Menschenbilder im Neoliberalismus

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Ausgabe 3/2014
Inhalt
Menschenbilder im
Neoliberalismus1
Spieglein, Spieglein... Frauen- und
Männerbild2
Macht Euch
nützlich!4
Die Altenberichte
der Bundes
regierung5
Flüchtlinge Momentaufnahmen
2014 6
„Nützliche“
Migranten 7
Kinderwunsch auf
Eis gelegt 8
Mädchen in Rosa
und Jungs in Blau 9
Sexualisierte
Werbung 10
Quantified self 11
Schlusspunkt 12
Menschenbilder im Neoliberalismus
Neoliberalismus ist eine Ideologie, welche die Schaffung von Märkten und Wettbewerb als zentrale staatliche Aufgabe sieht. Sein totalitärer Anspruch ist, alle Interessen der Gesellschaft und der
Staaten den Gesetzen des Marktes zu unterwerfen.
Die Herrschaft des Neoliberalismus stellt nahezu alles in
wird, dass er sich auch im Alter als ökonomisch verwertFrage, was bisher Gewicht und Bedeutung hatte. Das geht
barer Teil dieser Gesellschaft erweist, „Macht Euch nützweit über das ökonomische System hinaus, es umfasst
lich!“ lautet der kategorische Imperativ.
auch kulturelle und regionale Identität, weltanschauliche,
Wir stellen das trostlose Schicksal der Menschen dar, die
sicher auch religiöse Überzeugungen und Wertorientiegeflüchtet sind aus Armut, Elend und Krieg und die für uns
rungen. Die neoliberale Ideologie tut so, als ob es keine
alle beschämende Art und Weise, wie hier, in einem der
anderen tauglichen Maßstäbe mehr für das Zusammenlefinanzstärksten Länder der westlichen Welt, mit ihnen umben der Menschen gäbe als ökonomische – und das nennt
gegangen wird. Dem gegenüber steht dann die Aussage
sie dann Vernunft.
des Instituts der deutschen Wirtschaft, dass Deutschland
Längst hat sich in diesem System Neoliberalismus ein
zur Sicherung seines Wohlstandes Migranten braucht –
Menschenbild entwickelt, das nahezu ausschließlich auf
auch hier die Unterteilung in „unnütze“ Flüchtlinge und
seine ökonomische Verwertbarkeit hin ausgerichtet ist.
„nützliche“ Migranten.
Wenn das Menschenbild die jeweiligen gesellschaftlichen
Bereits kleine Kinder werden auf Rollenbilder festgelegt,
Verhältnisse und ihre Vorstellung vom Wesen des Mendie Werbung pflegt ein ganz spezielles, nämlich ein im hoschen widerspiegelt, dann, so meinten wir in der querhen Maße sexistisches Frauenbild, und wir alle werden
Redaktion, sei es allerhöchste Zeit, mal genauer zu unauf Selbstoptimierung ausgerichtet.
tersuchen, wie sich das in einzelnen Bereichen auswirkt.
Allen diesen vorgestellten Menschenbildern ist gemeinWir haben uns das Frauen- und das Männerbild vorgesam, dass sie zeigen, wie die Individuen auf ihre ökononommen, wie es in den Medien dargestellt wird und wie
mische Verwertbarkeit reduziert und den Gesetzen des
es unser Konsumverhalten prägt. Wir untersuchen das
Marktes unterworfen werden sollen. Wehren wir uns!
„neue“ Bild vom alternden Menschen, dessen PotenziDagmar Fries
ale ganz plötzlich entdeckt werden und von dem erwartet
Spieglein, Spieglein …
Impressum:
quer – die Zeitung des
ver.di - Landesfrauenrates Bayern
Schwanthalerstr. 64
80336 München
V.i.S.d.P.: Bettina Messinger,
Landesfrauensekretärin
Telefon: 089 / 5 99 77-2303
Fax: 089 / 5 99 77-2199
Mail: [email protected]
Redaktionsteam: Gertrud FetzerWenngatz, Dagmar Fries, Lisa Kotschi, Bettina Messinger, Corinna Poll,
Walburga Rempe, Barbara Tedeski
Redaktion/Layout: Dagmar Fries
Schlusskorrektur: Gisela Breil
Namentlich gekennzeichnete Artikel
geben die Meinung der VerfasserInnen und nicht zwingend die der
Redaktion wieder.
