Igor Strawinsky - Le Sacre du Printemps Das 20. Jahrhundert Igor

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Markus Haider, 2012 / 13
Igor Strawinsky - Le Sacre du Printemps
Mystik in der Musik
Das 20. Jahrhundert
Nie zuvor in der Geschichte der Menschheit waren viele Bereiche der Gesellschaft so
grundlegenden Veränderungen unterworfen, wie es sich im turbulenten 20. Jahrhundert vollzog.
Daher spricht man auch vom Stilpluralismus in der Musik- und Kunstgeschichte.
Umwälzende Veränderungen im Leben und Weltbild der Menschen wurden ausgelöst durch die
Erhöhung der Mobilität, der Relativitätstheorie nach A. Einstein, Massenproduktion am Fließband,
Einzug der Elektrizität in alle Lebensbereiche, Veränderung des Menschenbildes in Medizin und
Psychologie, Massenkommunikationsmittel, Entstehung des Kino, Einteilung in Arbeitszeit und
Freizeit, Emanzipation der Frau, Erfindung des Computers, etc. Künstler reflektieren und
verarbeiten ihre Wahrnehmungen und sind bestrebt an vorderster Front als Avantgarde ihre Kunst zu
generieren. Durch die rasanten Entwicklungen in allen Bereichen des Lebens, der Gesellschaft, der
Technik, Wissenschaft, Medizin usw. entstand eine enorme Vielfalt an Musiken. Ein wichtiger
Wegbereiter in der Entwicklung der Musik war unter Anderen Igor Strawinsky.
Igor Strawinsky der Komponist (1882 - 1971)
Ein russischer Emigrant, Intellektueller und Kosmopolit, erschüttert die Welt mit seiner Aufsehen
erregenden, dynamischen Musik. Heute wird er als herausragender Komponisten des 20.
Jahrhunderts gefeiert. Dieser Komponist, der stärker als jeder andere mit der romantischen Tradition
des 19. Jahrhunderts brach, führte die Musik endgültig in die moderne Zeit. Strawinsky war seinem
Heimatland Russland eng verbunden, obwohl er die längste Zeit in Frankreich lebte und in Amerika
starb. Seine russisch-orthodoxe Erziehung löste eine lebenslange Faszination für Liturgien und
Rituale in ihm aus; eine Faszination, die ihn zu Arbeiten, wie Le „Sacre du Printemps“ inspirierten
und einen tiefen Respekt vor Bräuchen erkennen ließ.
Als Sohn einer Musiker Familie, Vater war Opernsänger, die Mutter spielte Klavier, begann er mit
neun Jahren Klavier zu spielen und zu komponieren. Während seiner Jura-Studienjahre in St.
Petersburg hatte er Unterricht bei dem russischen Komponisten Rimsky-Korssakoff, der für ihn ein
wichtiger Wegbereiter war. Aus dem Verhältnis Lehrer Schüler entwickelte sich schnell eine enge
Freundschaft. Diese eröffnete Strawinsky auch den Eintritt in das musikalische Leben Petersburgs,
wo er Soireen zeitgenössischer Musik besuchte, und die impressionistische Musik C. Debussy zu
faszinieren begann.
Als er 1905 sein Jusstudium abschloss, schlug er aber eine musikalische Laufbahn ein.
Eine wichtige Persönlichkeit stellet sein Freund und Opernunternehmer Sergej Diaghilew dar. Er
brachte seine Musik auf die Bühne. Seine musikalische Karriere baute sich daher vor allem in Paris
auf, wo er die berühmten Ballette komponierte: „Der Feuervogel (1909)“, „Petruschka (1911)“ und
„Le Sacre du Printemps (1913)“. Viele große Werke folgten: „Les Noces“, „Oedipus Rex“, „Le
Baiser de la Fée“, „The Rake‘s Progress“, ...
Orchestermusik im 20. Jahrhundert
Seit der Renaissance galten in der europäischen Musik feste Regeln für ihren Aufbau – Regeln für
melodische und harmonische Fortschreibungen und für die geordnete, logische Entwicklung von
Themen, die auf dem Dur-Moll-System beruhten. Die Musik des 20. Jahrhunderts hat mit vielen
Gewohnheiten der Vergangenheit gebrochen. Daher klingt die jüngere Musik anders als die
vergangener Jahrhunderte, und sie will auch anders gehört werden.
