Andri Snaer Magnason GLEDI oder Die wilden Kinder auf dem blauen Planeten (Originaltitel: Villibörnin á bláa hnettinum: leikrit fyrir börn) Ein Schauspiel für Kinder Aus dem Isländischen von Andreas Vollmer 1 Ich weiß nicht, ob ich ein merkwürdiges Kind war, aber dreierlei nahm mich im Theater am meisten gefangen: Nebel auf dem Boden, Personen, die fliegen konnten, und die Drehbühne. Von dem anderen, was mich als Kind in Anspruch nahm, sei hier genannt: Die weite Seenplatte Melrakkaslétta im äußersten Nordosten Islands, das Staunenerregende in den isländischen Volkssagen, die Grausamkeit in den Grimmschen Märchen, die Friedensbotschaft im Neuen Testament, Naturfotos und Weltraumlego. Hier ist also ein Schauspiel für Nebel, Flugzauber und Drehbühne, inspiriert von allem oben angeführten. Die Uraufführung war im Januar 2001 am Nationaltheater Island in Reykjavik. © henschel SCHAUSPIEL Theaterverlag Berlin GmbH 2002 Als unverkäufliches Manuskript vervielfältigt. Alle Rechte am Text, auch einzelner Abschnitte, vorbehalten, insbesondere die der Aufführung durch Berufs- und Laienbühnen, des öffentlichen Vortrags, der Buchpublikation und Übersetzung, der Übertragung, Verfilmung oder Aufzeichnung durch Rundfunk, Fernsehen oder andere audiovisuelle Medien. Das Vervielfältigen, Ausschreiben der Rollen sowie die Weitergabe der Bücher ist untersagt. Eine Verletzung dieser Verpflichtungen verstößt gegen das Urheberrecht und zieht zivil- und strafrechtliche Folgen nach sich. Die Werknutzungsrechte können vertraglich erworben werden von: henschel SCHAUSPIEL Marienburger Straße 28 10405 Berlin Wird das Stück nicht zur Aufführung oder Sendung angenommen, so ist dieses Ansichtsexemplar unverzüglich an den Verlag zurückzusenden. F1 2 PERSONEN Gledi Glamour (Gleði-Glaumur) Ihm liegt ein Mann zu Grunde, der der Urgroßmutter meines Sohnes für 5000 Mark einen Rainbow Staubsauger verkauft hat. Kinder in der Sonne Hulda Kann Robben und Kaninchen fangen. Brimir Träumt bisweilen seltsam. Margret Glaubt, daß Monster Gehirne ausschlürfen. Rökkvi Fängt Fledermäuse und brät sie. Loa Schwimmt gerne mit Fischen um die Wette. Oli Versucht, die Sprache der Vögel zu lernen. Kinder in der Dunkelheit Sitzen um das Licht der Glühwürmchen und warten auf die Rückkehr der Sonne. Zu ihnen gehören Örvar und die beiden Mädchen Vala und Soley. Braunbär Möchte einfach nur leben wie ein gewöhnlicher Bär, Lachse fangen oder ein Kind fressen. Spinnen Können ihre Netze ungestört in der Nacht spinnen und vielleicht sogar Kinder fangen. Tiger und Hyäne Weitere hungrige Tiere in der Dunkelheit. Wolkenwolf Achtet darauf, daß der Himmel immer schön blau ist. Sonne, Mond, Sterne, Wolken und Bäume Spielen eine wichtige Rolle im Bühnenbild. 3 ERSTER AKT PROLOG Erzähler Es war einmal ein blauer Planet ganz weit draußen im Weltraum. Auf den ersten Blick sah er wie ein ganz gewöhnlicher blauer Planet aus. Die Sonne und der Mond flogen jeden Tag einmal um ihn herum, und über den ganzen Planeten waren Länder aller Art verteilt. Jedes Land war vom Meer umgeben, das manchmal spiegelglatt und blau war, manchmal aber auch toste und so aufgewühlt war, daß die Wellen in tausend Tropfen über den Sand sprühten. Dort wuchsen hellgrüne Wälder mit Papageien