Redaktionsschluss: 31.10.2014
Abbildungsnachweis: Martin
Sonneborn 2; Antisexistisches Aktionsbündnis 3; Candida Performa 4; Depositphotos 6, 8, 9, 10; G. Wangerin 6,7;
Pinkstinks 11;Klaus Stuttmann 12
Druck: Druckwerk München
Auflage: 5000 Expl.
2
Frauen- und Männerbild auf Abwegen
Das Digitale Wörterbuch der deutschen Sprache definiert Menschenbild als die jeweiligen
gesellschaftlichen Verhältnisse widerspiegelnde Vorstellung vom Wesen des Menschen, einen Eintrag ‘Frauenbild’ oder ‘Männerbild’ gibt es nicht. Dummerweise sorgen die gesellschaftlichen Verhältnisse dafür, dass Frauen- und Männerbild sich sehr stark unterscheiden.
Das zeigt sich in allen Medien, die uns tagtäglich mit Bildern konfrontieren.
Media Report to Women analysiert seit Jahren die
Darstellung von Politikerinnen in den Medien. In der
aktuellen Ausgabe müssen sie (wieder einmal) feststellen, dass sich leider nicht viel geändert hat: die
Auswertung ergab, dass bei Kandidatinnen immer
noch in erster Linie zählt, wie sie aussehen, während
ihre Ansichten im Vergleich dazu weniger Beachtung
finden. (MRTW Vol. 42, Nr. 3 Sommer 2014)
Die Global Media Monitoring Study stellt fest, dass
weltweit im Durchschnitt 25% der zitierten oder benannten Personen in Sachartikeln Frauen sind. Das
spiegelt sich auch in den vielen Klischeebildern, die
die Bildagenturen anbieten. Dem versucht jetzt die Initiative LeanIn-Collection andere Bilder entgegen zu
setzen. Ob deren Fotos von Ärztinnen, Wissenschaftlerinnen bei der Arbeit, Männern mit Babies im Arm
etc. angenommen werden, bleibt abzuwarten.
Emanzipation durch Ad-Blocker?
Werbung ist ein wichtiger Spiegel der gesellschaftlichen Rollenzuweisung, mit dem diese perpetuiert
und verfestigt wird. Tagtäglich sind wir einigen tausend Werbebotschaften ausgesetzt. Das Frauenbild
in der Werbung scheint sich auf den ersten Blick gewandelt zu haben: Inzwischen finden sich weniger
Darstellungen von braven Hausfrauen, die Hauptdarstellerinnen sind ‚Familienmanagerinnen‘ oder haben
zumindest die Lizenz zum Staubwischen. Die Frau
werkt zwar immer noch im Haushalt – der weitaus
größere Anteil der dargestellten Frauen bewegt sich
im privaten Bereich –, allerdings durchaus unter dem
Vorzeichen der Professionalisierung. Aber wenn wir
genauer hinschauen, müssen wir feststellen, dass die
billigen Klischees des ‚sex sells‘ wieder stärker in den
Vordergrund treten. Offensichtlich gehen Werbedesigner immer noch davon aus, dass Männer mehr Geld
ausgeben, wenn (halb)nackte Frauen das beworbene
Produkt dekorieren.
Fest steht, dass 2013 die zweithöchste Beschwerdezahl in der Geschichte des deutschen Werberates verMit Sicherheit ein Grund, sich beim Deutschen Werberat zu
beschweren - Plakat, aufgedeckt von © Martin Sonneborn
auf facebook
zeichnet wurde – und der mit Abstand häufigste
Beschwerdegrund war auch diesmal wieder
frauendiskriminierende Werbung.
