THEORIE DES KÜNSTLERISCHEN BILDES ODER BILDLICHKEIT ALS KRITERIUM VON KUNST *(Was aber ist Bildlichkeit?) Am Anfang steht die Überzeugung, dass künstlerische Bildwerke sich von allen anderen Bildern unterscheiden. Aber wie und wodurch, worin sind sie anders? Um diese Frage zu beantworten, wird der Blick auf die zeitgenössische Kunst gerichtet. Sie entzieht sich hartnäckig sowohl dem philosophischen als auch dem kunsthistorischen Urteil. Einzelne Phänomene und Erscheinungen der aktuellen Kunst können mit dem hergebrachten Instrumentarium bis zu einem gewissen Grad analysiert, klassifiziert und beurteilt werden. Die allermeisten fallen aber durch das tradierte Raster. Es gilt, dass zeitgenössische Kunst in jeder Hinsicht schwieriger ist als die bereits kanonisierten Erzeugnisse vergangener Epochen. Die Übersicht über Werke, Kriterien, Präsentationsformen ist verloren gegangen. Es gibt keine handwerkliche Meisterschaft, die beurteilt werden könnte. Auch kann man sich nicht mehr auf verbindliche ideologische, ästhetische und theoretische Kriterien einigen. Überhaupt wird jeder Form von Normativität mit Skepsis begegnet. Von der Warte der Kunst aus ließe sich zugleich über jeden einzelnen Künstler eine eigene Theorie entwickeln. Das wird auch getan in den einschlägigen Medien. Was würde es aber erfordern, diese einzelnen Theorieentwürfe zu größeren Gedankensträngen zusammenzufassen, große und grobe theoretische Linien aus den Überlegungen zum einzelnen Werk/Künstler zu erarbeiten? Kandidaten sind: – eine qualifizierte Rezeption, die ihre Kriterien aus dem traditionellen Fundus der ästhetischen Erfahrung und des ästhetischen Urteils bezieht (Philosophie) – eine kunsthistorisch geschulte Perspektive (Kunstgeschichte) – ein eigenes und eigens geschaffenes Kriterium samt Begründung. Der zuletzt genannte Weg soll hier beschritten werden und dafür wird ein Begriff vorgeschlagen: Bildlichkeit – Bildlichkeit als Kriterium von Kunst. Der vorläufige Name für diesen Zugang heißt Kunsttheorie. Ausschlaggebend ist, dass sie anhand der Werke zeitgenössischer Kunstproduktion entwickelt werden soll. Ergibt sich daraus ein tragfähiges Instrumentarium, sollte sich dieses auch gegenüber historischer Werke bewähren. Was also ist Bildlichkeit? Der Begriff Bildlichkeit findet sich nicht in einschlägigen Lexika und Wörterbüchern. Der Duden schlägt bildliche Beschaffenheit vor und natürlich ist bildlich ein gängiger Begriff. Bildlich heißt – wiederum laut Duden – im Bild, mithilfe von Bildern erfolgend (sei es eine Darstellung, Vorstellung oder Wiedergabe) oder aber, als sprachliches Bild gebraucht, anschaulich. Synonyme sind anschaulich, bildhaft, metaphorisch, figurativ und auch, nicht weiter überraschend, übertragen. 1 Für den vorliegenden Anlass wird das Synonym übertragen ausgewählt. Ein geläufiger Gebrauch des Ausdrucks bildlich, ist übertragen hier mit Bedacht gewählt, er ist entscheidend. Bildlich sprechen, heißt übertragen, in übertragenem Sinne. Der Begriff Bildlichkeit wird gerade im Hinblick auf diese Übertragung gelesen. Was wird übertragen, wie und welchen Anteil hat daran das Bild? Wenn es Übertragung ist, dann geht es sofort auch um das Medium/die Medien. Was, von wo nach wo, wie. Spezifika des jeweiligen Mediums geben Regeln und Grenzen der Übertragung vor (s. z. B. Ekphrasis, Vertonungen, Übersetzungen, Paraphrasen, Abbildungen/Bebilderungen, Veranschaulichungen, Illustrationen, etc.) – aus den letzten Beispielen wird jedoch deutlich, dass nicht jede Übertragung in den Bereich der Bildlichkeit als Kunstkriterium fällt. Was also macht die nur so verstandene Bildlichkeit über die schlichte Übertragung (z.B. von einem Medium in ein anderes) hinaus aus. Es ist keine nur mediale oder formale Übertragung, sondern auch eine des Sinns am Werk. Form kann z.B. erhalten bleiben, während sich der Sinn/Zweck/Gebrauch verändert (s. Duchamp). Die Kunst macht sich dabei eine illusorische oder gefälschte Familienähnlichkeit zunutze. Wie also muss übertragen werden, damit Kunst (und nicht etwa nur Illustration, Übersetzung, Abbildung) entsteht? Antwort: Es muss bildlich übertragen werden. Die These lautet somit: Eine Übertragung entlang eines anderen als des bildlichen Sinns ist keine Kunst. Der bildliche Sinn kann auf zwei Weisen definiert werden: Einerseits als Bildlogik des operationalen Bildes, als Bildgrammatik mit Regelwerk und Gesetzen (Vordergrund/Hintergrund, Kontrast, Rahmen, Abwesenheit der Negation, etc.). In dieser Form wird er methodisch zum Einsatz kommen. Andererseits gilt der bildliche Sinn als Prozess, als Dynamik der Übertragung selbst, als eigenständige kulturelles Phänomen. Weil er Kultur ist und damit niemals nur subjektiv, kommen dem bildlichen Sinn weitere Eigenschaften zu. Er ist: – immanent – eigendynamisch – dysfunktional – selbstreflexiv – relational – synthetisch Noch einmal anders gesagt: Das Kulturelle am bildlichen Sinn ist seine Eigenexistenz jenseits des Subjekts und natürlich seine kulturelle Ritualisierung (Formen der Produktion (Atelier), Präsentation (White Cube, Museum), Rezeption (Kontemplation, Kritik, Diskurs), Institutionen und 2 symbolisches Kapital). Das Anschauliche am bildlichen Sinn ist, wie oben erwähnt, der Anteil bildlogischer Strukturen. Nach diesen Ausführungen lautet also die Behauptung: Kunst ist eine Übertragung entlang des bildlichen Sinns. Das heißt einerseits ein eigendynamischer kultureller Prozess, andererseits eine bildlogische Operation. Was aber ist gute Kunst und was unterscheidet sie von schlechter? Antwort: Gute Kunst erkennt man am Verhältnis, das bildlicher Sinn und Medium/formale Mittel in ihr einnehmen/eingehen. Dadurch wird ein Urteil über Kunst auch wieder möglich. Weil aber Kunst eine Übertragungsleistung ist, und darin im gleichen Maße auch auf Seiten des Rezipienten, gehören Wissen, Bildung und Kultur notwendig zu ihren Rezeptionsbedingungen. Um zu wissen, was und wohin übertragen wurde, mit welchen Mitteln, wie und warum. Das unschuldige Auge ist damit beispielsweise ein physiologisches, unempfänglich für bildlichen Sinn und damit untauglich zur Kunstrezeption und -bewertung. 3