1Auf und Ab - Spektrum der Wissenschaft

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Auf und Ab
Eigentlich ist es nicht einfach, einen ganzen Berg zu verlieren, aber in der Bucht
von Neapel passiert genau das immer wieder. Der Vesuv kommt ins Blickfeld
und verschwindet wieder, manchmal ragt er deutlich sichtbar auf, manchmal ist
er kaum über den Zitronenhainen auszumachen. In einigen Stadtteilen von
Neapel sieht man nichts außer voll behängten Wäscheleinen, die zwischen den
Balkonen heruntergekommener Mietshäuser oder hastig erbauter Wohnblocks
gespannt sind. Der Berg scheint sich in nichts aufgelöst zu haben. Und man versteht, wie man in dieser Stadt leben kann, ohne an den Vulkan zu denken, an dessen Hängen man wohnt und von dessen Launen vielleicht das eigene weitere
Schicksal abhängt.
Wenn man vom Stadtzentrum nach Osten fährt, gehen die überfüllten Straßen
in ein chaotisches Stückwerk von anonymen Gebäuden, kleinen Fabriken und
hässlichen drei- oder vierstöckigen Wohnhäusern über. Dazu kommt ein erbarmungsloser Straßenverkehr. Und doch gibt es zwischen den Gebäuden immer
wieder üppige Felder und schattig gelegene Gewächshäuser. Anfang März sind
die Mandelbäume in voller, zartrosa Blüte, und unter den Obstbäumen leuchten
unzählige Narzissen, die von Frauen gepflückt und auf dem Markt verkauft werden. In den Gewächshäusern kann man einen flüchtigen Blick auf exotische Blumen wie die Canna oder auf Reihen von Topfpflanzen werfen, die für den Handel in Supermärkten bestimmt sind. Überall sieht man Orangen und Zitronen.
Selbst in der hässlichsten Ecke stehen zwei oder drei Zitrusbäume, die zum
Schutz vor Dieben eingezäunt und mit Vorhängeschlössern gesichert sind. Die
Zitronen hängen schwer herunter, so als wären sie eine zu große Last für die dünnen Zweige. Hier in der Bucht von Neapel ist der vulkanische Boden reich an
Mineralen und unglaublich fruchtbar. Es braucht nur ausreichend Wasser und
die Früchte wachsen, wachsen und wachsen.
In römischer Zeit war dies ein üppiger Garten und ist es bis heute, wenn auch
jetzt eingezwängt zwischen verwahrlosten Mietshäusern und Schrottplätzen.
Hier, außerhalb der Stadt, ist der Vesuv allgegenwärtig. Das Terrain steigt sanft
zum bräunlichen Gipfel an, und Neubauten klammern sich an seine Abhänge bis
weit nach oben zu den niedrigen Bäumen und Ginsterbüschen, die seine Flanken
bedecken. Die Gebäude zeichnen sich nur undeutlich ab, verborgen hinter einem
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DER BEWEGTE PLANET
Die Bucht von Neapel im frühen 19. Jahrhundert, der Vesuv in der Ferne als
arkadische Idylle. Radierung von E. Bejamin nach einem Gemälde von G. Arnald.
gelblichen Schleier aus Smog, der sich vom überfüllten Zentrum Neapels bis hier
an den Berghang ausbreitet. Man passiert das Ortsschild von Pompeji. Doch bei
all seinem Ruhm, von der Straße aus ist nichts zu sehen, was diesen Vorort von
jedem beliebigen anderen Vorort unterscheiden würde.
Wo die Straße die Hügel hinaufsteigt, die an den südlichen Rand der Bucht
von Neapel stoßen, nimmt die Zersiedlung der Landschaft ab. Die Orangenhaine sind gleichmäßiger angelegt und die Bäume in ordentlichen Reihen gepflanzt.
Sie sind mit provisorischen hölzernen Verstrebungen eingezäunt, die Netze über
ihren Kronen aufspannen. Die Hänge sind steiler als an den Flanken des Vulkans. Schmale Terrassen stapeln sich übereinander, jede begrenzt von einer Mauer aus blassen Kalksteinblöcken. Mittelgroße Bäume mit schmalen, graugrünen
Blättern, die im Nachmittagslicht fast silbrig erscheinen, halten sich selbst an den
steilsten Terrassen fest. Es sind Olivenbäume, die unangefochtenen mediterranen Überlebenskünstler, Ölproduzenten und Lieferanten aromatischer Früchte,
deren tiefe Wurzeln noch die schmalsten Spalten im Untergrund erreichen. Sie
bevorzugen Kalksteinböden, wie arm diese auch immer im Vergleich zum vulkanischen Lehm sein mögen. Die Dörfer in diesem Teil der Bucht entsprechen
den Vorstellungen vom durchschnittlichen, touristischen Italien. Piazzen und
Pizzerien reihen sich aneinander, und junge Leute mit gestylten Frisuren halten
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Ausschau nach dem schnellen Geld. Schon lange vor der sommerlichen Hochsaison findet man hier genügend Gelegenheit, sich übers Ohr hauen zu lassen.
Was vielleicht damit endet, dass man ein Auto für 200 Euro am Tag mietet, um
dann in den verstopften Straßen dahinzukriechen, obwohl man schneller und für
einen Bruchteil des Geldes mit der Circumvesuviana-Bahn hätte reisen können.
Irgendwie wird hier der Besucher selbst zu fruchtbarem vulkanischen Boden,
bestens geeignet, reichen Ertrag abzuwerfen.
Nahe der Spitze der südlichen Halbinsel liegt Sorrent mit seinem wundervollen Ausblick über die gesamte Bucht von Neapel und auf den Vesuv. Von hier aus
zeigt er die Form eines nahezu perfekten, sanft ansteigenden Kegels, der die hiesige Version des Fujiyamas, des heiligen Vulkans Japans, sein könnte. Er wirkt
mal bläulich, mal grau, und mitunter lässt er auch seine eigentliche bräunliche
Farbe erkennen. An klaren Tagen zeichnet sich der Vesuv scharf gegen den blauen Himmel ab: Dann geht eine dunkle, mächtige, fast beklemmende Ausstrahlung von ihm aus. An trüben Morgen, wenn der Kegel seines Gipfels wie ein bloßer Schattenriss über den nur vage auszumachenden, von Nebelschwaden verhüllten unteren Abhängen schwebt, erscheint er wie ein von dieser Welt losgelöster Sitz der Götter. Nachts, wenn die Lichter entlang der neapolitanischen
Straßen unaufhörlich blinken, ist der Vesuv oft nicht mehr als ein dunkler Schatten gegen einen jetzt blasseren, aber immer noch in tiefes Preußischblau getauchten Himmel. Die Lichter, talwärts fließenden Lavaströmen gleich, gaukeln
dem Betrachter vor, der Vulkan würde noch immer ausbrechen. Von Sorrent aus
betrachtet, kann man in den Vesuv hineininterpretieren, was man möchte, doch
schon am nächsten Tag wird sich der Berg wieder selbst neu erschaffen.
Die Bucht von Neapel ist die Wiege der Geologie als Wissenschaft. Die Beschreibung des Ausbruchs des Vesuvs und der Zerstörung von Pompeji im Jahre 79 n. Chr. durch Plinius den Jüngeren ist vermutlich die allererste genaue und
sachliche Darstellung eines geologischen Phänomens. Es wurden weder Drachen
noch Kämpfe zwischen Titanen und Göttern bemüht. Plinius lieferte Beobachtungen und keine Spekulationen. Fast zwei Jahrtausende später, im Jahre 1830,
verwendete Charles Lyell eine Abbildung der Säulen aus dem Tempel des Serapis bei Pozzuoli, nördlich von Neapel, als Titelbild für den ersten Band einer der
bahnbrechendsten geologischen Arbeiten, die je veröffentlicht wurde – seine
Prinzipien der Geologie. Dieses Buch beeinflusste den jungen Charles Darwin
mehr als jede andere Quelle bei der Formulierung seiner Evolutionstheorie: Man
kann also mit Fug und Recht behaupten, dass die Bucht von Neapel auch eine
Rolle in der wichtigsten biologischen Revolution spielte. Jeder, der im 18. oder
19. Jahrhundert etwas auf sich hielt, besuchte die Bucht und ließ sich von ihren
natürlichen und archäologischen Gegebenheiten in Erstaunen versetzen. Für die
Geologie – eine Nachzüglerin im Pantheon der Wissenschaften – kommt diese
Gegend denn auch dem am nächsten, was man als heiligen Boden bezeichnen
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könnte. Denn welcher Ort wäre besser geeignet, die Entwicklung unseres Wissens über den Aufbau der Erde zurückzuverfolgen und die grundlegenden Prinzipien zu erklären? Die lange intellektuelle Reise, die letztendlich zur Theorie
der Plattentektonik führte, begann an dieser Wunde im „Schienbein“, im Westen
des italienischen Stiefels. Eine Reise um diese besondere Bucht kommt damit einer Wallfahrt zu den Fundamenten des Verständnisses über unseren Planeten
gleich.
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lles in und um Sorrent hat seine Wurzeln in der Geologie. Die Stadt selbst
liegt in einem weiten Tal, umgeben von Kalksteinzügen, die als weiße Klippen in den Hügeln aufleuchten und in fast senkrechten Kliffs auf die Küste treffen – ein sicherer Auslöser für Schwindelanfälle für all jene, die so mutig sind,
vom Rand direkt nach unten zu schauen. Aufgestapelte Blöcke aus dem gleichen
Kalkstein werden für die Mauern der Terrassen verwendet, um die Olivenhaine
abzustützen. Aus der Ferne betrachtet sehen die Straßen, die sich die Hügel hinaufschlängeln, wie gewundene Tagliatelle aus. An besonderen Orten gibt es
Brunnen, die frisches kühles Wasser aus unterirdischen Kavernen nach oben fördern. Oft werden diese Quellen von Nischen mit Heiligen- oder Marienstatuen
flankiert, denn in dieser Gegend ist Wasser keine Selbstverständlichkeit. Dort wo
einst Höhlen eingestürzt sind, haben sich tiefe Schluchten in die Kalksteinhügel
eingegraben. Die Landschaft im Hinterland der Bucht von Neapel wird Kampanien (Campania) genannt. Sie hat einem Abschnitt auf der geologischen Zeitskala ihren Namen gegeben, dem Campan, das erdgeschichtlich in die Periode der
Kreidezeit gehört. Betrachtet man die angewitterten Oberflächen der Kalksteine
aufmerksam, bemerkt man in ihnen die Überreste von Schalentieren, die zur Zeit
der Dinosaurier gelebt haben. Ich habe einige Exemplare von ausgestorbenen
Muscheln und Seeigeln gesehen, die sich aus der Wand hervorhoben, als wären
sie Teil eines Basreliefs. Ein Paläontologe kann die verschiedenen Fossilienarten
bestimmen und sie zur Altersdatierung des Gesteins benutzen, denn die Abfolgen der Arten ergeben die Einheiten der geologischen Zeitskala. Die Schlussfolgerung für diese Gegend ist eindeutig: Während der Kreidezeit waren all diese
hügeligen Landstriche von einem flachen, warmen Meer bedeckt. Kalkschlamm
reicherte sich zu Sedimenten an und schloss die Reste der Tiere ein, die damals
auf dem Meeresboden lebten. Die Zeit und die Überdeckung mit anderen Ablagerungen formten aus dem weichen Schlamm den harten Kalkstein. Diese Sedimentgesteine wurden später angehoben, um das heutige Festland zu bilden.
Durch Bewegungen der Erde wurden sie zudem verkippt – aber wir wollen nicht
vorgreifen. Man sollte an dieser Stelle jedoch festhalten, dass die Kalksteine ihre
Existenz und ihre Erscheinungsform einem ehemaligen Meer zu verdanken haben.
