Tagungsbericht Die Schaffung der deutschen Einheit im Neunzehnten Jahrhundert Benedikt Kellerer Expertentagung der Hanns-Seidel-Stiftung am 20./21.4.1010 Bildungszentrum Kloster Banz Datei eingestellt am 28.4.2010 unter www.hss.de/downloads/100420_TB_Deutsche_Einheit_19._ Jahrhundert.pdf Empfohlene Zitierweise Beim Zitieren empfehlen wir hinter den Titel des Beitrags das Datum der Einstellung und nach der URL-Angabe das Datum Ihres letzten Besuchs dieser Online-Adresse anzugeben. [Vorname Name: Titel. Untertitel (Datum der Einstellung). In: http://www.hss.de/...pdf (Datum Ihres letzten Besuches).] Tagungsbericht „Die Schaffung der deutschen Einheit im Neunzehnten Das Neunzehnte Jahrhundert war wegweisend für den Aufbau einer einheitlichen und modernen deutschen Staatlichkeit. Damalige Entscheidungen wie etwa die kleindeutsche Lösung unter Ausschluss Österreichs oder die Festigung des föderalistischen Gedankens wirken bis heute nach. Dabei lohnt sich auch ein Vergleich mit dem Europa von heute. Die politische Ordnungsidee einer nationalen Einheit hat immer noch einen hohen Stellenwert. Solange kein europäischer Bundesstaat besteht, sind immer noch die einzelnen Nationalstaaten die Herren über den Integrationsprozess. Daher versuchte die Akademie für Politik und Zeitgeschehen der HannsSeidel-Stiftung durch eine Expertentagung zum Thema „Die Schaffung der deutschen Einheit im Neunzehnten Jahrhundert“ vom 20. bis 21. April 2010 in Kloster Banz die genauen Umstände und Gesetzmäßigkeiten genauer zu beleuchten, die zu dieser Entwicklung führten. Dabei wurde ein besonderer Akzent auf die internationalen Implikationen einer großdeutschen Idee, einen Vergleich mit dem italienischen „Risorgimento“ und auf das Verhältnis zu Frankreich gelegt. Zu Beginn leitete Prof. Dr. Ulrich Muhlack (em.), Universität Frankfurt, die Entstehung der Forderung einer nationalen Einheit und eines Nationalgefühls her. Um von einer Nation als Staatsnation zu sprechen, gebe es verschiedene Merkmale, die allerdings nicht immer in gleichem Ausmaß vorhanden sein müssten. Wichtig sei der politische Wille, eine Nation zu schaffen. Muhlack spricht dabei von einer Nation als „politischer Willensgemeinschaft“ oder auch als „geistigem Prinzip“. Dabei spiele der Vernunftsgedanke der Aufklärung eine wichtige Rolle. Die außenpolitische Seite einer Nation kennzeichnet demnach die Vereinheitlichung des Territoriums mit klaren Grenzen sowie eine Politik, die deutlich vom nationalen Interesse gekennzeichnet sei. Dennoch konstatierte Muhlack, dass dieser Prozess nie statisch sein könne und immer wieder neu hervorgebracht werden müsse. Die Nation sei daher eine „permanente Auseinandersetzung mit der Nation“. Durch die Abkehr vom Willen der Schaffung einer Nation würde auch das Ende der Nation besiegelt werden. In Frankreich sei die Nation vom Staat gekommen und habe sich auf dem alten System aufgebaut. Bereits zur Zeit der Monarchie war Frankreich ein moderner Staat mit klar abgegrenztem Territorium und effektiver Verwaltung gewesen. Durch Förderung des dritten Standes wurde aus einer monarchischen Souveränität schnell eine nationale Souveränität. Anders beschrieb Muhlack die Lage in Deutschland. Das Heilige Römische Reich deutscher Nation sei ein archaisches Gebilde mit teilweise unklarem Verlauf der Außengrenzen und nur wenigen gesamtstaatlichen Institutionen gewesen. Der Kaiser besaß keine Macht, die