Manche Diskussionen, bei denen viele von uns
gehofft hatten, dass sie seit langem erledigt
seien, werden von der Werbeindustrie wieder
aufgeworfen. So hat der Jeansproduzent Paddocks ganz eigene Ansichten zu der Ansage
‚Nein heißt nein‘: Der Text zu einem knutschenden Paar (in Jeans, natürlich) heißt schlicht „No
means Yes, maybe ...“.
Pink stinks – hellblau duftet?
Eine zwar nicht ganz neue Masche, aber mit
stark steigender Tendenz ist die Unterscheidung zwischen Produkten für Mädchen/Frauen
und Jungen/Männer. Ob das die „rosa Überraschungseier“ sind, die Barbies und die rosa Klamotten für die Mädchen und die Adventure-Figuren und das passende Outfit für Jungen oder
die Chips für den Männer- und den Mädelsabend
– es wird suggeriert, dass es in allen Bereichen
gravierende Unterschiede zwischen Männern
und Frauen gibt, sowohl was Geschmack als
auch was Fähigkeiten und Bedürfnisse angeht.
Gegen den Trend, dass die Produkte ‚für Mädchen‘ ausschließlich auf Aussehen, Mode, Make-up und Shoppen ausgerichtet sind, hat sich
2009 in Großbritannien die Initiative Pinkstinks
gegründet (seit 2012 gibt es auch eine Gruppe
in der BRD). Mit Öffentlichkeitsarbeit ist es ihnen
z.B. gelungen, Toys“R“Us dazu zu bringen, kein
Spielzeug mehr ‚nur für Jungen‘ oder ‚nur für
Mädchen‘ ins Sortiment zu nehmen. Zusammen
mit der Brave Girl Alliance versucht Pinkstinks,
andere Rollenmodelle als die allseits beworbenen Models in der Öffentlichkeit sichtbar zu
machen. (https://pinkstinks.de)
Inzwischen hat die Kosmetikindustrie auch die
Männer als Kunden entdeckt: Immer mehr werden die Werbeaufforderungen, die Haare zu
„tunen“, mit Hilfe von Cremes u.ä. Anzeichen
des Älterwerdens zu bekämpfen … An Frauen
wie Männer wird die Anforderung gestellt, nach
Möglichkeit perfekt auszusehen. Und wenn die
Natur partout nicht den Maßstäben entsprechen
will, wird eben mit dem Messer nachgeholfen.
Die Zahl der „Schönheitsoperationen“ wächst –
insbesondere schon bei ganz jungen Menschen.
Und natürlich sollen wir nicht nur gut aussehen,
sondern möglichst reibungslos funktionieren.
Wer kennt nicht die Werbung für all die Mittel,
die Schmerzen sofort verschwinden lassen. Neu
ist, dass jetzt schon starke Medikamente für
Kinder damit beworben werden, dass das Kind
schließlich den (Sport)wettbewerb nicht verpassen darf …
Das archaische Menschenbild in PC- und Online-Spielen steht schon länger in der Kritik, jetzt
hat sogar der Spiele-Entwickler Steve Jaros
eingeräumt, dass die Kritik berechtigt ist. Nicht
ganz so einsichtig wie manche der Produzenten
ist die Community, die die Kritikerinnen massiv
angreift – das reicht von Spielen, in denen Mann
die Kritikerin verprügeln kann, bis hin zu Morddrohungen. Überhaupt scheint die Regel zu gelten: Sobald eine feministische Stimme im Netz
zu laut wird, hagelt es Hass-Kommentare und
Vergewaltigungsdrohungen (siehe dazu auch
den videoblog ‚feminist frequency‘).
Hause bleiben“ bedacht. Die englische Variante brachte bei einer Untersuchung der UN am
9. März 2013 die Ergänzungsvorschläge zu
„Women should“: „stay at home“, „be slaves“,
„be in the kitchen“, „not speak in church“. Nach
dem Sturm der Entrüstung, die die Veröffentlichung auslöste, ergänzt Autocomplete „women
should“ gar nicht mehr, aber zu „A woman
should“ kommt dann doch wieder „not preach“,
„be silent“ etc. Da die Autocomplete-Funktion
darauf basiert, was besonders oft eingegeben
wird, könnte man schon etwas Angst vor diesen
Usern bekommen ...
