Störungen der männlichen Sexualfunktion

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M E D I Z I N
EDITORIAL
Störungen der männlichen
Sexualfunktion
Jürgen Sökeland, Rainer Tölle
D
ie Prävalenz der Erektionsstörungen in
Deutschland wird auf vier Millionen
Männer unter 64 Jahren geschätzt.
Durch die zunehmende Lebenserwartung und die Zunahme von Erektionsstörungen
im Alter ergibt sich eine weitaus höhere Zahl
von Sexualstörungen, die sich nicht schätzen lassen. Von einer Erektionsstörung spricht man,
wenn es über sechs Monate in 75 Prozent aller
Versuche nicht zu einer kohabitationsfähigen
Erektion kommt. Die organischen und psychischen Entstehungsbedingungen der Erektionsstörungen sind vielfältig: hierzu gehören Arteriosklerose, Hypertonie, Hypotonie, Diabetes
mellitus, Traumata.
Dabei findet sich ein alterskorreliertes Auftreten der organinduzierten Störungen. Allerdings hat sich die Einstellung zum „Alter“ zeitabhängig verändert. Kinsey gruppierte noch unter „älter“ meist Probanden zwischen 50 und 60
Jahren ein. Dabei ist erst bei über 75-Jährigen
im Allgemeinen bei beiden Geschlechtern ein
deutliches Nachlassen von sexuellem Interesse
und sexueller Aktivität festzustellen. Das von
Master und Johnson geprägte „use it or loose it“
ist für die Alterssexualität zum geflügelten Wort
geworden.
Verständnis der
Ätiologie erweitert
Die Grundlagenforschung und die klinischen
Studien der letzten Jahre haben das Wissen über
die Physiologie und Pathophysiologie des Erektionsvorganges und der Erektionsstörungen
grundlegend erweitert. Endokrinologische Faktoren, neurogene Faktoren, arterielle Faktoren,
tunikale und kavernöse Faktoren werden durch
eine subtile Diagnostik aufgedeckt. Zugleich hat
die psychosomatische Forschung gelehrt, wie oft
und in welcher Weise psychoreaktive Faktoren zu
einer Erektionsstörung oder anderen Sexual-
funktionsstörungen beitragen. Dabei ist inzwischen auch bekannt, dass die Ätiopathogenese
dieser Störungen in der Regel multifaktoriell ist;
man spricht von einer Mischätiologie organischer
und psychischer Bedingungen.
Während bei den meisten jüngeren Patienten
die psychoreaktiven Faktoren überwiegen, finden sich bei den über 50-Jährigen in der Regel
auch „organische Gründe“. Aber diese Akzentuierungen gelten nicht ausschließlich. Jeweils ist
auch mit psychischen Hemmungen, insbesondere
Versagensängsten zu rechnen, des Weiteren mit
Partnerproblemen, Konflikterleben und psychosozialen Belastungen.
Hohe Akzeptanz
von oraler Medikation
Die orale Medikation ist für den Patienten
die einfachste Form der Therapie. Während
frühere therapeutische Ansätze, zum Beispiel mit
Yohimbinderivaten, eher geringe erhebende Erfolge verzeichneten, scheinen sich mit Sildenafil
(Viagra) weitere Möglichkeiten zu eröffnen. Die
anderen bisherigen Behandlungsformen, wie
Schwellkörper-Autoinjektionstherapie (SKAT),
die transurethrale Prostaglandin-E1-Applikation
(MUSE), aber auch die Vakuum-Erektionshilfen
werden wegen der „Technisierung“ der Erektion
sowohl vom Patienten als auch von der Partnerin
zurückhaltender beurteilt.
Sildenafil wird nicht der einzige erfolgversprechende Ansatz in der oralen Therapie der
Potenzstörungen bleiben. Denn die Ursachen
und Bedingungen sind unterschiedlich (Diabetes,
Hypertonie, Hypotonie, Herzkrankheiten, neurologische Erkrankung). Diese Leiden und die zu
ihrer Behandlung erforderlichen Medikamente
zeigen vielfältige Interaktionen mit potenzfördernden Wirkstoffen. Außerdem wirkt Sildenafil
lediglich auf den Erektionsmechanismus, nicht
jedoch auf die Libido. Ist aber mit Sildenafil eine
Deutsches Ärzteblatt 97, Heft 6, 11. Februar 2000
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EDITORIAL
neue pharmakologische Ära in der Behandlung
der Erektionsstörungen angebrochen? Presseberichte wollen das glauben machen, zum Beispiel
Berichte wie: „Weltgesundheitsorganisation veranstaltet Kongress zur erektilen Dysfunktion.