Stranwinskys „Le Sacre du Printemps“ markiert einen wichtigen Wendepunkt, und seitdem ist kaum
ein Orchesterwerk des 20. Jahrhunderts unbeeinflusst geblieben von der Revolution, die dieses
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Werk ausgelöst hat. In diesem Werk lädt er die Hörer ein, sich auf die besonderen Qualitäten des
Gesamtklangs zu konzentrieren und dem Rhythmus Aufmerksamkeit zu schenken, oder sich von
den Effekten der Musik faszinieren zu lassen. Er tut das, indem indem er die bisherigen
musikalischen Wertvorstellungen verlässt und das Orchester experimentell einsetzt.
Er strebt einen heftigen, harten Orchesterklang an, und deshalb dominieren in seinem Orchester
nicht, wie es immer üblich gewesen war, die Streicher, sondern die Blechbläser, Holzbläser und
Schlaginstrumente. Er geht sogar so weit, dass er in späteren Werken auf die Streicher völlig
verzichtet. Damit beendet Strawinsky die traditionelle Vorherrschaft der Streicher im Orchester, und
sein Hervorheben der Blas- und Schlaginstrumente wurde für viele Orchesterwerke des 20.
Jahrhunderts charakteristisch.
Strawinsky konzentrierte sich sehr auf Rhythmik und drängte die Dur-Moll Harmonik immer mehr
in den Hintergrund. Er fand in osteuropäischer Volksmusik eine Alternative, denn diese beruhte
häufig auf sehr alten Modi (Tonleitern, die sich anders zusammensetzten als Dur- oder
Molltonleitern). Claude Debussy hatte einen ähnlichen Weg eingeschlagen, indem er Kirchenmodi
verwendete, oder eigene Skalen einsetzte (vor allem die Ganztonleiter). Gleichzeitig komponierten
andere Komponisten mit neu erfundenen Skalen. Diese nannten sie Reihen, indem sie alle zwölf
Töne der Oktave für gleichberechtigt erklärten. Die zweite Wiener Schule mit Arnold Schönberg
und seinen Schülern bestimmten diese Entwicklung in Europa.
All diese Entwicklungen führten dazu, auf die gewohnte Konsonanz, also angenehm wirkende
Zusammenklänge, zu verzichten. Durch diese neuen Bedingungen wurden andere Klangbildungen
möglich, seltsame und verwirrende, schöne und geheimnisvolle, spannungsgeladene und eben, etc.
Nachdem mit „Le Sacre du Printemps“ einmal die gewohnten Grenzen der Rhythmik, Harmonik
und Orchestrierung überschritten waren, schlossen sich andere Komponisten dieser Richtung bald
an: C. Debussy, B. Bartok, E. Varese, O. Messiaen, P. Boulez, K.H. Stockhausen, J. Cage, G. Ligeti,
und viele mehr.
All das führte zu einer bis dahin ungeahnten Vielfalt in der Musik des 20. Jahrhunderts
(Stilpluralismus). Ein neues, einheitliches allgemein gültiges System, wie es die Tonalität gewesen
war, etablierte sich allerdings nicht.
Le Sacre du Printemps - ein Ballett
1913, nach der Uraufführung am Théâtre des Champs-Elysées in Paris, entrüstete sich die
öffentliche Meinung über die musikalischen Urkräfte, die Strawinsky in seinem „Sacre du
Printemps“ entfesselt. Heute gilt die Komposition als ein großes Meisterwerk und Meilenstein der
Musikgeschichte. Auf Deutsch übersetzt heißt der Titel: „Das Frühlingsopfer“.
Aus Strawinskys Aufzeichnungen: „ Als ich in St. Petersburg die letzten Seiten des Feuervogel
niederschrieb, überkam mich eines Tages – völlig unerwartet, denn ich war mit ganz anderen
Dingen beschäftigt – die Vision einer großen heidnischen Feier: alte weise Männer sitzen im Kreis
und schauen dem Todestanz eines jungen Mädchens zu, das geopfert werden soll, um den Gott des
Frühlings günstig zu stimmen. Das war das Thema von Sacre du Printemps. Diese Vision bewegte
mich sehr, und ich beschrieb sie sogleich meinem Freund, dem Maler Nikolaus Roerich, der ein
Kenner auf dem Gebiet heidnischer Beschwörung war. Er nahm meine Idee begeistert auf und
wurde mein Mitarbeiter an diesem Werk. In Paris sprach ich darüber auch mit Diaghilew, der sich
sofort in den Plan vertiefte.“
Strawinsky wollte die Kräfte der Natur und die Urinstinkte des Menschen in die Sprache der Musik
übertragen. In Russland hatte er den beginnenden Frühling erlebt als ein heftiges Hervorbrechen des
Lebens nach einem scheinbar unendlichen, grausamen Winter. Er konnte sich die Ehrfurcht seiner
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Vorfahren vor dieser Natur vorstellen und auch ihr Bestreben, den Gott des Frühlings mit einem
Menschenopfer günstig zu stimmen.