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ie massiven Kalksteine setzen sich nach Westen bis auf die Insel Capri fort,
die eine 20-minütige Überfahrt mit der Fähre von Sorrent entfernt ist und
die südliche Begrenzung der Bucht von Neapel bildet. Die Insel erhebt sich steil
aus dem Meer, eingefasst von senkrechten Kalksteinkliffs, und man fragt sich unweigerlich, wie sie auch nur das kleinste Dorf, geschweige denn eine ganze Stadt
beherbergen kann. Das Städtchen Capri liegt am Ende einer Schwindel erregenden Seilbahn, die vom Hafen ausgeht. Die Häuser sind alt und malerisch und natürlich aus den örtlichen Gesteinen errichtet, die jedoch häufig hinter Putz verborgen bleiben. An der schönen mittelalterlichen Kartause ist der blasse Kalkstein sehr effektvoll in die tragenden Säulen des Kreuzganges verbaut worden.
Mauern, Fußböden, Piazzen – nahezu alles in dieser Stadt wurde aus Kalksteinen erbaut, sodass sich in der hellen mediterranen Sonne ein überwältigender
Eindruck von Weiß ergibt. Manche der Villen, die an den Hügeln nur ganz kurz
zum Vorschein kommen, erscheinen wie geeiste Torten unter Schirmpinien. Die
einzige Ausnahme bilden die Straßenpflaster, für die dunkler Basalt vom Vesuv
importiert werden musste. Dieses vulkanische Gestein ist weniger brüchig als
der Kalkstein, und man kann sich unschwer den Radau der eisenbeschlagenen
Räder vorstellen, die über die grob behauenen, großen Blöcke ratterten. Im Inneren der Insel gibt es wirklich eindrucksvolle senkrechte Kalksteinklippen, die
Hunderte von Metern zum Meer hin abfallen. Der römische Kaiser Tiberius verbrachte seine letzten Jahre in einem Palast auf der Insel, dessen Ruinen immer
noch zu sehen sind. Den unzüchtigen Beschreibungen seines Biografen Suetonius zufolge frönte er jeder erdenklichen Perversion in einem Leben voller bisexueller Befriedigungen. Er bevorzugte Knaben, und diejenigen, die ihm missfielen, liefen Gefahr, von dem gewaltigen Kliff gestürzt zu werden. In der Atmosphäre von Capri liegt etwas, das solche dunklen Kapitel erahnen lässt. Nahe der
Küste befinden sich denn auch zwei gewaltige und bedrohliche Felstürme, Kalksteinmassive, die vom Hauptkliff durch die andauernde Erosionstätigkeit des
Meeres getrennt wurden. Norman Douglas zufolge war dies der Wohnsitz der
Sirenen, deren verlockenden und tödlichen Gesängen Odysseus nur dadurch
widerstehen konnte, dass er sich an den Mast binden ließ, während seine Mannschaft, deren Ohren mit Wachs verklebt waren, das Schiff in Sicherheit ruderte.
Capri ist ein erstaunliches Beispiel dafür, wie letztendlich auch ein idyllischer
Ort auf einer Hügelkuppe einen Menschen verderben und zerstören kann. Eine
der prachtvollsten Villen (heute ein Hotel), über den Furcht einflößenden Kliffs
gelegen, wurde von der Krupp-Dynastie erbaut. Unerwartet stürzte sich der
Erbauer später in das Studium von Neunaugen, primitiven, teilweise parasitisch
lebenden Fischen.
Auf dieser Insel gibt es eine nahtlose Verknüpfung mit der Vergangenheit –
mit hellenischen Mythen, römischer Dekadenz und mittelalterlicher Demut. Die
Gärten der Insel haben die Zeiten kommen und gehen sehen; sie sind hoch über
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den harten Sedimenten eines Meeres angelegt und viel älter als jede menschliche
Schwäche.
Anders sind die Kliffs hinter dem Hafen im Zentrum von Sorrent. Aus der
Ferne betrachtet erscheinen sie grau und gleichförmig – kein heller Glanz wie
beim Kalkstein. Die Straßen folgen einem steilen Seitental hinab zum Meer
unterhalb der Piazza. Hier kann man das Gestein an den Talflanken betrachten.
Es ist bräunlich, wie Gewürzkuchen, und zeigt nur wenige deutliche Strukturen.
Schaut man genauer hin, erkennt man aber dunklere Flecken, eingebettet in das
Gestein wie Rosinen in Kuchenteig. Einige sind feine Strähnchen, andere sind
größere, eckige Stückchen eines anderen Gesteins – mal fast schwarz, mal umbrabraun, manche enthalten kleine Bläschen. Dann stellt man fest, dass diese Gesteine von den örtlichen Baumeistern benutzt wurden, um die hohen Mauern zu
bauen, die den steil abfallenden Pfad begrenzen. Die Mauerblöcke, einige Zentimeter im Durchmesser, sind ordentlich behauen und wurden wie Ziegel verwendet. Dieses Gestein ist ganz offensichtlich weicher als die groben Kalksteine,
die die hügeligen Weinberge und Terrassen tragen. Als Nächstes fällt ins Auge,
dass das gleiche Gestein auch für den Bau der älteren Gebäude in der Stadt genutzt wurde. Unten am Hafen gibt es in Ocker oder Siena gestrichene Geschäfte und Cafés, und nur dort, wo der Putz abbröckelt, wird dieses Gestein sichtbar. Auch die unverputzten Lagerhäuser bestehen aus dem gleichen Gestein wie
die steilen Kliffs hinter dem Hafen.
Dieses Gestein ist der kampanische Ignimbrit – Produkt einer Katastrophe,
die sich vor 35 000 Jahren ereignete: Eine gigantische Vulkanexplosion schleuderte mindestens 100 Kubikkilometer Bimsstein und Asche hinaus. Sie bedecken
noch heute ein Gebiet von mehr als 30 000 Quadratkilometern in der Umgebung
der Bucht von Neapel, die sich von Roccamonfina im Norden bis nach Salerno
im Süden ausdehnt. Neben der Gewalt dieser Eruption nimmt sich der Ausbruch, der Pompeji unter sich begrub, wie ein schwacher Nachklang aus. Eine
Explosion aus Dampf und heißer Lava riss am Rande des Tyrrhenischen Meeres
ein riesiges Loch in die Erde – eher ein gewaltiger Fausthieb als ein Mückenstich
in Italiens Kontur. Die enorme Wolke aus glühendem Material, aufgetrieben von
heißen Gasen, floss wie eine feurige Flutwelle über das Kalksteinterrain. Brocken von vulkanischem Gestein wurden in dem Chaos mitgerissen und die Vegetation vollständig vernichtet. Als sich die Wolke niederließ, war es an vielen
Stellen so heiß, dass die ganze Masse fest miteinander verschmolz. Die Strähnchen im vulkanischen Material sind Zeugen dieses Verschweißens*. Höchstwahrscheinlich waren paläolithische Menschen Zeugen dieser Zerstörung. Sie
* Genau dieses Verschweißen macht einen Ignimbrit aus. Der generelle Ausdruck für diese Art vulkanischer Gesteine ist Tuff.
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müssen gedacht haben, dass die Götter Amok laufen. Das Vermächtnis dieses
zornigen Ausbruchs der Erde ist das überall anzutreffende Gestein, das wie Kuchen aussieht. Die in ihm enthaltenen eckigen Brocken können wir nun als das
verstehen, was sie sind: Stücke eines zerstörten Vulkans. Es liegt schon ein
Hauch von Ironie darin, dass sich diese Zerstörung ins Gegenteil verkehrte und
die Hinterlassenschaft der Verwüstung dazu diente, den Menschen einen sicheren Hafen zu errichten. In dieser ungewissen Welt ist jedoch gar nichts sicher.
Sieht man von den Kalksteinhügeln hinab, kann man sich die heißen, verheerenden Wolken vorstellen, die sich dort über das flache Land legten wie ein dickes,
tödliches Tuch, wo heute Limoncello gebraut und Pizzateig durch die Luft gewirbelt wird. Diese Gesteine wurden von pyroklastischen Glutwolken abgelagert. Ein weiterer Ausbruch, etwa 23 000 Jahre später, war nur etwas weniger
zerstörerisch und ausgedehnt. Seine Ablagerungen sind als Tufo Galliano Neapolitano, gelber neapolitanischer Tuff, bekannt. Seine Farbe entspricht eher der
von Dijon-Senf als von Gewürzkuchen. Weiß man erst einmal, wie er aussieht,
erkennt man ihn in vielen Mauern und Gebäuden in und um Neapel wieder. Er
erinnert an die so genannten „London-Stock“-Ziegel, die den georgianischen
Teil der britischen Hauptstadt so reizvoll machen. Auch in den Mauern ehemaliger römischer Siedlungen findet man dieses Gestein. Die meisten Experten nehmen an, dass die gegenwärtig in den Phlegräischen Feldern aktiven Vulkane um
den Rand einer Caldera angeordnet sind, deren Entstehung auf diesen zweiten
großen Ausbruch zurückgeht. Die Bucht von Neapel bedeckt heute den größten
Teil dieses Einbruchkessels. Jederzeit kann es wieder losgehen.
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s scheint nunmehr angebracht, den Vesuv selbst zu besuchen. Er ist 1281
Meter hoch und damit kein besonders hoher Berg, aber trotzdem eindrucksvoll. Streng genommen sollte man nur den eigentlichen Vulkankegel als
Vesuv bezeichnen. Die weitere Umgebung und die älteren Vulkanbauten sollten
Somma-Vesuv genannt werden. Um zum Berg zu gelangen, nimmt man den
Bus, der außerhalb des Bahnhofs von Erculano, einem hektischen Vorort von
Neapel, wartet. Die Route führt auf unglaublich engen Straßen den Berg hinauf
und weiter durch Weinberge und Felder mit Mandelbäumen. Am Berg wird ein
Wein angebaut, der den Namen Lachrymae Christi, die Tränen Christi, trägt.
Welch bedeutungsschwangerer Name für einen mittelmäßigen Rosso! Aus der
Nähe sieht man nun die chaotische Ansammlung von Häusern, die von der anderen Seite der Bucht nur als undeutliche Lichtblitze zu erkennen waren. Sie
scheinen dem Vulkankegel gefährlich nahe und dazu völlig planlos angeordnet
zu sein, als wären sie zufällig vom Himmel an diesen Ort gefallen. Weiter oben
befindet sich dichtes Buschwerk – und dann der Kegel selbst. Der Bus spuckt seine Passagiere aus, und nun muss man den Gipfel über einen unbarmherzig steil
nach oben führenden Pfad erklimmen. Hier wandelt man in den Fußstapfen be-
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rühmter Vorgänger: Schon die Dichter Goethe und Shelley nahmen diesen Weg.
Vor allem aber ist man hier niemals alleine: Der Ausblick bietet beste Möglichkeiten zum Fotografieren, unwiderstehlich für Touristen aus aller Herren Länder. Unten erstreckt sich das Ballungsgebiet von Neapel, unwirklich wie ein der
Landschaft aufgedrückter Stempel.
Hier oben ist die dominierende Farbe ein warmes Schwarzbraun. Niemand
wird behaupten, ein riesiger Berg aus Schlacke wäre ästhetisch besonders ansprechend, und wirklich, der Abraum des Berges mutet seltsam industriell an. Er
sieht aus wie die Schlacke eines Hochofens. Hier wird die klassische antike Vorstellung von den Schmiedeöfen des Gottes Vulkan, die im Untergrund der Erde
arbeiten, leicht verständlich. Ein hervorragender geologischer Führer, verfasst
von Kilburn und McGuire vom University College in London, klärt darüber
auf, dass es sich bei diesen nicht sehr ansprechenden Geröllbrocken um vulkanische Schlacken und Gesteinsfragmente des Ausbruchs im März 1944 handelt.
