Zum Stellenwert von Pädagogik und Schülerinteressen im Islamischen Religionsunterricht. Bernd Ridwan Bauknecht. Die interessantesten Schülerfragen im Unterricht sind die Fragen, über die der Lehrer unerwartet stolpert. Es sind gewissermaßen Stolperfragen, die zunächst „stören“, den Unterricht „aufhalten“, doch dann den Lehrenden zur Reflektion und zu ergründendem wechselseitigen Austausch ermutigen. So machte ich bspw. während der Unterrichtseinheit „Mein Körper“1 die Metapher, dass unser Körper ein Geschenk Gottes/Allahs sei, auf das wir zu achten haben. Ein aufgeweckter Zweitklässler fragte sogleich: „Aber warum hat uns Allah den Körper geschenkt?“. Es ist die unbeantwortete Frage aller Fragen, die auf den Anfang und zugleich das Ende verweist: was ist der Grund unserer Existenz? In der Sekundarstufe findet diese Frage ihre Fortführung in der Problematik über die sogenannten ‚dunklen’ Seiten des menschlichen Wesens: über Angst, Sexualität, Sucht und das menschliche Gewalt- und Zerstörungsvermögen. Unabhängig von Religion, Geschlecht und Elternhaus sprechen diese Themen alle Jugendliche an. Hier bietet gerade der Religionsunterricht Raum zur Reflexion und Erhellung. Doch wer bestimmt eigentlich den Inhalt des Unterrichts? Sind es die Lehrer, Lehrpläne, Schüler, Eltern, oder gar die öffentlichen Debatten? Sind es Verbands- und Vereinsvertreter oder deutsche Politiker? Was sind die Koordinaten eines Religionsunterrichtes? Plötzlich wird wieder diskutiert, ob Religionsunterricht zum Glauben erziehen soll, darf oder muss. Soll eine glaubensneutrale Kunde stattfinden oder eine Wertevermittlung durch die fünf Säulen und die sechs Glaubenssätze? Wer bestimmt den Inhalt religiösen Lernens? Ist es Gott in seinen heiligen Büchern oder jeder Mensch in seinem Innern? Was befähigt einen guten Unterricht? Ist es die Theologie oder eine schülerzentrierte Pädagogik? Als Lehrer für Islamkunde an einer Hauptschule und drei Grundschulen möchte ich zunächst das Missverständnis beseitigen, dass die nordrhein-westfälische Islamkunde als sogenannter wertneutraler religionskundlicher Informationsunterricht in einem Gegensatz zum bekenntnisorientierten Islamunterricht stehe. Betrachtet man sich die Curricula sowohl der Grundschule als auch der Sek. 1, so stellt man schnell fest, dass der Unterschied zu Schulversuchen mit dem Label Islamischer Religionsunterricht nicht groß ist. Nimmt man noch zur Kenntnis, dass auch die Lehrperson verpflichtend muslimischen Glaubens sein muss, so verwischen die angenommen Unterschiede zwischen „wertneutral“ und „wertevermittelnd“ völlig. Zum gleichen Ergebnis kommt die Forschungsstudie von IrkaChristin Mohr und Michael Kiefer2. Gerade im Zuge der Einführung einer islamischen Lehrplan für die Grundschule in Nordrhein-Westfalen, Islamkunde in deutscher Sprache, Klasse 1 bis 4, Themeneinheit 11 „Mein Körper“, Kl. 2. Herausgegeben vom Ministerium für Schule und Weiterbildung NRW, 1. Auflage, Düsseldorf 2006. 2 Irka-Christin Mohr/Michael Kiefer (Hg.), Islamunterricht- Islamischer ReligionsunterrichtIslamkunde, Bielefeld 2009. 