Ralf Simon Die Bildlichkeit des lyrischen Textes Ralf Simon Die Bildlichkeit des lyrischen Textes Studien zu Hölderlin, Brentano, Eichendorff, Heine, Mörike, George und Rilke Wilhelm Fink Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. Alle Rechte, auch die des auszugsweisen Nachdrucks, der fotomechanischen Wiedergabe und der Übersetzung, vorbehalten. Dies betrifft auch die Vervielfältigung und Übertragung einzelner Textabschnitte, Zeichnungen oder Bilder durch alle Verfahren wie Speicherung und Übertragung auf Papier, Transparente, Filme, Bänder, Platten und andere Medien, soweit es nicht §§ 53 und 54 UrhG ausdrücklich gestatten. © 2011 Wilhelm Fink Verlag, München (Wilhelm Fink GmbH & Co. Verlags-KG, Jühenplatz 1, D-33098 Paderborn) Internet: www.fink.de Einbandgestaltung: Evelyn Ziegler, München Printed in Germany Herstellung: Ferdinand Schöningh GmbH & Co. KG, Paderborn E-Book ISBN 978-3-8467-5096-4 ISBN der Printausgabe 978-3-7705-5096-8 INHALTSVERZEICHNIS VORWORT ................................................................................................. 9 ERSTER TEIL: THEORIEBAUSTEINE ....................................................... 11 Eine definitorische Apodiktik: Die Zeige-Sprech-Szene ............................ 11 Poesie als Rede in Bildern (Ansätze zur Rekonstruktion eines Topos) ...... 15 Nichtvisuelle Bildlichkeit: Wie unterscheidet man Sichtbarkeit und Bildlichkeit? ............................................................................................ Bild und Unterscheidung ................................................................. Urszene der Bildkritik ...................................................................... Bild und Bildträger ........................................................................... Bild und Sprache .............................................................................. Rhetorik: Handlungstheorie des Lyrischen ................................................. Fragestellung, Thesenbildung .......................................................... Tropologie und Figurenlehre der Handlung. Anthropologische Annäherung an die Rhetorik über den Handlungsbegriff ............ Handlungstheoretisches Lexikon ..................................................... 1. Handlung als verkehrte Abfolge, Negationsverfahren ....... 2. Handlung aus der Perspektive theatralisierender Beobachtung ....................................................................... 3. Amplifikation: Verlangsamung von Handlung durch Binnendifferenzierung oder Abschweifung ........................ 4. Handlungsmarkierung ........................................................ 5. Handlungsverkürzung ........................................................ 6. Eine Handlung ersetzen oder verschieben, etwas anderes tun ................................................................ 7. Bezug auf den ausführenden Akteur einer Handlung ......... 8. Applikation ......................................................................... Resümee: Handlungstheorie des Lyrischen ..................................... 23 23 25 26 29 31 31 35 39 42 43 45 47 48 49 51 52 53 6 INHALTSVERZEICHNIS ZWEITER TEIL: LEKTÜREN ..................................................................... 57 Hölderlin. Die Handlung des Geistes und das bebende Bild der Geschichte ................................................................................. 57 Die Handlungsweise des Geistes (Heidelberg) ................................ 58 Hölderlin. Die Intelligibilität des Weltbildes .............................................. Gedächtnis ....................................................................................... Erhabenheit / Weltbild ..................................................................... Zeitbild ............................................................................................. Mnemosyne ...................................................................................... Das poetische Bild am Ort der Philosophie ..................................... 