Grundlagen Lärm und Lärmschwerhörigkeit Dr. biol. hom. Dipl.-Ing. Th. Steffens Uni-HNO-Klinik Regensburg Version: 01.12.15 Physiologische Beeinträchtigungen durch Lärm Lärm wirkt auf ♦ das autonome Nervensystem, vegetative Regulation; ♦ das retikuläre System, Stimmung, Wachheit, Reaktionsverhalten; ♦ die subcortikale und die cortikale Wahrnehmung; ♦ auf das Innenohr. Wirkung auf die vegetative Regulation ♦ Vasokonstriktion der Peripherie mit Erhöhung von Pulsrate und ♦ Verlangsamung und Vertiefung der Atmung ♦ Änderung des Hautwiderstandes ♦ Tonusänderung der Skelettmuskulatur ♦ bei längerer Belastung: - Störungen der gastrointestinalen Motilität - Chemische Veränderung von Blut und Urin als StressReaktion Lärm am Arbeitsplatz 1. Erhöhtes Unfallrisiko infolge des Überhörens von Signalen und Warnrufen oder infolge von Fehlverhalten durch Ermüdung oder als Schreckreaktion auf andauernde oder unerwartete Geräuscheinwirkung; 2. Verminderte Arbeitsleistung durch Erhöhung der Beanspruchung des Organismus, insbesondere bei Tätigkeiten mit hohen geistigen Anforderungen wie Konzentration, Aufmerksamkeit, Gedächtnis; 3. Störung der sprachlichen Kommunikation, z.B. bei Lehrtätigkeiten, bei Gruppenarbeit oder im Call-Center; 4. Kombinierte Belastung, zusammen mit Ganzkörperschwingungen, Hitze, Kälte, Zugluft, Gefahrstoffen oder bei Zeitdruck und komplexen Arbeitstätigkeiten. Negative Beeinflussung physiologischer und psychischer Regulationsmechanismen führt zu einem erhöhten Stress-Hormonspiegel und zur Verengung der peripheren Blutgefäße. Auf Dauer erhöht sich das Risiko für Erkrankungen des Herz-Kreislauf- und des Verdauungssystems. 5. Lärmschwerhörigkeit infolge mechanischer und/oder metabolischer Überbelastung der Hörzellen und Versorgungszellen im Innenohr mit nachfolgender Schädigung der Hörnervenfasern Pegelabhängigkeit der Lärmwirkungen dB SPL Normhörschwelle ISO R226, DIN 45630 Innenohr (Kochlea) IHZ: Mechano-Elektrische Transduktion Die Potentialdifferenz Endolymphe – Perilymphe von ca. 80 mV ist Voraussetzung für die neuroelektrische Erregung. Schnitt durch das Innenohr Wanderwelle hohe Frequenz tiefe Frequenz Georg von Békésy (1899 - 1972) Innenohr: Frequenz - Ort - Zuordnung Corti Organ Corti sches Organ Transduktionssteuerung Gesetzliche Regelungen zum Lärmschutz am Arbeitsplatz: Lärm- Vibrations-Arbeitsschutzverordnung Tages-Lärmexpositionspegel LEX,8h ≥ 80 dB(A) bzw. (für Einzelschallereignisse) LpC,peak = 135 dB(C) • Informationen über Gefährdung durch Lärm an Mitarbeiter • Bereitstellung von Gehörschutz Tages-Lärmexpositionspegel LEX,8h ≥ 85 dB(A) bzw. (für Einzelschallereignisse) LpC,peak = 137 dB(C) • Tragepflicht für Gehörschutz • Kennzeichnung von Lärmbereichen • Aufstellung eines Lärmminderungsprogramms Lärmschäden im Innenohr. Hypothese: gleiche Energie, gleiche Wirkung Im Mittel bewirkt gleiche Schallenergie gleiche Schädigung. Schallintensität Schallenergie ~ Schallintensität x Zeit ~ Schalldruck² x Zeit +3 dB +3 dB Zeit Aber: • Individuelle Ohren zeigen unterschiedliche Empfindlichkeit gegenüber Lärmschädigungen. • Impuls-Schall ist deutlich gefährlicher als ein lang anhaltender Schall gleicher Energie. Typ. berufsbedingte Lärmexposition: täglich 8h über 40 Jahre Maximale sichere Schallexposition: 85 dB A 88 dB A 91 dB A 94 dB A 97 dB A 100 dB A 103 dB A 106 dB A 109 dB A 112 dB A 115 dB A 118 dB A 121 dB A 8h 4h 2h 1h 30 min 15 min 7 ½ min ~4 min ~2 min ~1 min 30 sek 15 sek ~7 sek Faktoren zur Ausbildung eines Lärmschadens ♦ Schallpegel - unterhalb von 80-85 dBHL kein Lärmschaden - oberhalb 120 dBHL schon nach kurzer Einwirkzeit ♦ Frequenzzusammensetzung - hohe Frequenzen (1 – 4 kHz) besonders wirksam ♦ Impulshaltigkeit - stärkere Schädigung als die Schallenergieprognose annehmen lässt ♦ Dauer der Schalleinwirkung - je länger Lärm einwirkt, desto ehr tritt eine Schädigung ein, bei hohen Frequenzen (1 – 4 kHz) zuerst Anteil von Beschäftigten die nach langjähriger Arbeit im Lärm an einer Innenohrschwerhörigkeit leiden L [dB A] >5a > 10 a > 20 a 80 0% 0% 0% 90 4% 10% 16% 100 12% 29% 42% 110 26% 55% 78% Durchschnittliche Schallpegel & sichere Hördauer zum Schutz vor Innenohrschäden Sichere Hördauer: Sichere Hördauer 15 min 15 min 1h 8h 1h >> 8 h 2h 2h >> 8 h >> 8 h 8h 8h 2h 2h 1h 1h 0,1 s 0,8 s 7s 2 min 15 min 1h 2h 8h unbegrenzt Schallimpulse Waffe Messpunkt Spitzenschalldruckpegel [dB SPL] Wirkzeit [ms] kritische Wirkzeit [ms] G3 Ohr des Schützen 161 0,96 0,72 MG3 Ohr des Schützen 156 4,88 2,3 MP2 Ohr des Schützen 154 0,39 3,6 Handgranate 12 m vom Zerlegepunkt 148 7,2 14 Feldhaubitze 25 m hinter der Waffe 168 9,4 0,14 Panzerhaubitze 23 m hinter der Waffe 166 7,0 0,23 Mörser Ladeschütze 184 1,6 0,004 Panzer Leo I 10 m seitlich der Mündung 177 5,0 0,018 Krankheitsbilder bei akustischem Trauma ♦ Explosionstrauma - Sehr hoher Pegel >> 120 dB HL, sehr kurze Expositionszeit ~ms - Trommelfell - Mittelohr (Druckwelle) - Innenohr ♦ Knalltrauma - Sehr hoher Pegel >> 120 dB HL, sehr kurze Expositionszeit ~ms - Innenohr ♦ Akutes Lärmtrauma - Sehr hoher Pegel > 120 dB HL, kurz Expositionszeit > 7 sek - Innenohr ♦ Chronische Lärmschwerhörigkeit - Hoher Pegel > 85 dB HL, lange Expositionszeit > 8 h - Innenohr Lärmschädigung im Innenohr ♦ ♦ Direkte mechanische Zerstörung 1. 2. Metabolische Überlastung 1. 2. 3. 4. ♦ Stereocilienzerstörung Zelldeformation Freisetzung freier Radikale Störung des Ionenhaushalts und der Enzymkonzentration in den Haarzellen Störung der Stria vaskularis und des Ionenhaushalts der Endolymphe überhohe Transmitterkonzentration, Excitotoxizität Apoptose / Nekrose 1. 2. Haarzellverlust Verlust an Nervenfasern im Ganglion spirale Lärmschwerhörigkeit ♦ TTS: Temporal Threshold Shift - Reversible Schädigung, bis zu einem Hörverlust von ca. 50 dB HL - Veränderungen der Basilarmembran-Stützzellen - Zeitweise Entkoppelung der Haarzellen von der Tektorialmembran - Reversible synaptische Schäden ♦ PTS: Permanent Threshold Shift - Irreversible Schädigung - Haarzell- und Nervenuntergang Chronisches Lärmtrauma: Haarzellverlust und Untergang von Nervenfasern fortgeschrittener Haarzellverlust gesundes Innenohr moderater Haarzellverlust totaler Haarzellverlust TTS durch Excitotoxizität Zellschädigung durch toxische Transmitter-Konzentration bei hoher Schallbelastung. Synaptische Plastizität bei TTS Protektion durch GABAAntagonisten aus: Yasuya Nomura, Morphological Aspects of Inner Ear Disease, Springer Verlag 2014 Mittlere Altersschwerhörigkeit Frauen Mittlere Altersschwerhörigkeit Männer Lärmschwerhörigkeiten im Tonaudiogramm dB HL" 0" Fortschreitende Lärmschwerhörigkeit: von Hochtonsenke bei ca. 4 kHz bis Tiefton-Restgehör nach kontinuierlicher Lärmbelastung 20" 40" 60" Knalltrauma: Hochtonsteilabfall 80" 100" 120" 125" 250" 500" 1K" 2K" 4K" 8K" Protektion ♦ Lärm vermeiden - Emission verringern, Schalldämmung - Immission verringern, Gehörschutz - Ruhephasen zur Erholung ♦ Radikalenfänger - - systematisch lokal, Diffusion durch rundes Fenster ♦ Apoptose blockieren (Laborstadium) ♦ genetische Disposition erkennen (unausgereift) Therapie ♦ akute Lärmschädigung - - - - - Durchblutungsförderung antiödematöse Therapie (Prednison / Prednisolon) Antioxidans (α-Liponsäure) Membranstabilisierung (Magnesium) Ruhe, Entspannung ♦ chronische Lärmschädigung - Hörgeräte ♦ terminale, hochgradige Schädigung Hörschwellen > 90 dB HL ab 1 KHz - Cochlear Implant