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Sozialismus
Heft 5-2016 | 43. Jahrgang | EUR 7,00 | C 12232 E
www.Sozialismus.de
Alban Werner:
Was tun gegen die AfD?
J. Bischoff/B. Müller:
Mitte und Normalarbeit
G. Peter/A. Georg: SelbstWertGefühl und Arbeit 4.0
Riexinger, Ernst, Arenz/
Dreibus, Wendl: LINKE
E. Schleitzer: Das Geschäft
mit den alten Menschen
Forum
Gewerkschaften
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Heft Nr. 5 | Mai 2016 | 43. Jahrgang | Heft Nr. 407
Nur im Netz:
Kalter Staatsstreich?
Die Redaktion veröffentlicht regelmäßige Beiträge zwischen den
monatlichen Printausgaben auf
»Die ganze politische Klasse ist involviert«
Camila Moreno im Gespräch mit Ulrich Brand
über die aktuelle Situation in Brasilien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2
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Der Skandal
AfD und Schutzsuchende: Was tun?
Joachim Bischoff/Bernhard Müller:
Rechtspopulismus, das »wahre Volk« und Fremdenfeindlichkeit . . . . . . . . . . . . . . . 8
Alban Werner:
Wie man die AfD bekämpfen sollte – und wie nicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12
Flüchtlingsdeal versus Pressefreiheit:
diese Entscheidung ist ein Skandal. Die Bundeskanzlerin, die schon
gegenüber dem türkischen Ministerpräsidenten das »Schmähgedicht«
des Satirikers Jan Böhmermann als
»bewusst verletzend« bezeichnet hat,
»ermächtigte« die Justiz nun gegen
diesen vorzugehen. ...
»Brexit« oder EU-Reform?
Arbeitsgruppe Alternative Wirtschaftspolitik:
Flüchtlingsmigration: eine Chance zur Stärkung des Gemeinwesens . . . . . . . . . . . 16
Die Folgen wachsender Ungleichheit
Joachim Bischoff/Bernhard Müller:
Schrumpfende Mitte und Normalarbeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 22
Welche Strategien braucht die Linke?
Bernd Riexinger: Für eine Revolution der Gerechtigkeit. Herausforderungen
der LINKEN im Kampf gegen Neoliberalismus und Rechtspopulismus . . . . . . . . . 28
Klaus Ernst: Eine Linke, die die Machtfrage nicht stellt,
macht sich überflüssig . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 36
Horst Arenz/Werner Dreibus: AfD-Wähler – alles Nazis aus der Mitte?
Thesen zu aktuellen Debatten in der Partei DIE LINKE . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 39
In Großbritannien beginnt die offizielle Kampagne für das EU-Referendum, über das am 23. Juni abgestimmt wird. Es sieht nach einem
knappen Abstimmungsergebnis aus.
Die Befürworter einer EU-Mitgliedschaft Großbritanniens haben in den
letzten Wochen aufgeholt. ...
Oh, wie schön ist Panama
Michael Wendl: Linker Nationalismus und konservative Kapitalismuskritik
(zu Sahra Wagenknechts neuem Buch »Reichtum ohne Gier«) . . . . . . . . . . . . . . . 43
Forum
Gewerkschaften
Arno Georg/Gerd Peter: SelbstWertGefühl und Arbeit 4.0
Wie man bei einer neuen Humanisierungslogik ansetzen sollte . . . . . . . . . . . . . . 47
Otto König/Richard Detje: Tarifpolitik für alle
Den Sinkflug der Tarifbindung stoppen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 53
Erhard Schleitzer: Das Geschäft mit den alten Menschen
Investmentgesellschaften dominieren die Altenpflege . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 57
Die »Panama Papers« sind das Resultat einer großen internationalen
Recherche, bei der Journalisten aus
über 80 Ländern mehr als elf Millionen Dokumente zu Briefkastenfirmen analysiert haben. Deren Auswertung zeigt, dass viele im Auftrag
von aktuellen und früheren Staatschefs, weiteren Spitzenpolitikern sowie Prominenten eingerichtet und
betreut wurden. ...
Aus der Geschichte lernen
Jörg Wollenberg: Le Vernet war ihr Schicksal
Willy Gengenbach und die vergessenen Spanienkämpfer im KZ Le Vernet . . . . . . 63
Claus Armann: Frauen gemeinsam sind stark!
(zu Ingrid Baucher, »Tschikweiber haums uns g’nennt«) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 66
Impressum | Veranstaltungen | Film
Impressum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 65
Veranstaltungen & Tipps . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 68
Klaus Schneider: Wild (Filmkritik) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 69
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Sozialismus 5/2016
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Für eine Revolution der Gerechtigkeit
Herausforderungen der LINKEN im Kampf gegen Neoliberalismus und Rechtspopulismus
Bernd Riexinger
Am 7.6.2015 auf dem Bundesparteitag in Bielefeld (Foto: dpa)
von
Am 28./29. Mai findet der Bundespartei der Partei DIE LINKE statt. In einer vom Aufschwung des
Rechtspopulismus geprägten Zeit plädiert ihr Co-Vorsitzender Bernd Riexinger dafür, die soziale Frage neu
zuzuspitzen und das Profil der LINKEN als gesellschaftliche Opposition zu schärfen: »es gibt kein linkes Lager der Parteien«. Neues Normalarbeitsverhältnis, Ausbau des Öffentlichen und eine sozial-ökologische
Wirtschaftsdemokratie sind die Eckpfeiler seines Transformationsprojekts.
1. Neue Herausforderungen im Kampf gegen
Neoliberalismus und Rechtspopulismus
Die Ergebnisse der Landtagswahlen im März sind ein herber
Rückschlag für alle, die sich für soziale Gerechtigkeit und Demokratie in diesem Land einsetzen. Als LINKE haben wir bei
starkem Gegenwind im Wahlkampf Niederlagen erlitten: In
Sachsen-Anhalt mussten wir deutliche Verluste hinnehmen,
in Rheinland-Pfalz und Baden-Württemberg hat sich gezeigt,
dass die Verankerung der Partei in der Fläche weiterhin zu
schwach ist. Das Alarmsignal ist, dass die AfD in Sachsen-Anhalt wie Baden-Württemberg stärkste Partei bei den Erwerbslosen und bei den ArbeiterInnen geworden ist. Sie haben mit
ihrer Stimme den etablierten Parteien einen Denkzettel verpasst und im besonderen Ausmaß die Parteien der Großen Koalition abgestraft.
