1124_sueddeutsche_zeitung_22_10_10.

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Der Mensch ein Wicht, der Kosmos ein Chaos
Neustart am Theater Braunschweig mit Lessings „Miss Sara Sampson“ und Nis-Momme
Stockmanns „Inga und Lutz“
Dass man in den letzten Jahren wenig vom Braunschweiger Theater gehört hat, liegt unter
anderem daran, dass es immerhin gut verwaltet wurde. Wechselt an so einem Standort
irgendwann der Intendant, fällt das nicht unbedingt auf. Man hätte also leicht übersehen
können, dass mit Joachim Klement einmal mehr ein als Dramaturg gereifter Theatermacher
die Leitung eines Staatstheaters übernimmt. Klement war zuletzt Chefdramaturg am
Düsseldorfer Schauspielhaus und am Bremer Theater. Jetzt, da er zum ersten mal als
Generalintendant einen Vier-Sparten-Betrieb leitet, hat er sich mit Axel Preuß einen
Mitstreiter an die Seite geholt, der zuletzt Schauspielchef in Heidelberg war.
Die beiden gehen auf Nummer sicher und legen im Schauspiel einen paritätischen Spielplan
vor, der in regelmäßigem Wechsel mit Klassik und Zeitgenossenschaft aufwartet. Zum Start
gab es Ibsens „Volksfeind“ und die Uraufführung von Anne Nathers „Alle Tage schwarzer
Kater“. Als zweites paritätisches Paar folgte jetzt Lessings „Miss Sara Sampson“ und NisMomme Stockmanns „Inga und Lutz“. Zwei Stücke, in denen jeweils ein schwacher Mann auf
zwei starke Frauen trifft.
Stockmanns „Inga und Lutz“ stammt aus einer Zeit, da der gefeierte „Nachwuchsdramatiker
2010“ in Berlin noch szenisches Schreiben studierte. Umso erstaunlicher die Könnerschaft,
mit der er schon im Erstling dafür sorgt, dass der Mensch ein Wicht und der Kosmos ein
Chaos ist. „Die potentielle Holistik eines Schnellkochtopfes im Kosmos des modernen Seins“
nennt Stockmann seine philosophische Katastropheneskalation im Untertitel und wartet mit
einem Eskapisten namens Lutz auf, der in Berlin-Neukölln lebt, seinen Job verliert und am
liebsten nur noch „Bilder von Flinten in Flintenbilderbücher kleben“ würde. Da hinter jedem
laschen Mann aber eine fordernde Frau steht, möchte Inga mit ihrem Lutz zumindest mal
über ein Kind reden. Da Lutz auch dieser Option abwartend gegenüber steht, holt Inga sich
Rat bei Freundin Britta. Das sind so die kleinen Dinge des Alltags, die eine Eigendynamik
entwickeln können, mal ganz davon abgesehen, dass Lutz diesen verdammten
Schnellkochtopf nicht bei seiner Mutter abholt, sich auf dumme Geldbeschaffungspläne
seines Freundes Manni einlässt und plötzlich dieser Inkasso-Russe vor der Tür steht. Ein
Zufall bedingt den anderen bis hin zur zufälligen Ermordung der armen Inga. Warum
Stockmann dann auch noch einen auktorialen Erzähler einführt, versteht man allerdings nicht
wirklich.
Regisseur Alexis Bug versucht das Problem zu lösen, indem er zu Beginn und am Schluss
der Uraufführung eine überdimensionale Puppe auftreten und wie einen abgedankten Gott
sprechen lässt, verteilt die kommentierenden Texte ansonsten allerdings auf Britta und
Manni. Bug gelingt eine überaus spielfreudige Inszenierung, in der Philipp Richardt aus dem
Lutz einen dumpf-anmutigen Zufallsclown und Philipp Plessmann aus Manni einen jener
Brandstifter macht, die gerne andere vorschicken und sich dann verkrümeln. Prickelnd wird
der kurze Abend über die großen Fragen des Seins, wenn Anika Baumann (Inga) und
Theresa Langer (Britta) enthemmt vor sich hin zicken. Inga misstraut Lutz, bemerkt aber
nicht, dass Misstrauen gegenüber der intriganten Freundin, die selber auf Lutz schielt, eher
angebracht wäre.
Die Freundinnen-Szene spielt am Tresen der Hausbar im oberen Foyer des Braunschweiger
Staatstheaters. Hier hat Klement eine neue Spielstätte eingerichtet und entspannt die
Stockmann-Premiere besorgt, während einen Steinwurf entfernt im Kleinen Haus der
Pastorensohn zu Wort kommt, der im nahen Wolfenbüttel als Bibliothekar wirkte und in
Braunschweig zu Grabe getragen wurde: Gotthold Ephraim Lessing hatte eine gewisse
Vorliebe für Glücksspiele und Gasthöfe. Also lässt er seine Miss Sara Sampson auf der
Flucht vor dem Vater in einer verlotterten Herberge ankommen und liefert sie dem
Liebesspieler Mellefont aus. Auch ihr Vater mietet sich in der Herberge ein, und als sei all
das nicht genug, taucht auch noch Mellefonts Ex mit der gemeinsamen Tochter auf.
Die Marwood ist eine bösartige Liebende, die auch in Hollywood Karriere machen könnte.
Regisseurin Anna Bergmann hat das zielsicher erkannt und in Nientje Schwabe eine
Schauspielerin, die alle Register zieht und zuerst Mellefont umschmeichelt, bevor sie sich an
die junge Nebenbuhlerin macht, um ihr am Ende den Gifttrank zu reichen. Sie ist eine der
reifsten Versuchungen, seit es bürgerliche Trauerspiele gibt. Das Gegengift heißt Rika
Weniger und ist als Sara S. eine wundersam Naive, die unbeirrt an das Gute im Geliebten
glaubt, obwohl sie ahnt, wie grausam Liebe sein kann.
Anna Bergmann greift entschieden kreativ in den Text ein, weiß mit ihrem Ideen aber nicht
immer was anzufangen. Warum aus Lessings Wirt ein heruntergekommenes Wirtspaar
werden musste, bleibt unerfindlich. Schwerer ins Gewicht fällt, dass sie für die Männer der
Lessingschen Schöpfung kein Auge hat. Papa Sampson (Tobias Beyer) kam fast der
gesamte Text abhanden; Hanno Koffler lässt es dabei bewenden, dem Mellefont eine
blasierte Attitüde überzustülpen. Dass Marwoods Tochter als lebensechte Puppe erscheint
und alle Qualen eines Kindes zerstrittener Eltern durchlebt, ist dagegen reizvoll und trägt mit
dazu bei, dass das Braunschweiger Publikum eine neue Variante der Klassikererkundung
kennen lernt. Das wird mit Goethes „Wahlverwandtschaften“, Grillparzers „Medea“ und
jungen Regiekräften wie Daniela Löffner, Sebastian Schug und Patrick Wengenroth wohl so
weiter gehen.
JÜRGEN BERGER
Süddeutsche Zeitung 22.10.10
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