdi hätte auch stattdessen einen Zettel einkleben können, auf dem steht: Dieses Werk gehört dem Herzog. 7 Was aber sofort auffällt an dieser neuen Monteverdi-Aufnahme des Ensembles „La Compagnia del Madrigale“, das ist das staatstragende Tempo. Es wird auch nicht schneller in der Abfolge der sich anschließenden Musiknummern der Vesper, in der opernhafte Solomadrigale für ein bis sechs Stimmen abwechseln mit homophonen, orgelbegleiteten Psalmen und Responsorien. Und nicht nur das Tempo ist und bleibt salbungsvoll. Auch der sängerische Gestus der Solisten wirkt pomadig und repräsentativ, auch die Instrumentalisten tun gespreizt und bedeutsam, jede Durchgangsdissonanzen wird schwer betont, jede finale Fermate noch etwas länger ausgehalten. Jede Silbe wiegt wie Blei, das macht den Tönen das Leben schwer. Auch ist ein kleiner Hall darauf gelegt worden bei dieser Aufnahme, (oder der Aufnahmeort, die Basilica di San Maurizio in Pinerolo trug dazu ungefiltert bei). Diese Aufnahme wirkt wie „Retro“: wie ein Blick zurück. Es scheint, als seien die drei Gründer, Leadsänger und Leiter der „Compagnia del Madrigale“ doch inzwischen in die Jahre gekommen. Diese famose Compagnia hat viel getan für die wahre Art, Monteverdi zu singen! Sie ging hervor aus dem Zusammenschluss zweier der besten Alte-Musik-Ensemble der Welt, „La Venexiana“ und „Concerto Italiano“. Und eine Fülle von ausgezeichneten Konzerterlebnissen und Aufnahmen haben wir ihnen zu danken. Aber wenn man jetzt lauscht, mit welcher Wehmut Raffaelle Giordano und Giuseppe Maletto das „Concerto Duo Seraphim“ anstimmen, dann ahnt man: Das ist ein Abschiedsgesang: Claudio Monteverdi: Duo Seraphim 6:03 Das „Concerto Duo Seraphin“ aus der Marienvesper von Claudio Monteverdi wurde gesungen von drei Tenören der „Compagnia del Madrigale“, namentlich waren das Gianluca Ferrarini sowie Raffaele Giordano und Giuseppe Maletto. Und zumindest was diese beiden letzteren anbetrifft, die von Anfang an bei diesem spanischen Spitzenensemble dabei gewesen waren – zuerst „La Venexiana“, später „La Compagnia del Madrigale“, und die bis heute programmieren, dirigieren und die Gruppe leiten; so denke ich mir, sie sangen das öffentlich möglicherweise zum letzten Mal. Glanz, Süße und Beweglichkeit der Stimmen ist nicht mehr dieselbe, wie früher. Die Präzision hat gelitten, es gibt winzige Verzögerungen in den Gruppetti und Ornamenten. Und es liegt ein Trauerflor aus Langsamkeit darüber, auch bei diesem genialen Concerto. Diese Neuaufnahme der „Marienvesper“ ist herausgekommen beim Label Glossa, im Vertrieb von Note 1. Vor knapp zwei Jahren starb Friedemann Weigle. Ein Bratscher. Er war noch relativ jung, ein Mann in den besten Jahren, ein passionierter Kammermusiker und auch hauptsächlich unterwegs in der Kammermusik. Kammermusik, das ist zwar ein Biotop für sich, eine kleine Nische, für ein Spezialpublikum. Aber wie wichtig so ein Mensch sein und wie stark er vermisst werden kann, das lässt sich ablesen an dem neuen Album, das jetzt von dem Amsterdamer Berlage Saxophon Quartett herausgebracht wurde. Das Album heißt: „In Search of Freedom“, es präsentiert Bearbeitungen von großer Streichquartettmusik für vier Saxophone – und es ist dem Bratscher Friedemann Weigle gewidmet. Was hat der Saxophonklang mit dem der Bratsche zu tun? Nichts. Ich vermute sogar: Gar nichts. Aber die Kammermusik, die ist unteilbar! 