Die Sozialdemokratie und das bürgerliche Lager setzen der
Rechtsverschiebung de facto nichts entgegen. Die Kombination
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Sozialismus 5/2016
von rhetorischem »Wir schaffen das«, organisiertem Staatsversagen infolge der jahrelangen Kürzungspolitik im Öffentlichen Sektor und Übernahme von AfD-Rhetorik durch PolitikerInnen von CDU und CSU haben der AfD starken Rückenwind
gegeben.
Die Zustimmung in relevanten Teilen der Prekären und
der Mittelklasse zum rechtspopulistischen »Kulturkampf« in
Deutschland speist sich aus unterschiedlichen und zum Teil
widersprüchlichen Tendenzen: Angst vor zunehmender Konkurrenz auf dem Arbeits- und Wohnungsmarkt, vor einer zunehmend krisenhaften Welt. In den über Jahre von Sarrazin
u.a. geförderten kulturalistischen Rassismus gegen Muslime
mischt sich auch Angst vor dem islamistischen Terrorismus und
das Bedürfnis nach Sicherheit im Alltag. In einer von Konkurrenz und Unsicherheit geprägten Gesellschaft suchen Teile der
Bevölkerung Rückhalt in traditionellen Familienmodellen und
Geschlechternormen. Die AfD schafft es derzeit – vergleichbar
mit anderen rechtspopulistischen Parteien in Europa –, Erfah-
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rungen der Verunsicherung, Abstiegsangst, des Dauerstresses
und der Erniedrigung in einer zunehmend gespaltenen und prekarisierten Arbeitswelt von rechts zu artikulieren (vgl. Dörre
2015). Die Erfahrung, dass die eigenen Leistungen nicht anerkannt werden und Arbeit nicht zu einem sicheren Lebensstandard führt, prägt mittlerweile große Teile der Lohnabhängigen,
bis hin in die untere Mittelschicht hinein. Wenn der zu verteilende »Kuchen« als gleichbleibend oder kleiner werdend eingeschätzt wird, entsteht »exklusive Solidarität« (ebd.) und nimmt
die Abgrenzung nach unten und »außen« (zu BezieherInnen von
Soziallleistungen und zu Flüchtlingen) zu. Es ist nicht damit zu
rechnen, dass der Resonanzboden für rechtspopulistische Positionen kurzfristig kleiner wird. In den nächsten Monaten werden
sie vermutlich noch stärker die Frage der Integration besetzen
und die rassistische Hetze gegen »den Islam« verstärken.
Strategische Anleihen bei der historischen Einheitsfrontoder gar Volksfront-Strategie sind nur begrenzt hilfreich. Weder ist auf absehbare Zeit ein Bündnis der dominanten Kapitalfraktionen mit neofaschistischen Kräften zu befürchten, noch ist
die Sozialdemokratie in Europa gegenwärtig eine gesellschaftliche Kraft, die für die Verbesserung der Lage der Lohnabhängigen und für eine Ausweitung der sozialen Demokratie streitet.
Als LINKE sollten wir in dieser Situation nicht primär auf Parteienbündnisse setzen, sondern auf gesellschaftliche Bündnisse,
die aufklären und die Auseinandersetzung mit den Inhalten der
AfD suchen. Parlamentarische Koalitionen gegen rechtspopulistische Parteien laufen Gefahr, die Kritik an den gesellschaftlichen Ursachen der Rechtsentwicklung und DIE LINKE als vermeintlicher Teil des »Merkel-Lagers« unsichtbar zu machen.
Vor allem aber reicht eine antifaschistische Politik der Defensive nicht aus, um die Rechtspopulisten zu schwächen. Derzeit
vereint die AfD in sich neoliberale, rechtskonservative und neofaschistische Elemente. Es gilt, den antisozialen Charakter der
AfD deutlich zu machen und konkret aufzuzeigen, dass sie keine
soziale Alternative für Erwerbslose und Menschen mit geringen
Einkommen ist. Um ein Bollwerk gegen Rassismus zu bilden,
muss linke Politik die Ursachen von Rassismus und Rechtspopulismus bekämpfen – und dazu gehört an erster Stelle die neoliberale Politik der Prekarisierung und Entfesselung von Konkurrenz und Spaltungen.
Wir stehen an einem Scheideweg der gesellschaftlichen Entwicklung: Werden größere Teile der Erwerbslosen, Prekären,
GeringverdienerInnen und die abstiegsbedrohte Mittelschicht
sich den Rechtspopulisten zuwenden und damit den Weg für
eine noch unsozialere, autoritäre und antidemokratische Entwicklung bereiten? Oder gelingt es, Konkurrenz und Entsolidarisierung zurückzudrängen und ein solidarisches gesellschaftliches Lager zu bilden?
Die Bedingungen dafür sind nicht günstig. Die SPD steckt in
einer tiefen Krise, eine sozialdemokratische Wiederbelebung ist
derzeit nicht in Sicht. Lange war die Funktion der LINKEN im
Parteiensystem dadurch bestimmt, dass wir die SPD, in Teilen
auch die Grünen, getrieben haben. Beide Parteien sind aber von
einer Politik sozialer Gerechtigkeit derzeit weiter entfernt als je
zuvor und verstehen sich als Mehrheitsbeschaffer im Rahmen
einer »marktkonformen Demokratie« – es gibt kein linkes Lager der Parteien. Als LINKE gelingt es uns schon seit einigen
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Monaten kaum noch, von der Erosion der Sozialdemokratie zu
profitieren. In dieser Situation sollten wir uns als offensive und
konstruktive Kraft für eine grundlegende gesellschaftliche Veränderung begreifen – das meint, mehr Opposition zu sein, statt
sich als soziales Korrektiv einer Mitte-Links-Regierung zu verstehen. Wir müssen deutlich machen: Die LINKE tritt das Erbe
der Sozialdemokratie an, die sozialen Grundlagen der Demokratie zu verteidigen, neu zu beleben und für ihre Ausweitung
– in Richtung eines demokratischen Sozialismus – zu kämpfen.
Gleichwohl dürfen wir SPD und Grüne nicht aus der Verantwortung für einen Politikwechsel entlassen.
In dieser Situation kommt der LINKEN die Aufgabe zu, zur
organisierenden Kraft eines gesellschaftlichen Lagers für soziale
Gerechtigkeit, soziale Demokratie und einen ökologischen Umbau der Gesellschaft zu werden (vgl. Kipping/Riexinger 2016).