Renate Wicorek hat mit dem Hashtag #aufschrei und inzwischen auch mit ihrem Buch
Weil ein #aufschrei nicht reicht gekontert. Und
sie schließt ihr Plädoyer mit dem schönen Satz
Das F in Feminismus steht für Freiheit – aber
der Freiheit einen Schritt näher kommen wir nur,
wenn wir diese Rollenbilder durchbrechen.
Corinna Poll
Ein Vorschlag zur Gegenwehr vom Antisexistischen
Aktionsbündnis München ...
Ein anderes Beispiel für den ganz alltäglichen
Sexismus im Netz ist die Auto-vervollständigen-Funktion bei Google. Die Eingabe „Frauen
sollten“ wird mit den Ergänzungsvorschlägen
„keine Rechte haben“, „nicht arbeiten“ und „zu
3
Macht Euch nützlich!
Demographischer Wandel, Überalterung der Gesellschaft, Aufkündigung des Generationenvertrages – das alles sind Schlagzeilen, die schon lange die gesellschaftliche Debatte bestimmen und durchaus als „apokalyptischer Bevölkerungsdiskurs“ (Thomas Etzenmüller) verstanden werden können. Aber nun gibt es seit
mehreren Jahren einen zweiten Diskussionsstrang, der in den Medien und in der
Politik gepflegt wird.
Plötzlich werden die Potenziale des Alters entdeckt, wird schon fast feierlich von den Perspektiven des Alters gesprochen und wird ein neuer
Blick auf das Alter gefordert.
Welches Menschenbild steckt hinter diesem
Wandel? Oder sind das doch nur zwei Seiten
ein und derselben Medaille?
Zunächst ist natürlich zu klären: Um wen geht
es eigentlich, wenn vom „Alter“ die Rede ist?
Und wer gehört zur Gruppe der „Nicht-Alten“?
Die Einteilung der Weltgesundheitsorganisation
spiegelt den herrschenden gesellschaftlichen
Konsens dazu wider. (siehe Kasten)
Auffällig ist, dass die Diskussionen (und ihre
Zielsetzungen!) sich stark unterscheiden, je
nachdem, von welcher Altersgruppe die
Rede ist. Die (nach WHO-Definition) alternden und älteren Menschen werden –
vordergründig gesehen - aufgewertet. Das
heißt, solange sie erwerbstätig sind, werden gebetsmühlenartig die Attribute Erfahrung, Ausdauer und Loyalität beschworen. Gleichzeitig spricht man ihnen aber
Kreativität, Innovativität und Spontanietät
ab, nach dem Motto „Erfahrung kompensiert Abbau“.
Auffällig ist ein weiterer Zusammenhang:
Die Debatte um die (vorgebliche) Bedeu4
tung älterer ArbeitnehmerInnen fand nahezu
gleichzeitig mit der Debatte um die Erhöhung
des Renteneintrittsalters und der damit verbundenen faktischen Rentenkürzung statt. „Junge
Alte“ sollen also aus naheliegenden Gründen zu
mehr und längerer beruflicher Aktivität befähigt
werden, damit sie nicht einem „immer weniger
leistungsfähigen Sozialstaat“ zur Last fallen
(oder wenn, dann nur noch möglichst kurz!)
Die Altenberichte der
Bundesregierung
Im ersten Altenbericht der Bundesregierung
(1993) steht noch der individuelle Nutzen einer
auf Kompetenzförderung und Wohlbefinden
zielenden Ruhestandspolitik im Vordergrund.
Definition des Alters nach WHO:
• alternde Menschen 50-60 Jahre;
• ältere 61-75
• alte 76-90
• sehr alte 91-100
• langlebige > 100 Jahre
Sieben Jahre (3. Bericht) später heißt es dann
schon, dass die Überwindung der Ausgrenzung
älterer Menschen eben „nicht nur ein Gebot der
sozialen Verantwortung, sondern auch der wirtschaftlichen Vernunft“ sei.