1 1 Religionsdidaktik wird nun diskutiert, ob man zum Glauben erziehen darf oder nicht. Die beiden Lehrstuhlinhaber für Islamische Religionspädagogik Prof. Dr. Bülent Ucar an der Universität Osnabrück und Prof. Harun Behr, Universität Erlangen, beantworten die Thematik ähnlich. Bülent setzt der Glaubenserziehung die Bildung voraus, der Hingabe im Glaube soll Selbstverantwortung, Selbstreflexion und kritische Auseinandersetzung vorausgehen.3 Behr sieht in der Kunde Vorrang vor der Verkündigung, „die Kenntnis geht dem Bekenntnis voran“.4 Wollen Schülerinnen und Schüler zum Glauben erzogen werden? Die Unterrichtserfahrung zeigt, dass sie sich gerne mit ihrem Glauben oder Nichtglauben auseinandersetzen. Diese Auseinandersetzung ist für den einzelnen Schüler allerdings nur so lange von Interesse, wie seine Entscheidungs- und Willensfreiheit gewahrt bleiben. Das Ziel einer islamischen Religionspädagogik kann von daher nicht die Erziehung zum Glauben, zum guten muslimischen Bürger im Staate sein. Vielmehr muss eine Religionspädagogik die Methoden für eigenverantwortliches Handeln im Umgang mit Religion und Glaube zum Wohle des Einzelnen im Blick haben. Selbstreflektion wird hierbei durch Vielfalt, Handlungsoptionen und Entscheidungsfreiheit ermöglicht. Allerdings kann der Unterricht auch nivellierende Kontrollfunktionen einnehmen. Exemplarisch seien hier Extremismus5 oder 6 Legendenbildung genannt. Als muslimische Lehrkraft kann man bei solchen Themen authentisch und für die muslimische Schülerschaft glaubwürdig argumentieren. Ziel einer islamischen Religionspädagogik kann nicht die Erziehung zum Glauben oder zum guten muslimischen Bürger sein. Auch die in einigen Lehrplänen formulierten Ziele wie Identitätsbildung und Fördern der Integration entsprechen nicht den Vorgaben einer Fachdidaktik.7 Diese Punkte können zwar durch die Einführung des islamischen Religionsunterrichts im Rahmen des gesellschaftlichen Prozesses verwirklicht werden, dürfen aber nicht Zielvorgabe einer islamischen Religionspädagogik sein. In der Religionspädagogik sollte es um mehr gehen. Vgl. Bülent Ucar, Synopse für das Fach ‘Islamunterricht’, Münster 2008, S. 125f. Vgl. Irka-Christin Mohr, Zur Diskussion der Mündigkeit als Zielkategorie, Bielefeld 2009, S. 195. 4 Vgl. Harry Harun Behr, Bildungstheoretisches Nachdenken als Grundlage für eine islamische Religionsdidaktik, Berlin 2008, S. 63. Vgl. Mohr, Zur Diskussion der Mündigkeit..., S. 200. 5 „Wer schlecht über Juden spricht, ist kein echter Moslem“, Interview mit Youssef (18), Frankfurter Gymnasiast, aufgezeichnet von Canan Topçu, Frankfurter Rundschau, 23.02.2009, S. 7. „Der Staat darf sich nicht wegducken“, Interview mit Cem Özdemir, von Vera Gaserow, Frankfurter Rundschau, 23.02.2009, S. 6 und 7. Marc Sageman, Leaderless Jihad. Terror Networks in the Twenty-First Century, Philadelphia 2008. 6 Marc Röhlig, Die Legende vom Rattenmädchen, Spiegel Online, 21. 12.2005. Dabei geht es um sogenannte Hoax-Meldungen – Falschmeldungen, die über Internet oder SMS eine rasend schnelle Verbreitung finden. Weiter Hoax-Meldungen gab es beispielsweise während des Gaza-Krieges im Januar 2009 über angebliche Spenden von Aldi und Lidl an die israelische Armee. 7 Vgl. Irka-Christin Mohr, Zur Diskussion der Mündigkeit als Zielkategorie, Bielefeld 2009, S. 193, S. 200. 