Blickt man hinab, erkennt man, dass dieser letzte Ausfluss in der langen Geschichte des Vesuvs über den Rand des eigentlichen Kegels hinausreicht wie
Schokoladensoße, die über einen gestürzten Pudding geflossen ist. Am Rand des
Pfades gibt es vereinzelte größere Blöcke, die schwarze, etwa fingernagelgroße
Kristalle enthalten. Dies sind Pyroxenminerale, die genug Zeit hatten, in der
Magmenkammer, tief unter dem Vulkan, zu kristallisieren. Wie alles in dieser
Umgebung sind sie magmatischen Ursprungs: gebildet im Feuer, aus Schmelzen
der Tiefe der Erde. Der Krater selbst ist eine klaffende Öffnung und lässt Menschen mit Höhenangst in Panik geraten: 500 Meter im Durchmesser und 300 Meter tief. Vom Pfad an seinem Rand kann man gerade noch das Amphitheater von
Pompeji und die dunstig blaue Bucht von Neapel im Hintergrund sehen, und
man kann sich vorstellen, wie die zerstörerische Kraft einer gewaltigen Explosion auch über diese Distanz dort hingetragen werden konnte. Die Wände des
Kraters sind steil. An einer Seite steigen kleine Fäden von Dampfschwaden auf,
die wie Rauch einer unachtsam ausgedrückten, noch glimmenden Zigarette
aussehen. Schaut man über den Kraterrand, ist der Aufbau aus übereinander
geschichteten meterdicken Lavaströmen zu erkennen und auch, wo ausfließende Lava von explosiven pyroklastischen Ablagerungen, die krümelig sind und
leicht verwittern, verdrängt wurde. In diesen Ablagerungen liegt der Hinweis
auf die Herkunft der tödlichen Wolken verborgen, die das römische Herkulaneum bei der Eruption im Jahre 79 n. Chr. auslöschte. Der Krater ist nicht stabil. Ein andauerndes Klirren, wie von Eiswürfeln in einem Glas, ist zu vernehmen, verursacht durch Steine, die von den Rändern in das Innere des Kraters
stürzen. Der Vulkan ist zeitweilig untätig, doch gibt es jede Menge Berichte, die
von seinen aktiven Phasen erzählen. Der Philosoph Bischoff Berkeley schrieb im
Jahre 1717 über ihn:
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Ich sah eine riesige Öffnung voller Rauch, die mich daran hinderte, ihre Tiefe
und Gestalt zu erkennen. Ich hörte sonderbare Geräusche aus diesem abscheulichen Loch kommen, die von den Eingeweiden des Berges auszugehen schienen;
eine Art murmelnder, seufzender, schneidender Ton; und nach einiger Zeit immer
wieder Lärm wie von Donner oder von Kanonen, mit einem Scheppern, als fielen Dachziegel von Häusern auf die Straße. Manchmal, wenn der Wind drehte,
wurde der Rauch dünner und ließ rötliche Flammen erkennen, die Umrandungen des Kraters in Rot und verschiedene Gelbtöne tauchend …
Heute knarren hier handgeschriebene Schilder im Wind. Daneben erkennt man
auf dem Gipfel des Kegels ein solarbetriebenes GPS (Global Positioning System). Wie so häufig in Italien gibt es auch hier diese krude Mischung aus absolut
Improvisiertem und dem letzten technischen Schrei.
Der Vesuv ist ein leicht erregbarer Berg. Seit mindestens 25 000 Jahren gibt es
Ausbrüche, und es wird sie auch in Zukunft geben. Er ist ein Klassiker in der
geologischen Literatur, denn viele seiner Ausbrüche wurden in den letzten zwei
Jahrtausenden sorgfältig und genau beschrieben. Er zeigt viele unterschiedliche
Arten von vulkanischer Aktivität – von trägen Lavaströmen, die langsam und
unaufhaltsam Land und Häuser verschlingen, über erstickende Aschefälle bis
hin zu pyroklastischen Strömen und Fluten, die schneller talwärts rasen als ein
Rennwagen und Ebenen in Hitze und Schrecken tauchen. Er ist wie ein vulkanologisches Lehrbuch. Nach der Katastrophe von 79 n. Chr., die 2 000 Menschen
tötete und Herkulaneum und Pompeji begrub, gab es einen großen Ausbruch,
der in den Morgenstunden des 16. Dezember 1631 begann. Innerhalb nur eines
Tages erreichte seine Asche, von Neapel ausgehend, das mehr als 1000 Kilometer entfernte Istanbul. Dieser Ausbruch tötete annähernd doppelt so viele Menschen wie der in römischer Zeit. Der fruchtbare vulkanische Boden hatte einmal
mehr das Wachstum einer wohlhabenden Gemeinde begünstigt, die sich auf dem
gefährlichen Terrain ausbreitete. Doch dann forderten gewaltige pyroklastische
Ströme ihren Tribut, so wie die alles verschlingenden Fluten von Schlamm und
Asche, die den Hang hinabschossen, nachdem sich starke Regenfälle mit den vulkanischen Ergüssen gemischt hatten. Ironie des Schicksals war, dass die Partikel,
die während eines größeren Ausbruchs emporgeschleudert wurden, Keime für
Regenwolken in der Atmosphäre bildeten. Somit wirkten in dieser Tragödie die
vier klassischen Elemente – Erde, Luft, Feuer und Wasser – zusammen und
brachten tödliche Zerstörung. Neapel selbst jedoch blieb verschont. Eine Vielzahl nachfolgender kleinerer Ausbrüche folgte, meist im Abstand von elf Jahren,
die alle die Stadt verschonten. Doch ein erneuter Ausbruch ist lange überfällig,
und es wird möglicherweise ein großer werden. Die letzte Eruption, im Jahre
1944, wurde sehr genau untersucht: Etwa 37 Millionen Kubikmeter Magma
wurden im März jenes Jahres innerhalb weniger Tage gefördert. Ein Großteil da-
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Ein Blick in das Innere des Kraters zeigt Lagen von Lava, die durch aufeinander folgende
Ausbrüche des Vesuvs abgelagert wurden.
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von als Asche und vulkanische „Bomben“ – schwarze Brocken, die oft die Form
von Hörnchen oder Hefezöpfen annehmen. Es gab mehrere Ausbruchsphasen,
jeweils von Ruheperioden unterbrochen, bis der Krater zeitweilig kollabierte
und den Ausbruchskanal verstopfte. Überall verwelkten die Mandelblüten an
den Zweigen. Die Orte Massa und San Sebastiano wurden von träge fließenden
Lavaströmen zerstört. Der Korrespondent der Times beschrieb diesen Vorgang
damals sehr eloquent:
Das Fortschreiten der Zerstörung ist fast unerträglich langsam. Es ist in nichts der
jähen Zerstörungswut durch vulkanische Bomben vergleichbar. Die Lava traf
die ersten Häuser in San Sebastiano um etwa 14 Uhr 30, hatte aber bei Sonnenuntergang noch immer nicht die Hauptstraße, nur 200 Yards entfernt, überquert.
So suchte sie ihren Weg durch die Weinberge und walzte die kleinen Nebengebäude langsamer nieder als eine Dampfwalze … Für eine Weile sah es aus, als
würde sie die Häuser nur einhüllen, so wie sie standen. Doch dann, mit zunehmendem Gewicht, bildeten sich Risse in den Mauern. Als diese sich langsam weiteten, fiel erst eine Mauer, dann stürzte das ganze Haus in einer Wolke aus Schutt
zusammen, über die die Masse allmählich dahinkroch, um sich die Trümmer einzuverleiben … Ein wenig dunklere Dampfwolken stiegen auf, als mit Weinfässern gefüllte Keller explodierten. Über allem hörte man ein beständiges Krachen,
als das Monster sein hors-d’oeuvre aus Weinstöcken, Olivenbäumen und Brennholzstapeln in den Hinterhöfen verspeiste …
Hätte es sich um einen pyroklastischen Strom gehandelt, die Sache wäre in einer
Sekunde vorbei gewesen.
Sicherlich wird ein Geologe, der sich unter die Besuchermassen von Pompeji
mischt, die Auswirkungen der Aschefälle, die eine ganze Stadt zerstörten, untersuchen. Genauso wird er aber erstaunt sein über das Ausmaß an Luxus, das die
römische Elite genoss. Allein die Größe der Stadt überrascht. Die entmutigend
große Menschenmenge am Eingang löst sich schnell auf, und man kann mit Muße herumschlendern. Einige Straßen gewähren einen freien Blick auf den Vesuv,
und es fällt nicht schwer, sich die gewaltigen Massen heißer Asche auszumalen,
die diese blühende Stadt unter sich begruben, die warnenden Erdbeben, den lauten Donner einer Explosion, die dunkle Wolke, die über dem Vulkankegel in die
Atmosphäre emporschoss, den verdeckten Himmel und mit dem Einsetzen des
Ascheregens das augenblickliche Umschlagen von Erstaunen in Entsetzen. Die
Körper der Einwohner wurden von der Asche, die sie bedeckte, nachgeformt.
Die anrührendsten Zeugnisse der Katastrophe sind die Abgüsse dieser Formen,
die heute am Ende eines Weinberges aufbewahrt werden. Besonders beeindruckend ist eine Gestalt, die sich halb aus dem Schlaf erhebt, sich kaum aus seinem
eigenen Vergessen regt und diesem dann für immer anheim fällt. Dabei nimmt sie
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etwas von der Monumentalität einer Skulptur an, zeigt aber eine Verletzlichkeit,
die rein individuell ist. Jeder einzelne Stein hat seine eigene Geschichte zu erzählen. Die Straßen waren mit einem groben Puzzle aus Basalt gepflastert. Etwas
eigenartig Beredtes liegt in den Furchen, die Generationen von eisenbeschlagenen Rädern in diese Straßen eingegraben haben. Sie sind Spuren der Zeit selbst
in der „Zeitmaschine“, die Pompeji darstellt. Die Straßenoberflächen liegen tiefer als die Bürgersteige, und die Bordsteine bestehen aus aneinander gereihten
großen Basaltblöcken. Die Wände der Häuser, Geschäfte und Tempel sind häufig aus abwechselnden Lagen von großen Ignimbritblöcken und kleinen, sienafarbenen römischen Ziegeln errichtet. Auch die Ecken sind meist aus Ziegeln, da
die großen Blöcke leicht abplatzen. Die Architekten waren mit der lokalen Geologie wohl vertraut. In der Villa di Misteri wurde besonders häufig der Tufo Galliano Neapolitano benutzt, oft zu rautenförmigen Mustern zusammengesetzt.
Ursprünglich waren die Oberflächen der Straßen verfugt, wie die Villen im Inneren. Da Zement von den Römern beim Mahlen von Tuff entdeckt wurde,
steckt sogar hinter dem Putz der Häuser pure Geologie. In den vornehmeren
Häusern waren die Wände bemalt und mit Figuren und Ornamenten verziert.
Die Böden waren mit Mosaiksteinchen ausgelegt, wobei die üblichen schwarzen
und weißen Steinchen aus Basalt und Marmor hergestellt wurden. Die Entdeckung von Musterbüchern hat gezeigt, dass diese Steine aus dem Katalog bestellt
werden konnten. Ein Ausschnitt des Hypocaustum (des römischen Heizungssystems) zeigt die Verwendung von Bleirohren – wer weiß, ob das Blei hierfür
nicht aus weit entfernten Gegenden wie den Britischen Inseln herangeschafft
wurde, wo die geologischen Voraussetzungen für Bleierze gegeben waren? Kurz
gesagt, Pompeji erwuchs aus der Geologie und wurde letzten Endes wieder von
ihr verzehrt.
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erkulaneum wurde von pyroklastischen Strömen zerstört. Die Bewohner
hatten zwar Zeit, die Flucht zum Meer zu versuchen, aber nicht genug Zeit,
die Flucht erfolgreich zu beenden. Für etwas Geld zeigt ein Führer die Skelette
der zusammengekauerten Körper unten am ehemaligen Hafen. Die Hitze war
anscheinend groß genug, um auf der Stelle zu töten, aber nicht, um die Knochen
zu verglühen. Warum sind die Umrisse der Körper in Pompeji ergreifender als
diese entsetzliche Ansammlung von Knochen? Es muss etwas mit Gesten, mit
Individualität zu tun haben – alle Schädel am Hafen haben das gleiche Lächeln.
Sowohl Pompeji als auch Herkulaneum haben ein geologisches Skelett. Das
Feuer hat dieses lediglich entblößt. Dies gilt nicht nur für berühmte archäologische Fundstätten. Was auch immer die Oberfläche bedeckt, die geologischen Gegebenheiten bestimmen einen großen Teil von der Wirklichkeit und dem Wesen
der Städte. Sie geben vor, aus welchen Gesteinen ihre Häuser erbaut werden und
wie hoch diese aufragen können. Dies ist eine wesentlich subtilere Beziehung als
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die zur Landwirtschaft. Es ist viel offensichtlicher, dass die dunklen, reichen Böden um den Somma-Vesuv herum das Ergebnis der Verwitterung alter Lavaströme sind und dass dies die Erklärung dafür ist, warum Männer und Frauen
nach jeder Katastrophe diese gefährliche Gegend immer wieder neu besiedelten.