Was dann folgte, beschreibt Stephan Lessenich,
Soziologe an der Universität Jena, wie folgt:
„2005 gab der Fünfte Altenbericht der Bundesregierung zum Thema „Potenziale des Alters“
die Stoßrichtung für eine politische Neubestimmung dieser Altersphase vor. Eher unbemerkt
von der breiten Öffentlichkeit, in der die „Rente mit 67“ das altenpolitische Feld beherrscht,
beginnt sich das produktivistische Altersleitbild
in Modellprojekten und Anreizprogrammen umzusetzen. Das fügt sich ein in den aus anderen
Bereichen bekannten sozialpolitischen Trend,
zu fordern ohne zu fördern: Hier wird auf Eigenverantwortung und Indienstnahme der Älteren
gesetzt, während gleichzeitig bis dato gewährleistete soziale Sicherheiten reduziert werden,
Initiativen gegen Altersdiskriminierung weiter in
den Kinderschuhen stecken und es an altersgerechten Arbeitsplätzen fehlt. Die aktuelle gesellschaftliche Neuverhandlung des Alters zielt
Foto (wurde bearbeitet): © Candida.Performa at
http://flickr.com/photos/40006794@
N02/3937474049
also gerade nicht auf die Würdigung des Alters
in all seinen Facetten, sondern ganz konkret auf
die Positivvision von „jung gebliebenen“ Leistungserbringern in höheren Lebensjahren.
Von einer wirklichen Überwindung altersfeindlicher Bilder kann daher hierzulande bislang
nicht die Rede sein: Nur wer sich noch aktiv
einzubringen vermag, dem wird auch soziale
Anerkennung zuteil. Von Pflegebedürftigen und
Dementen ist in diesem Zusammenhang nie die
Rede – sie begegnen uns weiterhin lediglich als
„Passiva“ des Gesellschaftshaushalts, als zu
Betreuende und zu Versorgende.“
Für den siebten Altenbericht, der nächstes Jahr
vorgelegt werden soll, hat die Bundesregierung
die Stoßrichtung bereits vorgegeben: Angefragt
wurde ein Leitbild vom Alter, „das die Fähigkeiten und Stärken älterer Menschen betont und
dazu beiträgt, dass diese ihren Beitrag in Wirtschaft und Gesellschaft leisten“.
Ein Leitbild also, das allein ressourcenorientiert ist und auf die (noch) bessere ökonomische Verwertbarkeit alter und älterer Menschen
abzielt. Nichts gegen die Würdigung der Potenziale älterer Menschen. Aber hier geht es um
eine weitere „produktivistische Mobilmachung
der Gesellschaft“ (Lessenich).
“Aktives Altern”
Gesund, gebildet und finanzstark wünscht
man sich die silver agers. Aktives Altern wird
erwartet, die Bereitschaft, für die EnkelInnen
einzuspringen und so fehlende KiTa-Plätze zu
ersetzen, möglichst noch das berufliche Knowhow ehrenamtlich zur Verfügung zu stellen und
Fröhlichkeit und Optimismus zu verbreiten.
Nach der gesetzlich verlängerten Lebensar-
Die Altenberichte der Bundesregierung werden seit 1993 in jeder Legislaturperiode erarbeitet. Ziel
ist die „kontinuierliche Unterstützung altenpolitischer Entscheidungsprozesse“.
Bis heute wurden sechs Altenberichte erstellt, der siebte ist in Vorbereitung und für 2015 geplant. Wir
dokumentieren die Titel und eine knappe Beschreibung der Berichte. So lässt sich die politische Neubestimmung des Altersleitbildes gut erkennen.
1. Die Lebenssituation älterer Menschen in Deutschland (1993)
Dieser Bericht erstellt erstmals eine genauere Analyse.