3 2 Methodisch müsste der Diskurs der Korrelationsdidaktik nicht weitergeführt und nicht neu für den Islamunterricht diskutiert werden, denn dieser jahrzehntelange Diskurs ist innerhalb der christlichen Religionspädagogik bereits sehr kontrovers geführt worden. Der Spannungsbogen zwischen Lebenswelt und Theologie, Erfahrung und Offenbarung, subjektiver Wahrnehmung und tradierter Religion, situativem Erleben und normativer Kraft ist im islamischen Religionsunterricht kein anderer wie im christlichen. Das bedeutet, dass die Korrelationsdidaktik für den islamischen Religionsunterricht grundlegende pädagogische Voraussetzung ist. Das gleiche gilt für den methodischen Ansatz der Elementarisierung, dem wechselseitigen Sich Durchdringen von Subjekt und Objekt, von Mensch und Umwelt, von Kind und Kultur. Beide, sowohl die Korrelationsdidaktik als auch die Elementarisierung bedürfen keiner religiösen Legitimierung. Denn so wie vormals der Rohrstock im Klassenzimmer mit vermeintlich christlichen oder islamischen Tugenden missbräuchlich begründet wurde, braucht heute eine gute Didaktik keine religiöse Begründung außer die der besseren Didaktik. Gerade die Elementarisierung ermöglicht es, den Religionsunterricht als Erfahrungsraum zu erleben. Es muss ein geschützter Raum des Ausprobierens sein, der dem Schüler Entscheidungsfreiheit offeriert und Selbstreflektion ermöglicht. Dies schließt durchaus auch die Einübung religiöser Elemente ein. Bülent fordert hierzu: „Zwang kann und darf zu keinem Zeitpunkt weder als Mittel noch als Zieldimension akzeptiert werden.“ 8 Mohr formuliert etwas überspitzt, dass wenn die ‚Mündigkeit’ „der Glaubensentscheidung und der Einübung in eine religiöse Praxis vorgelagert wird“9, eben diese Einübung nicht mehr möglich ist und der Religionsunterricht dann nur noch Bildungsaufgaben übernehmen dürfe. Die persönliche Glaubensentscheidung ist jedoch nicht unmittelbar abhängig vom Kennenlernen und Erlernen religiöser Rituale. Zwischen religiöser Praxis und dem Verständnis von Kultur existieren Unschärfen. So können Teile religiöser Rituale und Lebensbereiche durchaus als Bestandteile kultureller Prägungen definiert werden, deren Kennen und Können nicht von vorn herein Glauben voraussetzt, geschweige denn erzeugt. So wie das Erlernen der Tonleiter nicht unmittelbar einen begnadeten Musiker erzeugt, bedingt die Kenntnis über die Gebetswaschung nicht einen tiefgläubigen Religionsgelehrten. Vielmehr sind sowohl die Kenntnisse von Tonleitern als auch der jeweiligen religiösen Praxen Bestandteile einer ‚kulturellen’ Erziehung, da die bestehende ‚Kultur’ bzw. Gesellschaft diese Kenntnisse mehr oder weniger voraussetzt. An dieser Stelle drängt sich ein weiterer Kritikpunkt auf, dem Mohr und Kiefer gleichermaßen Relevanz einräumen. Sie bemängeln eine „Praxis der unkommentierten Korrelation von Koranversen und einem Thema“10 in Lehrplänen und Unterrichtsmaterialien. Nach Durchsicht der verschiedenen Lehrpläne beanstandet Kiefer die „Auslassungen und Mängel vor allem in Bezug auf die zu verwendenden Quellen im Unterricht“.11 Exemplarisch nennen Mohr und Bülent Ucar, Synopse für das Fach ‚Islamunterricht’..., Münster 2008, S. 127f. Irka-Christin Mohr, Zur Diskussion der Mündigkeit als Zielkategorie, Bielefeld 2009, S. 201. 10 Irka-Christin Mohr, Zur Diskussion der Mündigkeit als Zielkategorie, Bielefeld 2009, S. 195. 11 Michael Kiefer, Islamische Quellen in staatlichen Lehrplänen, Bielefeld 2009, S. 57. 8 9 3 Kiefer Koransure 2/256 (‚In der Religion gibt es keinen Zwang’, Paret 1989)12. „Der Vers gelte gemeinhin als Beleg für innere und äußere Toleranz des Islam.