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Ralf Simon
Die Bildlichkeit des lyrischen Textes
Ralf Simon
Die Bildlichkeit
des lyrischen Textes
Studien zu Hölderlin, Brentano, Eichendorff,
Heine, Mörike, George und Rilke
Wilhelm Fink
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© 2011 Wilhelm Fink Verlag, München
(Wilhelm Fink GmbH & Co. Verlags-KG, Jühenplatz 1, D-33098 Paderborn)
Internet: www.fink.de
Einbandgestaltung: Evelyn Ziegler, München
Printed in Germany
Herstellung: Ferdinand Schöningh GmbH & Co. KG, Paderborn
E-Book ISBN 978-3-8467-5096-4
ISBN der Printausgabe 978-3-7705-5096-8
INHALTSVERZEICHNIS
VORWORT .................................................................................................
9
ERSTER TEIL: THEORIEBAUSTEINE ....................................................... 11
Eine definitorische Apodiktik: Die Zeige-Sprech-Szene ............................ 11
Poesie als Rede in Bildern (Ansätze zur Rekonstruktion eines Topos) ...... 15
Nichtvisuelle Bildlichkeit: Wie unterscheidet man Sichtbarkeit und
Bildlichkeit? ............................................................................................
Bild und Unterscheidung .................................................................
Urszene der Bildkritik ......................................................................
Bild und Bildträger ...........................................................................
Bild und Sprache ..............................................................................
Rhetorik: Handlungstheorie des Lyrischen .................................................
Fragestellung, Thesenbildung ..........................................................
Tropologie und Figurenlehre der Handlung. Anthropologische
Annäherung an die Rhetorik über den Handlungsbegriff ............
Handlungstheoretisches Lexikon .....................................................
1. Handlung als verkehrte Abfolge, Negationsverfahren .......
2. Handlung aus der Perspektive theatralisierender
Beobachtung .......................................................................
3. Amplifikation: Verlangsamung von Handlung durch
Binnendifferenzierung oder Abschweifung ........................
4. Handlungsmarkierung ........................................................
5. Handlungsverkürzung ........................................................
6. Eine Handlung ersetzen oder verschieben,
etwas anderes tun ................................................................
7. Bezug auf den ausführenden Akteur einer Handlung .........
8. Applikation .........................................................................
Resümee: Handlungstheorie des Lyrischen .....................................
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31
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51
52
53
6
INHALTSVERZEICHNIS
ZWEITER TEIL: LEKTÜREN ..................................................................... 57
Hölderlin. Die Handlung des Geistes und das bebende
Bild der Geschichte ................................................................................. 57
Die Handlungsweise des Geistes (Heidelberg) ................................ 58
Hölderlin. Die Intelligibilität des Weltbildes ..............................................
Gedächtnis .......................................................................................
Erhabenheit / Weltbild .....................................................................
Zeitbild .............................................................................................
Mnemosyne ......................................................................................
Das poetische Bild am Ort der Philosophie .....................................
69
69
71
75
80
89
Brentano. Der ikonische Grund der Zirkulation (Lore Lay) .......................
Lore Lay: Von der narratio über die absolute Metapher
zur argumentatio ..........................................................................
Der Jäger an den Hirten: Paradoxierung des Bildes
als dessen Steigerung ...................................................................
Zirkulation als Gabe (Im Wetter auf der Heimfahrt) .......................
Der Name des Wortes, Summation: O Stern und Blume .................
Zyklus und Zirkulation ....................................................................
Brentanos rhetorisches Handlungsskript und
Gestischwerden der argumentatio ................................................
Der ikonische Grund der Zirkulation ...............................................
93
Eichendorff. Der Baum der Sprache (Lorelay) ...........................................
Waldesgespräch (Lorelay) ...............................................................
Eichendorffs Nichtbilder und die différance ....................................
Eichendorffs Bild: Der Baum der Sprache .......................................
Eichendorffs lyrische Metasprache ..................................................
Heine. Kahnfahrt mit Hegel.
Eine bildpolitische Passage der Philosophie (Lore-Ley) .................
Das Datum eines Falschlesens (15.2.1851) ......................................
Der anagrammatische Name des Gesangs:
Lore Lay / Lorelei / Lore-Ley ......................................................
Eine romantische Kahnfahrt in die jüdische Tiefenidentität ............
Eine Austreibung des Christentums .................................................
Eine Austreibung Hegels .................................................................
