PRAXIS Schweiz Med Forum Nr. 13 26. März 2003 319 Ethische Problemperspektiven technischer Eingriffe in die menschliche Fortpflanzung Hans-Peter Schreiber Seit der Geburt des ersten Retortenbabys Luise Brown am 25. Juli 1973 hat die Technik der Invitro-Fertilisation (IVF) bzw. der extrakorporalen Befruchtung in den Medien immer wieder Aufmerksamkeit gefunden. In der Zwischenzeit konnte das Spektrum der technischen Optionen in der Sterilitätsbehandlung enorm erweitert und die Erfolgsquote der technisch herbeigeführten Schwangerschaften gegenüber der Anfangszeit eindrucksvoll optimiert werden. Ethisch relevante Fragen Prof. Dr. H.-P. Schreiber Fachstelle für Ethik, ETH Zürich, und Vorsitzender des Ethikrates bei Novartis Priv. Adresse: Rennweg 25 CH-4052 Basel Wie bei jedem medizinischen Eingriff in den menschlichen Körper hat eine ethische Bewertung auch reproduktionsmedizinischer Techniken in erster Linie von deren therapeutischer Zielperspektive auszugehen. Dabei wird man davon ausgehen können, dass Sterilität für viele betroffene Paare eine schwerwiegende Beeinträchtigung bedeutet und folglich ein reproduktionsmedizinisches Angebot wie die IVF eine sozial legitime technische Option ist. Daher werden sich ethische Bedenken nicht primär auf die Intention des Eingriffs als solchen beziehen, sondern allenfalls auf dessen mögliche Folgen. Als besonders umstritten gilt das Problem des Umgangs mit jenen Embryonen, die nach der Befruchtung in vitro – aus welchen Gründen auch immer – nicht in den mütterlichen Körper transferiert werden. Zentral ist dabei die Frage nach dem moralischen und rechtlichen Status solcher Embryonen. Handelt es sich dabei um eine Person mit all den einer Person zukommenden Rechten – selbst dem Recht auf Leben – oder um ein wertneutrales Konglomerat sich differenzierender Zellen? Von der Beantwortung dieser Frage hängt entscheidend ab, ob man u.a. auch das Verfahren der Kryokonservierung sowie das einer Embryobiopsie im Frühstadium der Zellteilung zum Zwecke einer Präimplantationsdiagnostik in vitro oder gar eine Freigabe für Zwecke der Forschung für ethisch vertretbar hält oder nicht. Während über die Zulassung der Kryokonservierung befruchteter Eizellen innerhalb eines bestimmten Zeitraumes ja wohl ein Konsens besteht, ist das Thema der Embryonenforschung und der Präimplantationsdiagnostik nach wie vor kontrovers. Ein immer wiederkehrender Einwand im Kontext moderner Fortpflanzungstechnologien richtet sich gegen deren angeblich reduktionistischen Ansatz, demzufolge das komplexe Ursachengeflecht für das Vorliegen eines unerfüllten Kinderwunsches – so die Kritik – ausser Acht gelassen wird. Entsprechend wird eine gesamtheitlichere Betrachtung in der Sterilitätsbehandlung gefordert, derzufolge es in der Behandlung nicht nur darum gehen dürfe, physiologische Defekte – unter Ausblendung des psychosozialen Hintergrundes – lediglich technisch zu reparieren. Sterilität kann, dieser Auffassung zufolge, nicht nur auf eine eingeschränkte Spermienmobilität, verschlossene Eileiter oder mangelnde Hormonproduktion zurückzuführen sein. Häufig sei sie vielmehr Ausdruck einer tiefgreifenden lebensgeschichtlichen Krise, verbunden mit einem massiven Bruch im Selbstbild der Betroffenen. So hätten entsprechende Studien zur Persönlichkeitsstruktur der Rat- und Hilfesuchenden u.a. ergeben, dass deren Selbstbild auf Grund einer narzisstischen und depressiven Störung erheblich geschwächt sei – ein Umstand, der durchaus auch für die Sterilität selbst zumindest mitverantwortlich sein könnte. Sollte dies zutreffen, dann könnte eine naturwissenschaftlich-technisch orientierte Sterilitätsbehandlung lediglich eine Teilantwort auf ein weitaus komplexeres Problem sein. Wiederholt wird in diesem Zusammenhang darauf hingewiesen, dass es beim unerfüllbaren Kinderwunsch grundsätzlich auch die Möglichkeit gebe, sich mit der eigenen Sterilität bzw. der des Partners abzufinden, statt sich einem technischen Eingriff zu unterziehen. Doch für wen ist dieses Sich-Abfinden eine Alternative? Doch nur für die Betroffenen selbst. Selbst wenn ein Leben ohne Kinder