Menschen waren stets Untertanen der Landesherren. Dafür berief man sich in Deutschland auf den Begriff der „Kulturnation“, deren Anfänge sich bereits im Mittelalter finden ließen. Durch die gemeinsame Sprache konnte sich ein deutsches kulturelles Selbstbewusstsein entwickeln als Kontrast zur politischen Zerrissenheit. Die Intellektuellen arrangierten sich im Übrigen mit den bestehenden politischen Verhältnissen. Die Französische Revolution war auch in Deutschland wirksam. In den Rheinbundstaaten wurden nach französischem Vorbild effiziente Verwaltung und eine ent-feudalisierte Rechtsordnung eingeführt. Auch die Bildung einer deutschen Nation wurde angestoßen. Die Kulturnation entwickelte sich fortan zu einer politischen Nation, mit Stoßrichtung gegen Frankreich. Im Sieg über Napoleon in den Jahren 1813/15 sah Muhlack das Gründungsdatum der deutschen Nation, aber die politischen Zielsetzungen divergierten sehr. Durch die Schaffung des deutschen Bundes auf dem Wiener Kongress 1815 wurde die Nationalbewegung stark enttäuscht, da die Länder keinesfalls auf ihre eigene Souveränität verzichteten. Dennoch entwickelte sich nun eine immer stärkere Forderung nach nationaler Einheit. Im Anschluss verglich Prof. Dr. Rainer S. Elkar, em. Universität der Bundeswehr München, die beiden Revolutionen in Deutschland von 1848 und 1989. Er sprach von „Germania afflicta“ und betonte, dass einer deutschen Einigung immer das Zerbrechen alter Formen vorausginge und eine Neuorientierung stattfinde. Gleichzeitig kam er zu dem Schluss, dass Nation und Freiheit immer doppeldeutige Begriffe seien. Nation sei prinzipiell immer gestaltungsoffen, allerdings nicht im Bereich der allgemeinen Werte. Auch Freiheit sei gestaltungsoffen und als Teil des Bewusstseins im Sinne eines „Strebens nach Freiheit“ zu sehen. Im zweiten Teil versuchte Elkar, einige Revolutionstheorien vorzustellen. Die Theorie eines Wechsels zu einem „besseren“ System sei häufig in der Vergleichenden Politikwissenschaft vorzufinden. Demnach gelinge dieser Wechsel nur bei funktionierenden Administrationen und könne durchaus auch gewaltsam sein. Die Etablierung einer Demokratie bedeute dabei aber auch gewissermaßen ein „Ende der Geschichte“. Eine zweite Theorie sieht Ideen im Mittelpunkt. Dabei wird vor allem das marxistische Revolutionsmodell abgelehnt, das dem Volk eine viel zu große Bedeutung gebe. Vielmehr wird hier der Alltag mit all seinen politischen und ökonomischen Problemen als entscheidende Phase für den Wandel gesehen. Als dritte Theorie stellte Elkar die Konfliktsoziologie vor, bei der die gesellschaftliche Kommunikation im Mittelpunkt steht. Hier bilden sich vier Entwicklungsstufen heraus, die letztendlich in einem Machtkonflikt enden. Während bei den ersten beiden Theorien den internationalen Rahmenbedingungen große Bedeutung zugemessen wird, liegt das Augenmerk der dritten Theorie vielmehr auf dem inneren Konflikt, der zum Teil durch Reformen lösbar wäre. Bei beiden deutschen Revolutionen konnte Elkar Gemeinsamkeiten bezüglich der Gegeneliten und der Oppositionskräfte feststellen. Deutliche Unterschiede sieht Elkar allerdings bei der Rekrutierung der Gegeneliten. Während in der DDR vor allem die evangelische Kirche Hilfe und Plattformen für den Protest bereitstellte, war dies in der Zeit des Vormärz nicht zu finden gewesen. Auch war die Freiheitsthematik deutlich unterschiedlich. 