Der Mensch ein Wicht, der Kosmos ein Chaos Neustart am Theater Braunschweig mit Lessings „Miss Sara Sampson“ und Nis-Momme Stockmanns „Inga und Lutz“ Dass man in den letzten Jahren wenig vom Braunschweiger Theater gehört hat, liegt unter anderem daran, dass es immerhin gut verwaltet wurde. Wechselt an so einem Standort irgendwann der Intendant, fällt das nicht unbedingt auf. Man hätte also leicht übersehen können, dass mit Joachim Klement einmal mehr ein als Dramaturg gereifter Theatermacher die Leitung eines Staatstheaters übernimmt. Klement war zuletzt Chefdramaturg am Düsseldorfer Schauspielhaus und am Bremer Theater. Jetzt, da er zum ersten mal als Generalintendant einen Vier-Sparten-Betrieb leitet, hat er sich mit Axel Preuß einen Mitstreiter an die Seite geholt, der zuletzt Schauspielchef in Heidelberg war. Die beiden gehen auf Nummer sicher und legen im Schauspiel einen paritätischen Spielplan vor, der in regelmäßigem Wechsel mit Klassik und Zeitgenossenschaft aufwartet. Zum Start gab es Ibsens „Volksfeind“ und die Uraufführung von Anne Nathers „Alle Tage schwarzer Kater“. Als zweites paritätisches Paar folgte jetzt Lessings „Miss Sara Sampson“ und NisMomme Stockmanns „Inga und Lutz“. Zwei Stücke, in denen jeweils ein schwacher Mann auf zwei starke Frauen trifft. Stockmanns „Inga und Lutz“ stammt aus einer Zeit, da der gefeierte „Nachwuchsdramatiker 2010“ in Berlin noch szenisches Schreiben studierte. Umso erstaunlicher die Könnerschaft, mit der er schon im Erstling dafür sorgt, dass der Mensch ein Wicht und der Kosmos ein Chaos ist. „Die potentielle Holistik eines Schnellkochtopfes im Kosmos des modernen Seins“ nennt Stockmann seine philosophische Katastropheneskalation im Untertitel und wartet mit einem Eskapisten namens Lutz auf, der in Berlin-Neukölln lebt, seinen Job verliert und am liebsten nur noch „Bilder von Flinten in Flintenbilderbücher kleben“ würde. Da hinter jedem laschen Mann aber eine fordernde Frau steht, möchte Inga mit ihrem Lutz zumindest mal über ein Kind reden. Da Lutz auch dieser Option abwartend gegenüber steht, holt Inga sich Rat bei Freundin Britta. Das sind so die kleinen Dinge des Alltags, die eine Eigendynamik entwickeln können, mal ganz davon abgesehen, dass Lutz diesen verdammten Schnellkochtopf nicht bei seiner Mutter abholt, sich auf dumme Geldbeschaffungspläne seines Freundes Manni einlässt und plötzlich dieser Inkasso-Russe vor der Tür steht. Ein Zufall bedingt den anderen bis hin zur zufälligen Ermordung der armen Inga. Warum Stockmann dann auch noch einen auktorialen Erzähler einführt, versteht man allerdings nicht wirklich. Regisseur Alexis Bug versucht das Problem zu lösen, indem er zu Beginn und am Schluss der Uraufführung eine überdimensionale Puppe auftreten und wie einen abgedankten Gott sprechen lässt, verteilt die kommentierenden Texte ansonsten allerdings auf Britta und Manni. Bug gelingt eine überaus spielfreudige Inszenierung, in der Philipp Richardt aus dem Lutz einen dumpf-anmutigen Zufallsclown und Philipp Plessmann aus Manni einen jener Brandstifter macht, die gerne andere vorschicken und sich dann verkrümeln. Prickelnd wird der kurze Abend über die großen Fragen des Seins, wenn Anika Baumann (Inga) und Theresa Langer (Britta) enthemmt vor sich hin zicken. Inga misstraut Lutz, bemerkt aber nicht, dass Misstrauen gegenüber der intriganten Freundin, die selber auf Lutz schielt, eher angebracht wäre. Die Freundinnen-Szene spielt am Tresen der Hausbar im oberen Foyer des Braunschweiger Staatstheaters. Hier hat Klement eine neue Spielstätte eingerichtet und entspannt die Stockmann-Premiere besorgt, während einen Steinwurf entfernt im Kleinen Haus der Pastorensohn zu Wort kommt, der im nahen Wolfenbüttel als Bibliothekar wirkte und in Braunschweig zu Grabe getragen wurde: Gotthold Ephraim Lessing hatte eine gewisse Vorliebe für Glücksspiele und Gasthöfe. Also lässt er seine Miss Sara Sampson auf der Flucht vor dem Vater in einer verlotterten Herberge ankommen und liefert sie dem Liebesspieler Mellefont aus. Auch ihr Vater mietet sich in der Herberge ein, und als sei all das nicht genug, taucht auch noch Mellefonts Ex mit der gemeinsamen Tochter auf. Die Marwood ist eine bösartige Liebende, die auch in Hollywood Karriere machen könnte. Regisseurin Anna Bergmann hat das zielsicher erkannt und in Nientje Schwabe eine Schauspielerin, die alle Register zieht und zuerst Mellefont umschmeichelt, bevor sie sich an die junge Nebenbuhlerin macht, um ihr am Ende den Gifttrank zu reichen. Sie ist eine der reifsten Versuchungen, seit es bürgerliche Trauerspiele gibt. Das Gegengift heißt Rika Weniger und ist als Sara S. eine wundersam Naive, die unbeirrt an das Gute im Geliebten glaubt, obwohl sie ahnt, wie grausam Liebe sein kann. Anna Bergmann greift entschieden kreativ in den Text ein, weiß mit ihrem Ideen aber nicht immer was anzufangen. Warum aus Lessings Wirt ein heruntergekommenes Wirtspaar werden musste, bleibt unerfindlich. Schwerer ins Gewicht fällt, dass sie für die Männer der Lessingschen Schöpfung kein Auge hat. Papa Sampson (Tobias Beyer) kam fast der gesamte Text abhanden; Hanno Koffler lässt es dabei bewenden, dem Mellefont eine blasierte Attitüde überzustülpen. Dass Marwoods Tochter als lebensechte Puppe erscheint und alle Qualen eines Kindes zerstrittener Eltern durchlebt, ist dagegen reizvoll und trägt mit dazu bei, dass das Braunschweiger Publikum eine neue Variante der Klassikererkundung kennen lernt. Das wird mit Goethes „Wahlverwandtschaften“, Grillparzers „Medea“ und jungen Regiekräften wie Daniela Löffner, Sebastian Schug und Patrick Wengenroth wohl so weiter gehen. JÜRGEN BERGER Süddeutsche Zeitung 22.10.10