(„Wenn San Gennaro [der Schutzheilige von Neapel] uns behütet, Deo gratias,
werden wir gedeihen.“) Im Gegenzug steht die Geologie oft im Zusammenhang
mit tektonischen Platten, den Gebietern über die Form der Erde.
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s scheint angemessen, San Gennaro, dem im Dom von Neapel eine Kapelle
geweiht ist, unseren Respekt zu zollen. Im 3. Jahrhundert wurde er für seinen christlichen Glauben gemartert. Zuerst sollte er von Tieren in Stücke gerissen werden, doch letztendlich wurde diese Strafe abgemildert und er wurde geköpft. Die Enthauptung fand in Solfatara, nördlich von Neapel, statt, wo ein
Schrein errichtet wurde. Etwas von dem Blut des Heiligen wurde nach der Hinrichtung aufgeschöpft und wird noch heute als kostbare Reliquie aufbewahrt, die
angeblich die außergewöhnliche Eigenschaft hat, sich in Blut zurückzuverwandeln, wenn sie dreimal im Jahr zu religiösen Zwecken hervorgeholt wird. Aus
diesem Grund ist Neapels Sicherheit garantiert, so glauben jedenfalls die Neapolitaner. Den Dom erreicht man durch enge Straßen, in denen Glanz und Elend
Hand in Hand gehen. Dunkle Gassen, verhängt von Wäscheleinen und bedeckt
von sickernden, bedenklich aussehenden Flüssigkeiten, stehen in Tuchfühlung
mit Kirchen und Innenhöfen von vergangener Pracht. Angesichts des Lärmes
und Chaos vor seinen Türen ist die Stille im Dom umso beeindruckender. Die
Kapelle des Heiligen ist eine überschäumende Konstruktion von Säulen und
Vergoldungen, Massen von Marmor und Serpentin, Vertäfelungen aus Onyx,
Büsten und Gemälden. Die Darstellung des Heiligen über dem Altar zur Rechten zeigt, wie er unversehrt aus einem glühenden Feuer aufsteigt – eine Heiligkeit, die über bloßen Vulkanismus siegt. Die Krypta aus dem 16. Jahrhundert ist
eine fantastische Komposition aus Marmor. Der Boden besteht aus Marmorrauten und -dreiecken in jeder erdenklichen Farbnuance: Gelb und Rosa, in allen
Schattierungen gefleckt und marmoriert und eingerahmt von Weiß. In die Wände sind eine Reihe von weißen Marmornischen eingelassen, die von großen marmornen Jakobsmuscheln abgeschlossen werden und von Urnen und Blumen,
drapierten Stoffen und Putten flankiert sind. Das Ganze wird von runden Marmorsäulen getragen – weiß, mit zarten grauen Schlieren –, an der Decke befinden
sich quadratische Bilder von Heiligen, Engeln und Bischöfen. Eine perlmuttfarbene Statue des Kardinals Carata kniet auf dem Boden und blickt zum verschlossenen Schrein, der die Reliquie San Gennaros enthält. Es ist, als befände
man sich in einem Palast aus Zuckerwatte. Mehr irdisch betrachtet ist diese
Krypta aber auch ein Denkmal für die dritte große Gruppe von Gesteinen, die
neben denen sedimentären oder magmatischen Ursprungs vorkommt: die meta-
14
DER BEWEGTE PLANET
morphen Gesteine. Sie sind vielleicht aus einem der beiden Typen hervorgegangen, wurden aber durch Hitze, Druck oder einer Kombination dieser beiden
Faktoren verändert oder komplett umgewandelt, wenn sie von der großen Mühle der Gebirgsbildung in den Tiefen der Erde ergriffen wurden. Marmor ist ein
metamorphes Gestein und kommt in Tausenden von Schattierungen vor, auch
wenn er aus einfachem Kalkstein, einfarbig wie die Kliffs von Capri, entstand.
Entlang des apenninischen „Rückgrats“ von Italien gibt es viele Orte, wo Druck
und Temperatur die Kalksteine in dieser Weise verändert haben. Die Architekten der Renaissance machten reichen Gebrauch von diesen Gesteinen. Ihr Aussehen kann allem gleichen, von Blauschimmelkäse bis zu Leberstreifen, sie können aber auch rein weiß sein wie der Carrara-Marmor, der von großen Bildhauern wie Michelangelo bevorzugt wurde. Neapel folgte hier einfach der Mode
und kleidete die Nische des San Gennaro mit den Erzeugnissen des Höllenfeuers aus, das ihm nun nichts mehr anhaben kann.
Frühe Besucher der römischen Stätten in der Bucht von Neapel folgten der
Tradition der „Grand Tour“, einer Reise durch Italien, wie sie von jungen Gentlemen zu Bildungszwecken unternommen wurde. Man kann davon ausgehen,
dass englische Aristokraten des 18. Jahrhunderts mit den Klassikern, etwa mit
den Schriften von Vergil und Horaz, ebenso vertraut waren wie mit der derben
Kraft von Chaucer oder den Sonetten von Shakespeare. Sie wussten um die heißen Quellen, die die Bäder versorgten, in denen es sich der römische Adel zum
Wohle seiner Gesundheit gut gehen ließ, und um die Spazierwege, auf denen die
verwöhnten Reichen mit ihren bevorzugten Philosophen wandelten, um ihren
Geist zu schärfen. Die Archäologie dieser Gegend war der letzte Schrei. Sir William Hamilton ist heute vor allem für seine Ehe mit der Geliebten von Lord Nelson bekannt. Er war aber auch ein renommierter Archäologe und Antiquitätensammler und erwarb Schätze, die immer noch die Sammlungen des Britischen
Museums schmücken. Auch schätzte er die Einmaligkeit der neapolitanischen
Landschaft und bemühte sich, ihre vulkanischen Merkmale bekannt zu machen.
Während seiner Zeit als britischer Gesandter in Neapel, gegen Ende des 18. Jahrhunderts, veröffentlichte er ein Buch über die Phlegräischen Felder, die Campi
Phlegraei, das die Gegend, der es gewidmet war, sehr genau beschrieb. Vielleicht
sollte man ihn eher für diese Leistung in Erinnerung behalten. Mit Sicherheit war
seine Arbeit dem jungen Charles Lyell bekannt. Lyell reiste im Jahre 1828 in Begleitung von Sir Roderick Murchison, damals einflussreichster Vertreter der jungen geologischen Wissenschaft, nach Italien. Wenn geologische Stätten durch die
Beobachtungen scharfsinniger Menschen das Attribut „klassisch“ erhalten und
wenn diese Stätten an ihrem Einfluss auf das nachfolgende Denken gemessen
werden, dann hat der bescheidene römische Ort, der heute im Stadtzentrum von
Pozzuoli westlich von Neapel liegt, den Anspruch, als klassisch zu gelten. Doch
keine Gedenktafel belegt dies, kein Schild weist dorthin. Man stolpert zufällig
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darüber, wie über einen Menhir in England oder einen Heiligenschrein an einem
Straßenrand in Italien.
Die Phlegräischen Felder! Allein der Name klingt wie eine Vision von Arkadien (der Name stammt genau genommen von dem griechischen Wort phlegraios für „glühen“). Ich habe Sir William Hamiltons Darstellungen der Szenerie in
Erinnerung, in der Bäume eine ländliche Szene umrahmen, ein einfacher Bauer
seiner Arbeit nachgeht und im Hintergrund aufschlussreiche vulkanische Phänomene stattfinden. Diese Gegend von Kampanien beschrieb der Geschichtsschreiber Florus im 2. Jahrhundert als „die schönste Region nicht nur Italiens,
sondern der ganzen Welt. Nichts ist reicher als seine Böden … nichts gastfreundlicher als sein Meer.“ Wie zur Zeit des Florus bilden die Phlegräischen Felder immer noch die gleiche Ansammlung von Kratern und Calderen, die von
vulkanischen Anhöhen getrennt werden – mit dem Unterschied allerdings, dass
die flachen Täler zwischen Ersteren heute mit Armeebaracken oder hässlichen
Industrieanlagen zugebaut sind. Natürlich, die Zeiten ändern sich, aber die
Wirklichkeit dieser so bedeutungsvoll benannten Felder ist doch leider enttäuschend.
In der Antike wurde der See von Averno als einer der Eingänge zur Unterwelt
angesehen. Es war nicht ungewöhnlich, dass Vögel, die an ihm rasteten, tot von
den Bäumen fielen. Von hier aus wurde Dante von Vergil in das Purgatorium, das
Fegefeuer, geleitet. Wäre die Geologie die wirkliche Unterwelt, dann wäre der
See von Averno eine sinnbildliche Eingangstür zu den tiefen Regionen, von denen dieses Buch handelt. Kann man sich einen passenderen Ort vorstellen? Steile Wände aus Tuff umschließen beinahe zu drei Vierteln den fast kreisrunden
Kratersee. Als ich ihn zu Beginn des Frühlings besuchte, kam er mir etwas unheimlich vor. Rauchschwaden stiegen empor, nicht von vulkanischen Ausdünstungen, sondern von brennenden Müllhaufen, die vom letzten Sommer übrig
waren. Ein paar kümmerliche Schilfrohre wuchsen vom Grund des Sees. Gasblasen, wie ich annehme Methan, stiegen aus dem sauerstofflosen Schlamm am
Grund auf und durchbrachen die Oberfläche. Vielleicht ist dies die postmoderne Unterwelt, in der existenzieller Trübsinn den Ton angibt.
Es gibt eine geologische Erklärung für diesen tödlichen See. Wenn vulkanische
Ausbrüche abgeklungen sind, können unsichtbare Gaseruptionen andauern. Eines dieser Gase ist Kohlendioxid, das geruchlos und schwerer als Luft ist. Es
kann daher unsichtbar vorhanden sein und in Bodensenken und Vertiefungen
fließen. Dieses Gas ruft Erstickungen hervor. Bis vor einem Jahrhundert war eine Höhle, in der dieses Phänomen auftrat und die an einem anderen Krater der
Phlegräischen Felder lag, eine Touristenattraktion. Sie hieß Grotto del Cane
(„Hundehöhle“). Der Dramatiker und Gelegenheitsschriftsteller Oliver Goldsmith beschrieb im Jahre 1774 in seiner A History of the Earth and Animated
Nature diese grausige Naturerscheinung:
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DER BEWEGTE PLANET
Die Grotte, die so sehr die Aufmerksamkeit der Reisenden erregt hat, liegt vier
Meilen von Neapel entfernt und befindet sich nahe einem großen See mit klarem
und gesundem Wasser. Nichts kann die Schönheit der Landschaft übertreffen, die
dieser See – umgeben von Hügeln, die mit Wäldern von schönstem Grün bedeckt
sind und an ein Amphitheater erinnern – bietet. Trotz ihrer Schönheit ist diese
Landschaft nahezu unbewohnt. Die wenigen Bauern, die hier leben, sehen ausgezehrt und gespenstisch aus, gezeichnet von den giftigen Ausdünstungen, die aus
der Erde aufsteigen. Am Rande eines Hügels liegt die berühmte Höhle, in deren
Nähe ein Bauer wohnt. Er besitzt einige Hunde und führt den Besuchern der
Höhle folgendes Experiment vor: Da die Hunde Angst vor Fremden haben, versuchen sie wegzulaufen – doch sie haben keine Chance! Sie werden in die Höhle
getrieben, wo die gesundheitsschädigenden Phänomene herrschen, denen sie
schon so häufig ausgesetzt wurden. Betritt man diesen Ort, der eine etwa acht
Fuß hohe und zwölf Fuß lange kleine Höhle oder eher ein Loch ist, das in den
Hügel gegraben wurde, kann man kein Anzeichen für die pestartigen Dampfschwaden ausmachen. Nur etwa einen Fuß vom Boden haben die Wände eine
Farbtönung, wie sie durch stehendes Wasser verursacht wird. Wenn der Hund,
dieser arme philosophische Märtyrer, wie er von einigen genannt wurde, oberhalb dieser Marke gehalten wird, scheint er nicht die kleinste Unbill zu empfinden; aber wenn sein Kopf weiter nach unten gedrückt wird, beginnt er zu strampeln und versucht, sich zu befreien. Nach vier oder fünf Minuten rührt er sich
nicht mehr und wird, allem Anschein nach leblos, nach draußen getragen. In
den benachbarten See getaucht, erholt er sich schnell und darf nach Hause laufen
– offensichtlich, ohne den geringsten Schaden genommen zu haben.