1848 mussten für Deutschland erst die Freiheitsrechte formuliert werden, während diese 1989 bereits vorhanden waren. Die Bewegung von 1989 sei zunächst eine Friedensbewegung gewesen . Man strebte nach einer komplexeren Freiheit, die im Einklang mit der Natur und der Verbindung mit dem Frieden stünde. Somit kam Elkar auch zu dem Schluss, dass die Revolution von 1848 zuerst auf die deutsche Einheit ausgerichtet war. Die Revolution von 1989 hingegen sei zunächst an der Erlangung der Freiheit orientiert gewesen und erst danach an der nationalen Einigung. Daraufhin erörterte Prof. Dr. Günter Wollstein (em.), Universität zu Köln, die Frage, ob das großdeutsche Projekt 1848/49 verträglich für Europa gewesen sei. Die großdeutsche Idee unter der Führung Preußens konkurrierte von Anfang an mit drei weiteren Möglichkeiten: Großdeutschland unter Führung Österreichs, einer kleindeutschen Lösung oder aber auch der Lösung eines Doppelbundes. Bei den Debatten in der Paulskirchenversammlung war man sich allenfalls einig, ein starkes Deutschland zu gründen und als fortschrittliches Zentrum Europas zu etablieren. Dabei wurde vor allem massive Kritik am Deutschen Bund laut. Dieser habe während der Rheinkrise (1840) versagt, da er den Gebietsansprüchen Frankreichs nur wenig an Machtmitteln entgegen zu setzten hatte. Gleichzeitig konnte man ein Minderwertigkeitsgefühl der Deutschen feststellen, die mit Blick auf das verklärte, mittelalterliche Reich eine Erneuerung und Stärkung sowie Änderungen der Machtverhältnisse auf dem Kontinent forderten. Die Oktoberdebatte in der Paulskirche brachte eine Bewegung hervor, in der der Nationalstaat als „Lenkungsmacht der germanischen Brüder“ fungieren und den deutschen Einfluss stärken sollte. Dennoch erkannte man in dieser Zeit auch, dass die deutsche Einheit an Freiheit und Recht gebunden sein müsse. Innenpolitisch erreichte die Paulskirchenverfassung durch das Streben nach einem föderalistischen Aufbau, vor allem aber durch den neuen Minderheitenschutz große Akzeptanz. Seitens derr anderen europäischen Mächte hingegen war das Bild von Skepsis und Distanz geprägt. Einzig die USA und Schweden gewährten diplomatische Anerkennung. Die USA sah in der neuen demokratischen Macht die Möglichkeit einer transatlantischen Blockbildung und eine konstruktive Ordnungskomponente der Weltpolitik. Für die europäischen Großmächte hingegen war Großdeutschland nicht hinnehmbar, da es das Potential zu einer Hegemonie auf dem Kontinent hatte. Daher sei die Chance auf die Akzeptanz einer großdeutschen Lösung nur äußerst gering gewesen, so Wollstein. Die Idee eines Großdeutschland blieb bis zum II. Weltkrieg in der politischen Erinnerung. Bis zum Ende der I. Weltkrieges war Großdeutschland ein „Schlagwort der Zeit“, und man hatte die Idee eines deutschbeherrschten Mitteleuropa mit angeschlossenen Gebieten im Osten und Südosten. Nach 1918 stand dieser Idee das Selbstbestimmungsrecht der Völker entgegen, doch wurde dies in Österreich von vielen als das Recht zum Anschluß an Deutschland ausgelegt. Man findet auch während der Weimarer Republik immer wieder ein großdeutsches Stimmungsbild, das vor allem durch das steigende Bewusstsein, in Versailles einen ungerechten Frieden diktiert bekommen zu haben, Nahrung erhielt. Im Dritten Reich sei dann diese Selbstbestimmungspropaganda instrumentalisiert worden, wobei das in Erfüllung der Absichten von 1848/49 geschaffene Großdeutschland eine