Romanzero: Am Nullpunkt einer Triadennarration (Roman Zero) ..
Interpretation und ästhetische Theorie .............................................
94
101
106
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131
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151
155
155
158
161
167
171
172
174
176
178
182
183
185
Mörike. Die poetische Szene und die Dissemination ihrer Ikonik ............. 189
Peregrina I – Blick versus Text ....................................................... 191
INHALTSVERZEICHNIS
7
Peregrina – Die Szene der absoluten Liebe ..................................... 193
Das Schema der Vermeidung der zentralen Szene ........................... 198
Nachträglichkeit (Die schöne Buche) ............................................... 203
George. Das Wasser, das Wort ...................................................................
Diskursive Paradoxien und ihre Unbildlichkeit ...............................
Macht ...............................................................................................
Die Lieder: Jenseits der Macht? .......................................................
Der anikonische Grund ....................................................................
211
212
217
218
227
George. Die verschwindenden Bilder der Erhabenheit (Hymnen) ..............
Negationsbewegungen: Die Rahmengedichte der Hymnen .............
Antihymnische Hymnik ...................................................................
Hymne im 19. Jahrhundert ...............................................................
Panorama der Erhabenheitsdiskussion im 19. Jahrhundert ..............
Erhabenheit und Komik ..........................................................
Historischer Index der Erhabenheit ........................................
Die Erhabenheit des Kleinen ..................................................
Das Schön-Erhabene ..............................................................
Erhabenheit als Matrix der modernen Kunst: das Unsinnliche
(mit einem Exkurs zum Erhabenen der Musik) ..................
Im Rahmen: Die Gedichte der Hymnen ...........................................
231
231
242
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247
250
251
254
George. Erstarrte Bilder: Prosopopöie und Erblicktwerden (Algabal) .......
Deixis und Prosopopöie / Blick und Sprache ...................................
Im Unterreich: Konstitution der lyrischen Stimme aus Blick
und Prosopopöie ...........................................................................
Tage: Narrativwerden und Unterwanderung des Narrativen ...........
Die Andenken: Das Erstarren der Reflexion ....................................
Der Grund: Die vergebens ersuchte Responsivität ..........................
275
275
257
261
280
284
288
290
George. Zwei Gedichte aus dem Jahr der Seele ......................................... 295
DRITTER TEIL: CHIASMUS ...................................................................... 305
Dinge / Sammeln: Rilke / Benjamin (Dinggedicht) ....................................
Dinggedicht, Dingbegriff, Bildbegriff, Chiasmus ............................
Dingbegriff .......................................................................................
Sammlungsbegriff ............................................................................
Bestimmung des Dinges, sofern es die Sammlung sprengt ..............
Bestimmung der Sammlung, sofern sie die Dinge entwertet ...........
Chiasmus: Dinge / Sammeln ............................................................
Genese und Poetik des Dingbegriffs (Baudelaire, Marx, Adorno) ..
305
305
313
320
330
333
335
336
8
INHALTSVERZEICHNIS
Rilke: Dinggedicht ...........................................................................
Lektüren (Rilke) ...............................................................................
Rilkes Bildkritik: Über das Bild hinaus ...........................................
Benjamin: Eine literarische Philosophie der Sammlung ..................
Benjamin: Dingbegriff und Surrealismus ........................................
Verdinglichung, Pornographie, Verausgabung,
Überschreitung (Bataille, Rilke) ..................................................
Die Tücke des Objekts .....................................................................
Das komische Dinggedicht (Morgenstern) ......................................
Ding und Bild / Sammlung und Gedächtnis ....................................
342
347
357
365
369
Chiasmus und semiotisches Viereck ...........................................................
Chiasmus: Positionsfigur und Negation (Rhetorik) .........................
Das logische Quadrat (Syllogistik) ..................................................
Das semiotische Viereck (Greimas) .................................................
Negation und Ikonizität (Bildtheorie) ..............................................
Rilke, Der Leser ...............................................................................
Zeige-Sprech-Szene als Chiasmus (Bildtheorie) .............................