“ 13 Mohr/Kiefer kritisieren, dass viele Lehrkräfte aus Unkenntnis Verse des Korans kürzen und modifizieren. So dass die Ergebnisse der heterogenen exegetischen Tradition wiedersprechen.14 In Bezug auf 2/256 führen sie an, dass bereits der Anschlussvers 2/257 (,Sie (d. h. die Ungläubigen) werden Insassen des Höllenfeuers sein und (ewig) darin verweilen’, Paret 1989) ein „diametral entgegengesetztes Textverständnis nahe legt“.15 Leider sind es an dieser Stelle Kiefer/Mohr, die verkürzen. Der Vers 2/257 lautet vollständig: „Gott ist der Schutzherr derer, die gläubig sind. Er bringt sie aus den Finsternissen hinaus ins Licht. Diejenigen aber, die ungläubig sind, deren Schutzherren sind die falschen Götter. Sie bringen sie aus dem Licht hinaus in die Finsternisse. Das sind die Insassen des (Höllen)feuers. Ewig werden sie darin bleiben.“16 Es handelt sich weniger um eine Verurteilung als vielmehr um Aufklärung über die Folgen entsprechenden Handelns bezogen auf das Jenseits. Die falschen Götter können dann von den Folgen nicht retten. So öffne die Augen, denn du schadest dir selbst. Vergleichbare Aussagen finden sich auch in der Bibel: „Viel sind die Schmerzen derer, die anderen Göttern nacheilen“17. Beide Koranverse zusammen gelesen, legen nahe, dass der Mensch keinem anderen Menschen den Glauben vorschreiben kann. Vielmehr muss die Erkenntnis zum „Glauben“ oder „Nichtglauben“ zwischen dem einzelnen Menschen und Gott erfolgen. Die koranische Warnung vor der Hölle sollte wie die biblische nicht als gnadenlose Strafmaßnahme sondern als Anerkennung des menschlichen Leids verstanden werden, aus dem es sich zu befreien gilt. Tatsächlich machte der Vers 2/256 gerade wegen seiner Offenheit der klassischen Exegese zu schaffen. 18 Deutlich wird an dieser Stelle, dass die Etablierung einer islamischen Religionspädagogik und Theologie in Deutschland unter anderem auch Übersetzungen von zeitgemäßen theologischen wie auch kritischen Schriften aus der ‚islamischen Welt’ einschließen muss. Das Rad muss hier nicht bei jeder etwas schwierigeren Koransure neu erfunden werden. Eine wirkliche Exegese findet in Deutschland bisher nicht statt. Selbstverständlich ist im Umgang mit den Primärquellen die genaue Nennung der Koranstelle bzw. des Hadith (ḥadīt) vorauszusetzen. Auch muss die Kenntnis und das Wissen um die Bedeutung und die Exegese vorhanden sein. Aber letzten Endes sind Koranzitate aus muslimischer Sicht immer eine Verkürzung der Bedeutung. Vgl. Irka-Christin Mohr, Zur Diskussion der Mündigkeit als Zielkategorie, Bielefeld 2009, S. 195. Vgl. Michael Kiefer, Irka-Christin Mohr, Islamwissenschaftliche Thesen zum islamischen Religionsunterricht, Bielefed 2009, S. 210. 13 Michael Kiefer, Irka-Christin Mohr, Islamwissenschaftliche Thesen zum islamischen Religionsunterricht, Bielefed 2009, S. 210. 14 Vgl. ebd. 15 Ebd. 16 Übersetzung nach Paret, Henning, König-Fahd-Ausgabe und eigenem Ergründen. 17 Psalm 16:4. 18 Patricia Crone, Islam and Religious Freedom, Festvortrag, XXX. Deutscher Orientalistentag, Freiburg, 24.-28.09.2007, online-Publikation Sept.2009, URL: http://orient.ruf.unifreiburg.de/dotpub/crone.pdf, ISSN 1866-2943. 