Die Orientierung auf ein solches gesellschaftliches Bündnis ist
Kernbestand der Strategie von Katja Kipping und mir. Wir haben
in den letzten Jahren die Idee der »verbindenden Partei« entwickelt. Das bedeutet, das Gemeinsame zwischen einem (jungen)
urbanen linken Millieu, Erwerbslosen, prekär Beschäftigten
und den Millionen Beschäftigten, die sich ein Leben ohne Dauerstress, Abstiegsangst und Altersarmut wünschen, herauszubilden.
Diese Herausforderung lässt sich genauer bestimmen:
■ Viele Menschen halten eine Umverteilung des Reichtums
von den Profiten zu den Löhnen und zum Ausbau sozialer
Daseinsfürsorge kaum für möglich. In diesem Fatalismus
manifestiert sich nicht zuletzt die zentrale Schwäche der gesellschaftlichen Linken, schrittweise Veränderungen im Alltagsbewusstsein herbeizuführen. Die Gefahr ist gewachsen,
dass es der Rechten trotz aller Fehler und Widersprüche gelingen könnte, das Feld der Auseinandersetzung um soziale
Fragen dauerhaft rassistisch zu verschieben. Die zentrale Herausforderung besteht darin, die soziale Frage neu zuzuspitzen: hin zu einem Kampf gegen die Superreichen und Profiteure von Armut und Ungerechtigkeit. Wir müssen unsere
Antworten auf die Fragen und Bedürfnisse der Erwerbslosen,
der ArbeiterInnen, prekär Beschäftigten und der lohnabhängigen Mittelschicht neu formulieren.
■ Wir dürfen in der Flüchtlingspolitik nicht von unserem klaren
Kurs für das Asylrecht, für die Aufnahme von Schutzsuchenden und für gleiche Rechte aller Menschen, die hier leben und
zu uns kommen ab, abrücken. In Zeiten einer entstehenden
gesellschaftlichen Polarisierung muss die LINKE die Partei
sein, die auf der Seite derjenigen steht, die durch den reaktionären Kulturkampf der Rechtspopulisten bedroht werden. Aber angesichts der Tendenz zur Fragmentierung und
Polarisierung der Lebensweisen, die eng mit den tiefen Umbrüchen und Spaltungen der Arbeitsgesellschaft, wachsender Ungleichheit (auch zwischen Regionen) verbunden ist,
macht das alleine noch keine Strategie im Kampf um Hegemonie aus. Auch ein Beschimpfen der AfD-WählerInnen als
»rückständig« ist wenig hilfreich.
Der Kulturkampf der AfD greift auch die Errungenschaften
der Frauenbewegung und der 1968er an: Gleichberechtigung,
Bernd Riexinger ist Vorsitzender der Partei DIE LINKE.
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Rechte für Schwule und Lesben, Vervielfältigung der Geschlechterrollen und Familienformen. Dabei greifen sie auch Sicherheitsbedürfnisse von Teilen der unteren und Mittelschichten
auf, die sich im Wunsch nach einem »zurück« zu alten Zeiten
sicherer Arbeit, stabiler und überschaubarer Gemeinschaften
äußern. Dass das gelingt, hat nicht nur mit tiefer verankerten
konservativen Vorstellungen zu tun, sondern auch damit,
dass im Zuge neoliberal geprägter Modernisierung durch RotGrün Anfang der 2000er Jahre die Akzeptanz neuer Familienformen, das Plädoyer für »Multi-Kulturalismus« und Weltoffenheit zunehmend von der sozialen (Klassen-)Frage getrennt
wurde. In Zeiten entfesselter Konkurrenz und unsicherer Jobs
ist für viele Menschen der Bezug auf die Familie ein wichtiger
Sicherheitsanker, auch wenn dieser selbst prekärer wird. Im
Kampf um die Köpfe und Herzen kann sich linke Politik nicht
allein auf die höher qualifizierten Millieus und ihre Lebensweisen beziehen.
Ernst Bloch hat in der Analyse des Aufstiegs des Faschismus von dem »Wärmestrom« der Bedürfnisse nach Sicherheit,
Schutz und Heimat gesprochen, die sozialistische Politik nicht
den Rechten überlassen darf. Der Kampf um Sicherheit und
Selbstbestimmung für alle Menschen, für lebenswerte Regionen
in einer weltoffenen Gesellschaft muss offensiv von links geführt
werden. Die Herausforderung besteht darin, die Bedürfnisse
nach Sicherheit und Orientierung von rassistischen und reaktionären Diskursen zu »trennen« und mit der Klassenfrage zu
verbinden. Wir müssen die Frage, wie die Menschen arbeiten
und leben wollen, mit ihnen diskutieren, daher auch neue Formen der Entwicklung unserer Programme und Politik finden.
Ein so verstandener »Kulturkampf« von links lässt sich nicht
von einer weitreichenden Transformation der Wirtschaftsstruktur und Arbeitsgesellschaft trennen (siehe 4.).
2. Kampf um die sozialen Garantien –
die soziale Frage neu zuspitzen
Im Kampf gegen rechts und um die Wiederbelebung der sozialen
Demokratie ist die Verteilungsfrage der Dreh- und Angelpunkt.
Die Konzentration des Reichtums in den Händen weniger Superreicher entzieht sich oft der alltäglichen Vorstellungskraft. Wir
stehen vor der Herausforderung, unsere Gegnerschaft zur Bereicherung des 1% auch symbolisch deutlicher zu machen, stärker
zu personalisieren und die Aufklärungsarbeit zur Verteilungsfrage zu verstärken. Linke Politik muss auch eine Kampfansage
an die Klassenfraktion des gehobenen Managements von Banken und transnationalen Konzernen und die Unterordnung der
Politik unter das Dogma der Wettbewerbsfähigkeit sein. Niedriglöhne und prekäre Arbeit, der Kostendruck in Krankenhäusern und Pflegeheimen, steigende Mieten und Verdrängung haben konkrete Profiteure, die wir stärker benennen müssen. Dazu
gehört auch, die Entwicklung der Profite und die Verteilung der
Produktivitätsgewinne stärker zu skandalisieren.
Angesichts der politischen Gefahren und begrenzter Kräfte
stehen wir vor der Herausforderung, uns auf gemeinsame
Schwerpunkte bei der sozialen Frage zu verständigen. Diese
müssen an aktuelle Auseinandersetzungen in der Gesellschaft
anknüpfen.
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Dazu gehört – auch vor dem Hintergrund der öffentlichen
Auseinandersetzung um die Rente – der Einsatz für höhere
Löhne. In den Tarifbewegungen der letzten Monate ist eine hohe
Streikbereitschaft festzustellen. Steigende Mieten, höhere Kosten für Bildung und Weiterbildung, Mobilität, Gesundheitsversorgung und Pflege tragen zur Prekarisierung von Lebensverhältnissen bis weit in die mittleren Einkommen hinein bei.
