dtv-Lexikon (1988) Ethik [grch. ethos „Sitte“, „Brauch“] die, die

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dtv-Lexikon (1988)
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Ethik [grch. ethos „Sitte“, „Brauch“] die, die philosoph.
Wissenschaft vom Sittlichen, die krit. Untersuchung
seiner Ausprägungen, Voraussetzungen und Prinzipien,
in der aristotel. Tradition mit der Rechts-, Sozial-und
Staatsphilosophie Teil der Praktischen Philosophie. Als
Hauptgegenstand ihrer Betrachtung gelten meist die
menschl. Handlungen und bes. die Gesinnung, aus der
diese hervorgehen (Gesinnungsethik) oder die von ihnen
erzeugte Wirkung (Erfolgsethik) . Von dieser
Individualethik wird eine Sozialethik unterschieden. Ein
besonderer Ausgangspunkt des ethischen Denkens ist
die Frage, ob die sittl. Willensantriebe und
Wertschätzungen angeboren, also in gewissem Ausmaß
allen Menschen gemeinsam sind, oder ob sie aus der
Erfahrung gewonnen oder durch Erziehung vermittelt
werden, daher nach Völkern und Zeitaltern wechseln.
Richtungsunterschiede ergeben sich auch aus der Frage
nach dem Wesen des Sittlichen. Dieses kann in einer
Form gefunden werden, die allen sittl. Handlungen
gemeinsam ist, so bes. die Vernünftigkeit der Intention
(formale E.), aber auch in best. Wertgesetzlichkeiten
und Wertinhalten, in die sich die Welt der sittl.
Erscheinungen gliedert (materiale E.). Einige in der
Geschichte hervortretende Richtungen der E. ergeben
sich aus dem Versuch, die sittl. Erscheinungen auf einen
einheitlichen, an sich außersittl. Wert zurückzuführen,
etwa die Glückseligkeit (Eudämonismus), die Lust
(Hedonismus), den eigenen oder allgern. Nutzen
(Utilitarismus).
S. Moralphilosophie.
Gesetzmäßigkeit der Handlungen ohne Rücksicht auf
ihre Intention. Ausgangspunkt der ethischen
65 Betrachtung war für Kant allein die Gesinnung (als
„guter Wille“) der von der „Vernunft“ in einem
kategorischen Imperativ geforderten Achtung vor dem
Gesetz. Einen anderen Weg schlug im 19. Jh. die E. in
England aus utilitarist., in Frankreich aus positivist.
70 Ansatz ein. Im Rahmen der linken Hegel-Schule
suchten dann seit der Mitte des Jh. bes. entschieden L.
Feuerbach und M. Stirner aus einem materialist. und
solipsist. Ansatz die klassisch-metaphys. E. aufzuheben.
Diese wird dann später von der E. des Marxismus als
75 Ausdruck der gesellschaftl. Verhältnisse, also der
„bürgerl. Moral“, verstanden, an deren Stelle ein neues
gesellschaftl. Bewußtsein zu treten habe.
In Abkehr von Kant entstand in Dtl. im 20. Jh. eine
neue, phänomenologisch beschreibende E:, die als
80 „materiale Wert-E.“ bald die Vorherrschaft gewann (M.
Scheler, N. Hartmann u.a.). Ihr urspr. betont aprior.
Ansatz wurde später durch Hervorkehren der Erfahrung
(O. Bollnow, H. Reiner) der empirischen Richtung
angenähert. Im kath. Bereich wurde die thomist. E.
85 fortgeführt (J. Pieper, M. Reding u.a.). In neuerer Zeit
entwickelt die „Erlanger Schule“ (P. Lorenzen, O.
Schwemmer) in Anlehnung an Kant als Modell zur
Überprüfung und Rechtfertigung von Handlungen eine
normativ-kritische Theorie der E.
90 In Frankreich deckte die existentialist. E. der
Nachkriegszeit (J.-P. Sartre, A. Camus) bes. die
anthropolog. Voraussetzungen der E. auf, ließ allerdings
die ethische Sinnfrage zurücktreten. Verwandt der dt.
phänomenolog. E. sind hingegen hier V. Jankelevitch,
95 R. Le Senne; bedeutend ist wie in Spanien und Belgien
die thomist. E. (J. Maritain, J. Leclercq).
Geschichte. Als Wissenschaft ist die E. zuerst von
Aristoteles entwickelt worden. Sie fragte nach dem
„Gut(en)“ als dem, was einem Streben Erfüllung bietet;
insbes. nach dem höchsten Gut als der „Verwirklichung
der Seele gemäß der Tugend“. Damit wird die
In England hat zu Beginn des 20. Jh. die der dt.