12 4 Im Umgang mit dem Koran gibt es zwei Ebenen. Man sollte zwischen der spirituellen rituellen Rezitation und der Textauslegung unterscheiden. Aufgrund der rituell-spirituellen Dimension ist das Memorieren des Korans auf Arabisch Bestandteil einer religiösen Bildung. Im Unterricht werden Koranzitate verschieden angewendet: - - - - Einzelne Suren oder Verse werden auf arabisch, in Umschrift und mit Übersetzung präsentiert. Der Inhalt wird den Schülerinnen und Schülern erläutert. Sie haben die Möglichkeit die Verse in kleinen Passagen in Arabisch auswendig zu lernen. Das Memorieren könnte im Primarbereich ab Klasse 2 Teil des Unterrichts sein, sollte hier aber selbstverständlich nicht die Themeneinheiten aus den Lehrplänen überlagern. Es handelt sich hier auch nur um eine begrenzte Anzahl von Suren: es könnten Sure al-Fatiha (al-fātiḥa, Sure 1), an-Nas (an-nās, Sure 114) und al-Ihlas (al-iḥlās, Sure 113) sein.19 Einzelne Suren oder Verse werden anhand der deutschen Übersetzung interpretiert. Dies kann in thematischen Zusammenhängen geschehen. Wie zum Beispiel mit Sure al-Alaq (al-‘alaq) - der ersten Koransure, die Muhammad erhalten hat. Mit Bezug auf das Gottesbild sollten unbedingt Lichtvers (24/35) und Thronvers (2/255) behandelt werden. In beiden Versen wird die Bildsprache des Korans und die Ausdrucksweise in Gleichnissen deutlich. Einzelne Verse werden ergänzend zu thematischen Aussagen in deutscher Übersetzung im Sinne einer Bekräftigung eingebracht. Dies können beispielsweise Verse zur Wohlfahrt, Barmherzigkeit Gottes oder zum menschlichen Zusammenleben sein. Einzelne Verse müssen in der Sekundarstufe diskursiv und mit historischer Bezugnahme interpretiert werden. Dies können Verse zur Zinsbeschränkung, zur menschlichen Solidarität, zum Thema Liebe, zum Verhältnis von Frau und Mann, zur Armutsbekämpfung, zum Umgang mit Schöpfung, zur weltweiten Verantwortung, zum menschlichem Gewaltpotenzial und dessen Eindämmung sowie vielen weiteren Themen sein. Der Unterricht muss auf der Grundlage einer zeitgemäßen Religionspädagogik stattfinden. Schlüsselfunktion hat hier die Ausbildung der Lehrkraft zu einer Person, die im Unterricht Perspektivwechsel stattfinden lassen und nachvollziehbar machen kann. Der Perspektivwechsel kann sowohl die innermuslimische Pluralität betreffen, kann aber auch den Blickwechsel zwischen Innen- und Außensicht auf die eigene oder auch andere Religionen bedeuten. Nur so können Schülerinnen und Schüler religiöse Werte und Unterschiede emphatisch wahrnehmen, reflektieren und gegebenenfalls verinnerlichen. Zu einem guten Unterricht gehören neben der Einbeziehung der Lebenswelt zeitgemäße Unterrichtsmethoden. Ein Stationenlernen über die fünf Weltreligionen bewirkt mehr als ein ermüdender Lehrervortrag. Gruppen- und Partnerarbeit, Schülervorträge, Bildimpulse, Die Auswahl der Suren spiegeln sich auch im ersten Schulbuch für die Primarstufe wieder. Serap Erkan/Evelin Lubig-Fohsel, Gül Solgun-Kaps, Bülent Ucar, Mein Islambuch. Grundschule 1/2, Oldenbourg Schulbuchverlag 2009. 19 5 Exkursionen und interdisziplinäres Arbeiten müssen Bestandteil des Unterrichts sein. Die Schülerinteressen in der Primarstufe lassen sich mit den inhaltlichen Zielen verknüpfen, indem man dem Bedürfnis nach dem Selbst-Entdecken nachkommt. Aus Papier eine Kamera zu basteln und dann auf dem Schulhof die Natur, die Schöpfung zu entdecken, hinterlässt in der Primarstufe bleibendere Erinnerungen als ein Tafelanschrieb. Eine Moschee oder die Kaaba zu basteln, erleichtert das Erlernen ihrer Bestandteile und Funktionen. Basteln und Lieder, möglichst mit Bewegungselementen, sind neben Gesprächskreisen und Arbeitsblättern wichtige Elemente. In der Sekundarstufe verlagern sich die Interessen der Jugendlichen auf Brüche und Widersprüche. Die ‚dunklen’ Seiten des menschlichen Wesens wie Ängste, Sexualität, Sucht