An der Entstehung des Werks waren vier Leute maßgeblich beteiligt: Nikolas Roerich
(Mythenmaler und Experte für slawische Volkskunst), Igor Strawinsky (Komponist), Sergej
Diaghilew (Leiter der Ballettgruppe „Les Ballets Russes“) und Waclaw Nijinsky (Choreograph und
Tänzer).
Das Werk für 110 Instrumentalisten gliedert sich in 2 große Teile:
1) „Anbetung der Erde“ besteht aus den musikalischen Abschnitten: Einleitung, Vorboten des
Frühlings - Tänze der jungen Mädchen, Entführungsspiel, Frühlingsreigen, Spiele der feindlichen
Stämme, Prozession des Weisen, der Weise, Tanz der Erde.
2) „Das Opfer“ gliedert sich in: Einleitung, geheimnisvolle Kreise der jungen Mädchen,
Verherrlichung der Auserwählten, Anrufung der Ahnen, weihevolle Handlung der Ahnen,
Opfertanz.
Strawinsky verwendet drei musikalische Strukturen:
• Weibliche Gesänge, die das melodische Element des Werks bilden und die Hinführung von
Menschenmengen zu einem bestimmten Ziel beabsichtigen,
• wilde, entfesselte Tänze (z.B. Tanz der Erde, Spiele der feindlichen Stämme, Opfertanz), die vor
allem durch ihre polyrhythmische Anlage hervorstechen und
• Prozessionen (z.B. Prozession des Weisen, Kuss der Erde, Anrufung der Ahnen), die das
Majestätische und Weihevolle symbolisieren.
Le Sacre du Printemps fasziniert vor allem durch sein rhythmisches Konzept. Kleine und kurze
Motive werden signalartig eingesetzt, wobei wechselnde Rhythmen dem Stück enormen Schwung
verleihen.
Daneben gibt es aber auch sehr lyrische Passagen, die oft ungewöhnlich instrumentiert sind (z.B.
sehr hohe Fagott Melodie in der Einleitung). Man kann in dem Stück mindestens neun bewusst
verarbeitete Folkloremelodien nachweisen.
Die Harmonik arbeitet kaum mehr nach dem Vorbild der alten funktionalen Schemata. Strawinsky
stellt sich gegen den Romantizismus Wagners und missbilligte auch die Errungenschaften der
Zweiten Wiener Schule. Strawinskys Klänge sind häufig brutal geschärft, wobei bitonale Bildungen
auffallen, wie z.B. beim Anfangsakkord der Vorboten des Frühlings (Es-Dur über Fes-Dur)
Anfänglich polarisierte dieses Werk das Publikum stark, da es durch falsche Erwartungshaltungen
missverstanden wurde. Zum einen erwartete das Publikum bei der Premiere von der Balletttruppe
„Balletts Russes“ stilisierte russische Folklore, wurde aber durch den „Sacre“ sowohl in
musikalischer als auch choreographischer Hinsicht völlig aus ihren Gewohnheiten gerissen. In
choreographischer Hinsicht war das Publikum vor allem durch Nijinskys Idee einer asymmetrischen
Haltung der Tänzer irritiert, den bisher galt für das klassische Ballett, dass der gesamte Körper eine
gerade Achse bildet. Diese neue Körperhaltung ebenso wie die Gruppierung der Tänzer und die
polyrhythmische Anlage des Werks verstörten das Publikum ungemein und lösten einen lauten
Tumult im Zuschauerraum aus.
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G. Wanker: Hörpfade Orchesterwerke. Graz 1998, Le sacre du printemps S. 22
Große Komponisten und ihre Musik Bd. 43: Strawinsky, Le sacre du printemps. Stuttgart 1985
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