Basis für den Weltanschauungskrieg im Osten abgeben sollte. Das Königreich Bayern im Prozess der deutschen Einigung betrachtete Prof. Dr. Dieter J. Weiß, Universität Bayreuth. Seit 1806 war Bayern ein eigenständiges Königreich. Das Grundprinzip der bayerischen Politik war stets der Erhalt der eigenen Souveränität, sowie der Aufbau eines modernen Verwaltungs- und Rechtsstaats. Staatsminister Montgelas formte einen Staat nach rein rationalen und aufklärerischen Gesichtspunkten. Bayern hatte starke Vorbehalte gegenüber dem Deutschen Bund was zeitweilig zu einer drohenden Isolation führte. Da sich Bayern alleine nicht behaupten konnte, war es, so Weiß weiter, an einem Trias-Gedanken orientiert, der eine gemeinsame Führung Deutschlands durch Österreich, Preußen und Bayern vorsah. Nach dem Sturz von Montgelas (1817) erfolgte allerdings eine Annäherung an den Deutschen Bund sowie die Einführung einer neuen Verfassung mit Grundrechten bei fortbestehender monarchischer Souveränität. Bei König Ludwig I. (1825-48) sieht Weiß eine Neuorientierung der bayerischen Politik. Bayern sollte zu einem „Kulturkönigtum“ geführt werden. Die Förderung von Kunst und Kultur diente vor allem nationalbayerischen und katholischen Interessen, aber auch zur Stärkung der Kulturnation Deutschland. Einen deutschen Nationalstaat hatte Ludwig I. nicht im Sinn. Weiter sollten durch die gemeinsame Verfassung die neuen bayerischen Volksstämme mit dem Königreich verschmolzen werden. Es sollte sich ein deutsches Nationalgefühl, verbunden mit bayerischer Identität, entwickeln. Auch Maximilian II. (1848-64) bemühte sich um die Stärkung der deutschen Kulturnation und der bayerischen Identität. Die bayerische Politik wurde durch den Außenminister Ludwig von der Pfordten und dessen Trias-Idee geprägt. Bei einer kleindeutschen Lösung fürchtete Bayern ein deutliches Übergewicht des Nordens. In der Person Ludwigs II. sieht Weiß eine starke Zerrissenheit. Einerseits war er klar gegen die kleindeutsche Lösung, andererseits übernahm er keinerlei persönliche Anstrengung zur Verhinderung. Das Ende der Triaspolitik war besiegelt durch einen geheimen Bündnisvertrag mit Preußen nach dem Krieg von 1866, der mit bayerischem Souveränitätsverlust einher ging. Während die Administration stärker zentral ausgerichtet war, so konnte man im Landtag eine stärkere patriotische Einstellung feststellen. Zwar wurde anfangs eine kleindeutsche Lösung abgelehnt, doch änderte sich dies mit den deutschen Siegen im Krieg gegen Frankreich, die den Beitritt Bayerns zum Norddeutschen Bund und später die Kaiserproklamation nach sich zogen. Damit wurde Bayern nun endgültig zum Gliedstaat des Reiches, das als Bundesstaat der Fürsten konzipiert war, und musste starke Einschränkungen seiner Souveränität hinnehmen, mit Tendenz zur Ausweitung des Übergewichtes des Bundes. Prof. Dr. Dr. h.c. Friedrich-Christian Schroeder (em.), Universität Regensburg, befasste sich mit der Schaffung der deutschen Rechtseinheit. Seiner Ansicht nach waren weniger rationale Argumente als vielmehr das emotionale Gefühl, nationale Einheit bedinge Rechtseinheit, die Triebkraft dieser Entwicklung. Durch die starke Souveränität der Einzelstaaten und deren eigene Gesetzgebung bestand eine große Notwendigkeit, den Rechtsraum zu vereinheitlichen. Auch Bedürfnisse der Wirtschaft wirkten dahin. In der Verfassung vom März 1849 wurden Anklageprozess und Schwurgericht