und das menschliche Gewalt- und Zerstörungsvermögen treten ins Bewusstsein. Bei der Übernahme einer schwierigen Klasse in der siebten Jahrgangsstufe an einer Hauptschule muss man als Fachlehrer/in mit zwei Unterrichtsstunden in der Woche zunächst das Vertrauen der Schülerschaft erarbeiten, damit guter Unterricht erst möglich wird. In dieser Situation habe ich mit einer Unterrichtseinheit zum Thema Liebe begonnen. Die unterschiedlichen Arten und Ausdrucksformen von Liebe wurden besprochen, Plakatkollagen zum Thema erstellt, über die Verwendung des Begriffs in der Werbung und über Sexualisierung sowie Sexismus diskutiert. Dieses Thema mit einem sehr offenen Zuschnitt hat die Schüler/innen interessiert und eine gute Vertrauensbasis geschaffen. Es wurden dann Koranverse zum Thema Liebe gelesen, um danach das Verhältnis von „Männer und Frauen“ – eine Themeneinheit, die im Lehrplan NRW verankert ist – zu behandeln. Innerwie außermuslimische Vorurteile wurden mit entsprechenden Koransuren verglichen.20 Ähnlich wurden dann im Anschluss die Themen ‚Sünde’ und ‚Vergebung’ behandelt, wobei hier das Schulbuch Saphir 5/6 eingesetzt wurde. 21 Die Klassenlehrerin bestätigte mir, dass die Schüler/innen mit Stolz die erstellten Plakate im Klassenzimmer aufgehängt und später verwahrt haben. Interessanter Weise bestand am Ende dieser Dreier-Themeneinheit der Wunsch seitens der Schüler/innen das Thema Gebet zu behandeln. Auch hier kann man gut mit Saphir 5/6 arbeiten22. Wobei sich manche das Erlernen des Ritualgebets wünschen, um anderen – die das Gebet bereits kennen - nicht hinterher zu sein. Das Ritualgebet kann zwar ausführlich oder auch zusammenfassend vorgestellt werden. Die einzelnen Teile erlernen und üben, muss jedoch jeder alleine. Eine Aufgabe der Religionspädagogik könnte sein, die Themenfelder der Alltagswelt von Kindern und Jugendlichen mit ihrer religiösen Bindung und theologischen Erkenntnissen zu verzahnen. So ist es beispielsweise sinnvoll in der Sek. 1 das Thema Mobbing zu Eine brauchbare Arbeitsvorlage bietet m. E. in diesem Fall Mirjam Zimmermann/ Wolf Eckhard Miethke, Islam. 32 Arbeitsblätter mit didaktisch-methodischen Kommentaren. Sekundarstufe 1, (A 21, Die Stellung der Frau im Islam), Klett-Verlag, 1. Auflage, Leipzig 2003, S. 45. Manche der Arbeitsblätter sind veraltet und manche nicht immer gelungen. Dennoch gibt es Arbeitsvorlagen, wie die hier zitierte, die für den Unterricht gut einsetzbar sind. 21 Lamya Kaddor/Rabeya Müller/Harry Harun Behr (Hg.), Religionsbuch für junge Musliminnen und Muslime, Kösel-Verlag, München 2008, S. 147-158. 22 Vgl. ebd., S. 43-54. 20 6 behandeln. Nach einem offenen Einstieg kann dann die Brücke zum Islam geschlagen werden. Was hat die Religion dazu zu sagen. Kann die Klärung des Begriffes Achlaq (’ahlāqīya, Charakterbildung/Ethik/Moral) eine Lösung bewirken? Der Einzelne sollte seine Bemühung um einen guten Charakter reflektieren und sein Bewusstsein im Umgang mit anderen schärfen. Während des Gaza-Krieges im Januar 2009 habe ich in den Klassen 7-10 jeweils rund acht bis neun Unterrichtsstunden für die historische Darlegung des Nah-Ost-Konfliktes verwendet, in denen auch die mittelalterliche europäische Judenverfolgung und die Shoah zentral angesprochen wurden. Denn aufgrund der Kriegsereignisse kam es vereinzelt zu abfälligen Bemerkungen über das Judentum.23 Selbstverständlich haben die Fächer Geschichte, Politik