401
401
403
404
408
410
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374
382
390
396
Bibliographie .............................................................................................. 423
VORWORT
Das vorliegende Buch versteht sich als exegetische Ergänzung eines theoretischen Diskurses und als Versuch, diesen einzulösen. Der Verfasser hat 2009
eine Monographie zur bildkritischen Verfasstheit der Dichtung vorgelegt. Die
dort in enger theoretischer Begriffsarbeit vorgebrachte These, dass der poetische Text Bildkritik sei, wird hier nun in Auseinandersetzung mit Gedichten
durchgeführt. Im Zentrum der Überlegungen stehen Interpretationen: zuweilen
detaillierte Meditationen der Texte, zuweilen auch exemplarische, auf Theoreme hin angelegte Lektüren.
Im ersten Teil des Buches finden sich Überlegungen zum Bildbegriff, zur
ikonisch reinterpretierten Linguistik der poetischen Textur und zur bildtheoretisch gewendeten Rhetorik.
Der zweite Teil besteht aus einzelnen Studien, die zum Teil schon als Aufsätze veröffentlicht wurden, hier aber insgesamt überarbeitet, vereinheitlicht
und ergänzt worden sind. Es finden sich verschiedene Argumentationsstränge,
so zum Beispiel eine Auseinandersetzung mit dem Erhabenheitsbegriff (Hölderlin, George) und ein Versuch, zur romantischen Lyrik einen Zugang über
die Lorelay-Gedichte von Brentano, Heine und Eichendorff zu gewinnen. Die
Gedichtanalysen folgen in verschiedenen Schwerpunktsetzungen einmal einer
stark rhetorisierten Terminologie, ein andermal einem Bezug zu philosophischen Debatten und schließlich durchgängig den Begriffsvorkehrungen des
erwähnten Vorgängerbuches (Simon 2009). Immer ist der Fokus aber auf die
Bestimmung der lyrischen Bildlichkeit in ihrer Auszeichnung, Bildkritik zu
sein, gelegt.
Der letzte Teil wurde neu geschrieben. Er verfolgt das Ziel, eine in den vorangehenden Exegesen immer wieder auftauchende Figur zur verstehen: Der
Chiasmus wird als Masterfigur der Bildtheorie bezeichnet. Um einen Zugang
zu finden, wird zunächst ein Umweg vorgeschlagen. Die Konstellation Dinge / Sammeln, die mit den beiden Œuvres von Rilke und Benjamin zusammengebracht wird, wird als Chiasmus aufgefaltet. Damit ist zum ersten Mal
das Rilkesche Dinggedicht aus einem Benjaminschen Kontext heraus gelesen.
Zugleich führt aber die Ding-Thematik auf Wege, die für die Rilke-Forschung
ungewohnt sind und bestimmt auch strittig sein werden: auf die Komik der
Dinge und auf die Pornographie. Diese Sachverhalte werden dann abschlie-
10
VORWORT
ßend aufgenommen, um eine Theorie des Chiasmus, in Auseinandersetzung
mit dem logischen Quadrat und der damit implizierten Bedeutungstheorie, zu
entwerfen.
Mit großer Energie haben Danielle Schwab und Nicolas von Passavant Korrektur gelesen. Die Basler Bildkritik gab den Anstoß dafür, als Literaturwissenschaftler das riskante Projekt einer Texttheorie des Bildes in Angriff zu
nehmen. Freilich, der Eigensinn des Literaturwissenschaftlers, weiterhin Texte
lesen und Visualität als textuelle Latenz verstehen zu wollen, führte dann auch
dazu, die Impulse des Bilddenkens vehement der Wissenschaft vom Buchstäblichen (Literaturwissenschaft) wiederum zuzuführen.
Ralf Simon
Basel, im Juli 2010
ERSTER TEIL: THEORIEBAUSTEINE
EINE DEFINITORISCHE APODIKTIK:
DIE ZEIGE-SPRECH-SZENE
1.
2.
3.
4.
5.
1
Gemälde sind keine Bilder. Gemälde sind materielle Gegenstände.
Gemälde geben Bilder zu sehen. Dieses Geben ist zu bedenken, in einer
Topologik der Gabe: Die Gabe des Gemäldes ist das Bild.
Wenn Ego anhand eines Gemäldes ein Bild sieht, entsteht für Ego die erkenntnistheoretische Problematik, ob Alter dasselbe Bild sieht.
Indem Ego und Alter anlässlich eines Gemäldes über das Bild reden, dabei auf das Gemälde zeigen, aber dies tun, um das Bild zu meinen, entsteht eine Verschränkung von Sagen, Meinen und Zeigen. Gemeint ist
das Bild als eine nichtmaterielle Entität, welches eben deshalb im Sprechen expliziert wird, während paradoxerweise das Zeigen auf das Gemälde weist, welches aber als solches nicht gemeint ist.