Ein Krankheitsbild wird neu bewertet...“. Besteht nun die Gefahr der Überwertung medikamentöser Therapieformen und der Vernachlässigung der persönlichen und partnerschaftlichen
Probleme und der entsprechenden Indikationen
zur Psychotherapie? Diese Fragen haben die Diskussion über Erektionsstörungen und darüber
hinaus über Störungen der Sexualfunktion insgesamt belebt. Das Deutsche Ärzteblatt veröffentlicht in den folgenden Heften hierzu eine Reihe
von Arbeiten.
Beiträge mit unterschiedlichem
Schwerpunkt
Über Sildenafil berichtet eine Autorengruppe der Universität München (Schopohl und Mitarbeiter). Die Autoren gehen von der Pathophysiologie und Diagnostik der Erektionsstörungen
aus, referieren über die Pharmakologie und
berücksichtigen insbesondere die Nebenwirkungen von Sildenafil und erörtern die Indikation.
Ergänzt wird diese Studie durch eine Arbeit
aus der Urologischen Hochschulklinik Hannover
(Stief et al.); hier liegt der Akzent auf den medikamentösen Behandlungen insgesamt, in deren
Spektrum Sildenafil einzuordnen ist, wobei auch
auf künftige Alternativen, wie auf das neue sublinguale Therapeutikum Apomorphin, das im
Gegensatz zu Sildenafil auch die Libido beeinflussen soll, hingewiesen wird.
Beide Autorengruppen versäumen nicht, auf
andere Dimensionen und Behandlungsmöglichkeiten der Erektionsstörungen hinzuweisen: auf
die psychischen Bedingungen, die multifaktorielle Genese, die persönliche Beratung des Patienten, das Einbeziehen des Partners in Diagnostik und Behandlung und die Psychotherapie.
Diese Perspektiven werden ausführlich in einem psychosomatischen Beitrag aus der Psychiatrischen Klinik der Hochschule Hannover (Hartmann) besprochen, insbesondere die psychodynamischen Bedingungen und die entsprechenden
Behandlungsmöglichkeiten.
Die vierte Arbeit überschreitet in psychotherapeutischer Sicht den Bereich der Erektionsstörungen und beschreibt die Behandlung der
Störungen der Sexualfunktion im weiteren Sinne
(worunter die Erektionsstörungen eine große
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Deutsches Ärzteblatt 97, Heft 6, 11. Februar 2000
Gruppe ausmachen). Sigusch (Institut für Sexualwissenschaften der Universität Frankfurt/Main)
erinnert an die Methode von Masters und Johnson, die schon vor 30 Jahren mit der „Paartherapie“ unerwartet hohe Erfolgsquoten erreichte.
Jeder Artikel hat eine spezielle Sichtweise,
aber nicht ohne Bezug zu anderen Ansätzen. Die
Zeit scheint vorüber, in der Urologe, Pharmakologe oder Psychosomatiker die Störungen der Sexualfunktion sozusagen für sich reklamierte und
jeder vorrechnete, dass der Ätiologie nach mehr
als die Hälfte der Fälle zu seinem Fachgebiet
gehöre. Diese Darstellungsweise konnte nicht
richtig sein, weil bei einem sehr großen Anteil der
Betroffenen somatische und psychische Entstehungsbedingungen zusammentreffen. Somatische Faktoren können sich umso mehr auswirken,
wenn psychische Konflikte und Partnerprobleme
hinzukommen. Persönliche Probleme führen insbesondere dann zu Sexualstörungen, wenn organische Bedingungen diese sozusagen nahe legen.
Bei vielen Patienten erklärt erst die Wechselwirkung der Faktoren die Manifestation der Störung.
Zusammengenommen informieren die vier
Arbeiten umfassend. Die Synopse ergibt sich aus
der Lektüre insgesamt: Die Diagnose ist immer
mit einem ausführlichen ärztlichen Gespräch einzuleiten. Sexuelle Funktionsstörung ist nicht nur
ein somatisches, nicht nur ein psychisches Problem und oft nicht nur ein Problem des Betroffenen allein, sondern auch der Partnerschaft. Am
Anfang der Therapie stehen immer die eingehende Information und Beratung in Form des ärztlichen Gespräches. Eine somatische Behandlung
ist psychotherapeutisch zu begleiten. Eine Psychotherapie muss die organischen Bedingungen
mit berücksichtigen.
Zitierweise dieses Beitrags:
Dt Ärztebl 2000; 97: A-309–310
[Heft 6]
Anschrift der Verfasser
Prof. Dr. med. Jürgen Sökeland
Institut für Arbeitsphysiologie
Universität Dortmund
Abteilung Ergonomie
Ardreystraße 67
44139 Dortmund
em. Prof. Dr. med. Rainer Tölle
Klinik für Psychiatrie
Westfälische Wilhelms-Universität
Albert-Schweitzer-Straße 11
48149 Münster
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