und Praktische Philosophie/Ethik die Aufgaben in ihrer jeweils spezifischen Gewichtung über das Judentum, die Shoah und den Nah-Ost-Konflikt aufzuklären. Doch überzeugender für viele muslimische Schülerinnen und Schüler ist eine muslimische Lehrkraft, die auch mit den Argumenten des Islam der Judenfeindlichkeit entgegen tritt. Es war in dieser Situation nicht einfach, denn die Schülerinnen und Schüler waren über Al Jazeera und andere Fernsehsender recht gut über den Krieg informiert. Die Darstellung und das Verständnis für die jüdische Geschichte hätte in dieser Situation aus Sicht der Schülerschaft als eine Parteinahme für Israel und als Verrat an den Kriegsopfern interpretiert werden können. Dennoch war es trotz bzw. gerade wegen der Emotionalität wichtig, einer sachlichen und neutralen Darstellung nachzugehen. Jedenfalls kam es unter den Schülern zu Diskussionen mit gegensätzlichen Standpunkten, zu differenzierten Haltungen, zu Blickwechseln und einem tieferen und vor allem historischen Bewusstsein über die Problematik des Konfliktes. Selbst an den Grundschulen war der Krieg ohne mein Zutun ein Thema, denn in fast allen Klassen gibt es Kinder, die familiäre Wurzeln in Palästina haben. Bereits im Jahre 2005 während des Abzugs der israelischen Soldaten aus Gaza wurde der Konflikt ohne mein Zutun zum Thema. Als ich nach den Sommerferien zu Beginn des vierten Schuljahres die Schüler/innen von den Ferienerlebnissen erzählen ließ, fiel ein Junge aufgrund seines Urlaubsberichtes aus dem Rahmen. Während alle von schönen Strand- und Badeerlebnissen erzählten, berichtete er, dass er den israelischen Soldaten Steine hinterher geworfen hatte. Als einige Zeit später während der Unterrichteinheit „Ein Gott und viele Religionen“ das Judentum bearbeitet wurde, weigerte er sich zunächst sich zu beteiligen. Seine Begründung war, dass Tanten und Onkel von ihm in Palästina ums Leben gekommen seien. Nach interessanten Gesprächen, in denen auch der Schüler sich äußern konnte sowie der Differenzierung zwischen dem politischen Konflikt, dem Staat Israel und dem Judentum als Religion, wurde dann das Judentum unter reger Beteiligung des Schülers behandelt. „Wer schlecht über Juden spricht, ist kein echter Moslem“, Interview mit Youssef (18), Frankfurter Gymnasiast, aufgezeichnet von Canan Topçu, Frankfurter Rundschau, 23.02.2009, S. 7. „Der Staat darf sich nicht wegducken“, Interview mit Cem Özdemir, von Vera Gaserow, Frankfurter Rundschau, 23.02.2009, S. 6 und 7. 23 7 Unabhängig vom Bundesland finden sich in allen Lehrplänen zum Islamunterricht Themeneinheiten zum Juden- und Christentum.24 Darüber hinaus erscheint allen Lehrplänen „die Vermittlung von Werten wie Toleranz, Solidarität und Verantwortungsbewusstsein“ wichtig, da sie zu einer „erfolgreichen gesellschaftlichen Integration“ 25 führen. Gemeinsame Kirchen-, Moschee- und wenn möglich auch Synagogenbesuche sind für meine Kolleginnen, Kollegen und mich obligatorisch. Auch finden immer wieder mit den Klassenlehrern/innen oder den Religionslehrern/innen der christlichen Konfessionen und den Philosophie-, bzw. Ethiklehrern/innen gemeinsame Unterrichtseinheiten statt. Abschließend sind hier die wichtigsten Punkte nochmals zusammengefasst: Ziel des Islamischen Religionsunterrichts ist nicht die Erziehung zum Glauben, die Erziehung eines guten muslimischen Bürgers im Staat, sondern Selbstreflektion, eigenverantwortliches