Ich nenne diese intersubjektive Szene der Verhandlung mit ihrem impliziten paradoxen Gefüge Zeige-Sprech-Szene. Daran beteiligt sind mehrere Positionen: Ego, Alter, das gemeinsam Gemeinte, der äußere Anlass
(welcher ein materialisiertes Bild sein kann). Die Szene hat also die formale Struktur einer triadischen Semiose. Die Positionen von Ego, Alter
und dem gemeinten Bild können auch subjektsintern gedacht werden: als
Verhandlung einer Wahrnehmung mit dem generalisierten Wissen
(Humboldts ›innere Rede‹ 1 oder bei Mead: ›I und me‹ 2). In diesem Sinne
Die innere Selbsttätigkeit, die zum Verstehen notwendig ist, erfolgt nach Humboldt aus eigener, innerer Kraft, deren Genese zwar aus der nur gesellschaftlich zu denkenden Entwicklung
der Sprache begriffen werden kann, die jedoch in abgeschlossener Einsamkeit bei jedem Einzelnen als Sprechen zu sich selbst, als stillschweigende Versetzung des Subjekts zum zurückkehrenden Objektiven gedacht werden muss (Formulierungen folgen Humboldt W: III, 428430). Somit ist Verstehen ein Reden zu sich selbst, welches die Relation zum Objekt und den
Bezug zum anderen Subjekt in sich hineingenommen hat, so dass die subjektive Tätigkeit im
12
6.
7.
8.
THEORIEBAUSTEINE
kann von einer realen und von einer internen Intersubjektivität gesprochen werden.
Ich nenne das aus der Gesamtheit dieser intersubjektiven Zeige-SprechSzene Resultierende Bild. Das Bild ist ein eidetischer Gegenstand im
gemeinsam geteilten Zwischen der Verhandlung. (Insofern war der Umweg über das Gemälde nur eine maieutische Schleife).
Da die Materialisierung der Anstoß für die triadische Semiose der Bildkonstitution ist, kann man danach fragen, welche Materialisierungsbedingungen die poetische Sprache für ihre Bilder kennt.
Da die Sprache diskret, unterscheidend und ebenendistinkt prozediert,
besteht ihre Einheit in dem, was man traditionell Zeichen nennt. Zeichen
kann man die folgenden Einheiten nennen: Wort, Satz oder Syntagma,
Sequenz zwischen Satz und Text, Gesamttext. Diesen Zeicheneinheiten
entsprechen: Ort, Situation, Szene, System.
Wort
Satz
Sequenz
Text
Ort
Situation
Szene
Handlung als System
9.
Zu fragen ist,
9.1. wie sich das Wort als Ort ikonisch denken lässt,
9.2. wie sich der Satz oder das Syntagma (z.B. die Verszeile als syntagmatische Größe unterhalb des Satzes) als der Entwurf einer Situation ikonisch denken lassen,
9.3. wie sich die Sequenz mehrerer Sätze als Szene ikonisch denken
lässt,
9.4. wie sich der Text als System ikonisch denken lässt.
10. Es ist zu vermuten, dass die Positionen 9.2. und 9.3. bildaffirmativ und
die Positionen 9.1. und 9.4. bildkritisch sein werden. Der poetische Text
als Bildkritik erzeugt (ikonische Poiesis) und unterwandert (Bildkritik)
seine Bildlichkeit. Er ist tendenziell dort bildaffirmativ, wo er satzorientiert eine Situation oder Szene entwirft, und er ist tendenziell dort bildkritisch, wo er die Bildeinheiten zerlegt (Wort, Buchstaben) oder durch Rekursionen reflektiert (Text).
11. Die Poesie ist eine Sprachverwendung, in der die Zeichen zusätzlich zu
ihren semantischen Funktionalitäten auch im Modus der ikonischen Ma-
2
Denken ein Objekt bildet (Humboldt W: III, 428), ohne deshalb solipsistisch konzipiert zu
sein.
Nach Mead, der den Humboldtschen Gedanken unter den Prämissen einer behavioristischen
Soziologie wiederholt, kommuniziert das Ich mit einer subjektsinternen Instanz (›me‹), welche die Haltungen der anderen als habitualisierte Formation darstellt (Mead 1973: 218). Somit ist die Auseinandersetzung mit dem Objektiven immer schon eine intersubjektive – eine
zwischen ›Ich‹ und der ebenfalls ichhaften Repräsentanz der Anderen im Subjekt.