69 69 71 75 80 89 Brentano. Der ikonische Grund der Zirkulation (Lore Lay) ....................... Lore Lay: Von der narratio über die absolute Metapher zur argumentatio .......................................................................... Der Jäger an den Hirten: Paradoxierung des Bildes als dessen Steigerung ................................................................... Zirkulation als Gabe (Im Wetter auf der Heimfahrt) ....................... Der Name des Wortes, Summation: O Stern und Blume ................. Zyklus und Zirkulation .................................................................... Brentanos rhetorisches Handlungsskript und Gestischwerden der argumentatio ................................................ Der ikonische Grund der Zirkulation ............................................... 93 Eichendorff. Der Baum der Sprache (Lorelay) ........................................... Waldesgespräch (Lorelay) ............................................................... Eichendorffs Nichtbilder und die différance .................................... Eichendorffs Bild: Der Baum der Sprache ....................................... Eichendorffs lyrische Metasprache .................................................. Heine. Kahnfahrt mit Hegel. Eine bildpolitische Passage der Philosophie (Lore-Ley) ................. Das Datum eines Falschlesens (15.2.1851) ...................................... Der anagrammatische Name des Gesangs: Lore Lay / Lorelei / Lore-Ley ...................................................... Eine romantische Kahnfahrt in die jüdische Tiefenidentität ............ Eine Austreibung des Christentums ................................................. Eine Austreibung Hegels ................................................................. Romanzero: Am Nullpunkt einer Triadennarration (Roman Zero) .. Interpretation und ästhetische Theorie ............................................. 94 101 106 123 131 144 151 155 155 158 161 167 171 172 174 176 178 182 183 185 Mörike. Die poetische Szene und die Dissemination ihrer Ikonik ............. 189 Peregrina I – Blick versus Text ....................................................... 191 INHALTSVERZEICHNIS 7 Peregrina – Die Szene der absoluten Liebe ..................................... 193 Das Schema der Vermeidung der zentralen Szene ........................... 198 Nachträglichkeit (Die schöne Buche) ............................................... 203 George. Das Wasser, das Wort ................................................................... Diskursive Paradoxien und ihre Unbildlichkeit ............................... Macht ............................................................................................... Die Lieder: Jenseits der Macht? ....................................................... Der anikonische Grund .................................................................... 211 212 217 218 227 George. Die verschwindenden Bilder der Erhabenheit (Hymnen) .............. Negationsbewegungen: Die Rahmengedichte der Hymnen ............. Antihymnische Hymnik ................................................................... Hymne im 19. Jahrhundert ............................................................... Panorama der Erhabenheitsdiskussion im 19. Jahrhundert .............. Erhabenheit und Komik .......................................................... Historischer Index der Erhabenheit ........................................ Die Erhabenheit des Kleinen .................................................. Das Schön-Erhabene .............................................................. Erhabenheit als Matrix der modernen Kunst: das Unsinnliche (mit einem Exkurs zum Erhabenen der Musik) .................. Im Rahmen: Die Gedichte der Hymnen ........................................... 231 231 242 244 246 247 250 251 254 George. Erstarrte Bilder: Prosopopöie und Erblicktwerden (Algabal) ....... Deixis und Prosopopöie / Blick und Sprache ................................... Im Unterreich: Konstitution der lyrischen Stimme aus Blick und Prosopopöie ........................................................................... Tage: Narrativwerden und Unterwanderung des Narrativen ........... Die Andenken: Das Erstarren der Reflexion .................................... Der Grund: Die vergebens ersuchte Responsivität .......................... 