In den Mieterprotesten findet der Slogan »Hoch mit den Löhnen, runter mit der Miete« breite Resonanz. Die von ganz unterschiedlichen Beschäftigtengruppen geteilten Ansprüche auf
existenzsichernde und gute Löhne und eine planbare Zukunft
könnten einen Bündelungspunkt bilden. Dabei sollte die LINKE
auch die Forderung nach einer sofortigen Erhöhung des Mindestlohns auf 10 Euro und perspektivisch 12 Euro in die öffentliche Diskussion einbringen.
Kampf gegen die Altersarmut: Das Risiko der Altersarmut
hat längst die Durchschnittsverdienenden erreicht. Fast jedem
Zweiten, der ab 2030 in Rente geht, droht eine Rente unterhalb
der Armutsgrenze. Dabei müssen wir verstärkt die jüngeren Generationen ansprechen und den neoliberalen Mythos der »Generationengerechtigkeit« angreifen: »heute jung – morgen arm«
bringt das Problem auf den Punkt. Die Sorgen vor Altersarmut
sind umso größer, je jünger die Menschen sind. So meinen 62%
der 18- bis 34-Jährigen, dass sie nicht ausreichend abgesichert
sind. Zwei Drittel der Bundesbürger trauen der Großen Koalition nicht zu, die Lawine der Altersarmut zu verhindern. Das
Rentenniveau muss dringend angehoben, die Rente mit 67 und
die Privatisierung durch die gescheiterte »Riester-Rente« müssen zurückgenommen werden. Mit unseren Konzepten für eine
sanktionsfreie Mindestsicherung statt Hartz IV in Höhe von
1.050 Euro, für eine Grundsicherung für alle Kinder und für
eine solidarische Mindestrente könnte Armut in einem reichen
Land sofort beseitigt werden.
Als weitere Bündelungspunkte drängen sich vor allem der
Kampf um gute Gesundheitsversorgung und Pflege sowie um
bezahlbaren Wohnraum für alle auf. Der Mangel an bezahlbarem Wohnraum betrifft Millionen Menschen in diesem Land.
In den Krankenhäusern herrscht Personalmangel und BurnOut der Beschäftigten. Durch die Weiterentwicklung unserer
Kampagne »Das muss drin sein« und die Schwerpunktsetzung
auf die Forderungen nach bezahlbarem Wohnraum für alle und
mehr Personal für gute Gesundheitsversorgung und Pflege können wir Menschen direkt einladen, den Kampf um soziale Garantien mit uns gemeinsam zu führen.
Umverteilung und soziale Offensive für alle: Die außerparlamentarische »Lage« ist derzeit dadurch geprägt, dass sich die
vielen wichtigen Initiativen im Kampf gegen rechts und für die
Unterstützung von Geflüchteten nicht zu einer gemeinsamen
Bewegung verknüpfen – und Antifaschismus von der sozialen
Gerechtigkeitsfrage getrennt bleibt. Gemeinsam mit Gewerkschaften, Sozialverbänden, Attac, MigrantInnenverbänden,
FlüchtlingsunterstützerInnen und Antifa-Initiativen wollen wir
eine neue Initiative für eine Umverteilung des Reichtums und
eine soziale Offensive voranbringen. Dabei gilt es auch die Basis der SPD anzusprechen.
Linke Politik muss Hoffnung auf Veränderungen machen
durch eine solidarische Alltagskultur, gemeinsame Organisie-
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Beim Bundestagswahlkampf 2013 in Berlin (dpa)
rung und konkrete Erfolge in der Kommune. Um mittelfristig
diejenigen Menschen zu erreichen, die in Stadtteilen mit hoher Armutsquote leben und den Glauben an politische Veränderungen aufgegeben haben, braucht es eine aktivierende und
organisierende Klassenpolitik im Alltag, die konkrete Unterstützung (im Geiste der »Kümmererpartei«) mit der Erfahrung der
kollektiven Selbstermächtigung verbindet und (kleine) Erfolge
im Kampf um bessere Arbeits- und Lebensbedingungen ermöglicht. Schritte in diese Richtung werden noch in diesem Jahr mit
Modellprojekten in »sozialen Brennpunkten« und einer »Offensive des Zuhörens« mit Hausbesuchen auf den Weg gebracht.
3. Gegen Dauerstress und Existenzangst –
die Enteignung der Arbeit stoppen
Es sind maßgeblich die Alltagserfahrungen der Unsicherheit
und Entwürdigung, der Konkurrenz und Entsolidarisierung in
der Arbeitswelt, die den Nährboden für den Rechtspopulismus
bilden. Es muss uns und den Gewerkschaften zu denken geben,
dass im März über 15% der Gewerkschaftsmitglieder in BadenWürttemberg und 24% in Sachsen-Anhalt AfD gewählt haben,
obwohl diese Partei ein gewerkschaftsfeindliches Programm
hat. Im Zentrum einer linken Strategie für ein gesellschaftliches
Bündnis gegen Neoliberalismus und Rechtspopulismus muss
der Kampf für eine grundlegende Umgestaltung der Arbeitswelt, für ein Neues Normalarbeitsverhältnis stehen.
Mit 43 Millionen Beschäftigungsverhältnissen sind so viele
Menschen in Lohnarbeit wie noch nie in der Geschichte der
Bundesrepublik, ein »Ende der Arbeit« ist nicht in Sicht. Trotz
gestiegener Produktivität ist das Arbeitsvolumen (in Stunden)
zwischen 1994 und 2014 nahezu gleich geblieben. Der Anteil der
Beschäftigten in sozialversicherungspflichtiger Vollzeitarbeit ist
aber zwischen 1994 und 2014 um fast zehn Prozent auf 67,5%
gesunken. Klaus Dörre spricht von der Tendenz zur »prekären
Vollerwerbsgesellschaft« (vgl. Dörre 2015). Prekarisierung, Entgrenzung der Arbeit und zunehmende Spaltungen (hinsichtlich
Einkommen, Regulierung über Tarifverträge, Beschäftigungssicherheit, Arbeitszeit und Arbeitsbedingungen) prägen die Entwicklung der Lohnarbeit.