verbindlich eingeführt. Im Norddeutschen Bund war das Strafrecht zunächst nicht Kompetenz des Bundes, wurde allerdings später in die Verfassung aufgenommen. Dabei orientierte man sich stark am Preußischen Strafgesetzbuch von 1851. Im Süden hingegen dauerte es bis 1870, bis man mit dem Strafgesetzbuch Preußens, das starke Übereinstimmung mit dem bayerischen Strafgesetzbuch aufwies, einen einheitlichen Rechtsrahmen schaffen konnte. In den Jahren 1873 bis 1879 wurden die unterschiedlichen Gerichtsverfassungen vereinheitlicht. Die verschiedenen Bezeichnungen der Gerichte der Länder wurden in ein vierstufiges System überführt, bei dem einigen Ländern gewisse Eigenständigkeiten zugesprochen wurden. Im Zivilrecht fehlte dem Reich zunächst die Kompetenz, die ab 1873 mit der „Lex Lasker“ entstand. Ein einheitliches Bürgerliches Gesetzbuch trat allerdings erst zum 1.1.1900 in Kraft. Mit der Einführung des Bürgerlichen Gesetzbuches musste auch das Handelsgesetzbuch neu verkündet werden, was den Verlust der Rechtseinheit mit Österreich zur Folge hatte. Schroeder sprach vom Bürgerlichen Gesetzbuch als einem „Meisterwerk der Abstraktion“, das einen Ausgleich zwischen Konservatismus, Liberalismus und sozialen Forderungen herstellte. Insgesamt konstatierte Schroeder, dass sich die Schaffung einer deutschen Rechtseinheit in mehreren Etappen vollzog, deren durchschlagende Gestaltungskraft bis heute nicht mehr erreicht worden sei. Einen Vergleich zwischen der deutschen Einheitsbewegung und dem italienischen Risorgimento zog Prof. Dr. Günther Heydemann, Universität Leipzig. Dabei seien auf den ersten Blick deutliche Parallelen zu erkennen, wie etwa die Führungsrolle Preußens in Deutschland und Piemont-Sardiniens in Italien. Gleichzeitig waren beide Staaten monarchisch betont und gründeten sich auf starkes Militär und korruptionsfreie, effiziente Verwaltung. Preußen und Piemont-Sardinien befanden sich im Norden des zu schaffenden neuen Nationalstaates und hatten die Funktion eines Pufferstaates inne, Preußen zwischen Frankreich und Russland, Piemont-Sardinien zwischen Frankreich und Österreich. Gleichzeitig einte 1866 der Kampf gegen Österreich, der mit territorialen Gewinnen für beide Staaten endete. Mit Cavour und Bismarck verfügten beide Staaten nicht zuletzt auch über herausragende Staatsmänner. Aber es bestand ein Unterschied im Machtpotential zwischen der Großmacht Preußen und der Mittelmacht Piemont-Sardinien. Bei einer genaueren Betrachtung konstatierte Heydemann, dass die internen Ausgangsbedingungen für die deutsche und die italienische Einigung ziemlich analog gewesen seien. Deutschland und Italien lägen in einer Instabilitätszone eines gewissermaßen „Kalten Krieges“ zwischen den westeuropäischen Verfassungsstaaten und Russland, Österreich und Preußen, die ihre Macht auf die dynastischen Strukturen gründeten. Es musste sich also die politische Lage verändern, um einen Wandel vollziehen zu können. Der Unterschied liege allerdings im Umgang mit Frankreich. Während sich in Deutschland immer mehr eine antifranzösische Haltung etablierte, war in Italien ein Wandel ohne Frankreich nicht möglich. Außerdem habe es deutliche ökonomische Unterschiede gegeben. Während 1834 mit der Gründung des Zollvereins die Grundlage für eine schnelle und flächendeckende Industrialisierung in Deutschland gelegt wurde, so gab es im nur teilindustrialisierten Italien nichts Vergleichbares. Bei