8 Die vier jungen Saxophonisten aus Amsterdam waren, als sie 2008 ihre Formation gründeten, beim Artemis-Quartett in Berlin in Kammermusik-Kurse gegangen, wo Friedemann Weigle ihnen, wie sie jetzt dankbar sagen, die „Essenz des Quartettspiels“ beigebracht hat. Hören wir hinein in ihre neue Aufnahme. Das Berlage-Saxophon Quartett spielt den dritten Satz aus dem Streichquartett c-moll op.110 von Dmitri Schostakowitsch. Umgeschrieben für Saxophon hat es der Altsaxophonist des Ensembles, Peter Vigh, also quasi der Saxophon-Bratscher: Dmitri Schostakowitsch: Streichquartett Nr.8 op.110 4:23 Das war der dritte Satz, Allegretto, aus dem c-moll-Quartett op.110 von Dmitri Schostakowitsch, bearbeitet für Saxophon-Quartett von Peter Vigh, hinreißend gespielt vom Berlage Saxophon Quartett Amsterdam. Schostakowitsch hatte dieses Streichquartett, durch das sich seine persönliche Signatur, das Vierton-Motiv D-Es-C-H durchzieht wie ein schwarzer Faden, anno 1960 nach einem Besuch im kriegszerstörten Dresden komponiert, in nur wenigen Tagen. Er war damals krank, er war depressiv, er stand extrem unter Druck der sowjetischen Machthaber. Viele Jahre später, in einem Brief bemerkte er: Dieses Quartett habe seine Grabrede werden sollen. Hinter allen fünf Stücken, die das Berlage Saxophon Quartett für sein neues Album „In Search of Freedom“ ausgewählt und bearbeitet hat, steht so eine persönliche Geschichte, ein politisch-biographischer Kontext. Schostakowitsch, Hanns Eisler, Kurt Weill, Erwin Schulhoff und Arvo Pärt: Sie alle wurden verfolgt, bedroht, verhaftet – sind emigriert oder geflohen, Schulhoff starb in einem der nationalsozialistischen Lager, in Wülzburg. Und sie alle haben mit ihrer Musik gekämpft und Botschaften darin versteckt, als Plädoyer für ein besseres, richtiges Leben im Falschen. Das ist der rote Faden in diesem Album. Für den jungen Arvo Pärt aus Estland wurde der gregorianische Choral das Versteck, in das er sich vor dem Zugriff der sozialistischen Machthaber zurückzog, seine Spiritualität ein Ausdruck machtgeschützter Innerlichkeit. 1980 komponierte Pärt das Stück „Fratres“ – erst für Violine und Klavier, dann bearbeitet für Streichorchester, und das Berlage Saxophon Quartett hat jetzt eine weitere Bearbeitung erstellt, für vier Saxophone und eine Violine: Sie wird gespielt von Vineta Sareika, der Kollegin von Friedemann Weigle, Primgeigerin des Artemis Quartetts: Arvö Pärt: Fratres 2:46 „Fratres“ (Brüder), von Arvo Pärt. Vineta Sareika spielte die Violine, als Gast des Berlage Saxophon Quartetts, Amsterdam. Es ist freilich nicht nur dieses ergreifend gespielte, ausdrucksstarke Programm, das aus dem Album „Search of Freedom“ ein Kleinod macht. Es sind vor allem Intensität und Brillanz des Zusammenspiels, das synchrone Klangbild, das Verschmelzen der vier Energiequellen, die Einheit in der Vielheit, kurzum: Es ist der kammermusikalische Geist dieser Formation. Das Berlage Saxophone Quartett hat sich ein neues Genre geschaffen. Sie haben schon viele internationale Preise dafür abgeräumt. Man darf gespannt sein, was die Zukunft bringt. Hier sind sie noch einmal, die genialen vier. Namentlich: Lars Niederstrasser (Sopransaxophon), Peter Vigh (Altsaxophon), Kirstin Niederstrasser (Tenor Saxophon) und Eva van Grinsven (Bariton-Saxophon): 9 Kurt Weill: Die Zuhälterballade aus: Dreigroschenoper 2:50 Es geht auch anders. Aber: So geht es auch. Mit diesem Arrangement für vier Saxophone von Zuhälterballade aus der Dreigroschenoper von Kurt Weill geht die Sendung „SWR2 Treffpunkt Klassik – Neue CDs“ für heute zu Ende. Es spielte das Berlage Saxophon Quartett, Amsterdam. Sie finden diese Bearbeitung auf dem Album „In Search of Freedom“ vom Berlage Saxophon Quartett, unbedingt empfehlenswert! Erschienen ist es beim Label MDG Dabringhaus & Grimm, im Vertrieb von Naxos. Am Mikrophon verabschiedet sich Eleonore Büning. Danke fürs Zuhören und – auf Wiederhören! Nähere Angaben zu den vorgestellten neuen CDs finden Sie im Internet unter www.swr2.de Dort steht die Sendung auch noch eine Woche lang zum Nachhören. Hier in SWR2 geht es jetzt weiter mit dem Kulturservice, danach folgt „Aktuell“, mit den Nachrichten.