275 275 257 261 280 284 288 290 George. Zwei Gedichte aus dem Jahr der Seele ......................................... 295 DRITTER TEIL: CHIASMUS ...................................................................... 305 Dinge / Sammeln: Rilke / Benjamin (Dinggedicht) .................................... Dinggedicht, Dingbegriff, Bildbegriff, Chiasmus ............................ Dingbegriff ....................................................................................... Sammlungsbegriff ............................................................................ Bestimmung des Dinges, sofern es die Sammlung sprengt .............. Bestimmung der Sammlung, sofern sie die Dinge entwertet ........... Chiasmus: Dinge / Sammeln ............................................................ Genese und Poetik des Dingbegriffs (Baudelaire, Marx, Adorno) .. 305 305 313 320 330 333 335 336 8 INHALTSVERZEICHNIS Rilke: Dinggedicht ........................................................................... Lektüren (Rilke) ............................................................................... Rilkes Bildkritik: Über das Bild hinaus ........................................... Benjamin: Eine literarische Philosophie der Sammlung .................. Benjamin: Dingbegriff und Surrealismus ........................................ Verdinglichung, Pornographie, Verausgabung, Überschreitung (Bataille, Rilke) .................................................. Die Tücke des Objekts ..................................................................... Das komische Dinggedicht (Morgenstern) ...................................... Ding und Bild / Sammlung und Gedächtnis .................................... 342 347 357 365 369 Chiasmus und semiotisches Viereck ........................................................... Chiasmus: Positionsfigur und Negation (Rhetorik) ......................... Das logische Quadrat (Syllogistik) .................................................. Das semiotische Viereck (Greimas) ................................................. Negation und Ikonizität (Bildtheorie) .............................................. Rilke, Der Leser ............................................................................... Zeige-Sprech-Szene als Chiasmus (Bildtheorie) ............................. 401 401 403 404 408 410 420 374 382 390 396 Bibliographie .............................................................................................. 423 VORWORT Das vorliegende Buch versteht sich als exegetische Ergänzung eines theoretischen Diskurses und als Versuch, diesen einzulösen. Der Verfasser hat 2009 eine Monographie zur bildkritischen Verfasstheit der Dichtung vorgelegt. Die dort in enger theoretischer Begriffsarbeit vorgebrachte These, dass der poetische Text Bildkritik sei, wird hier nun in Auseinandersetzung mit Gedichten durchgeführt. Im Zentrum der Überlegungen stehen Interpretationen: zuweilen detaillierte Meditationen der Texte, zuweilen auch exemplarische, auf Theoreme hin angelegte Lektüren. Im ersten Teil des Buches finden sich Überlegungen zum Bildbegriff, zur ikonisch reinterpretierten Linguistik der poetischen Textur und zur bildtheoretisch gewendeten Rhetorik. Der zweite Teil besteht aus einzelnen Studien, die zum Teil schon als Aufsätze veröffentlicht wurden, hier aber insgesamt überarbeitet, vereinheitlicht und ergänzt worden sind. Es finden sich verschiedene Argumentationsstränge, so zum Beispiel eine Auseinandersetzung mit dem Erhabenheitsbegriff (Hölderlin, George) und ein Versuch, zur romantischen Lyrik einen Zugang über die Lorelay-Gedichte von Brentano, Heine und Eichendorff zu gewinnen. Die Gedichtanalysen folgen in verschiedenen Schwerpunktsetzungen einmal einer stark rhetorisierten Terminologie, ein andermal einem Bezug zu philosophischen Debatten und schließlich durchgängig den Begriffsvorkehrungen des erwähnten Vorgängerbuches (Simon 2009). Immer ist der Fokus aber auf die Bestimmung der lyrischen Bildlichkeit in ihrer Auszeichnung, Bildkritik zu sein, gelegt. Der letzte Teil wurde neu geschrieben. Er verfolgt das Ziel, eine in den vorangehenden Exegesen immer wieder auftauchende Figur zur verstehen: Der Chiasmus wird als Masterfigur der Bildtheorie