Die schnelle Erholung der Hunde von ihrer Tortur deutet auf Kohlendioxid hin.
Goldsmith schrieb außerdem, dass der Dampf „von feuchter Natur ist, da er eine Fackel auslöscht“. Wäre das Gas Schwefeldioxid oder Schwefelwasserstoff
gewesen, hätten die armen Hunde einen schnellen, aber qualvollen Tod erlitten.
Im Jahre 1750 wurde eine Statue des Gottes Serapis in einer römischen Grabungsstätte nahe dem Küstenort Pozzuoli geborgen. Serapis beruhte ursprünglich auf der ägyptischen Gottheit Osiris, verschmolz aber mit griechisch-römischen Göttern und war zur Zeit Kaiser Hadrians Grundlage eines weit verbreiteten Kultes im mediterranen Raum. Für mehr als anderthalb Jahrhunderte waren die beeindruckenden archäologischen Entdeckungen von Pozzuoli unter
dem Namen Tempel des Serapis oder Serapium bekannt – im Glauben, die Statue würde auf eine heilige Funktion der Stätten hinweisen. Dieser Name taucht
auch in der Legende zum Titelbild in Charles Lyells Prinzipien der Geologie auf
und ist zudem auf der Lyell-Medaille der Geological Society of London eingraviert. Er war also für seine Zeitgenossen von großer Bedeutung. Heute weiß
man, dass „der Tempel“ nichts dergleichen, sondern in Wahrheit ein großer
Marktplatz, ein macellum war. Bis heute ist er jedoch ein geologischer Schrein,
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ein Sinnbild für den Aufstieg der Geologie als Wissenschaft. Es bereitet ein wenig Verdruss, dass er entweiht werden musste; immerhin ist „der Tempel“ ein
heiliger Ort für Rationalisten, wenn das denn kein Widerspruch in sich ist. Auf
den ersten Blick ist das Serapium erstaunlich wenig beeindruckend. Die Altstadt
von Pozzuoli liegt auf einem Hügel und befindet sich seit der Erdbebenkrise von
1982 etwas abseits. Die Grabungsstätte liegt in der Nähe des Hafens, jenseits des
Hügels. Einige Schritte seewärts vom antiken Markt werden noch immer Orangen, Zitronen und Fisch verkauft. Von dort sieht man den alten Marktplatz jenseits eines schönen schattigen Platzes. Er liegt etwa sechs Meter unterhalb der
heutigen Piazza: Es ist, als würde man auf einen Sportplatz oder ein Fußballfeld
hinabschauen – nachts, wenn das Gelände von Flutlicht angestrahlt wird, verstärkt sich dieser Eindruck noch. Das große Rechteck wird von drei gewaltigen
Säulen dominiert, und ein Schild weist darauf hin, dass sie 12,5 Meter hoch sind
und aus einem einzigen Stück Marmor bestehen. Selbst zu der Zeit, als der Markt
erbaut wurde, mussten sie sehr teuer gewesen sein. Vor ihnen sieht man einen erhöhten Kreis aus kleineren Säulen, die wahrscheinlich erst kürzlich wieder aufgebaut wurden, während die großen Säulen schon immer hier standen. Der Kreis
ist aus dem bekannten Tuff aufgebaut, unterlegt von Lagen aus römischen Ziegeln. Man pflanzte dort Palmen an, deren Stämme wie eine biologische Entsprechung zu den marmornen Säulen anmuten. Am Rand des Marktplatzes stehen
die Überreste der ehemaligen Verkaufsstände der Händler.
D
as Monument hat nichts Atemberaubendes wie Pompeji. Zu prosaisch liegt
es mitten in Pozzuoli, sodass der unbedarfte Betrachter über seine wahre
Bedeutung erstaunt wäre. Um hinter diese zu kommen, muss man sich die großen Säulen etwas genauer anschauen. Etwa vier Meter oberhalb ihrer Sockel gibt
es Bereiche mit schwarzen Entfärbungen, an denen der Marmor aufgeraut und
verwittert erscheint. Die unteren Teile der Säulen sind, wie Lyell schrieb, „glatt
und unverletzt“. Betrachtet man die entfärbten Bereiche genauer, sieht man, dass
der Marmor hier perforiert und durchbohrt ist. Die gleichen Bohrungen werden
von Muscheln verursacht, die Lyell als Lithodomus bekannt waren und heute
noch in der Bucht von Neapel zu finden sind. Der berühmte schwedische Biologe Linné gab dieser zerstörerischen Art den lateinischen Namen Lithophaga lithophaga – ein Name, der alles aussagt, was man über diese Tiere wissen muss.
Denn lithophaga kommt aus dem Griechischen, bedeutet „Steinfresser“ und gibt
genau das wieder, was diese Muscheln tun. Auf Höhe des Wasserspiegels bohren
sie sich in das Gestein und lassen von diesem letztendlich nur ein Gerippe übrig.
Die Schlussfolgerung ist absolut einleuchtend, wie sie es auch schon für Charles
Lyell war: Die Säulen wurden an Land aufgestellt, dann aber vom Meer überflutet. Damit nicht genug: Der gesamte Markplatz musste wieder angehoben werden, um die Bohrungen für den Besucher sichtbar zu machen. Man kann noch
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DER BEWEGTE PLANET
Der Tempel des Serapis, Titelbild der ersten Ausgabe (1830) von Lyells Prinzipien der
Geologie. In einigen späteren Ausgaben wurde die Figur des Philosophen,
links unten, weggelassen.
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auf weitere Einzelheiten schließen: Die Muscheln leben nur in klarem Wasser,
woraus folgt, dass die unteren Teile der Säulen von Sediment bedeckt gewesen
sein mussten, da sich hier keine Bohrungen befinden. Das Eintauchen und die
anschließende Hebung müssen also mindestens sechs Meter oder mehr betragen
haben. Lyell hat die Versenkung des „Tempels“ mit einer Eruption bei Solfatara,
nicht weit von hier, im Jahre 1198 in Verbindung gebracht. Und der Wiederaufstieg hing seiner Ansicht nach mit dem Ausbruch von Europas jüngstem Berg,
dem kleinen Vulkan Monte Nuovo, zusammen. Dieser Vulkan entstand im Jahre 1538 fast über Nacht in den Außenbezirken von Pozzuoli. Ich war dort und
obwohl der Berg so jung ist, ist seine Lava fast vollständig wieder zu fruchtbarem Boden verwittert.
Die Deutung dieser vergangenen Ereignisse wurde also, vernünftigerweise,
unter Zuhilfenahme von heute möglichen Beobachtungen gemacht. Die Muscheln haben ihre Lebensweise nicht verändert. Die Welt bewegte sich zwar auf
und ab beziehungsweise ab und auf, doch das war keine Katastrophe. Auf dem
Markt wird immer noch mit den gleichen Waren gehandelt, und damals wie heute ist die gleiche Physik wirksam. Diese Aussage mag banal erscheinen, aber sie
liefert das Fundament für das gesamte moderne geologische Denken. Es wurde
viel „Unsinn“ darüber geschrieben, ob Lyells Aktualitätsprinzip auch Veränderungen in der Stärke der Ursachen zulässt, ob seine Logik widerspruchsfrei ist
und ob er von undefinierten geologischen Zeitspannen ausging. Und es gibt einige überzeugende Argumente, die dafür sprechen, den Geologen James Hutton
(1726–1797) aus Edinburgh als den wahren Vater der modernen Geologie anzusehen. Für die meisten Geologen ist jedoch die Tatsache wichtig, dass Lyell eine
exakte Weltsicht einführte. Er ersetzte den Glauben an eine Reihe von Katastrophen in der Erdgeschichte, deren letzte die biblische Sintflut war, durch ein vernünftiges System von Untersuchungen, das auf heute ablaufende Prozesse gründet. Eine großartige Karikatur von Henry de la Beche, dem ersten Direktor des
Geological Survey von Großbritannien und Irland, zeigt, wie „das Licht der
Wissenschaft die Dunkelheit vertreibt, die die Welt bedeckte“. Das besagte
Licht, das die Wolken zerstreut, die den Globus verhüllen, wird von einer weiblichen Figur getragen. In ihrer rechten Hand hält sie außerdem einen Geologenhammer, denn es war die Geologie, die dem reaktionären Denken den Kampf ansagte.
Lyells Methode steckt auch hinter allem, was in dem vorliegenden Buch beschrieben wird. Man betrachtet die heutigen Vulkane, um zu verstehen, wie sie
in der Vergangenheit gewirkt haben; man macht Experimente im Labor, um zu
begreifen, was in den Tiefen der Erde vor sich geht; man schaut auf die Bewegung der tektonischen Platten, um zu erfassen, wie die Erde gemacht ist. Steven
Jay Gould (1941–2002) zeigte auf, dass der Tempel des Serapis ein viel passenderes Symbol für die Methode von Lyell war, als es der temperamentvolle Vesuv ge-
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DER BEWEGTE PLANET
wesen wäre. In Lyell’s Pillars of Wisdom (1986) bemerkte Gould: „Lyell präsentierte die drei Säulen von Pozzuoli als Triumphbogen für die beiden Schlüsselaussagen seines Aktualitätsprinzips: die Wirksamkeit von heutigen Ursachen
und die verhältnismäßige Beständigkeit ihres Ausmaßes durch die Zeiten.“ Wissenschaftler neigen heute dazu, den zweiten Teil dieser Thesen herunterzuspielen, denn sie wissen, dass sich die Erde seit ihrer Entstehung vor mehr als vier
Milliarden Jahren entwickelte und veränderte. Nicht jeder Prozess verlief während dieser Zeit genau gleich, und es gab von Zeit zu Zeit auch große katastrophale Ereignisse – aber das Prinzip, die Vergangenheit zu rekonstruieren, indem
man heutige Analogien benutzt, steht noch immer im Mittelpunkt der Entwicklung, durch die die Geologie von einem Zeitvertreib für Laien zu einer Wissenschaft wurde. Ohne das Vorbild von Lyell hätte ich über die Ignimbrite von Sorrent oder die Kalksteine von Capri nicht das schreiben können, was ich hier geschrieben habe. Kurz: Pozzuoli hat die Wissenschaft verändert.
An dieser Stelle der Geschichte sollte Charles Babbage genannt werden. Er
wurde im Jahre 1792 geboren und war ein brillanter Mathematiker, der heute als
einer der Väter der Computerisierung und als Erfinder der Rechenmaschine gilt.
Auch er besuchte den Serapion, nämlich im Jahre 1828, also zwei Jahre vor Veröffentlichung des ersten Bandes von Lyells Prinzipien. Am 12. März 1834 präsentierte er der Geological Society of London ein Manuskript, in dem er seine
sehr ausführlichen Berechnungen zu der Stätte darlegte. Dieser Text ist ein Mus-
Das Licht der Wissenschaft vertreibt die Dunkelheit, die die Welt bedeckte. Gezeichnet von
Henry de la Beche, dem ersten Direktor des Geological Survey von Großbritannien und
Irland. Die Karikatur zeigt Lady Murchison in der Mode der Zeit. Besonders beachtenswert
ist, dass sie einen Geologenhammer in ihrer rechten Hand schwingt.
