Jubiläums-Edition „Le sacre du printemps“

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SWR2 Cluster 28.05.2013, Musikmarkt: Noten- und Buch-Tipp
„Maßstabsetzend“
Jubiläums-Edition „Le sacre du printemps“ (Paul Sacher Stiftung / Boosey and Hawkes)
Ulrich Mosch (Hg.)
Faksimile der Partiturreinschrift
Einleitung in Deutsch und Englisch
ISBN: 978-0-85162-813-4
€ 175,-Felix Meyer (Hg.)
Faksimile der Klavierfassung zu vier Händen
Einleitung in Deutsch und Englisch
ISBN: 978-0-85162-822-6
€ 99,-Hermann Danuser und Heidy Zimmermann
Avatar of Modernity. The Rite of Spring Reconsidered
18 Essays in englischer Sprache
ISBN: 978-0-85162-823-3
€ 79,-Autor: Bernd Künzig
Igor Strawinksy: „Le sacre du printemps (Ausschnitt)
0‘30
SWR Sinfonieorchester Baden-Baden und Freiburg, Leitung: Sylvain Cambreling
Hänssler CLASSIC 93.196
1974 erwarb der Schweizer Mäzen und Dirigent Paul Sacher unter juristisch nicht ganz einwandfrei
geklärten Umständen von Vera Strawinsky, der Witwe Igor Strawinskys, die autographe
Partiturreinschrift des „Sacre du printemps“. Seit 1983 zählt sie zum wertvollsten Kernbestand des
in der Sacher Stiftung verwahrten Nachlasses von Igor Strawinsky. Die druckreife, präzise,
kalligraphisch überwältigende Handschrift des Komponisten ist Legende. Jetzt kann sie in der
Faksimile-Edition der Partitur en detail überprüft werden. Die Handschrift zeigt aber auch, wie oft
und wie sorgfältig Strawinsky die Partitur nach den ersten Aufführungen bis zur ersten Drucklegung
1921 überarbeitet hat. Als musikalisches Jahrhundertwerk trat die Ballettmusik zwar am 29. Mai
1913 auf die historische Bühne, aber die Entstehung des Werkes ist ein äußerst sorgfältig
geplanter Akt nicht nur von Genialität, sondern auch von Disziplin und Handwerk. Darüber hinaus:
Die kostbare Handschrift des „Sacre“ ist ein bildnerisches Ereignis, ein grafisches Kunstwerk
ersten Ranges, das eine Existenz jenseits des Tönenden führt. Mit der Betrachtung von
Strawinskys Handschrift vertieft man sich in bildnerische Schönheit. Letztendlich entspricht dem
auch die Ballettmusik im Sinne einer Geometrisierung der Musik als kubistische Klangplastik.
Analytisch transparenter dagegen die Handschrift der vierhändigen Klavierfassung. Sie offenbart
die strukturelle Präzision, mit der Strawinsky Rhythmus und Dissonanz endgültig aus dem Geist
des 19. Jahrhunderts befreit hat. Darüber hinaus ist die Klavierfassung als eigenständiges Werk zu
begreifen: weder ein einfacher Klavierauszug, noch eine Vorstufe der eigentlichen Partitur. Auch
hier entspricht die gestochen scharfe Handschrift ihrem klanglichen Ergebnis: Flirrend und
metallisch weist die Klavierfassung den Weg zu der später entstandenen Kantate „Les Noces“. Die
„Explosion“ eines Jahrhundertwerks wird in diesen beiden sorgfältig erstellten Faksimilebänden
anschaulich.
Vertieft wird diese Erfahrung durch den herausragenden, von Heidy Zimmermann und Hermann
Danuser herausgegebenen Essayband. Auf knapp 500 Seiten wird nicht nur die Entstehungs- und
Rezeptionsgeschichte des Balletts dokumentiert – bis hin zu Walt Disneys eigentümlicher Version
in „Fantasia“. Auch die choreographische Bedeutung der Musik bis in die Gegenwart wird
aufgezeigt. Und noch bedeutsamer: Die Rolle des Bühnenbildners der Uraufführung Nicolas
Roerich wird endlich einmal ausführlich gewürdigt. Denn ohne dessen archäologische und
bildnerische Vertiefung ins „heidnische Russland“ wäre das gemeinschaftliche Gesamtkunstwerk
der Ballets russes, des Choreographen Nijinskij und des Komponisten Strawinsky überhaupt nicht
denkbar gewesen. Der Blick auf den Maler Roerich führt einerseits zurück in die okkulten und
theosophischen Strömungen der Jahrhundertwende und nach vorne in die Faszination der
östlichen Mystik. Nicht nur der Kubismus erfährt in Strawinskys Ballettmusik ein tönendes Pendant,
sie ist vielmehr eine Kristallisation der geistigen Zeitströmungen jener Epoche vor dem fatalen
Attentat in Sarajewo.
In einem breit angelegten Kapitel wird gerade diese kulturelle Bedeutung des Balletts als Zeichen,
Vorbote und Offenbarung des zerrissenen 20. Jahrhunderts klargelegt. Der dabei genau
betrachtete Skandal der Uraufführung, der Gewalt nicht nur auf der Bühne zeigte, sondern auch im
Zuschauerraum weiterführte, kann mit Fug und Recht als Zeitzeichen verstanden werden. Darauf
macht dieses maßgebliche Kapitel des Essaybandes aufmerksam: Es ist nicht nur der Vorabend
des Ersten Weltkriegs, sondern der des ganzen 20. Jahrhunderts und der Dämmerung der
Moderne, der sich in Strawinskys Geniestreich manifestiert. Nicht ohne Grund trägt der
englischsprachige Essayband den Titel: „Avatar of modernity“. Und wer Strawinskys Ballett wirklich
liebt, kommt um diesen dreibändigen Avatar des „Sacre du printemps“ nicht herum. Er ist
maßstabsetzend.
Igor Strawinksy: „Le sacre du printemps“ (Ausschnitt)
Fassung für Klavier zu vier Händen
Klavierduo Andreas Grau & Götz Schumacher
Eigenproduktion SWR 2006
4‘10
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