bezeichnet. Um einen Zugang zu finden, wird zunächst ein Umweg vorgeschlagen. Die Konstellation Dinge / Sammeln, die mit den beiden Œuvres von Rilke und Benjamin zusammengebracht wird, wird als Chiasmus aufgefaltet. Damit ist zum ersten Mal das Rilkesche Dinggedicht aus einem Benjaminschen Kontext heraus gelesen. Zugleich führt aber die Ding-Thematik auf Wege, die für die Rilke-Forschung ungewohnt sind und bestimmt auch strittig sein werden: auf die Komik der Dinge und auf die Pornographie. Diese Sachverhalte werden dann abschlie- 10 VORWORT ßend aufgenommen, um eine Theorie des Chiasmus, in Auseinandersetzung mit dem logischen Quadrat und der damit implizierten Bedeutungstheorie, zu entwerfen. Mit großer Energie haben Danielle Schwab und Nicolas von Passavant Korrektur gelesen. Die Basler Bildkritik gab den Anstoß dafür, als Literaturwissenschaftler das riskante Projekt einer Texttheorie des Bildes in Angriff zu nehmen. Freilich, der Eigensinn des Literaturwissenschaftlers, weiterhin Texte lesen und Visualität als textuelle Latenz verstehen zu wollen, führte dann auch dazu, die Impulse des Bilddenkens vehement der Wissenschaft vom Buchstäblichen (Literaturwissenschaft) wiederum zuzuführen. Ralf Simon Basel, im Juli 2010 ERSTER TEIL: THEORIEBAUSTEINE EINE DEFINITORISCHE APODIKTIK: DIE ZEIGE-SPRECH-SZENE 1. 2. 3. 4. 5. 1 Gemälde sind keine Bilder. Gemälde sind materielle Gegenstände. Gemälde geben Bilder zu sehen. Dieses Geben ist zu bedenken, in einer Topologik der Gabe: Die Gabe des Gemäldes ist das Bild. Wenn Ego anhand eines Gemäldes ein Bild sieht, entsteht für Ego die erkenntnistheoretische Problematik, ob Alter dasselbe Bild sieht. Indem Ego und Alter anlässlich eines Gemäldes über das Bild reden, dabei auf das Gemälde zeigen, aber dies tun, um das Bild zu meinen, entsteht eine Verschränkung von Sagen, Meinen und Zeigen. Gemeint ist das Bild als eine nichtmaterielle Entität, welches eben deshalb im Sprechen expliziert wird, während paradoxerweise das Zeigen auf das Gemälde weist, welches aber als solches nicht gemeint ist. Ich nenne diese intersubjektive Szene der Verhandlung mit ihrem impliziten paradoxen Gefüge Zeige-Sprech-Szene. Daran beteiligt sind mehrere Positionen: Ego, Alter, das gemeinsam Gemeinte, der äußere Anlass (welcher ein materialisiertes Bild sein kann). Die Szene hat also die formale Struktur einer triadischen Semiose. Die Positionen von Ego, Alter und dem gemeinten Bild können auch subjektsintern gedacht werden: als Verhandlung einer Wahrnehmung mit dem generalisierten Wissen (Humboldts ›innere Rede‹ 1 oder bei Mead: ›I und me‹ 2). In diesem Sinne Die innere Selbsttätigkeit, die zum Verstehen notwendig ist, erfolgt nach Humboldt aus eigener, innerer Kraft, deren Genese zwar aus der nur gesellschaftlich zu denkenden Entwicklung der Sprache begriffen werden kann, die jedoch in abgeschlossener Einsamkeit bei jedem Einzelnen als Sprechen zu sich selbst, als stillschweigende Versetzung des Subjekts zum zurückkehrenden Objektiven gedacht werden muss (Formulierungen folgen Humboldt W: III, 428430). Somit ist Verstehen ein Reden zu sich selbst, welches die Relation zum Objekt und den Bezug zum anderen Subjekt in sich hineingenommen hat, so dass die subjektive Tätigkeit im 12 6. 7. 8. THEORIEBAUSTEINE kann von einer realen und von einer internen Intersubjektivität gesprochen werden. Ich nenne das aus der Gesamtheit dieser intersubjektiven Zeige-SprechSzene Resultierende Bild. Das Bild ist ein eidetischer Gegenstand im gemeinsam geteilten Zwischen der Verhandlung. (Insofern war der Umweg über das Gemälde nur eine maieutische Schleife). Da die Materialisierung der Anstoß für die triadische Semiose der Bildkonstitution ist, kann man danach fragen, welche Materialisierungsbedingungen die poetische Sprache für ihre Bilder kennt. Da die Sprache diskret, unterscheidend und ebenendistinkt prozediert, besteht ihre Einheit in dem, was man traditionell Zeichen nennt. Zeichen kann man die folgenden Einheiten nennen: Wort, Satz oder Syntagma, Sequenz zwischen Satz und Text, Gesamttext. Diesen Zeicheneinheiten entsprechen: Ort, Situation, Szene, System. Wort Satz Sequenz Text Ort Situation Szene Handlung als System 9. Zu fragen ist, 9.1. wie sich das Wort als Ort ikonisch denken lässt, 9.2. wie sich der Satz oder das Syntagma (z.B. die Verszeile als syntagmatische Größe unterhalb des Satzes) als der Entwurf einer Situation ikonisch denken lassen, 9.3. wie sich die Sequenz mehrerer Sätze als Szene ikonisch denken lässt, 9.4. wie sich der Text als System ikonisch denken lässt. 