Auch die weitere Digitalisierung der Arbeit wird nicht dazu
führen, dass der Arbeitsgesellschaft die Arbeit ausgeht. Derzeit
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kann niemand genau die Folgen der Digitalisierung, der damit
verbundenen Produktivkraftsteigerungen und Umwälzungen
der Unternehmensstrukturen und Arbeitsorganisation einschätzen. Fest steht gleichwohl: Ohne massive Veränderung der gesellschaftlichen Kräfteverhältnisse zwischen Kapital und Arbeit
wird die Digitalisierung nicht zu einem gesellschaftlichen Pfadwechsel führen, sondern die bestehenden Tendenzen der Prekarisierung, Entgrenzung und Spaltung der Arbeit verschärfen
und die Tendenz zu »hochtechnologischer Massenerwerbslosigkeit« verstärken (vgl. Riexinger 2016; Urban 2016).
Eine neue Regulierung der Arbeit kann kein einfaches Zurück
zum alten »Normalarbeitsverhältnis« (mit der Norm: Vollzeit
und rigide Arbeitszeiten, lebenslange Betriebszugehörigkeit)
sein. Es geht darum, von links einen Hegemoniekampf um die
Gestaltung der Arbeit zu führen: Arbeit muss für alle sicher, kürzer, geschlechtergerecht und gerecht verteilt, selbstbestimmt
und demokratisch (mit-)gestaltet werden. Angesichts der zunehmenden Spaltungen in der Arbeits- und Lebensrealität besteht die zentrale Herausforderung darin, an der Entstehung
eines gesellschaftlichen Bündnisses zu arbeiten, das ein Neues
Normalarbeitsverhältnis durchsetzen könnte.
Die potenzielle soziale Basis eines solchen Bündnisses setzt
sich aus Erwerbslosen, (geringer qualifizierten) ArbeiterInnen
und Beschäftigten im Niedriglohnsektor, prekären Solo-Selbständigen, den (höher qualifizierten) Beschäftigten im privaten
und Öffentlichen Dienstleistungssektor, insbesondere in den
wachsenden sozialen Dienstleistungen, sowie FacharbeiterInnen
und technischer Intelligenz in den Industriesektoren zusammen.
Nur wenn die Interessen der (noch) tariflich abgesicherten, organisierten, aber unter großem Druck stehenden »Kerne« der
Industrie und des Öffentlichen Sektors in einer politischen Offensive für ein Neues Normalarbeitsverhältnis aufgegriffen werden, kann verhindert werden, dass diese sich »nach unten« abgrenzen. Die mit der Prekarisierung verbundenen Spaltungen
sind eine Zukunftsfrage der Gewerkschaftsbewegung – auch
der Industriegewerkschaften. In der Exportindustrie wirkt auch
der brutale Druck des globalen Konkurrenzkampfes unmittelbar: Die Beschäftigten leiden unter enormem Leistungsdruck
und permanenten Umstrukturierungen. Eine Politik des Korporatismus kann sich zwar durchaus auf das Alltagsbewusstsein
vieler Beschäftigter stützen, die den Betrieb als Schutzgemein-
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schaft im globalen Standortwettbewerb erleben – Sicherheit
und gute Arbeit sind aber so nicht auf Dauer zu gewährleisten.
Es braucht daher eine konfliktorientierte Gewerkschaftspolitik, die um bessere Arbeitsbedingungen und soziale Absicherung durch eine solidarische Verbindung unterschiedlicher Beschäftigtengruppen ringt.
Für ein Neues Normalarbeitsverhältnis
als linke Reformalternative
Eine politische Agenda für ein Neues Normalarbeitsverhältnis
soll dazu beitragen, die Interessen unterschiedlicher Milieus
der Lohnabhängigen aufzunehmen und solidarisch zu verbinden. Dabei kann an übergreifende Problemlagen und geteilte
Ansprüche auf »gute Arbeit« angeknüpft werden. Die große Jugendstudie im Auftrag der IG Metall verweist auf das aufgekündigte Aufstiegsversprechen für relevante Teile der jungen Generation: 40% der Befragten unter 35 hatten noch nie einen
unbefristeten Arbeitsvertrag, 28% von ihnen haben kein ausreichendes Einkommen (unter 2.000 brutto), für 96% sind berufliche Weiterentwicklungsmöglichkeiten das zentrale Thema,
aber über 50% fehlt das Geld für eine (unbezahlte) Auszeit zur
Fortbildung oder zum Berufswechsel.
Forderungen und Slogans alleine wirken kaum mobilisierend, entscheidend ist es, Anknüpfungspunkte an betriebliche
Konflikte und gewerkschaftliche Auseinandersetzungen zu finden, die das Potenzial gesellschaftspolitischer Mobilisierung
bieten.
Die fünf Säulen eines Neuen Normalarbeitsverhältnisses
sind:
1. Arbeit muss zum Leben reichen und es ermöglichen, die eigene Zukunft zu planen: Prekäre Arbeit und der auch durch den
Mindestlohn nicht beseitigte Niedriglohnsektor sind längst zu
einem strukturellen Bestandteil des Produktions- und Dienstleistungsmodells im neoliberalen Finanzmarktkapitalismus geworden. Elf Millionen, ca. 25% der Beschäftigten, sind direkt betroffen. Es geht daher um einen Richtungswechsel von prekärer
Arbeit und unsicheren Zukunftsperspektiven hin zu existenzsichernder und sozial abgesicherter Arbeit für Alle durch Verbot
von sachgrundlosen und Kettenbefristungen, Leiharbeit und
des zur Regel gewordenen Missbrauchs von Werkverträgen sowie um die Zurückdrängung und soziale Absicherung von SoloSelbständigkeit.
Teil eines Neuen Normalarbeitsverhältnisses muss eine umfassende soziale Absicherung sein, die für alle Erwerbstätigen,
auch für nicht abhängig Beschäftigte und für (Solo-)Selbständige greift. Mit der allgemeinen und solidarischen Gesundheitsund Pflegeversicherung haben wir bereits geeignete Konzepte,
die in diese Richtung gehen. Die den Lebensstandard sichernde
Arbeitslosenversicherung muss wiederhergestellt werden. Die
Teilprivatisierung der Altersvorsorge muss rückgängig gemacht
werden und eine den Lebensstandard sichernde und armutsfeste Rente für alle ab 60 Jahren mit flexiblen Übergängen eingeführt werden.