und Tigern. Abends, wenn die Wölfe umherstreiften, verfärbten sie sich dunkelgrün, und in der Nacht wurden sie finstergrün, wenn die Fledermäuse aufwachten und Spinnen mit haarigen Beinen ihre Netze von Ast zu Ast spannen. Aber es gab etwas, das war ganz besonders an dem blauen Planeten: Dort wohnten nur Kinder. Kinder aller Art und Größe, kleine Kinder und große Kinder, dicke Kinder und dünne Kinder. Es waren weit über hundert Kinder, sagen wir einfach, es waren mehr, als man zählen kann. Weil keine Erwachsenen auf dem blauen Planeten wohnten, waren die Kinder vollkommen frei. Keiner war da, der ihnen sagte, was sie tun oder lassen sollten. Es waren wilde Kinder. Aber nun könnte jemand fragen: Wo kommen die Kinder denn her? Wie vermehren sie sich? Werden sie denn nie erwachsen? Wie entstehen sie, wenn es auf dem blauen Planeten keinen einzigen Erwachsenen gibt? Die Antwort ist einfach: Niemand weiß es. Das einzige, was wir wissen, ist, daß nun das allergrößte und allergefährlichste Abenteuer beginnt, das sich je auf dem blauen Planeten zugetragen hat. 5 1. SZENE Hulda tritt auf. Sie müht sich mit einem fürchterlich schweren Sack ab. Brimir kommt von der anderen Seite. Brimir Hallo Hulda! Was ist in dem Sack? Hulda Nur eine Robbe. Brimir Eine Robbe? Hulda Ja, und dann noch zwei Kaninchen und ein Apfel. Brimir Hmm, lecker, hast du die Robbe erlegt? Hulda (Schwingt einen kleinen Knüppel und schlägt Brimir dabei fast nieder.) Brimir Soll ich den Sack nehmen? Hulda Gut, dann sammel ich Reisig und wir grillen die Robbe ... Och, das war ganz leicht, sie war so klein, hab sie mit dem Knüppel umgenietet. (Hulda überläßt Brimir den Sack, der ihn kaum vom Fleck kriegt. Hulda macht unterdessen Feuer, sie schneiden ein Stück von der Robbe ab, während die Sonne unter- und der Mond aufgeht. Grillen zirpen und Frösche quaken.) Ich glaube, das ist der schönste Tag, den ich je erlebt habe. Brimir Ja, er ist sogar noch schöner als der schönste Tag, den ich erlebt habe, und der war gestern. Hulda Was hast du gestern gemacht? Brimir Nichts besonderes, aber ich war trotzdem so froh. Du, Hulda! Hulda Ja? Brimir Schau mal, was ich auf dem Berg gefunden habe! (Zeigt ihr einen Stein, der leuchtet und glitzert.) Hulda Booh, ist der schön! Brimir Du kannst ihn haben. Hulda Nein, das will ich nicht. Er ist zu schön. 6 Brimir Doch, ich möchte ihn dir schenken. Hulda (Hält ihn wie ein rohes Ei.) Brimir Ein echter Wünschestein. Hulda Kann ich mir damit etwas wünschen? Brimir Ja, aber dann verwandelt sich der Stein in einen gewöhnlichen Kiesel. Du hast genau einen Wunsch frei, egal was. Hulda Irgend etwas in der Welt? Brimir Ja, irgend etwas. Hulda (Schweigt, läßt den Gedanken freien Lauf.) Brimir Gar nichts? Hulda Ich bekomme genug zu essen und habe viele Freunde. Brimir Hast du dir nie etwas gewünscht? Hulda Ja, doch einmal. Brimir Und was war das? Hulda Daß mein bester Freund mir einen wunderschönen Wünschestein schenkt. Und jetzt ist dieser Wunsch in Erfüllung gegangen, sonst fällt mir einfach nichts mehr ein. Was ist das für ein Stein? Mir fällt nichts ein. (Hulda lächelt verlegen, küßt Brimir flüchtig auf die Wange und steckt den Stein in die Hosentasche. Mit einem Mal verändert sich die Stimmung. Brimir