seiner weiteren Analyse beschränkte sich Heydemann auf interne Entwicklungen und konnte dabei signifikante Unterschiede feststellen. Während Italien eine klare Grenzführung aufweisen konnte, war diese in Deutschland nicht durchgehend vorhanden. Die Alpen bildeten eine natürliche Grenze, wie es sie im Westen Deutschlands und gegenüber dem Zarenreich nicht gab.Innerhalb und außerhalb des Nationalstaates bestanden Minderheiten. Der ideologische Anteil an der italienischen Revolution war deutlich größer als der an der Einigungsbewegung in Deutschland. Anders als die moderati in Italien wandten sich die deutschen Liberalen der Machtpolitik von oben zu, um ihre Ideale durchzusetzen. Auch konnten sich die italienischen Liberalen auf eine starke Konsensfähigkeit berufen. Anders als in Deutschland gab es hier ein Bündnis zwischen dem intellektuellen Bürgertum und dem Adel. Die italienische Einheit wurde überdies durchwegs auf Plebiszite gestützt. In Italien stand der Einigung der Kirchenstaat im Wege, also der etablierte Katholizismus. Dieser setzte in Deutschland eher auf die großdeutsche als die kleindeutsche Idee, ohne sonstige territoriale Interessen verteidigen zu müssen. Aus internationaler Sicht wurde die Einigung Italiens mit Wohlwollen betrachtet, während dem deutschen Einigungsprozess auch im kleindeutschen Falle die Gefahr preußisch-deutscher Hegemonie anhaftete. Am Ende seines Vortrags betrachtete Heydemann noch die Rolle von Partizipation und Identifikation bei der Schaffung der nationalen Einheit. In Italien war die Partizipation des Liberalismus deutlich stärker gegeben als in Deutschland. Die Identifikation mit dem neuen System in Italien sei zwar erst wenig erforscht, aber man könne von einer geringen Identifikation ausgehen. In Deutschland hingegen hätten die Zwangsintegration etwa der Polen und der deutschen Elsässer sowie der Ausschluss deutscher Österreicher ebenfalls zu Spannungen geführt. Als Fazit konnte Heydemann festhalten, dass es zwar oberflächlich deutliche Gemeinsamkeiten zwischen der deutschen und der italienischen Einigung gäbe, sich jedoch bei genauerer Betrachtung immer mehr Unterschiede herausbildeten. Über die deutsche Identitätsfindung und die Auseinandersetzung mit Frankreich sowie die ambivalente Haltung vieler Publizisten referierte Prof. Dr. Roland Höhne (em.), Universität Kassel. So stellte sich etwa die frankophobe Haltung erst nach einer langen machtpolitischen, territorialen und kulturellen Vorgeschichte ein. Bereits seit dem Mittelalter (Philipp IV., 1285-1314, Lehensübernahme des zum Heiligen Römischen Reiches gehörenden Herzogtums Bar 1302) habe Frankreich immer wieder Expansion in Richtung Osten versucht. Auch die Besetzung Straßburgs 1681 oder der Pfälzische Erbfolge-Krieg mit der Zerstörung des Kaiserdoms von Speyer 1689 brachten heftige antifranzösische Reaktionen hervor. Gleichzeitig habe es eine gewisse Gallophobie auch im deutschen Schrifttum gegeben. Nur eine Minderheitsströmung begrüßte die Französische Revolution. Die Mehrheit waren Reichspatrioten, welche Gewalt und Terror der Revolution ablehnten und sich auf dem „richtigen Weg der Reform“ wähnten. Ein Wandel sollte in Deutschland nicht durch das Volk, sondern durch die Fürsten angestoßen werden. Die ambivalente Haltung vieler Autoren dieser Zeit zeigt sich darin, dass viele zwar den Verlauf der Revolution ablehnten, dennoch aber in den neuen Ideen