ein durchaus sinnerfülltes Leben sein kann, so wird doch niemand für andere diesen Lebenssinn wählen können. Daher muss die Inanspruchnahme eines technischen Eingriffs in die Fortpflan- PRAXIS zung – jenseits eines sozialen Paternalismus – einzig den Betroffenen selbst und ihrem Selbstbestimmungsrecht anheim gestellt bleiben. Folgenprobleme der In-vitro-Fertilisation Die Frage nach der ethischen Beurteilung der Verwendung sogenannter überzähliger Embryonen zu Forschungszwecken sowie der Zulassung der Präimplantationsdiagnostik – als Folgeoption fortpflanzungsmedizinischer Techniken – ist noch heute umstritten. Der im Jahre 1992 vom Schweizersouverän angenommene Bundesverfassungsartikel 24novies Abs. 2 (heute Artikel 119 BV) beschränkt sich in seinem Wortlaut lediglich auf das explizite Verbot eines das menschliche Genom gezielt verändernden Eingriffs ins Erbgut (Keimbahn). Ebenso untersagt ist, und hierin besteht u.a. auch Übereinstimmung mit der europäischen Bioethikkonvention, die Erzeugung von Embryonen zu Forschungszwecken. Was auf der Ebene des Verfassungstextes jedoch offen bleibt bzw. der Rechtsauslegung bedarf – und vor dem Hintergrund der aktuell gewordenen Forschung mit humanen embryonalen Stammzellen –, ist die Frage nach dem Schicksal überzähliger Embryonen, also jener, die zwar zur Herbeiführung einer Schwangerschaft in vitro gezeugt worden sind, jedoch nicht haben implantiert werden können. Der vorliegende Gesetzesentwurf zur Embryonen- und Stammzellforschung sieht unter strengen Auflagen – zu denen unter anderem die Zustimmung durch das betroffene Paar gehört – vor, solch überzählige Embryonen grundsätzlich für entwicklungsbiologische Forschung sowie zur Gewinnung embryonaler Stammzellen zur Verfügung zu stellen. Die Frage nach der Zulassung der Präimplantationsdiagnostik hingegen hat das Parlament kürzlich durch die erneute Bestätigung der im Fortpflanzungsmedizingesetz enthaltene Verbotsregel klar abgelehnt. Technik und Partnerschaft Ein häufig geäussertes Bedenken – insbesondere aus Kreisen der Kirche und der Theologie – bezüglich moderner reproduktionsmedizinischer Verfahren bezieht sich auf die Beziehung der an der technischen Prozedur beteiligten Personen. Mit jedem dieser Verfahren wird der Zeugungsprozess aus der ihm ursprünglich eigenen Intimität der partnerschaftlichen Beziehung in die Sphäre des Technischen gezogen, an der auch mehrere Personengruppen beteiligt sind. Insbesondere von theologischer Seite ist daher in diesem Zusammenhang die Befürchtung geäussert worden, dass damit nicht Schweiz Med Forum Nr. 13 26. März 2003 320 nur ein Verlust an Privatheit und Intimität eintrete, sondern eine tendentielle Entfremdung bzw. Entpersönlichung der menschlichen Fortpflanzung als solcher. So hat u.a. der Theologe Ulrich Eibach die Auffassung vertreten, bei der extrakorporalen Befruchtung nehme die Zeugung menschlichen Lebens «den Charakter des Machens, Herstellens und Verfügens» an und gefährde damit die natürliche Einheit von Sexualität und Liebe im Sinne einer partnerschaftlichen Begegnung zweier Partner. «Wenn die Einheit von Liebe und Zeugung», so Eibach, «auseinandergerissen wird, besteht die Gefahr, dass das Natürliche nicht personalisiert, sondern ins Mechanische, Widernatürliche und Menschenunwürdige abgleitet und menschliches Leben, verleiblichtes Personsein, zerstört und die technische Verfügung zur grenzenlosen und gottlosen Verfügung und Manipulation des Lebens umschlägt, in der menschliches Leben primär oder ausschliesslich Objekt, und zwar in totaler Weise, wird.» Ohne auf die theologischen und naturphilosophischen Prämissen dieser Sichtweise hier näher einzugehen, lässt sich doch so viel festhalten, dass damit eine Reihe von Problemen angesprochen wird, die für unseren Zusammenhang von Bedeutung ist. Obwohl das Prinzip der Einheit von Liebe und Zeugung selbst unter Theologen kontrovers ist, gilt dieses doch mehr oder weniger als konstitutiv für eine theologisch begründete Sexualethik. Eibach sieht den Grund dafür in der Tatsache, dass allein diese Einheit den natürlichen Charakter menschlicher