2. Die Enteignung der Arbeit stoppen – für steigende Löhne
und Tarifverträge für alle: Die Produktivitäts- und Lohnentwicklung sind weit auseinander gedriftet. Auch die Lohnentwicklung entwickelt sich auseinander: Insgesamt lag das reale
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Plus für tarifgebundene Arbeitnehmer 2014 gegenüber der Jahrtausendwende bei 11,9%. Während die oberen Einkommensgruppen einen leicht positiven Trend aufweisen, sind die Löhne
in den unteren und mittleren dramatisch gefallen, teilweise bis
zu zehn Prozent in den letzten zehn Jahren. Die Reichweite der
Tarifverträge ist stark zurückgegangen: Nur noch 51% der Beschäftigten im Westen und 37% im Osten fallen darunter. Das
drückt einen massiven Rückgang der Organisationsmacht der
Gewerkschaften aus und ist eine der Hauptursachen für den Anstieg prekärer Beschäftigung. Neben der Zurückdrängung prekärer Arbeitsverhältnisse müssen der Anstieg des Mindestlohns
auf perspektivisch 12 Euro und erleichterte Allgemeinverbindlichkeit von Tarifverträgen im Mittelpunkt einer »politischen
Lohnoffensive« stehen.
3. Arbeit umverteilen statt Dauerstress und Existenzangst:
Über eine Millionen Menschen, 38% Prozent aller Erwerbslosen,
werden als Langzeitarbeitslose dauerhaft von der gesellschaftlichen Teilhabe ausgeschlossen. Die Arbeitszeiten klaffen immer
weiter auseinander: Einerseits wächst die strukturelle Unterbeschäftigung durch Teilzeit, Stundenlöhner-Verträge, Mini- und
Midi-Jobs, andererseits leiden mehr und mehr Beschäftigte unter der Entgrenzung der Arbeitszeit. Burn-out ist eine gesellschaftliche Krankheit geworden und für die Mehrheit der Beschäftigten wird es immer schwieriger, Arbeit und Leben unter
einen Hut zu bekommen. Viele Frauen sind von Unterbeschäftigung (wie unfreiwilliger Teilzeit und Minijobs), flexibilisierten
Arbeitszeiten und einer Dreifachbelastung (durch Erziehungsund Sorgetätigkeiten »neben« der Lohnarbeit) betroffen, was
oft zu einer prekären Lebenssituation, insbesondere bei Alleinerziehenden führt.
78% der Beschäftigten wünschen sich, die Arbeitszeit für Kinderbetreuung und Pflegezeiten verkürzen zu können. 92% wollen nicht, dass die Arbeitszeitflexibilität ihr Privatleben beeinträchtigt. 56% aller Beschäftigten stehen sehr häufig oder oft
unter Arbeitsstress. Etwa drei Millionen Beschäftigte und 73%
der erwerbstätigen Frauen würden ihre Arbeitszeit gerne erhöhen, durchschnittlich um 11,3 Stunden. Weniger arbeiten trotz
Lohneinbußen wollen dagegen knapp eine Million Erwerbstätige (davon rund 90% in Vollzeitbeschäftigung) – nämlich im
Durchschnitt 11,1 Stunden weniger.
Es geht daher um einen doppelten Richtungswechsel: zum
einen von Dauerstress und erzwungenem Flexibilitätsdruck hin
zu mehr Selbstbestimmung, Zeitsouveränität und Sicherheit in
der Gestaltung von Arbeit und Arbeitszeit. Zum anderen vom
Ausschluss von Millionen Erwerbslosen von Arbeit und gesellschaftlicher Teilhabe hin zur gerechten Verteilung der Arbeit
und kürzeren Arbeitszeiten für alle. Beruf und FreundInnen,
Familie, kulturelle und politische Aktivität müssen in allen Lebensphasen miteinander vereinbar sein. Die Arbeitszeit muss
sich mehr um das Leben drehen und das Leben weniger um
die Arbeit.
Einstiege in einen solchen Richtungswechsel sind:
1. Ein massiver Aufbau gesellschaftlich sinnvoller und sozial
abgesicherter öffentlicher Beschäftigung. Angesichts von drei
Millionen Erwerbslosen und der Herausforderungen der Integration von Flüchtlingen in den Arbeitsmarkt ist ein Ausbau
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des Öffentlichen (gerade in den sozialen Dienstleistungen) eine
wichtige Säule einer Umverteilung der Arbeit.
2. Arbeit darf nicht krank machen – es braucht eine effektive Stressbremse: durch eine Kombination von individuellen
Veto-Rechten gegen Überforderung und Stress, erweiterter Mitbestimmung von Betriebs- und Personalräten über die Personal- und ausreichende Zuwendungsbemessung bei öffentlich
geförderten Projekten.
3. Minijobs in existenzsichernde und sozialversicherungspflichtige Stellen überführen! Beschäftigte müssen ein Recht auf
eine Mindeststundenanzahl in den Arbeitsverträgen haben.
4. Schritte zu einer neuen, flexibleren und kürzeren Arbeitszeitnorm. Gemäß einer Befragung des DGB gibt es eine Mehrheit für eine flexible Arbeitszeitnorm zwischen 30-40 Stunden: 36% der Beschäftigten wünschen sich Arbeitszeiten von
unter 35 Stunden/Woche, 29% wünschen sich 35-40 Stunden.
Eine politische Initiative zur Umverteilung der Arbeit müsste
diese unterschiedlichen Wünsche zu einem Kampf für eine
neue (und gegenüber der alten Vollzeitnorm auch flexibleren
und geschlechtergerechten) gesellschaftliche Norm bündeln.
Existenzsichernde Teilzeit als Wahlmöglichkeit ist (nur) für einige Gruppen eine attraktive Perspektive, ebenso wie die bestehende Vollzeitnorm. Die gesetzliche Höchstarbeitszeit muss
auf 38 Wochenstunden begrenzt werden und das Recht auf eine
»kurze Vollzeit« von etwa 30-32 Stunden eingeführt werden.
Der Kampf um höhere Löhne und Lohnausgleich ist dabei wichtig – die Wünsche nach längerer Arbeitszeit hängen auch mit
dem zu niedrigen Lohnniveau zusammen. Dies müsste durch
flexible Modelle für unterschiedliche Lebensphasen wie Sabbatjahren, Familien- und Bildungsauszeiten flankiert werden.
Der Slogan »Arbeit umverteilen statt Dauerstress und Existenzangst« wäre vielleicht geeignet, um den verschiedenen Optionen
eine gemeinsame Strahlkraft zu verleihen.