durchaus positive Elemente erkannten. Die gleiche Ambivalenz zeige sich laut Höhne auch während der Revolutionskriege. Nicht nur im Königreich Westfalen brachte Frankreich wirtschaftliche Reformen und damit verbunden einen deutlichen ökonomischen Aufschwung. Andererseits forderte Frankreich auch hohe Steuern und die Stellung von Truppen. Auch am Beispiel Napoleons I. zeige sich deutlich eine ambivalente Haltung der Deutschen gegenüber Frankreich. Einerseits wurde er wegen seiner administrativen Reformen begrüßt, andererseits habe es auch eine „Dämonisierung Napoleons“ gegeben, bei der er als Tyrann dargestellt wurde, der die besetzten Länder schamlos ausbeute. In der Literatur fand die deutsche Identitätsfindung durch Abgrenzung von Frankreich statt. Es wurde gewissermaßen von einem „Freund-FeindVerhältnis“ gesprochen, welches Deutschland als tiefsinnige „Kulturnation“ und Frankreich als bloße äußerliche „Zivilisation“ verstand. Dennoch gab es auch in Deutschland Sympathisanten Frankreichs. Bayern war hierfür das beste Beispiel. Am Ende konstatierte Höhneer, dass die Ambivalenz wohl ihren Höhepunkt im II. Weltkrieg gefunden habe. Eine Kollaboration hätte ansonsten nicht funktioniert. Gleichzeitig gebe es auch heute noch durchaus ambivalente Beziehungen zwischen Deutschland und Frankreich. Prof. Dr. Peter J. Brenner, TU München, befasste sich mit Kritikern der deutschen Einheit in der Literatur. Die Frage der Einheit habe Literaten bereits sehr früh beschäftigt. Christoph Martin Wieland etwa sah 1780 die Möglichkeit, durch eine gemeinsame Sprache und Staatsverfassung eine Einheit zu schaffen. In den unterschiedlichen Religionen, Regierungen, Verwaltungen oder auch kulturellen Traditionen sah er kein ernsthaftes Hindernis. Auch Johann Gottfried Herder und später Friedrich Schlegel entwickelten Gedanken zur deutschen Einheit. Sie sei wünschenswert und müsse auf der gemeinsamen Sprache und Geschichte gegründet werden. Von den Autoren des Vormärz griff sich Brenner Heinrich Heine heraus. Dieser hatte ein sehr ambivalentes Verhältnis zu Deutschland. In seinem „Wintermärchen“ von 1844 übte er eine Fundamentalkritik. Er kritisierte den Nationalismus und den Katholizismus, die Obrigkeitshörigkeit der Deutschen und deren antidemokratische und rückwärtsgewandte Gedanken. Er entwickelte ein sehr lyrisch-emotionales Bild von Deutschland, um der politischen Frage der Einigung auszuweichen. Er betrachtete die Einigung als nicht wünschenswert und stand damit im Widerspruch zu vielen anderen Autoren dieser Zeit. Für die Zeit nach der Reichseinigung 1871 stellte Brenner fest, dass die Autoren nur sehr harmlose Kritik an der Einigung übten. Sie seien selbst für eine Einigung Deutschlands gewesen, allerdings hätte sie sich eine andere Ausführung gewünscht. Zu diesen Autoren zählten etwa Gustav Freytag, Theodor Storm, Theodor Fontane, oder auch Wilhelm Raabe. Fixpunkt sei stets die Auseinandersetzung mit Bismarck gewesen und die Frage „quo vadis, Deutschland?