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terbeispiel für Lyellsches Denken. Es wurde erst 1847 als „aufgeschobene Publikation“ in Band drei des Quarterly Journal of the Geological Society of London
veröffentlicht. Der Herausgeber fügte die interessante Notiz bei, dass dieser Artikel „kurz nachdem er vorlag, auf Anfrage des Autors an diesen zurückgeschickt wurde und sich seitdem in dessen Bearbeitung befand“. Man wundert
sich, was Babbage dazu bewogen hat, seine Veröffentlichung, die ihn an die Spitze des zeitgenössischen Denkens hätte bringen können, mehr als zehn Jahre zu
verschieben. Im Jahre 1847 hatte sich der wissenschaftliche Zeitgeist schon wieder gewandelt, dennoch kann man der Zusammenfassung von Babbage nur Bewunderung zollen:
Als ich über die Gründe nachdachte, die für die Veränderungen der Lage des
Untergrundes in der Umgebung von Pozzuoli verantwortlich waren, kam mir
der Gedanke, ob diese nicht auch auf andere Beispiele ausgedehnt werden konnten und ob da nicht andere natürliche Ursachen am Werk waren, die andauernd
ihren Einfluss geltend machen. In Übereinstimmung mit den bekannten Fakten
erzeugen diese Hebungen von Kontinenten und Gebirgen und diese ausgedehnten Kreisläufe, von denen die Geologie solch unbestreitbare Zeugnisse ablegt,
notwendigerweise die Änderungen in der Verteilung von Land und Meer.
Von Pozzuoli in die ganze Welt! In seiner kurzen Zusammenfassung schloss
Babbage viel von dem ein, was moderne geologische Forschungsarbeit ausmacht.
I
n diesem Buch wird das Wesen der Erde erklärt. Die Faktoren, die letztendlich den Charakter des Planeten bestimmen, sind tektonische Platten. Sie sind
die „natürlichen Ursachen, die andauernd ihren Einfluss geltend machen“, von
denen Babbage schrieb. Meine Geschichte wird also zu einem Abriss der Plattentektonik führen. Aber ich möchte über bestimmte und besondere Orte, wie
die Bucht von Neapel, dorthin gelangen – Orte, an denen Geologie und Geschichte miteinander verwoben sind. Ich möchte den Einfluss der Geologie auf
die Eigenheiten der Landschaften und der Menschen erkunden. Weit davon entfernt, die trockenste Wissenschaft zu sein, gibt die Geologie zu beinahe allem auf
unserem Planeten Auskunft und ist häufig mit dem menschlichen Schicksal verstrickt. Die Gesteine unter unseren Füßen sind wie ein unbewusster Geist hinter
dem Antlitz der Erde, der ihre Stimmungen und ihr Aussehen bestimmt. Der
Fortschritt unseres Wissens ist dabei untrennbar mit den Begabungen und Fehlern der Forscher verbunden. Verschiedene Augen zu unterschiedlichen Zeiten
hatten den gleichen Blick über die Bucht von Neapel und sahen dennoch andere
Dinge: Einer sah vielleicht den Zorn der Götter, ein anderer die Druckentlastung
in der Magmenkammer. Lehrbücher tendieren dazu, die Geschichte und die
Umgebung auszusparen, um die herrschende wissenschaftliche Meinung darzu-
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DER BEWEGTE PLANET
stellen. In diesem Sinne ist dies ein Anti-Lehrbuch. In Wahrheit haben die gleichen klassischen Stätten mehr als ein halbes Dutzend Generationen von Wissenschaftlern gesehen, die auf Steine klopften oder ihre Instrumente aufbauten. Ich
werde mein Bestes versuchen, die Arbeit meiner Vorgänger nicht durch eine besserwisserische Kritik zu diskreditieren. Verstehen ist immer eine Reise, niemals
nur das Ziel.
Wenn man versucht, sich einen Überblick zu verschaffen, wie sich das Denken
über ein Jahrhundert oder mehr verändert hat, gibt es nur wenige Bücher, die
Maßstäbe gesetzt haben. Seit Lyell gab es eine Hand voll Autoren, die das Wissen ihrer Zeit zusammengefasst und versucht haben, die Welt zu Papier zu bringen. Einer von ihnen war der österreichische Geologe Eduard Suess
(1831–1914), dessen Das Antlitz der Erde, veröffentlicht in vier mächtigen Bänden zwischen 1883 und 1904, möglicherweise der ehrgeizigste Versuch war, die
Gesamtheit von allem einzufangen. Man gewinnt den Eindruck, dass eine Tatsache, die so töricht war, seinem Zugriff zu entgehen, es einfach nicht wert war,
von ihm zur Kenntnis genommen zu werden. Suess saß in Wien wie eine alles
verschlingende Spinne in einem Netz, das über die ganze Welt ausgebreitet war,
um Fakten an sich zu ziehen. Wenn Sie einen Eindruck davon bekommen möchten, wie das geologische Weltbild gegen Ende des 19. Jahrhunderts aussah, als
Geologen mit wissenschaftlichen Methoden bereits einen Großteil der Erde erkundet hatten, dann ist Suess die beste Quelle. Auch er schrieb über die Bucht
von Neapel und über den Tempel des Serapis und stellte fest, dass LithophagaBohrungen auf Capri mehr als 200 Meter über dem heutigen Meeresspiegel zu
finden sind. Er hatte Einsichten, die noch immer in das heutige geologische Denken eingeflochten sind, und selbst, wenn er sich in einigen Dingen irrte, ist es
lehrreich, seine Denkweise verstehen zu wollen. Die unumstößliche Schlussfolgerung von gestern ist oft genug das ausrangierte Argument von heute. Wie Mott
Greene in seinem Buch Geologie im 19. Jahrhundert ausführte, wich Suess
grundsätzlich von Lyell ab, indem er annahm, allerdings weit davon entfernt,
sich auf gesichertem Terrain zu bewegen, dass die Geschichte der Erde von Zeiten mit starken Veränderungen unterbrochen wurde – großen Umwälzungen,
bei denen zum Beispiel Gebirgsketten emporgehoben wurden. Wie wir sehen
werden, wurde diese Spannung zwischen Stetigkeit und plötzlichen Veränderungen erst mit Einführung der Theorie der Plattentektonik gelöst.
Im Jahre 1944, 40 Jahre nach dem letzten Band von Suess’ Opus magnum, erschien eine weitere sehr einflussreiche Arbeit: Principles of Physical Geology von
Arthur Holmes. Generationen von Studenten einfach als „der Holmes“ bekannt,
war es von Beginn an ein außergewöhnlich erfolgreiches Lehrbuch. Das hatte
vor allem zwei Gründe: Es war gut und klar geschrieben und durchgehend mit
Fotografien illustriert. Holmes war Professor an den Universitäten von Durham
und Edinburgh und in vielerlei Hinsicht eine radikalere Person als Suess. (Cher-
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ry Lewis hat vor kurzem eine erste Biografie über ihn geschrieben.) Holmes versuchte nicht wie Suess, die ganze Welt zu beschreiben, sondern wollte die geologischen Grundsätze anhand ausgewählter Beispiele veranschaulichen, die von
überall rund um den Globus kommen konnten, wenn sie nur geeignet waren.
Dies war ein erfolgreiches Rezept und ist eine gute Darstellung der Sichtweise,
die die Geologie Mitte des 20. Jahrhunderts von der Welt hatte.
Meine eigene Absicht ist viel bescheidener, erhebe ich doch weder Anspruch
auf Allwissenheit wie Suess noch auf die didaktischen Fähigkeiten von Holmes.
Die wenigen Orte, die ich im Detail beschreibe und von denen ich die meisten
besucht habe, zeigen, was Geologie bewirkt – für die Landschaft und ihre Geschichte oder die Tiere und Pflanzen, die dort gedeihen. Mein Wunsch ist es, eher
anhand von Ausgewähltem zu erläutern als wirklich umfassend zu sein.
An diesem Punkt, den wir auf unserer Reise um die Bucht von Neapel erreicht
haben, ist Arthur Holmes noch aus einem anderen Grund wichtig. Er war ein
Pionier auf dem Gebiet der radiometrischen Datierung von Gesteinen. Mag
Lyell auch das intellektuelle Rüstzeug zum Verständnis der geologischen Prozesse geliefert haben, eine Zeitskala war nicht darunter. Die Spanne der geologischen Zeit war ein Mysterium, und zeitgenössische Schätzungen wichen beträchtlich voneinander ab, von einigen wenigen bis zu vielen Millionen Jahren.
Einige hielten noch an den Berechnungen von James Ussher (1581–1656), Erzbischof von Armagh, fest, denen zufolge die Erde im Jahre 4004 v. Chr. erschaffen wurde. Die meisten Wissenschaftler stimmten jedoch darin überein, dass die
Erde alt sein müsse, um all die Gesteine in den verschiedenen Abfolgen anzuhäufen, all die Lyellschen Ereignisse. Aber wie alt ist sie wirklich? Führende
Physiker des 20. Jahrhunderts, allen voran Sir Harold Jeffreys, nahmen Schätzungen vor, die auf guter Physik, aber falschen Annahmen, wie etwa der mutmaßlichen Abkühlungsrate der Erde, beruhten. Alle diese Schätzungen stellten
sich als zu jung heraus, wurden aber über Jahrzehnte energisch verteidigt. Erst
durch die Entwicklung „radioaktiver Uhren“ konnte man objektive Angaben
auch für weit zurückliegende Zeiten machen. Diese Methoden beruhen auf den
natürlichen Zerfallsraten der radioaktiven Isotope bestimmter Elemente, beispielsweise Uran, Kohlenstoff und Kalium. Diese Raten können experimentell
nachgewiesen werden. So zerfällt 235Uran sehr langsam, im Verlauf von mehreren hundert Millionen Jahren, zu 207Blei. Misst man also die Menge an Zerfallsprodukt, hat man damit ein Maß für die abgelaufene Zeit – so einfach ist das,
doch die Genauigkeit der Messungen führt wiederum zu vielen neuen Schwierigkeiten. Die aktive Zeit von Holmes war eine Ära der technischen Verbesserungen, die bis heute anhält, und die Schätzungen zum Alter der Erde nahmen
stetig zu und wurden mit der Verfeinerung der Methoden und dem Auffinden
immer älterer Gesteine immer genauer. Nach dem Tode von Holmes „nagelten“
die Datierungen von Mondgesteinen und Meteoriten das Alter der Entstehung
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DER BEWEGTE PLANET
der Erde endgültig bei viereinhalb Milliarden Jahren vor heute fest. Die Verfeinerung der Datierungsmethoden erlaubte, die genauen Raten der Veränderungen
zu berechnen, die Babbage die „ausgedehnten Kreisläufe der Geologie“ genannt
hat: die Geschwindigkeiten, mit denen Platten sich bewegen; die Zeit, die es
braucht, einen Gebirgszug abzutragen; die Dauer einer Ausbruchsphase; oder
wie lange die Dinosaurier das Land beherrschten. Da die verschiedenen radioaktiven Elemente unterschiedliche Zerfallsraten haben, muss die angewandte Methode auf das jeweilige Problem zugeschnitten werden. Das Isotop 14Kohlenstoff zum Beispiel zerfällt sehr schnell und kann daher nur zur Datierung vergleichsweise junger Ereignisse, bis zu einem Zeitraum von etwa 30 000 Jahren
vor heute, herangezogen werden. Ich habe eine wissenschaftliche Abhandlung
vor mir liegen, die Daten von radioaktivem Kohlenstoff benutzt, das aus den
Schalen der gleichen Muscheln gewonnen wurde, die sich in die Säulen des Serapis gebohrt haben. Die Arbeit beweist, dass auf der Insel Ischia in den letzten
8 500 Jahren eine Hebung von 70 Metern stattfand. Es gibt also Uhren für die
Welt, die das einst von Lyell begonnene Werk vervollständigen.