5. Arbeit mit den Menschen aufwerten – gute Bildung, Gesundheitsversorgung und Pflege für alle: Mittlerweile sind in
sozialen Dienstleistungen mehr Menschen als in der Exportindustrie beschäftigt. Die Politik der Unterfinanzierung und
Ökonomisierung des Sozialen ist Teil des neoliberalen Exportmodells. Die zumeist von Frauen geleistete Arbeit mit den Menschen in sozialen Dienstleistungen im Bildungs-, Erziehungs-,
Pflege- und Gesundheitsbereich wird gegenüber Arbeit in der
Exportindustrie abgewertet. In den massiven Streiks der Beschäftigten der Sozial- und Erziehungsdienste, aber auch in verstärkten Konflikten im Gesundheits- und Pflegebereich (z.B. um
Personalbemessung an der Berliner Charité) wird die Qualität
der Arbeit und damit der sozialen Dienstleistungen zu einem
zentralen Gegenstand der Auseinandersetzung. Bei der Forderung nach mehr Personal und guten Arbeitsbedingungen in der
Pflege, Gesundheitsversorgung und Bildung im Rahmen der
Kampagne »Das muss drin sein« geht es auch darum, diese
Auseinandersetzungen zu unterstützen und die Verankerung
der LINKEN in diesen Bereichen zu stärken. Perspektivisch
sollten wir daran arbeiten, die in betrieblichen und tarifpolitischen Konflikten bereits (ansatzweise) politisierten Perspek-
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Ausgabe Mai/Juni 2016
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Sozialismus 5/2016
33
tiven zu stärken und die verschiedenen Auseinandersetzungen
zu einem gesellschaftspolitischen Kampf um den Ausbau und
die Qualität der Öffentlichen Daseinsvorsorge, um gute Arbeit,
Aufwertung, mehr Personal und demokratische Gestaltung von
Bildung, Pflege und Gesundheit für alle zu verbinden.
6. Vom Druck immer steigender Renditen und der Aushöhlung der Mitbestimmung hin zu einer Demokratisierung von
Arbeit und Wirtschaft: Eine linke Politik um die Zukunft der
Arbeit kann als großes Demokratieprojekt begriffen werden.
Eine neue Initiative »Humanisierung der Arbeit« braucht erweiterte individuelle und kollektive Rechte: von individuellen Vetorechten gegen Überforderung und Leistungsstress, Schutz von
Whistleblowern, über die Erweiterung der Mitbestimmungsrechte von Betriebs- und Personalräten bis zum Verbandsklagerecht für Gewerkschaften und den Ausbau des Unternehmensstrafrechts.
4. Für eine soziale und ökologische
Wirtschaftsdemokratie
Angesichts der Herausforderungen vielfältiger Krisenprozesse
und der Polarisierungen im »Kulturkampf« muss DIE LINKE
die Hegemoniefrage stellen und eine konkrete Reformalternative zum neoliberalen Exportmodell entwickeln. Eine tiefgreifende Strukturkrise des neoliberalen Exportmodells ist für die
nächsten Jahre nicht ausgeschlossen. Auch angesichts der tiefen Krise der EU braucht es dringend einen wirtschaftspolitischen Kurswechsel in Deutschland. Die Binnennachfrage muss
durch Umverteilung von den Profiten zu den Löhnen gestärkt
werden. Zudem müssen die deutschen Exportüberschüsse, die
zum Druck auf die Löhne, wirtschaftlicher Stagnation und zur
Massenerwerbslosigkeit in Europa beitragen, abgeschmolzen
werden. DIE LINKE muss sich jetzt auf einen möglichen neuen
Krisenausbruch vorbereiten und konkrete Reformalternativen
für eine Transformation der Wirtschaftsstrukturen entwickeln,
die auch Perspektiven für die »Kerne« der Exportbelegschaften
schafft – durch eine Kombination von Arbeitszeitverkürzung
und -umverteilung mit öffentlichen Zukunftsinvestitionen zur
Schaffung neuer Arbeitsplätze in einer ausgebauten und für alle
zugänglichen Öffentlichen Daseinsfürsorge und einer ökologischen Konversion der Industrie. Ein Neues Normalarbeitsverhältnis, der Ausbau des Öffentlichen in Richtung sozialer
Garantien und eine sozial-ökologische Wirtschaftsdemokratie
könnten die Anker eines linken Transformationsprojekts sein.
Denn soziale Sicherheit, mehr selbstbestimmte Zeit und demokratische Gestaltungsmöglichkeiten in der Arbeit und im Alltag
sind auch die materiellen Grundlagen für emanzipatorische Veränderungen der Lebensweisen.
Im Kampf um ein soziales Europa ist die gesellschaftliche
Linke in Deutschland sowohl gegen die neoliberale Politik als
auch gegen die rechte EU-Kritik seit Jahren in der Defensive.
Viele gute Vorschläge für eine Reform der Europäischen Union
von links liegen auf dem Tisch. Wir dürfen die EU-Kritik nicht
den Rechtspopulisten überlassen und müssen zugleich konkreter deutlich machen, welche sozialen und demokratischen
Fortschritte, welche Verbesserungen der Arbeits- und Lebensbedingungen für die Mehrheit der Menschen hierzulande
34
Sozialismus 5/2016
mit einem anderen Europa möglich wären und wie wir dahin
kommen wollen. Eine sozial gerechte und demokratisierende
Umgestaltung der Arbeitsgesellschaft durch ein Neues Normalarbeitsverhältnis ist der Dreh- und Angelpunkt für einen
sozial-ökologischen Umbau unseres Wirtschaftssystems und für
den Kampf um ein anderes Europa – denn es sind die Beschäftigten selbst, die TrägerInnen einer solchen »großen Transformation« werden müssen.
Die Zunahme von Migrationsbewegungen ist Teil der Krisenprozesse des globalisierten Kapitalismus – sie lassen sich auch
nicht völlig steuern. Die LINKE muss daher ihre Alternativen
für eine gerechte Weltwirtschaftsordnung und eine Bekämpfung
der Fluchtursachen stärker in den Vordergrund rücken. Zwar
wird die Abschottung der EU ausgebaut, aber dennoch ist damit zu rechnen, dass sich die Auseinandersetzungen um einen
notwendigen Ausbau der Infrastruktur, aber auch der Kulturkampf um Einwanderung und den »Islam« weiter zuspitzen.
Gegen die rechtspopulistische Mobilmachung für einen Zuwanderungsstop und eine homogene Leitkultur auf der einen und
die neoliberale Integrationspolitik, die Integration als individuelle Anpassungsleistung versteht und Migration nutzt, um
Druck auf Löhne und Sozialleistungen zu entfalten, auf der anderen Seite, ist die gesellschaftliche Linke gefordert, einen eigenen Pol aufzumachen.