blickt empor in den Himmel.) Brimir Das ist aber komisch. Hulda Was? Brimir Der Stern da! Hulda Da war doch sonst keiner! Brimir Der Stern bewegt sich! Er fliegt im Kreis und kreuz und quer und schreibt feuerrote Buchstaben an den Himmel! Hulda (Buchstabiert.) LICHTAUSSPOTAN 7 Brimir Licht aus, Spot an? Er kommt direkt auf uns zu! Hulda Oje, ist das ein Meteorit oder ein Komet? Brimir Ein Raumschiff! Es stürzt ab! Hulda Es kommt direkt auf uns zu! Brimir Halt mich fest. (Sie hält ihn fest.) Au, du zerquetschst mich ja! (Sie laufen auf die Vorderbühne und schmiegen sich dicht aneinander, dann ist eine gewaltige Explosion zu hören mit umherstiebenden Funken, Rauch erfüllt die Bühne schließlich wird alles still. Ein Raumschiff ist mitten auf der Bühne gelandet, es sieht wie ein uralter Staubsauger aus.) Hulda Das sieht ja wie ein uralter Staubsauger aus. Brimir Ist aber ein Raumschiff. (Leise Schläge sind aus der Maschine zu hören, die immer lauter werden. Jemand versucht, den Ausstieg zu öffnen.) Hulda Seit Ewigkeiten ist aus dem Weltraum niemand mehr hierhergekommen. (Es wird weiter auf die Falltür eingeschlagen, viel stärker als zuvor.) Brimir Hoffentlich ist das kein Monster aus dem All. (Da ist ein fürchterliches Gebrüll zu hören, und es wird mit voller Kraft auf die Türe eingedroschen. Sie knallt mit einem großen Krach auf den Boden, und in der Öffnung erscheint schemenhaft ein riesiges Wesen. Brimir und Hulda laufen weg.) Paßt auf! Monster! (Hier und da stecken Kinder den Kopf hervor und kommen näher, die Neuigkeit verbreitet sich von einem zum anderen.) Margret Ein Monster? Brimir Margret! Da ist ein Monster aus dem All gelandet! Margret Ein Monster aus dem All? Brimir Ja, ein Monster aus dem All mit zehn Fingern und zehn Zehen! Paßt auf! Geht nicht zum schwarzen Strand! (Läuft weg.) 8 Margret Loa! Da ist ein Monster aus dem All gelandet, das ist schwarz und zottelig, mit zehn Köpfen und hundert Zehen! (Läuft weg.) Loa Rökkvi! Da ist ein schwarzes und schleimiges Monster aus dem All gelandet mit achtzehn Köpfen, das hat einen giftigen Blick! (Läuft weg.) Rökkvi Oli! Da ist ein schwarzes und schleimiges Monster aus dem All gelandet mit achtzehn Köpfen und tausend Zähnen, die sind schärfer als Messer! Oli Normale Messer oder Brotmesser? Rökkvi Weiß nicht, ist doch egal. (Läuft weg.) Oli Hulda! Da ist ein Monster aus dem All am schwarzen Strand gelandet! Es hat schleimige Greifarme, die brennen wie Quallen, und Zähne, die sind schärfer als Brotmesser ... Hulda Was? Oli Es hat eine Million Köpfe und Greifarme, die haben überall eitrige Beulen ... Hulda Nein! Ich glaube, es war eigentlich nur schwarz. Alle Rette sich, wer kann! (Dunkel.) 2. SZENE Der Tag ist angebrochen, heiter und schön, die Farben strahlen. Das Raumschiff ist viel prächtiger und schöner, als es in der Dämmerung aussah, farbenfroh wie ein Werbespot. Die Falltür steht offen, das Monster ist nicht zu sehen. Die Kinder schleichen sich an das Raumschiff heran. Hulda (Etwas voraus, flüstert.) Na los, kommt schon! Oli (Ganz am Schluß.) Hulda (Zischt leise.) Brimir Oh, ich hatte so einen schrecklichen Alptraum! Das Monster hat uns die Herzen herausgenommen und statt dessen Federn Immer mit der Ruhe. Brimir, komm her! 9