2. Wohnen im Alter (1998)
Es werden Qualitätsanforderungen an vorhandene und an neu zu bauende „Wohnwelten“ des allgemeinen
Wohnungsbestandes sowie an spezifische Wohnformen und bei speziellem Hilfebedarf
benannt.
3. Alter und Gesellschaft (2001)
Der Bericht zieht eine Bilanz der allgemeinen Lebenssituation Älterer sowie deren Entwicklung innerhalb
der ersten zehn Jahre nach Vollendung der deutschen Einheit und entfaltet Zukunftsperspektiven und
Handlungsempfehlungen. Erstmals werden die individuellen und gesellschaftlichen Ressourcen älterer
Menschen und deren Bedeutung für ein selbständiges, aktives und produktives Leben im Alter thematisiert.
4. Risiken, Lebensqualität und Versorgung Hochaltriger (2002)
Dieser Spezialbericht befasst sich eingehend mit den Lebensbedingungen und Bedürfnissen der über
80-Jährigen, vornehmlich dementen Menschen.
5. Potenziale des Alters in Wirtschaft und Gesellschaft (2006)
Der Bericht beschreibt die Potenziale älterer Menschen, einschließlich Migrantinnen und Migranten, in den
folgenden untersuchten Feldern: Erwerbsarbeit, Bildung, Einkommenslage, Seniorenwirtschaft, Familie
und private Netzwerke, Engagement und Teilhabe. Die meisten älteren Menschen strebten keineswegs einen völligen Rückzug aus wichtigen gesellschaftlichen Aktionsfeldern an. Wenn die Bedingungen stimmten,
seien viele Seniorinnen und Senioren zu einer Fortsetzung oder sogar Ausweitung ihres Engagements in
Beruf, Wirtschaft und Gesellschaft bereit.
6. Altersbilder in der Gesellschaft (2010)
Der Bericht weist auf die nach wie vor dominierenden Altersbilder in zentralen Bereichen der Gesellschaft
hin, die angesichts der Vielfalt der Lebensstile und der Lebensumstände im Alter häufig die Realität nicht
widerspiegeln. Eine Überprüfung aller Altersgrenzen und der Ausbau ehrenamtlicher Strukturen werden
vorgeschlagen. Die Kampagne Alter neu denken – Altersbilder startet im Dezember 2011.
7. Sorge und Mitverantwortung in der Kommune – Aufbau und Sicherung zukunftsfähiger Gemeinschaften (2015)
Quelle: Wikipedia, gekürzt
5
beitszeit folgt nicht mehr der „wohlverdiente Ruhestand“, nein, auch nach dem möglichst späten
Ausscheiden aus dem Erwerbsleben wird von
den Alten umfassende Bereitschaft zum Engagement eingefordert: im Ehrenamt, in der Pflege, zum Erhalt eigener Leistungsfähigkeit.
Zudem konzentriert sich dieses Leitbild – ohnehin vom Inhalt her fragwürdig genug ausschließlich auf den bürgerlichen Mittelstand.
Alle diejenigen, die mit ihrer Rente kaum über
die Runden kommen, die vom gesellschaftlichen Leben nahezu ausgeschlossen sind, weil
ihnen schlicht die finanziellen Mittel dazu fehlen,
werden ein weiteres Mal ausgegrenzt. Sie sind
für die Ökonomisierung dieses Lebensabschnittes längst verloren.
Dagmar Fries
Das Klischee der Silver Agers in der Werbung:
friedlich, freundlich, glücklich lächelnd und zahlungskräftig! Ja, so hätten sie es gerne ...
Bildnachweis Seiten 10 und 11:
Oben: © Depositphotos.com/hannamonika
Rechte Spalte und Seite 7: © G. Wangerin
6
Flüchtlinge
Momentaufnahmen 2014
Überwintern in Baracken, Containern oder Zelten? Flüchtlinge brauchen
mehr als Essen und ein Dach über dem Kopf
Der Winter steht bevor, doch die schleppende Suche nach beheizbaren Unterkünften für die Flüchtlinge in Deutschland offenbart ein Versagen staatlicher Organe.