“. Ihre Aussagen jedoch seien nie sehr klar gewesen und von einer gewissen Ambivalenz geprägt. Die einzige aggressive Kritik dieser Zeit stamme von Raabe. In der Novelle „Der Dräumling“ kritisiere er die Anmaßung des deutschen Bildungsbürgertums, welches in Wirklichkeit die deutsche Kultur nicht repräsentiere. Das eigentliche Terrain der Autoren dieser Zeit sei der historische Roman gewesen. Hier hätten sie den Versuch unternommen, in der Geschichte ein Idealbild gegen das 1871 etablierte System zu finden. Dieses sei von altständischen Vorstellungen geprägt gewesen, bei Fontane etwa in der Beschwörung der Zustände in der alten Mark Brandenburg. Gustav Freytag versuchte in seinem Werk „Bilder aus der deutschen Vergangenheit“ in der deutschen Geschichte eine Legitimation der Einheit zu finden. Gleichzeitig beschrieb er in dem mehrbändigen Werk „Die Ahnen“ wichtige Stationen in der deutschen Historie und entwarf ein Bild, wie das deutsche Volk sein sollte. Er lehnte die Revolution von 1848 ab und sah nur im deutschen Bürgertum die Grundlage für eine Reichsgründung. Das Reich hätte nicht aus Kriegen oder militärischen und politischen Aktivitäten hervorgehen sollen, sondern vielmehr aus den Sitten und der Tradition des Bürgertums. Am Ende der Tagung widmete sich Prof. Dr. Heinz Hürten (em.), Katholische Universität Eichstätt-Ingolstadt, den zentrifugalen Kräften im deutschen Kaiserreich. Diese würden sich nicht nur in den einzelnen Territorien wiederfinden, sondern auch im Aufbau des Kaiserreichs. In Deutschland habe es ein großes Problem der Nichtintegration von verschiedenen Volksgruppen wie etwa Dänen, Polen oder auch Elsässer gegeben. So hätten etwa in den polnischen Gebieten Preußens loyale preußische Staatsbürger gelebt. Durch eine Germanisierungspolitik, die etwa die verbindliche Einführung der deutschen Sprache bereits in der Volksschule oder auch die Ansiedelung deutschen Bauern in den Provinzen Posen und Westpreußen mit sich brachte, seien allerdings die zentrifugalen Tendenzen unter der polnischen Bevölkerung stetig angewachsen. Ähnliches gelte für das Elsass. Die Annexion sei aus national-politischer Überzeugung zustande gekommen. Im Inneren hätte es kein Zugehörigkeitsgefühl zu Deutschland gegeben. Da eine Integration nur teilweise stattgefunden habe, sei auch eine große gesellschaftliche Distanz zwischen der Verwaltung und der Bevölkerung geblieben. Zusätzlich trug der Sonderstatus Elsass-Lothringens als Reichsland ohne eigene Landeshoheit ebenfalls zu den zentrifugalen Tendenzen bei. Auch im Inneren des Reiches gab es von Anfang an durch die sogenannten „Reichsfeinde“ immer wieder zentrifugale Kräfte. Zu diesen Reichsfeinden zählte Bismarck die bereits genannten Minderheiten im Reich, die Katholiken, die Sozialdemokraten sowie die „Welfen“. Am Ende konstatierte Hürten, dass für die bürgerliche Nationalbewegung mit der Reichseinheit nicht das Ziel erreicht worden sei, denn noch fehlte die Freiheit. Bismarck hingegen sah in der Schaffung der Einheit Deutschlands das Ende der Entwicklung. Daher gab es immer wieder ein Spannungsfeld zwischen einem Nationalbewusstsein auf der einen Seite und dynastischer Treue auf der anderen Seite. Hier zeige sich, dass keine dieser Kräfte zu einer Sprengung des Reiches führte, sondern nur zu einer Abschwächung und teilweise Veränderung der Grundlagen, auf denen das Reich gegründet wurde. Dennoch trugen später auch die soziale Frage und die Forderung nach Demokratie weiter zu zentrifugalen Strömungen bei. Mit der Integration der alten Reichsfeinde nach dem I. Weltkrieg seien zwar keine starken zentrifugalen Kräfte mehr zu erkennen, dennoch sei auch die Weimarer Republik von einer hohen Instabilität bedroht gewesen. Die letzten gesetzlichen Benachteiligungen aus der „Kulturkampfzeit“ seien erst vor wenigen Jahren abgeschafft worden.