ZEIGE-SPRECH-SZENE
13
nifestationen erscheinen. Dieses Erscheinen bildet die Äquivalenzprinzipien des Poetischen bildlich um. Die sprachlichen Verfahren der Wortund der Satzbildung, die Lautgestalt der Rede und die Anagrammatik der
Schrift, die Tropen und Figuren der Rhetorik und die Schriftbildlichkeit
werden in der Dichtung syntagmatisch horizontalisiert und kommen auf
diese Weise im thematischen Kontinuum des poetischen Textes zur Darstellung. 3
12. Indem die Poesie ihre kommunikativen Rahmenbedingungen in ihre
Selbstreferenz hineinzieht, poetisiert sie die sprachlichen Funktionen.
Diese Grammatik des poetischen Systems zeigt sich deshalb in ikonisierter Form, weil die sprachlichen Funktionen als poetisch dargestellter
Inhalt erscheinen. Als poetische Metasprache (immanente Poetik) stellt
die Poesie ihre eigenen Regularitäten poetisch dar: poetische Konativität
(der poesieintern imaginierte Empfänger), poetische Emotivität (der poesieintern imaginierte Sender), poetische Referentialität (Fiktionalität),
poetische Phatik (die poesieintern imaginierte Medialität).
Die zwölf Grundannahmen bilden den argumentativen Hintergrund für die
Gedichtinterpretationen. Die äußerst voraussetzungsreichen Theoreme sollen
hier nicht erneut von Grund auf entwickelt werden. 4
Gleichwohl mag eine kleinere und weniger anspruchsvolle Hinführung zu
der Thesenlage angemessen sein. Das folgende Kapitel entwickelt deshalb die
zentrale Bestimmung, Poesie sei bildliches Reden, in einer knappen historischen Skizze. Hier wird die poetische Bildlichkeit als nicht-sichtbare und zugleich als nicht-innerliche Bildlichkeit verstanden. Dass die Wirklichkeit der
Poesie (also: ihre Bilder) zunächst im Text aufzusuchen ist und nicht primär in
der Rezeption, ist ein im literaturwissenschaftlichen Diskurs anerkanntes Theorem. Dass man aber etwas, dem man Nichtsichtbarkeit zudenkt, Bild nennen
kann, ist nicht sogleich evident. Die allgemeine Möglichkeit, den Terminus
Bild vom Dispositiv der Sichtbarkeit zu lösen, wird daher in den beiden folgenden Kapiteln zur Rekonstruktion des Topos von der Poesie als Rede in
Bildern und der Unterscheidung von Sichtbarkeit und Bildlichkeit umrissen.
Die Handlungstheorie des Lyrischen (abschließendes Kapitel des ersten Teils)
bewegt sich sodann spezifischer auf den Gegenstand des Buches zu. Hier wird
versucht, die Rhetorik im Rahmen einer Bildtheorie zu denken und daraus eine für die Lyrikinterpretation relevante ikonisierte Tropen- und Figurenlehre
zu gewinnen.
Das vorliegende Buch benutzt also ein bestimmtes Ensemble von bildtheoretischen Verfahrensweisen. Die Ikonisierung der linguistischen Funktionseinheiten (s. hier Position 8 und 9), der Grundgedanke, dass die Poesie ihre ei3
4
Vgl. zur ausführlichen Begründung dieser argumentativen Sequenz: Simon 2009: 184-190,
bes. 188 und 244f.
Siehe dazu: Simon 2009.
14
THEORIEBAUSTEINE
gene Diskursgrammatik ikonisch inszeniert und die handlungstheoretisch zur
Anschaulichkeit gebrachte Rhetorik: Dies sind die Bausteine, deren theoretische Fundierung mit ihrer exegetischen Einlösung verbunden werden sollen.