Tugendlehre zum wesentl. Teil der E. Nicht gefragt
phänomenolog. E. verwandte intuitionist. E. von G. E.
wurde noch nach der sittl. Forderung; diese wurde erst
Moore nachhaltigen Einfluß ausgeübt, der jedoch hier
in der Stoa beachtet, teils durch den Begriff des
100 wie in den USA unter dem Einfluß L. Wittgensteins von
kathekon (grch. das „Geziemende“), teils durch den
der empiristisch-sprachanalyt. Meta-Ethik verdrängt
Gedanken eines sittl. Gesetzes, das von der Natur
wurde.
gegeben sei (lat. „lex naturae“) und ein Leben in
Übereinstimmung mit diesem erfordere. Im Christentum
verband sich der Gedanke des „Naturgesetzes“ mit dem
geoffenbarten Gesetz Gottes. Erst bei Thomas von
Aquino entstand daraus eine umfassende philosophischtheolog. Synthese, deren Grundbegriffe in
verschiedenen Abwandlungen und unter allmähl.
Ausscheidung des theolog. Elements bis in die
Aufklärung erhalten blieben. In dieser Zeit erst setzt
bes. Th. Hobbes die Wende zu einem rein rationalist.
Ansatz, der die prakt. Philosophie auf die mechanisch
bestimmbare Natur des Menschen, die sittl. Normen auf
die Vernunft zurückführte. Ihm entgegen stand im engl.
Sprachraum eine Gefühls- und Gewissensethik (A.
Shaftesbury, J. Butler, F. Hutcheson, A. Smith); zugleich
wandelte sich bei D. Hume der Güter-Gedanke in den
der Nützlichkeit.
Eine epochale Wendung brachte I. Kant, der die
60 „Sittenlehre“ in eine Tugend- und eine Rechtslehre
aufgliederte. Jene betrachtete nur die „inneren“
Pflichten gegen sich und andere, diese die „äußere“
dtv-Lexikon (2006)
Ethik [grch. ethika, „das die Sittlichkeit betreffende“,
105 „Sittenlehre“],
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1. Philosophie: E. als philosoph. Disziplin befasst sich
mit den sittl. Normen, Werten u. Anschauungen, insbes.
im Hinblick auf ihre Begründbarkeit. Als solche zumeist
gleichbedeutend mit Moralphilosophie u. schon in der
Antike ganz oder z. T. mit praktischer Philosophie
zusammenfallend, wozu nach Aristoteles, dem
Begründer der E. als Disziplin, aber noch Politik u.
Ökonomie gehören. Die E. selbst umfasst die
Beschreibung der herrschenden Vorstellungen von
Sittlichkeit, der Tugenden sowie die Bestimmung der
sittl. Klugheit oder der ethischen Wahl, der später so
genannten Moralität, u. schließlich die Angabe des Ziels
des ethischen Handelns, in der Antike als Glück
verstanden, in der christlich geprägten Zeit als Liebe zu
Gott u. von der Aufklärung an (bes. Kant) als Freiheit.
Je nachdem, ob mehr die Vorstellungen von Sittlichkeit
im Vordergrund stehen oder das Kriterium der ethischen
Entscheidung, trennt man eine materiale von einer
formalen Ethik, außerdem eine Wertethik (bei welcher
der moral. Wert der Handlungsresultate im Vordergrund
steht) von einer Pflichtethik (bei der es auf den sittl.
Charakter der Handlungsweise ankommt).
2. Theologie: im Bereich der kath. Kirche
„Moraltheologie“ genannt, die Wissenschaft, die das
sittl. Wollen u. Handeln des Menschen auf die christl.
Offenbarung als letzte Begründungsinstanz zurückführt.
Ursprünglich nur als philosoph. Disziplin selbständig,
ist die E. seit dem 17. Jh. auch eine selbständige
Disziplin der systemat. Theologie. Der Sache nach ist
aber theolog. E. so alt wie das Christentum. Ihre
Anfänge sind dadurch gekennzeichnet, dass an die
Stelle einer alles regelnden Gesetzesethik ein im
Glauben ermöglichtes Sein in der Liebe tritt, das
freisetzt zu eigener Entscheidung. Hier änderte sich
jedoch schon früh wieder Entscheidendes: An die Stelle
des nach dem Willen Gottes suchenden Glaubens traten
wieder Gebot u. Gesetz, Lohn-u. Verdienstdenken. Aufs
Ganze gesehen lassen sich vier Typen christl.
Gesetzesethik unterscheiden: Die Pflichtethik des
Tertullian; die Güterethik Augustins, die nach dem
höchsten Gut (latein. Summum Bonum) streben lässt;
die Gesetzesethik der Scholastik mit einer breit
ausgeführten Kasuistik; die Nachfolgeethik der
Franziskaner, die eine Angleichung des Menschen an
den erniedrigten Jesus anstreben. – Luther sah die E.
wieder in engem Zusammenhang mit dem die Liebe
ermöglichenden Glauben. Die neuere Geschichte der
theolog. E. ist durch ein Nebeneinander, Miteinander u.
Gegeneinander von Individualethik, Sozialethik u.
Situationsethik gekennzeichnet.
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