Es ist fast zu einem Klischee geworden, dass wir die Unermesslichkeit der
geologischen Zeit nicht fassen können. Was bedeuten wirklich fünf, 50 oder 500
Millionen Jahre? In der Gegend von Pozzuoli fanden die Veränderungen, die wir
beobachten, eher im Rahmen von Jahrtausenden als Jahrmillionen statt. Seit der
Zeit seines Vaters musste etwa der Fischer Luciano Bagnoli die Anlegestelle seines Bootes einen Meter tiefer legen. Das ist die Größenordnung, in der sich die
Hebung in Pozzuoli bewegt. Man muss von hier aus gar nicht weit reisen, um
Anhaltspunkte für die Kräfte zu finden, die die ganze Gegend aus dem Meer heben. Der Krater von Solfatara liegt direkt am Stadtrand. Man riecht ihn, bevor
man ihn sieht – ein Ergebnis dessen, was Oliver Goldsmith seine giftigen Ausdünstungen und pestartigen Dampfschwaden genannt hätte. Immer noch faucht
er wütend. Lagen von gerundeten Blöcken markieren den Rand des Vulkans –
Hinterlassenschaften der letzten explosiven Phase, die solche vulkanische Brekzien bildeten. Die Hälfte des Kraterbodens ist frei von jeglichem Pflanzenwuchs
und vulkanisch so aktiv, wie man es sich nur wünschen kann. Es gibt hier eine
Vielzahl von Fumarolen, die dichten Dampf ausstoßen. Holmes nennt diese aktiven Schlote Solfataren, und offenkundig ist dies der namensgebende Ort für
diese Erscheinungen. Die Bocca Grande, die größte Solfatare von allen, stößt
heißen Dampf mit einer Temperatur von 160 °C aus. Es hört sich an wie ein unaufhörlich kochender Kessel oder das Keuchen einer großen Dampfmaschine.
Und so geht es seit Jahr und Tag. Ein Vulkanologe namens Friedlander hat fast
direkt daneben eine Hütte gebaut, um die Dämpfe besser überwachen zu können – so sieht wissenschaftliche Besessenheit aus. In der Antike wurde die Gegend um die Bocca Grande „Forum vulcani“ genannt, und man hat den Eindruck, dass hier in der Erde, tief unter unseren Füßen, etwas hergestellt oder ge-
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schmiedet wird. Tatsächlich aber kommen Sulfide heraus. Was hier so stinkt und
der Luft den Geruch von faulen Eiern gibt, ist Schwefelwasserstoff. Um die Öffnungen sind Schlieren von rötlich-gelber Farbe. Es ist der Niederschlag von seltenen Mineralen, Verbindungen von Arsen und Quecksilber mit Schwefel, die
Namen wie Realgar, Auripigment oder Zinnober tragen und den Alchimisten
wahrscheinlich bereits vor 500 Jahren bekannt waren. Denn dies ist wirklich der
Ort, an dem die Alchimie des Erdinneren kostbare Elemente auf dem Erdboden
destilliert. Viele von ihnen sind sehr giftig und waren das bevorzugte Material für
die Giftmischer des 19. Jahrhunderts. Im Jahre 1700 wurde ein hoher Turm, der
schon lange nicht mehr steht, errichtet, um Kondensate aus dem Dampf aufzufangen und vor allem um Alaun zu gewinnen, das als Beize in Färbereien eingesetzt wurde. Dieser dampfende natürliche Kessel ist ein Ort, an dem Chemie in
freier Natur stattfindet. Um manche der heißen Löcher gedeihen hitzeliebende
Bakterien, die es vermutlich schon seit mehr als vier Milliarden Jahren auf der
Erde aushalten.
An anderen Stellen ist die Erde wie vernarbt und raucht, als hätte erst kürzlich
eine Bombe eingeschlagen, und im Zentrum des Kraters speit ein Schlammvulkan. Und dann ist da noch die berühmte Stufe – zwei antike Backsteingrotten,
die in die Seite des Berges gegraben wurden. Sie dienten einst als Saunen (sudatoria), und seit der Antike war dies einer der angeblichen Gesundbrunnen der
Phlegräischen Felder. Einer der Räume war als Fegefeuer (60 °C), der andere als
Hölle (90 °C) bekannt. Für einige Sekunden saß ich im Dampf im Eingangsbereich des 60 °C heißen Raumes und musste mich niederkauern, da es in der Nähe der Decke zu heiß war. Schwefel und Alaun kristallisierten im Mauerwerk.
Innerhalb kürzester Zeit wurde die Hitze unerträglich und der Ort, mit einem
Wort, zum Fegefeuer. Alle diese dampfenden Phänomene sind das Resultat einer
Magmenkammer, die tief unter der Gegend von Pozzuoli verborgen liegt. Nach
unten sickerndes Grundwasser wird überhitzt und schießt dann nach oben, wobei es gelöste Minerale aus der Tiefe mittransportiert: Der Vulkan lässt buchstäblich „Dampf ab“.
Neuesten Schätzungen zufolge befindet sich die Magmenkammer zwei Kilometer unter der Erdoberfläche und ist am Aufsteigen. Einige Vulkanologen sind
zutiefst besorgt, dass die Phlegräischen Felder vor einem Ausbruch stehen – eher
als der Vesuv, wo die Magmenkammer in etwa fünf Kilometer Tiefe liegt – und
dass die Eruption des Monte Nuovo von 1538 nichts weiter als ein Vorspiel war.
Diese Vorstellung ist beängstigend. Sollte es einen Ausbruch geben, dem direkt
ein pyroklastischer Strom folgt, wären die Auswirkungen katastrophal. Das
Chaos auf den Straßen ist schon an einem freundlichen Frühlingsnachmittag
groß genug und eine schnelle Evakuierung von Tausenden von Menschen wäre
absolut unmöglich. Versteckte Kräfte würden sich an laxen Stadtplanern und
profitgierigen Baulöwen auf drastische und unberechenbare Art rächen. Es ist
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DER BEWEGTE PLANET
denkbar, dass der Tempel des Serapis unter einem pyroklastischen Tuff begraben
würde und einmal mehr dem archäologischen Vergessen anheim fiele. Bereits
zwischen 1982 und 1984 gab es so starke Erdbeben, dass die Altstadt von Pozzuoli evakuiert werden musste. Eine seismische Gefährdungskarte, veröffentlicht vom Observatorio Vesuviano, zeigt ein Gebiet mit „maximalen beobachteten Werten freigesetzter seismischer Energie und Intensität“, in dessen Zentrum
Pozzuoli liegt, sowie mit konzentrischen Zonen der Zerstörung überall in der
Gegend. Die magmatischen Massen bewegen sich in geringer Tiefe im westlichen
Teil des Golfes von Pozzuoli. Vielleicht brauen sich gerade in diesem Moment
die Nachfolger des gelben Tuffs von Neapel unbeobachtet zusammen. Auf diesen Gedanken käme man nie, wenn man das unbekümmerte Herumalbern der
Barbesucher in der Nähe des abfallübersäten Strandes von Pozzuoli betrachtet –
doch der Beweis für das zurückliegende vulkanische Wüten ist in den Gesteinen
entlang der ganzen Küste sichtbar.
Das Problem ist, dass sich der Zeitpunkt der Katastrophe nicht voraussagen
lässt. Sie kann erst in vielen Jahren oder aber sehr bald eintreten. Dies ist das paradoxe Wesen der Gefahr. Bestimmte Erdbebenstöße sollten ein Signal sein, aber
man kann nicht leben und jeden Tag erwarten, dass dies der letzte sein könnte.
Es dürfte kaum überraschen, dass die Versuche, Ausbrüche wissenschaftlich vorherzusagen, in der Gegend um die Bucht von Neapel ihren Ursprung haben. Das
Observatorium am Vesuv wurde 1841 gegründet und ist somit weltweit das älteste seiner Art. Das wissenschaftliche Büro befindet sich inzwischen in Erculaneo, wo die elektronische Überwachung zusammengeführt wird; aber das ältere
und elegantere Gebäude befindet sich immer noch an der Flanke des Vulkans
und beherbergt ein Museum, in dem einige der originalen Instrumente zu sehen
sind. Der allererste Seismograf wurde von Ascanio Filomarino konstruiert – und
hier ist er. Es ist ein wunderbar simpler Apparat aus einem eisernen Pendel von
2,6 Meter Länge und einem hängenden Gewicht von 2,5 Kilogramm. An diesem
ist ein Bleistift angebracht, der auf eine darunter liegende Papierrolle zeichnet.
Wackelt die Welt, bewegt es sich. Besonders reizend sind die kleinen Glöckchen
an dem Gewicht, wahrscheinlich angebracht, um den Naturphilosophen aus seinem Schlummer zu wecken, wenn sich ein Erdstoß ereignete. Der Konstrukteur
hatte eine sehr genaue Vorstellung von den Erwartungen an sein Instrument. In
einem Bericht über seine Erfindung aus dem Jahre 1797 bemerkte Ascanio Filomarino, dass „es in den Städten und Dörfern in der Nähe des Vulkans zusammen
mit einem atmosphärischen Elektrometer benutzt werden kann. Beobachtet man
die Instrumente sowie die verschiedenen Zeichen des Vulkans, lässt sich manchmal ein Ausbruch vermuten, wenn auch nicht eindeutig vorhersagen.“ Kein heutiger Vulkanologe hätte es besser ausdrücken können. Seit 200 Jahren versucht
die Wissenschaft vorherzusagen, wann ein Vulkan „schnauben“ wird. Aber trotz
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empfindlichster Seismometer und leistungsstarker Computer kann man immer
noch von einem Vulkan in Vergeltungslaune überrascht werden.
Filomarino wäre erfreut gewesen über die Messungen, die heute routinemäßig
um die Phlegräischen Felder herum durchgeführt werden. Am Rande des Solfatara-Kraters sah ich ein weiteres der solarbetriebenen Instrumente, die auch am
Vesuv zu finden sind. Dank der verfeinerten Technik der GPS-Satelliten zur globalen Positionsbestimmung können heute die kleinsten Hebungen des Erdbodens gemessen werden. Wie Experimente in Japan gezeigt haben, sind diese Systeme heute so empfindlich, dass es möglich ist, die Vertiefungen zu messen, die
starker Schneefall auf der Erdoberfläche verursacht. Weit davon entfernt stabil
zu sein, scheint die Erde unregelmäßig auf eine Weise zu pulsieren, die wir uns
vorher niemals vorstellen konnten. Für die Bucht von Neapel gibt es das ArgoProjekt, ein Netzwerk für italienische geochemische und seismische Beobachtungen. Die Kommunikationsgesellschaft Telespazio hat ein Netzwerk zur Kontrolle des seismischen Risikos für das Ministerium für Zivilverteidigung aufgebaut, das es ermöglicht, seismische und geochemische Daten an stationäre
Satelliten zu übermitteln. Um Solfatara gibt es einen Haupt- und zwei
Nebenübermittlungsposten. Die Letzteren werden von Solarzellen betrieben
und haben elektronische Sensoren, die sowohl alle seismischen Aktivitäten als
auch Abweichungen in der Gaszusammensetzung um den Krater messen, die
möglicherweise Veränderungen in der Magmenkammer im Untergrund anzeigen. Die Daten werden an den Hauptposten übertragen und dann über eine Parabolantenne an den Satelliten gesendet. Die Informationen sind damit für Forschungsstationen rund um den Globus verfügbar. Theoretisch sollte ein bevorstehender Ausbruch viel früher erkannt werden, als es jemals möglich war. Eine
plötzliche Beschleunigung in der „Blähung“ des Untergrundes, Änderungen des
Gases, das aus Fumarolen strömt, oder ein heftig schüttelndes Erdbeben des harmonischen Typs – all dies mag eine bevorstehende Krise andeuten. Das größte
Problem wird sein sicherzugehen, dass die örtliche Bevölkerung die Warnungen
ernst nimmt.