Fortpflanzung garantiere. «Kinder werden nicht gemacht, sondern gezeugt, sie entstehen, sie werden, und zwar bei Gelegenheit eines Geschehens, bei dem die Zeugung meist nicht erklärte Absicht ist, nämlich dem natürlichen Geschehen der erotischsexuellen Liebe (...). Das Entstehen eines menschlichen Lebens bedarf eben deshalb, weil es keine reine Handlung des Menschen ist, weil es nicht durch einen Akt des Willens allein konstituiert wird, keiner Rechtfertigung vor der Gesellschaft und begründet doch einen Anspruch an sie.» Richtig an dieser Argumentation ist dabei die Feststellung, dass allein menschliche Handlungen rechtfertigungsbedürftig sind, nicht jedoch Naturgeschehen. Die Frage aber ist, ob nicht auch die angeblich natürliche Zeugung eine menschliche Handlung und kein Naturgeschehen darstellt. Als ein mit Bewusstsein begabtes Wesen hat der Mensch die Fähigkeit, seine Handlungen weitgehend zu antizipieren, und damit hat er auch die Verantwortung, sein Handeln an den zu erwartenden Folgen zu orientieren. In diesem Sinne ist auch die Zeugung eines Kindes grundsätzlich ein vorhersehbares und – im Zeitalter wirksamer Antikonzeptiva – ein ebenso grundsätzlich vermeidbares Ereig- PRAXIS Schweiz Med Forum Nr. 13 26. März 2003 nis. Zwar sind wir in Sachen Sexualität nicht rechtfertigungspflichtig nach aussen, wohl aber stehen wir im Falle einer daraus entstandenen Schwangerschaft im Hinblick auf das werdende Leben in der Verantwortung. Wer gedankenlos Kinder in die Welt stellt, ist nicht einfach Vollstrecker eines dumpfen Naturimperativs, vielmehr handelt er dadurch schlicht verantwortungslos. Aus diesen Überlegungen ergeben sich zwei grundlegende Schlussfolgerungen. Zum einen kann von «Natürlichkeit» menschlicher Handlungen jedenfalls dort nicht die Rede sein, wo wir die Konsequenzen unserer Handlungen vorhersehen und vermeiden können. Um unserer Verantwortung gerecht zu werden, müssen wir eben unsere Handlungen und deren Folgen kontrollieren. Mit dem Aspekt der Kontrolle kommt jedoch ein gesellschaftliches Element in unser Handeln. Dies gilt auch für solch intime Vorgänge wie Sexualität und Fortpflanzung. Das bedeutet nicht nur, dass eine abstrakte Gegenüberstellung von Natur und Kultur beim Menschen theoretisch unmöglich ist, vielmehr kann sie unter ethischen Gesichtspunkten auch nicht wünschbar sein. Dazu der katholische Moraltheologe Johannes Gründel: «Nicht was natürlich, sondern was menschlich ist, dem Menschen und seinen berechtigten Bedürfnissen dient, muss Masstab für sittlich gutes Verhalten bleiben. Zum menschlichen Verhalten zählt aber auch die vernunftsgemässe sinnvolle Steuerung. Selbst für die zwischenmenschlichen Beziehungen gilt, dass sie nicht um so besser glücken und gelingen, je weniger reflektiert und je mehr spontan sie erfolgen.» Wenn – und das ist die zweite Schlussfolgerung – der Mensch Verantwortung für die Konsequenzen seiner Handlungen bzw. Unterlassungen trägt, dann wird man vielen TechnikkritikerInnen auch darin folgen können, dass die Humanität einer Gesellschaft nicht allein von dem abhängt, was sie wissenschaftlich und technisch zu vollbringen vermag. Diese durchaus berechtigte Kritik an einem scientistischen und technokratischen Fortschrittsoptimismus darf jedoch nicht dazu verleiten, jedes technische Können und Machen als enthumanisierend darzustellen und demgegenüber das «Schicksal», das «Leiden» und die «Entsagung» auf weitere technische Entwicklungen zu propagieren. Denn es kann letzten Endes nicht um die Frage nach der Technik an sich gehen, sondern um die Art des technischen Eingriffs, und zwar gemessen an ihren Zielen und Folgen. Die Beschwörung einer objektiv ausmachbaren Grenze technischen Könnens bzw. Dürfens ist so alt wie die Menschheit selber, aber sie bleibt abstrakt und wenig geeignet, bezüglich des Einzelfalls in der Medizin die erforderliche Orientierung zu gewinnen. Freiheit der Forschung und ihre soziale Kontrolle 321 Wir haben gesehen, dass die moderne Biologie und Medizin ein weitreichendes und differenziertes Instrumentarium für technische Eingriffe in den menschlichen Reproduktionsprozess