In den letzten Wochen ist die „Bayernkaserne“
in München zum Synonym für unhaltbare, entwürdigende Zustände geworden, ein hoffnungslos überfülltes Lager für Menschen, die zum Teil
schwer traumatisiert sind oder als unbegleitete
Minderjährige oft bloß ihr Leben retten konnten.
Medienberichte über das Elend lösten diesmal,
ein Jahr nach der Flüchtlingskatastrophe von
Lampedusa, eine Welle der Solidarität in der Bevölkerung aus. Privatleute, Initiativen und Verbände organisierten Sachspenden und leisteten
engagierte „Ersthilfe“, ohne die beschämende
Vernachlässigung durch staatliche Stellen kompensieren zu können. Für Politik und Bürokratie
kam es offenbar völlig überraschend: Dass von
den Millionen Menschen, die aus den Armuts-,
Kriegs- und Krisengebieten dieser Welt auf der
Flucht sind, eine gewisse Anzahl nach Deutschland kommen würde, wer konnte das ahnen?
Bei dem „enormen Anstieg der Flüchtlingsströme“, den Politiker beklagen, geht es – wohlgemerkt – um 170.000 bis 200.000 Asylanträge
bundesweit, mit denen das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge in diesem Jahr rechnet.
Bezogen auf über 80 Millionen Einwohner im
wirtschaftlich stärksten Land Europas eine doch
recht überschaubare Quote. Nur ein kleinerer
Teil der Asylanträge in Deutschland wird zudem
überhaupt anerkannt.
Mitten in der „Festung Europa“
Nach EU-Recht müssen Flüchtlinge ihren Asylantrag in dem Land stellen, in dem sie zuerst
eingereist sind. Deutschland liegt fernab von
den traditionellen Flüchtlingsrouten (z.B. über
das Mittelmeer oder die Balkanstaaten). Jeder
Flüchtling, der nicht gerade per Flugzeug nach
Deutschland kommt, hat also vorher schon ein
anderes EU-Land betreten und kann jederzeit
dorthin zurückgeschickt, „abgeschoben“ werden. Für Einreisende aus „sicheren Drittländern“
fühlen sich deutsche Behörden nämlich nicht
zuständig. Allerdings sollten es die anderen EU-
Länder wie Italien aus deutscher Sicht mit der
Registrierung der Flüchtlinge etwas genauer
nehmen – Ordnung muss sein.
Auf die Flüchtlingstragödien, die sich an den
Grenzen Europas ereignen, kann von hier aus
offenbar leicht ein kühl distanzierter Blick geworfen werden. Denn in Deutschland gibt es keine
Strände, an denen Boote voller Menschen oder
deren Leichen angespült werden. Stattdessen gibt es Abschiebeverfahren, Haft, Lager.
Und angeblich viel zu wenig Platz, um Flüchtlinge menschenwürdig unterzubringen. So wie
das Credo der Innenministerkonferenz eben
unverändert „noch mehr Repression und Abschreckung, noch mehr Fingerabdrücke, noch
mehr Unterstellung von Missbrauchsabsicht,
noch mehr Abschiebungen“ lautet (Prantl, SZ
18.10.2014).
Unbegleitete minderjährige
Flüchtlinge
Für Helfer und Betroffene ist die Lage der jungen Flüchtlinge besonders unerträglich, die
sich allein bis nach Deutschland durchgeschlagen haben, weil sie von ihren Familien getrennt wurden, ihre Eltern verloren haben oder
vor sexualisierter Gewalt geflohen sind. Wenn
sie hier ankommen, werden sie vom Jugendamt in Obhut genommen, um zu klären, wie ihre
familiäre, gesundheitliche und psychosoziale
Situation ist. Für eine entsprechende personelle
und finanzielle Ausstattung der Jugendämter zu
sorgen, wäre Sache des Staates, denn nach der
UN-Kinderrechtskonvention und der EU-Grundrechtecharta steht das Kindeswohl an allererster
Stelle. Doch daran hapert es.