Hinzu kommt ein spekulativer Gedanke: Die Bildlichkeit der Poesie wiederholt eine Ursprungskonstellation, in der sich die Sprache am Visuellen ausrichtet, so dass die ursprüngliche Verbundenheit von Bildlichkeit und Sprache
eine Wiederkehr in der ikonischen Poiesis der Poesie erfährt. 5 Dieser Gedanke
wird in den verschiedenen argumentativen Feldern durchgeführt. Die textuelle
Wiederkehr der Handlungspraxis bildet im Rahmen einer handlungstheoretisch interpretierten Rhetorik ikonisierte Schematisierungen. Und: Die Wiederkehr der von der Philosophie ausgeschlossenen Bilddebatte führt in der Lyrik zu einer bildlichen Sprache und in der Poetik zu Ansätzen sprachlicher
Bildtheorien. Diese mehrfach gestaffelte Figur der Wiederkehr wird in diesem
Buch in eine Interpretationspraxis überführt, welche Bildkritik, Rhetorik des
Ikonischen, philosophierelevante Bildbegriffe und close readings zusammenführt.
Die zu den Lektüren der Gedichte hinführende Einleitung wird also zunächst den Topos von der Poesie als bildlicher Rede rekonstruieren, dann die
Möglichkeit eines von der Sichtbarkeit losgelösten Bildbegriffs erörtern und
schließlich die angedeutete rhetorische Handlungstheorie ausführen.
5
Vgl. zur ausführlichen Begründung dieses Gedankens: Simon 2009.
POESIE ALS REDE IN BILDERN
(ANSÄTZE ZUR REKONSTRUKTION EINES TOPOS)
Als Heinrich Heine, Shakespeare zitierend und dabei ein Schlachtross zum
Musenpferd befördernd, 6 die Inspiration herbeisehnt, wünscht er sich ein Bild:
Ein Bild! Ein Bild! Mein Pferd für’n gutes Bild! 7
Das Begehren des Gedichts, in dem sich der Vers findet, geht nicht auf ein
Gemälde. Es wünscht sich ein Bild, dessen einzig möglicher Ort derjenige der
Sprache ist. Und es wünscht sich damit nichts Fremdes, sondern vielmehr das
Eigenste, das Hervortreten der poetischen Bildlichkeit aus der Sprache, als
Sprache. Dieses Bild will nicht gemalt oder gezeichnet sein. Ob es als inneres
Bild imaginiert sein will, sei dahingestellt. Sicher ist, dass es geschrieben sein
und als Schrift existieren soll.
Heine befindet sich mit der Selbstverständlichkeit, eine nichtvisuelle Emergenz des lyrischen Textes Bild zu nennen, in guter Gesellschaft. Etwa zeitgleich formuliert Hegel in seinen Vorlesungen zur Ästhetik:
Im allgemeinen können wir das dichterische Vorstellen als bildlich bezeichnen,
insofern es statt des abstrakten Wesens die konkrete Wirklichkeit desselben, statt
der zufälligen Existenz eine solche Erscheinung vor Augen führt, in welcher wir
unmittelbar durch das Äußere selbst und dessen Individualität ungetrennt davon
das Substantielle erkennen und somit den Begriff der Sache wie deren Dasein als
ein und dieselbe Totalität im Inneren der Vorstellung vor uns haben. 8
Hegel setzt das Eigentümliche der Poesie in ihre Bildlichkeit. In seiner Inhaltsästhetik wird als der Ort der Bilder nicht der Text, sondern die Vorstellung bestimmt. Konsultiert man nicht die wirkmächtige Hothosche Edition der
Ästhetik, sondern eine der jüngst publizierten und verlässlicheren Mitschriften
von Hegels Vorlesung, dann wird deutlich, dass die Bildlichkeit der Poesie
deshalb so betont wird, weil dadurch ihre Objektivität gewährleistet ist. 9 Weil
die Poesie in Hegels Systematik die höchste der Künste ist und in dieser Rolle
Musik und bildende Künste in sich vereint, muss sie neben dem musikalischen
Nacheinander auch das ikonische Nebeneinander gewährleisten können. 10 Als
6
7
8
9
10
»A horse! a horse! my kingdome for a horse!« (Shakespeare, Richard III, V / 4).
Heine SWD: II, 65.
Hegel Ästhetik: III, 276.
»Ob wir ein Dichtwerk hören oder sehen ist gleichgültig, Die Vorstellung ist das eigentliche
Element, durch welches die Sache uns objektiv wird« (Vorlesungen über die Philosophie der
Kunst, vgl. Hegel 2003: 272).
»Die redende Kunst somit ist das dritte zur bildenden und zur tönenden. Sie enthält den Ton,
das Subjektive, das Prinzip des sich selbst Vernehmens. Die Skulpturbilder vernehmen sich
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