10. Es ist zu vermuten, dass die Positionen 9.2. und 9.3. bildaffirmativ und die Positionen 9.1. und 9.4. bildkritisch sein werden. Der poetische Text als Bildkritik erzeugt (ikonische Poiesis) und unterwandert (Bildkritik) seine Bildlichkeit. Er ist tendenziell dort bildaffirmativ, wo er satzorientiert eine Situation oder Szene entwirft, und er ist tendenziell dort bildkritisch, wo er die Bildeinheiten zerlegt (Wort, Buchstaben) oder durch Rekursionen reflektiert (Text). 11. Die Poesie ist eine Sprachverwendung, in der die Zeichen zusätzlich zu ihren semantischen Funktionalitäten auch im Modus der ikonischen Ma- 2 Denken ein Objekt bildet (Humboldt W: III, 428), ohne deshalb solipsistisch konzipiert zu sein. Nach Mead, der den Humboldtschen Gedanken unter den Prämissen einer behavioristischen Soziologie wiederholt, kommuniziert das Ich mit einer subjektsinternen Instanz (›me‹), welche die Haltungen der anderen als habitualisierte Formation darstellt (Mead 1973: 218). Somit ist die Auseinandersetzung mit dem Objektiven immer schon eine intersubjektive – eine zwischen ›Ich‹ und der ebenfalls ichhaften Repräsentanz der Anderen im Subjekt. ZEIGE-SPRECH-SZENE 13 nifestationen erscheinen. Dieses Erscheinen bildet die Äquivalenzprinzipien des Poetischen bildlich um. Die sprachlichen Verfahren der Wortund der Satzbildung, die Lautgestalt der Rede und die Anagrammatik der Schrift, die Tropen und Figuren der Rhetorik und die Schriftbildlichkeit werden in der Dichtung syntagmatisch horizontalisiert und kommen auf diese Weise im thematischen Kontinuum des poetischen Textes zur Darstellung. 3 12. Indem die Poesie ihre kommunikativen Rahmenbedingungen in ihre Selbstreferenz hineinzieht, poetisiert sie die sprachlichen Funktionen. Diese Grammatik des poetischen Systems zeigt sich deshalb in ikonisierter Form, weil die sprachlichen Funktionen als poetisch dargestellter Inhalt erscheinen. Als poetische Metasprache (immanente Poetik) stellt die Poesie ihre eigenen Regularitäten poetisch dar: poetische Konativität (der poesieintern imaginierte Empfänger), poetische Emotivität (der poesieintern imaginierte Sender), poetische Referentialität (Fiktionalität), poetische Phatik (die poesieintern imaginierte Medialität). Die zwölf Grundannahmen bilden den argumentativen Hintergrund für die Gedichtinterpretationen. Die äußerst voraussetzungsreichen Theoreme sollen hier nicht erneut von Grund auf entwickelt werden. 4 Gleichwohl mag eine kleinere und weniger anspruchsvolle Hinführung zu der Thesenlage angemessen sein. Das folgende Kapitel entwickelt deshalb die zentrale Bestimmung, Poesie sei bildliches Reden, in einer knappen historischen Skizze. Hier wird die poetische Bildlichkeit als nicht-sichtbare und zugleich als nicht-innerliche Bildlichkeit verstanden. Dass die Wirklichkeit der Poesie (also: ihre Bilder) zunächst im Text aufzusuchen ist und nicht primär in der Rezeption, ist ein im literaturwissenschaftlichen Diskurs anerkanntes Theorem. Dass man aber etwas, dem man Nichtsichtbarkeit zudenkt, Bild nennen kann, ist nicht sogleich evident. Die allgemeine Möglichkeit, den Terminus Bild vom Dispositiv der Sichtbarkeit zu lösen, wird daher in den beiden folgenden Kapiteln zur Rekonstruktion des Topos von der Poesie als Rede in Bildern und der Unterscheidung von Sichtbarkeit und Bildlichkeit umrissen. Die Handlungstheorie des Lyrischen (abschließendes Kapitel des ersten Teils) bewegt sich sodann spezifischer auf den Gegenstand des Buches zu. Hier wird versucht, die Rhetorik im Rahmen einer Bildtheorie zu denken und daraus eine für die Lyrikinterpretation relevante ikonisierte Tropen- und Figurenlehre zu gewinnen. Das vorliegende Buch benutzt also ein bestimmtes Ensemble von bildtheoretischen Verfahrensweisen. Die Ikonisierung der linguistischen Funktionseinheiten (s. hier Position 8 und 9), der Grundgedanke, dass die Poesie ihre ei3 4 Vgl. zur ausführlichen Begründung dieser argumentativen Sequenz: Simon 2009: 184-190, bes. 188 und 244f. Siehe dazu: Simon 2009. 