Lernen und das Erlernen von Handlungsoptionen im Umgang mit Religion. Die Ziele sind durch die Praxiserfahrung definiert, denn Glaube kann nicht erlernt werden, und die Heterogenität und Interessenlage der Schülerschaft fordert dies ebenso ein. Perspektivwechsel ist eine zentrale Voraussetzung für den Religionsunterricht. Hierbei muss die Lehrkraft einen Wechsel von Innen- und Außenperspektive auf die eigene Religion, aber auch auf andere Lebensmodelle ermöglichen können. Methoden des Religionsunterrichts wie die Korrelationsdidaktik oder die Elementarisierung müssen für einen Islamischen Religionsunterricht nicht diskutiert werden. Diese Methoden sind Voraussetzung des Unterrichts und bedürfen keiner islamischen Begründung oder Rechtfertigung. Literaturverzeichnis Harry Harun Behr, Bildungstheoretisches Nachdenken als Grundlage für eine islamische Religionsdidaktik, in: Lamya Kaddor (Hg.), Islamische Erziehungs- und Bildungslehre, Berlin 2008, S. 49-65. Behr/Kaddor/Müller (Hg.), Religionsbuch für junge Musliminnen und Muslime, Kösel-Verlag, München 2008. Patricia Crone, Islam and Religious Freedom, Festvortrag, XXX. Deutscher Orientalistentag, Freiburg, 24.-28.09.2007, online-Publikation Sept.2009, URL: http://orient.ruf.unifreiburg.de/dotpub/crone.pdf, ISSN 1866-2943. Serap Erkan/Evelin Lubig-Fohsel/Gül Solgun-Kaps/Bülent Ucar, Mein Islambuch. Grundschule 1/2, Oldenbourg Schulbuchverlag 2009. Irka-Christin Mohr/Michael Kiefer (Hg.), Islamunterricht- Islamischer ReligionsunterrichtIslamkunde, Bielefeld 2009. 24 25 Vgl. Bülent Ucar, Synopse für das Fach „Islamunterricht“, S. 133-139. Bülent Ucar, Synopse für das Fach „Islamunterricht“, S. 131. 8 Irka-Christin Mohr, Zur Diskussion der Mündigkeit als Zielkategorie der öffentlichen Schule und des islamischen Religionsunterrichts, in: Mohr/Kiefer, Islamunterricht, aaO. S. 191-202. Irka-Christin Mohr/ Michael Kiefer, Islamwissenschaftliche Thesen zum islamischen Religionsunterricht, in: Mohr/Kiefer, Islamunterricht, aaO. S. 205-211. Michael Kiefer, Islamische Quellen in staatlichen Lehrplänen für den Islamunterricht: Auswahlkriterien, Präsentation und Kontext, in: Mohr/Kiefer, Islamunterricht, aaO. S. 37-58. Marc Sageman, Leaderless Jihad. Terror Networks in the Twenty-First Century, Philadelphia 2008. Bülent Ucar, Synopse für das Fach ‘Islamunterricht’ in der Grundschule: Zwischen didaktischem Profil und inhaltlicher Gestaltung, in: Kiefer/Gottwald/Ucar (Hg.), Auf dem Weg zum Islamischen Religionsunterricht. Sachstand und Perspektiven in NordrheinWestfalen,Münster 2008, S. 121-140. Quellen Lehrplan für die Grundschule in Nordrhein-Westfalen, Islamkunde in deutscher Sprache, Klasse 1 bis 4, Themeneinheit 11 „Mein Körper“, Kl. 2. Herausgegeben vom Ministerium für Schule und Weiterbildung NRW, 1. Auflage, Düsseldorf 2006. „Wer schlecht über Juden spricht, ist kein echter Moslem“, Interview mit Youssef (18), Frankfurter Gymnasiast, aufgezeichnet von Canan Topçu, Frankfurter Rundschau, 23.02.2009, S. 7. „Der Staat darf sich nicht wegducken“, Interview mit Cem Özdemir, von Vera Gaserow, Frankfurter Rundschau, 23.02.2009, S. 6 und 7. Marc Röhlig, Die Legende vom Rattenmädchen, Spiegel Online, 21. 12.2005. Koranübersetzungen Max Henning, überarbeitet und herausgegeben von Murad Wilfried Hofmann, Der Koran. Das heilige Buch des Islam, Istanbul/München 2005. Rudi Paret, Der Koran. Übersetzung, Stuttgart 71996. 7 9