und damit gleichzeitig in die «Substanz» des Lebens geschaffen haben. Angesichts der vielfältigen ethischen, anthropologischen und sozialpolitischen Probleme, die dadurch erzeugt werden, ist es nicht verwunderlich, dass diese biomedizinischen Techniken zum Gegenstand zahlreicher Diskussionen in Wissenschaft, Politik und Öffentlichkeit geworden sind und sich die Frage immer dringlicher stellt, ob diese wissenschaftlich-technische Innovationsdynamik nicht irgendeiner Form der sozialen Kontrolle unterstellt werden sollte. Dabei ist es nicht nur das quantitative Ausmass der möglich gewordenen Eingriffe, das die Heftigkeit der geführten Debatten erklärt. Dahinter steht vielmehr auch, dass, aufs Ganze gesehen, eine neue Runde in der gesellschaftlichen Wahrnehmung von Technik und deren Folgen begonnen hat. Waren Naturwissenschaft und Technik lange Zeit von einem selbstverständlichen Fortschrittsoptimismus getragen, in dem beide auch ihre Legitimationsbasis hatten, so sind seit den 70er-Jahren Kontroversen über die Zerstörung der äusseren Natur bis hin zu Diskussionen um die immer weiter reichenden gentechnischen Interventionsmöglichkeiten sowohl in die menschliche wie auch in die aussermenschliche Natur in Gang gekommen. Was sich gegenwärtig abzeichnet, ist das Ende des Fortschrittskonsenses als der eigentlichen Geschäftsgrundlage moderner Industriegesellschaften. An dessen Stelle tritt zunehmend die Forderung nach einer umfassenden Technikfolgenabschätzung und Technikfolgenbewertung, die neben den individuellen vermehrt auch sozialpolitische und kulturelle Risiken miteinbezieht sowie Perspektiven der Forschung beleuchtet und die grundsätzliche Frage nach der Sozialverträglichkeit wissenschaftlich-technischer Innovationen aufwirft. Für die Wissenschaft, und damit auch für die Medizin, entsteht dadurch eine neue Situation. Sie kann die gesellschaftliche Akzeptanz neuer Handlungsoptionen nicht mehr als selbstverständlich voraussetzen, vielmehr ist Akzeptanz zu einer knappen gesellschaftlichen Ressource geworden. Die immer lauter werdende Forderung nach einer Rückbindung von Medizin, Wissenschaft und Technik an soziale Wertorientierungen und nach einer erweiterten sozialen Kontrolle – etwa in Gestalt von Ethikkommissionen – sollte nicht vorschnell als Ausdruck einer sich verschärfenden Wissenschafts-und Technikfeindlichkeit gedeutet werden, sondern vielmehr als der Versuch einer neuen Ausba- PRAXIS Quintessenz Sterilität ist nicht nur auf eingeschränkte Spermienmobilität, verschlossene Eileiter oder mangelnde Hormonproduktion zurückzuführen, sondern stellt oftmals eine schwerwiegende Beeinträchtigung für die betroffenen Paare dar und kann zudem Ausdruck einer tiefgreifenden lebensgeschichtlichen Krise sein. Die Frage nach der ethischen Beurteilung beispielsweise der Verwendung überzähliger Embryonen zu Forschungszwecken und der Zulassung der Präimplantationsdiagnostik ist noch heute umstritten. Das Gesetz beschränkt sich auf das Verbot eines das menschliche Genom gezielt verändernden Eingriffs ins Erbgut und der Erzeugung von Embryonen lediglich zu Forschungszwecken. Angesichts der vielfältigen ethischen, anthropologischen und sozialpolitischen Probleme erstaunt nicht, dass diese neuen Techniken Gegenstand zahlreicher Diskussionen in Wissenschaft, Politik und Öffentlichkeit sind. Die Frage nach einer sozialen Kontrolle stellt sich immer dringlicher. Schweiz Med Forum Nr. 13 26. März 2003 322 lancierung des Verhältnisses von Wissenschaft und Gesellschaft, die letztendlich auch der Wissenschaft selbst zugute kommen wird. Der Gewinn an sozialer Autonomie, den die Wissenschaft seit dem 19. Jahrhundert für sich hat verbuchen können, hat in den letzten Jahren zu einem empfindlichen Verlust an gesellschaftlicher Legitimation geführt, und es spricht einiges dafür, dass die Fortsetzung dieses Trends sowohl für die Wissenschaft als auch für die Gesellschaft insgesamt gefährlicher sein wird als die praktische Umsetzung der geforderten Einbindung des wissenschaftlich-technischen Tuns in eine gesellschaftlich breit abgestützte ethische Reflexion.