Die Geschichte der Geologie ist eine Geschichte, die die Unveränderlichkeit
hinter sich gelassen hat. Aus einer von Gott erschaffenen Welt wurde eine Welt
im Wandel. Vulkanausbrüche mögen einst als Strafe für die Sünden der Menschheit angesehen worden sein, aber sie waren nicht notwendigerweise Anzeichen
für eine veränderliche Welt. Wenn der Tempel des Serapis fraglos die Auf-undab-Bewegung anzeigte, dann war dies erst der Anfang. In Pozzuoli war es offensichtlich, dass eher das Land als das Meer sein Niveau änderte. Als die geologische Abfolge auch anderswo untersucht wurde, stellte sich jedoch schnell heraus, dass das Meer zu anderen Zeiten und an anderen Orten relativ hoch zum
Land stand. Es ergoss sich über die Kontinente und hinterließ eine Abfolge von
Sedimentgesteinen tief in ihrem Inneren. Während der Kreidezeit, als die weißen
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Kliffs von Capri im Meer abgelagert wurden, bildeten sich ähnliche Sedimente
an vielen Orten der Welt – das bekannteste Beispiel sind vielleicht die weißen
Kliffs von Dover. Suess hatte diese Transgressionen des Meeres erkannt. Fossilien einer einzigen Art konnten an vielen Orten gefunden werden und erlaubten,
Zeitlinien über Kontinente hinweg zu verfolgen. Die Verbreitung von Land und
Meer, wie sie heute existiert, ist nur vorübergehend – ein Moment im langsamen
Fortschreiten des geologischen Wandels. Ehemalige Sedimente konnten hoch
genug gehoben werden, um die Plätze zu bieten, an denen die weißen Villen der
reichen Capreser einen vorübergehenden Aussichtspunkt genießen. Und doch
sind sie dazu bestimmt, von den langsamen, unerbittlichen Mühlen der Erosion
wieder auf Meeresspiegelniveau reduziert zu werden.
Viel spektakulärer ist es, sich die ganze Erde in Bewegung vorzustellen.
Nichts scheint stillzustehen. Die Oberfläche der Erde dehnt sich aus und fällt
wieder zusammen, das Meer steigt und fällt, und ganze Kontinente bewegen
sich. Suetonius hätte mich für verrückt gehalten, wenn ich ihm erklärt hätte, dass
der Vesuv letztendlich eine Folge davon ist, dass sich Afrika im Ganzen nach
Norden bewegt. Aber Afrika ist wirklich auf dem Weg. Der Boden des Mittelmeeres ist ein Stückwerk von tektonischen Platten, und letztendlich ist das Meer
zur Auslöschung verdammt, wenn der Hauptteil von Afrika, in vielleicht 30
Millionen Jahren, in das europäische Kernland hineinstößt. Noch gibt es das
Meer, wenn auch in einer heiklen Lage – nämlich „zwischen allen Stühlen“.
Der nördliche Rand der Afrikanischen Platte taucht unter den südlichen Zipfel von Italien ab, wodurch die unendlich langsame Einschnürung des Ozeans
weitergeht. Italien wird dabei verbogen und herumgedreht. Die dabei frei gesetzte Energie deformiert Gesteine zu Marmor und hebt Kalksteinhügel empor.
Eine ganze Reihe von Vulkanen sind in dieses Zusammentreffen der Platten verwickelt: der Stromboli mit seinen andauernden, grummelnden Eruptionen; der
Ätna auf Sizilien, der erst kürzlich und dramatisch ausbrach; Vulcano, der Sitz
des Gottes Vulkan selbst und namengebender Inbegriff eines Vulkans sowie
mehr als 20 weniger bekannte, die nahezu die ganze Länge von Italien umspannen und über die äolischen Wasser verteilt sind. Wie diese Vulkane mit den Bewegungen der tektonischen Platten in Beziehung stehen, ist eine komplizierte
Geschichte, und die Geologen sind diesbezüglich in vielen Details unterschiedlicher Meinung. Doch alle Fachleute stimmen darin überein, dass die Region hinter der afrikanischen Kollisionszone gegen den Uhrzeigersinn rotiert ist. Das
Auseinanderreißen der Erdkruste schuf hier vor acht Millionen Jahren das Tyrrhenische Becken. Die Vulkane sind an Bruchzonen gebunden, also Orte, an denen die Haut der Erde verletzt wurde. Es ist, als sickere dickes Blut aus tiefen
Wunden, dort wo die Erdkruste ausdünnt. Das Aneinanderstoßen der Platten
führt zu Brüchen in der Kruste, zu Störungen; Bewegungen an ihnen lösen Erdbeben und Erdstöße aus. Die Hebung und Verkippung von Gesteinsschichten
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sind die Zeugnisse dieser Aktivitäten. Letzten Endes stammt auch die Energie,
die benötigt wird, um Lava zu erzeugen, aus der krachenden Nordwärtsbewegung von Afrika nach Europa hinein. Taucht die Kruste nach unten ab, schmilzt
sie teilweise auf und bildet das Magma, das schließlich die Vulkane versorgt. Laven, die reich an Kalium sind, beweisen, dass ein Anteil an geschmolzener kontinentaler Kruste mit ozeanischer Kruste vermengt wurde. Das Magma gibt
außerdem Hinweise auf das Fließverhalten während des Ausbruchs. So fließt sie
zu bestimmten Zeiten auf sanfte, aber fast unnachgiebige Art; zu anderen Zeiten,
vermischt mit Gasen oder Wasser, explodiert sie in einer Reihe von verheerenden
pyroklastischen Strömen. Alles in der Bucht von Neapel wird von der Bewegung
tektonischer Platten, die sich Kilometer weit unter der Oberfläche befinden, bestimmt. Das Sichtbare ist unter der Kontrolle des Unsichtbaren. Die Oberfläche
steht unter dem Geheiß der Unterwelt. Solche Zusammenhänge zu erkunden, ist
das Anliegen dieses Buches.
Selbst die am offensichtlichsten vergänglichen Erinnerungen der Erde spiegeln eine tiefer liegende Realität wider. Was könnte oberflächlicher sein als die
Beschäftigung des Menschen mit seinem eigenen Auftreten, mit der Kosmetik,
die er betreibt – der Farbe auf der Oberfläche –, dem Versuch, die eigene Sterblichkeit zu verkleiden? Was könnte gewöhnlicher sein im Vergleich mit den geologischen Gegebenheiten? Die Stadt Baia auf der westlichen Seite der Bucht von
Neapel entstand aus Genusssucht und Schönheitskult. Die heißen Quellen dort
füllten die unvergleichlich luxuriösen römischen Bäder. Es gibt immer noch Spuren von Deckengemälden in den Räumen, in denen die Reichen sich abkühlten
(oder aufheizten) und über den neuesten Klatsch kicherten oder den größten
Skandal des ersten Jahrhunderts diskutierten. Was moderne Italiener die bella figura nennen, war vor fast zwei Jahrtausenden genauso wichtig. Die Bäder wurden aus Quellen gespeist, die in eine tektonische Realität hinuntergebohrt wurden, die sich nicht um die fleischlichen Skandale eines zweibeinigen Affen kümmerte, der erst einige Jahrtausende zuvor aus Afrika hinausgezogen war. Diese
Quellen waren die Ausdünstungen des magmatischen Unbewussten. So wurde
denn auch in Baia und an der Küste von Pozzuoli das Konzept des Ferienmachens erfunden: Auszeit im Luxus, den Gaumen oder die Fantasie zu kitzeln.
Nach zeitgenössischen Berichten waren die Hänge der Bucht von Marmorpalästen, von säulenumstandenen Gehwegen und kühlen Brunnen für die Reflexion
und den Müßiggang gesäumt. Eduard Suess schrieb missbilligend: „In den blühenden Gefilden von Puetoli, Bajä und Misenum wurden auf Kosten einer beherrschten Welt die üppigsten Feste der Kaiserzeit gefeiert.“ Diese Gegend war
wie Nizza an der französischen Riviera zu Zeiten der englischen Aristokratie
oder wie die Küste von Big Sur in Kalifornien in den Tagen des Hollywood-Glamour – nur noch etwas großartiger. Man kann sich in dem verfallenen Baia noch
immer den vergangenen Glanz und Luxus vorstellen, auch wenn der Stuck meist
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von den Wänden gefallen ist und die Gemälde häufig verblasst sind. Den Hang,
an dem die eleganten Römer nach ihrem Bad entlangspazierten, gibt es auch
noch, er gleicht aber nun eher einem heruntergekommenen, terrassierten Provinzpark. Der Blick über die Bucht von Neapel ist immer noch großartig, und
leicht kann man sich die ununterbrochene Linie der Villen denken, die die Bucht
umsäumten. Aber von nahem betrachtet befindet sich alles im Untergang. In den
Diamantenmustern der Ziegel aus gelbem Tuff, dem opus reticulatum, das die
Wände aufbaut, steht der Mörtel zwischen den verwitterten Ziegeln heraus, die
er eigentlich halten sollte. Denn die Gesteine, die bei einem gewaltsamen Ausbruch entstanden sind, ergeben nicht notwendigerweise gute Bausteine. Durch
die Bewegungen der Erde wurde das antike Ufer überflutet, sodass es heute 400
Meter von der Küstenlinie entfernt liegt. Teile der versunkenen Stadt sind immer
noch im klaren Wasser auszumachen. Seit die tektonischen Quellen sich weiter
bewegt haben, sprudeln in den antiken Badehäusern die Thermalquellen nicht
mehr nach oben. Noch immer kann man ein Thermalbad auf der Insel Ischia
nehmen, die jenseits der Nordwestecke der Bucht von Neapel liegt. Ein Arzt
dort wird Ihnen gerne raten, welches Elixier Sie für Ihre Wehwehchen und
Schmerzen brauchen; aber Mode und geologische Bewegungen haben Baia entvölkert.
Das westliche Ende der Bucht von Neapel ist Capo Miseno – heute ein unbewohnter Ort, einst eine große Marinebasis für das Imperium. Nur verstreute
Fundamente und Reste von Säulen deuten auf seine vergangene Größe hin. Von
hier kann man über die Bucht von Neapel auf den Vesuv und die Küste von Sorrent zurückschauen, wo dieses Kapitel begann. Es ist ein guter Platz, um über
historische und geologische Zeit sowie die Kräfte, die dies alles formten, nachzudenken: die Bucht selbst, die Krater in den Phlegräischen Feldern und auch die
entfernten Hügel. Dies ist der Ort, wo die Geologie ihren Anfang nahm, als Plinius der Jüngere im Jahre 79 n. Chr. als 18-Jähriger aus sicherer Entfernung den
Ausbruch des Vesuvs beobachtete, der Pompeji auslöschte. Sein Onkel, Plinius
der Ältere, starb während der Eruption. Seine Naturgeschichte war für mehr als
tausend Jahre ein Meilenstein der Naturphilosophie, und es ist sicherlich keine
allzu große Übertreibung zu behaupten, dass die Zukunft der Wissenschaften
mit der Magmenkammer eines impulsiven Berges verknüpft war. Plinius der
Jüngere beschrieb, dass die Wolke, die die Nemesis seines Onkels anzeigte, einer
der Schirm- oder Steinpinien ähnelte, die noch immer angenehmen Schatten für
die Villen rund um die Bucht spenden. Die Vulkanwolke
schoss hinauf in große Höhen in Form eines sehr schmalen Stammes und breitete
sich oben wie Zweige an einem Baum aus; ausgelöst entweder von einer plötzlichen Windbö, die sie in diese Form zwang und deren Kraft abnahm, als sie sich
nach oben ausbreitete, oder die Wolke selbst wurde von ihrem eigenen Gewicht
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Plinianischer Ausbruch des Vesuvs im Jahre 1822. Gezeichnet von George Scrope
(1797–1876).
zurückgedrückt und verbreitete sich in der beschriebenen Weise. Manchmal erschien sie hell, manchmal dunkel, je nachdem, wie stark sie mit Erde oder Asche
getränkt war.
Diese Art eines vulkanischen Ereignisses kennt man noch heute als plinianische
Eruption. Die Aschesäule kann bis zu 50 Kilometer in die Atmosphäre aufsteigen und die Asche dann über mehrere Tausende von Kilometern von den Winden verteilt werden. Ein Ausbruch kann so die Wetterbedingungen für Monate
verändern. Die treibende Kraft hinter der Ausbreitung der Aschesäule sind Ga-
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se, die sich im Magma während seines Aufstiegs ausbreiten, wenn der überlagernde Druck abnimmt. Einen Kilometer unter der Oberfläche verliert die aufsteigende Masse allen Zusammenhalt. Der Vulkan kocht gewaltsam über.
Der pyroklastische Strom von 79 n. Chr. erreichte auch Plinius den Jüngeren.
Er kam über die Bucht von Neapel, verbreitete seine tödliche Ladung und verlor an Stärke. Als er den jungen Mann erreichte, war er wenig mehr als eine kleine Verunreinigung, die eine dünne Lage feiner Asche über seine Sandalen fallen
ließ.
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