14 THEORIEBAUSTEINE gene Diskursgrammatik ikonisch inszeniert und die handlungstheoretisch zur Anschaulichkeit gebrachte Rhetorik: Dies sind die Bausteine, deren theoretische Fundierung mit ihrer exegetischen Einlösung verbunden werden sollen. Hinzu kommt ein spekulativer Gedanke: Die Bildlichkeit der Poesie wiederholt eine Ursprungskonstellation, in der sich die Sprache am Visuellen ausrichtet, so dass die ursprüngliche Verbundenheit von Bildlichkeit und Sprache eine Wiederkehr in der ikonischen Poiesis der Poesie erfährt. 5 Dieser Gedanke wird in den verschiedenen argumentativen Feldern durchgeführt. Die textuelle Wiederkehr der Handlungspraxis bildet im Rahmen einer handlungstheoretisch interpretierten Rhetorik ikonisierte Schematisierungen. Und: Die Wiederkehr der von der Philosophie ausgeschlossenen Bilddebatte führt in der Lyrik zu einer bildlichen Sprache und in der Poetik zu Ansätzen sprachlicher Bildtheorien. Diese mehrfach gestaffelte Figur der Wiederkehr wird in diesem Buch in eine Interpretationspraxis überführt, welche Bildkritik, Rhetorik des Ikonischen, philosophierelevante Bildbegriffe und close readings zusammenführt. Die zu den Lektüren der Gedichte hinführende Einleitung wird also zunächst den Topos von der Poesie als bildlicher Rede rekonstruieren, dann die Möglichkeit eines von der Sichtbarkeit losgelösten Bildbegriffs erörtern und schließlich die angedeutete rhetorische Handlungstheorie ausführen. 5 Vgl. zur ausführlichen Begründung dieses Gedankens: Simon 2009. POESIE ALS REDE IN BILDERN (ANSÄTZE ZUR REKONSTRUKTION EINES TOPOS) Als Heinrich Heine, Shakespeare zitierend und dabei ein Schlachtross zum Musenpferd befördernd, 6 die Inspiration herbeisehnt, wünscht er sich ein Bild: Ein Bild! Ein Bild! Mein Pferd für’n gutes Bild! 7 Das Begehren des Gedichts, in dem sich der Vers findet, geht nicht auf ein Gemälde. Es wünscht sich ein Bild, dessen einzig möglicher Ort derjenige der Sprache ist. Und es wünscht sich damit nichts Fremdes, sondern vielmehr das Eigenste, das Hervortreten der poetischen Bildlichkeit aus der Sprache, als Sprache. Dieses Bild will nicht gemalt oder gezeichnet sein. Ob es als inneres Bild imaginiert sein will, sei dahingestellt. Sicher ist, dass es geschrieben sein und als Schrift existieren soll. Heine befindet sich mit der Selbstverständlichkeit, eine nichtvisuelle Emergenz des lyrischen Textes Bild zu nennen, in guter Gesellschaft. Etwa zeitgleich formuliert Hegel in seinen Vorlesungen zur Ästhetik: Im allgemeinen können wir das dichterische Vorstellen als bildlich bezeichnen, insofern es statt des abstrakten Wesens die konkrete Wirklichkeit desselben, statt der zufälligen Existenz eine solche Erscheinung vor Augen führt, in welcher wir unmittelbar durch das Äußere selbst und dessen Individualität ungetrennt davon das Substantielle erkennen und somit den Begriff der Sache wie deren Dasein als ein und dieselbe Totalität im Inneren der Vorstellung vor uns haben. 8 Hegel setzt das Eigentümliche der Poesie in ihre Bildlichkeit. In seiner Inhaltsästhetik wird als der Ort der Bilder nicht der Text, sondern die Vorstellung bestimmt. Konsultiert man nicht die wirkmächtige Hothosche Edition der Ästhetik, sondern eine der jüngst publizierten und verlässlicheren Mitschriften von Hegels Vorlesung, dann wird deutlich, dass die Bildlichkeit der Poesie deshalb so betont wird, weil dadurch ihre Objektivität gewährleistet ist. 9 Weil die Poesie in Hegels Systematik die höchste der Künste ist und in dieser Rolle Musik und bildende Künste in sich vereint, muss sie neben dem musikalischen Nacheinander auch das ikonische Nebeneinander gewährleisten können. 10 Als 6 7 8 9 10 »A horse! a horse! my kingdome for a horse!« (Shakespeare, Richard III, V / 4). Heine SWD: II, 65. Hegel Ästhetik: III, 276. »Ob wir ein Dichtwerk hören oder sehen ist gleichgültig, Die Vorstellung ist das eigentliche Element, durch welches die Sache uns objektiv wird« (Vorlesungen über die Philosophie der Kunst, vgl. Hegel 2003: 272). »Die redende Kunst somit ist das dritte zur bildenden und zur tönenden. Sie enthält den Ton, das Subjektive, das Prinzip des sich selbst Vernehmens. Die Skulpturbilder vernehmen sich