Dabei helfen romantische Vorstellungen, die ausgerechnet
den Menschen mit der geringsten politischen Macht die Bürde
des »neuen revolutionären Subjekts« aufladen oder über die
Wirkungen von Zuwanderung in kapitalistischen Konkurrenzgesellschaften hinwegsehen, ebenso wenig wie Diskussionen
um Obergrenzen. Mit dem Ziel einer sozial gerechten Einwanderungsgesellschaft sind komplexe Herausforderungen verbunden: ein weitreichender Umbau des Bildungssystems, Ausbau
gesellschaftlicher Infrastruktur und die Schaffung von Millionen
neuer Arbeitsplätze. »Es liegt an uns, ein Programm für eine sozial gerechte Einwanderungsgesellschaft zu erarbeiten, das auf
Teilhabe, Demokratie, Solidarität und sozialer Gerechtigkeit für
alle beruht. Dazu gehören die Verkürzung der Arbeitszeit, soziale Garantien und Bildungsgerechtigkeit ebenso wie die radikale
Besteuerung der Reichen.« (Riexinger/Kipping 2016) Trotz aller Schwierigkeiten unter Bedingungen der Defensive: Gerade
in strukturschwachen und »abgehängten« Regionen (etwa in
Ostdeutschland oder im Ruhrgebiet) könnte DIE LINKE ausstrahlungskräftige Konzepte für Einstiege in eine sozial gerechte
Einwanderungsgesellschaft und die Verwirklichung des Verfassungsgebotes gleicher Lebensverhältnisse in Deutschland entwickeln. Damit diese Vorschläge nicht strukturelle Ungleichheit zwischen den Regionen verstärken und in der Verwaltung
von »Sachzwängen« stecken bleiben, die durch neoliberale Politik geschaffen wurden, muss die Umverteilungsfrage offensiv
gestellt und eine demokratische Entscheidung über Investitionen (in Form massiver Zukunftsinvestitionspakete) ins Spiel
gebracht werden. Es geht um nicht weniger als um eine sich
im Zusammenspiel von regionaler, bundesweiter und europaweiter Ebene entwickelnde »sozial-ökologische Wirtschaftsdemokratie«:
■ Um die sozialen Garantien für gute Gesundheitsversorgung,
Pflege, Bildung und bezahlbares Wohnen zu verwirklichen, ist
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der massive Ausbau des öffentlichen Sektors und die Organisation nach dem gesellschaftlichen Bedarf notwendig. Markt
und Wettbewerb haben in der Bildung, im Erziehungs- und
Gesundheitswesen, in der Ver- und Entsorgung, in der Altenpflege, im ÖPNV usw. nichts verloren. Die Finanzausstattung
der Kommunen muss verbessert und die Kommunen müssen
auf die »sozialen Garantien« für alle verpflichtet werden.
■ Ein Teil von Zukunftsinvestitionen könnte in die Förderung
genossenschaftlichen Eigentums gehen (z.B. Wohnungsbaugenossenschaften, ökologische und soziale Konsumgenossenschaften). Auch dort, wo Belegschaften um den Erhalt ihrer
Arbeitsplätze und Standorte kämpfen, sollten wir die Förderung genossenschaftlicher und belegschaftseigener Betriebe
stark machen. Öffentlich geförderte Genossenschaften und
Betriebe müssen auf soziale und gemeinnützige Zwecke verpflichtet werden. Durch den Aufbau eines öffentlichen Zukunftssektors, in dem sowohl Forschung und Entwicklung als
auch industrielle Produktion auf der Grundlage neuer Technologien und in Form öffentlicher Unternehmen, Kooperativen und Genossenschaften ökologisch und demokratisch
weiterentwickelt werden, können technologische Innovationen demokratisch und mit Blick auf gesellschaftlich sinnvolle Ziele gestaltet werden.
■ In der radikalen Perspektive einer sozial-ökologischen Wirtschaftsdemokratie ist der notwendige ökologische Umbau
von Industrie, Energieversorgung und Mobilität mit Schritten zur Vergesellschaftung der Schlüsselsektoren zu verbinden. Dies kann heute kaum noch im nationalstaatlichen Rahmen geschehen.
Erfolge organisieren!
Wir müssen den Blick verstärkt auf die zahlreichen in der Gesellschaft stattfindenden sozialen Kämpfe richten – von Initiativen gegen steigende Mieten und für genossenschaftliches Wohnen, zahlreichen Kämpfe gegen prekäre Arbeit und Tarifflucht,
über die Streikbewegungen im Gesundheitswesen und Sozialund Erziehungsdiensten bis hin zu den Initiativen für Rekommunalisierung und eine demokratische Aneignung der Städte.
Die Kunst einer linken Hegemoniepolitik besteht darin, diese
Kämpfe zu einem politischen Projekt zu verbinden – der gemeinsame Kampf für soziale Garantien und Infrastruktursozialismus, ein Neues Normalarbeitsverhältnis und eine sozialökologische Wirtschaftsdemokratie kann hier eine verbindende
Perspektive sein. Noch wichtiger ist es für die gesellschaftliche
Linke allerdings, zwei bis drei Bündelungspunkte in der Auseinandersetzung um die soziale Frage zu finden, die es ermöglichen, nach Jahren der Abwehrkämpfe einen (exemplarischen
und so motivierenden) Erfolg zu erreichen. Ob es der Kampf für
eine wirkliche Mietpreisbremse und genossenschaftlichen Wohnungsbau, für eine Mindestrente und die Erhöhung des Rentenniveaus oder für mehr Personal in Krankenhäusern und Pflegeheimen ist – was diese Bündelungspunkte sein könnten, sollte
dringend Gegenstand der kollektiven Diskussion in den nächsten Monaten sein.
Literatur
Dörre, Klaus (2015): Das deutsche Jobwunder. Vorbild für Europa?,
Brüssel. www.rosalux.eu/fileadmin/user_upload/deutsches-jobwunder.pdf
Kipping, Katja/Riexinger, Bernd (2016): Revolution für soziale Gerechtigkeit und Demokratie. Vorschläge für eine offensive Strategie der
LINKEN. www.bernd-riexinger.de
Riexinger, Bernd (2016): Für ein neues Normalarbeitsverhältnis und
Wirtschaftsdemokratie. Perspektiven für »gute Arbeit« angesichts
der Digitalisierung. In: Lothar Schröder/Hans-Jürgen Urban (Hrsg.):
Gute Arbeit 2016. Digitale Arbeitswelt – Trends und Anforderungen,
Frankfurt a.M.
Urban, Hans Jürgen (2016): Arbeiten in der Wirtschaft 4.0. In: Lothar
Schröder/Hans-Jürgen Urban (Hrsg.): Gute Arbeit 2016. Digitale Arbeitswelt – Trends und Anforderungen, Frankfurt a.M.
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