Da viele Jugendliche ohne Ausweispapiere an-
reisen, werden sie zur Altersbestimmung fragwürdigen Prozeduren (Röntgen-, genitale Untersuchungen) unterzogen. Etwa 30% von ihnen
versuchen sich jünger zu machen, um als Mündel im Asylverfahren bessere Unterstützung zu
erhalten. Umgekehrt geben sich manche aber
auch als älter aus, um nicht von ihren 18- oder
19-jährigen Freunden getrennt zu werden oder
Geld verdienen zu können.
Selbstbestimmungsrecht
Die „Willkommenskultur“ in Deutschland verlangt von Flüchtlingen, dass sie geduldig ihr
weiteres Schicksal abwarten, sich hin und her
oder abschieben lassen. Um ihnen Sicherheit
und eine Zukunftsperspektive zu bieten, bräuchten
sie eine rasche Aufenthaltsgenehmigung, den
Abbau bürokratischer Hindernisse, die Abschaffung von Lagern, Essenspaketen und der
Residenzpflicht. Das Recht, selbst entscheiden
zu können, was sie essen, wo sie wohnen und
arbeiten möchten, sowie die Bezahlung von
Sprachkursen, Kinderbetreuung, Krankenver-
sicherung wären erste Schritte zu einer gastfreundlichen Annäherung an die Neuankömmlinge.
Walburga Rempe
“Nützliche” Migranten
Eine Studie des (arbeitgebernahen) Institutes
der deutschen Wirtschaft (IW) ergab: Migranten
nutzen dem deutschen Staat und der Wirtschaft.
Der Direktor des Institutes, Michael Hüther, forderte: Deutschland muss sich zur Sicherung des
Wohlstands und seiner Wirtschaftskraft weiter
öffnen, um im internationalen Konkurrenzkampf
bestehen zu können.
Die Studie berichtet von einem erhöhten Bedarf
an Fachkräften in den kommenden Jahren, besonders in den Gesundheits- und Pflegeberufen. Auch Mathematiker, Ingenieure, Naturwissenschaftler und Techniker würden gebraucht.
Bis 2030 verringere sich aufgrund des Demographiewandels die Zahl der Fachkräfte, umgerechnet auf Vollzeitstellen, um 2,4 Millionen. Dabei ist eine Zahl von etwa 100.000 Zuwanderern
bereits eingerechnet.
Migranten seien häufig hoch qualifiziert und es
gebe prozentual mehr Hochschulabsolventen
unter ihnen als bei den Deutschen. Auch der
Anteil der sozialversicherungspflichtigen Beschäftigten unter den Zuwanderern liege mit
41,9 Prozent höher als bei den in Deutschland
Geborenen mit 35,5 Prozent. Sie finanzierten
also die Rentenversicherung und das Gesundheitssystem mit.
Quelle: DIE ZEIT, Januar 2014
7
Kinderwunsch - auf Eis gelegt?
Social freezing und die möglichen Folgen
Kommt da wieder eine aufregende Neuerung auf uns Frauen zu, die uns mehr Unabhängigkeit
bringt und uns zu mehr Selbstbestimmung über den eigenen Körper ermächtigt? Oder wie
ist das zu bewerten, was da aus dem Silicon Valley plötzlich zu uns rüber schwappt? Um es
gleich vorweg zu nehmen: Die Autorin dieser Zeilen packt das (eis)kalte Grausen bei dieser
Vorstellung.
Facebook und Apple machen es vor: Sie wollen
sich mit viel Geld in die Lebensplanung ihrer
(jungen) Mitarbeiterinnen einmischen. Sie finanzieren jungen Frauen das Einfrieren von Eizellen, damit sie ihren Kinderwunsch zugunsten
der Karriere verschieben können. Das alles ist
natürlich freiwillig, wird versichert, niemand wird
dazu gezwungen.
Das wäre auch noch schöner, kann frau darauf
nur antworten. Jedoch: Bis zu 20.000 Dollar
zahlen die Unternehmen den Frauen, gedacht
für die Kosten der Eizellentnahme und der anschließenden Lagerung (“egg freezing”). Da
wird schon ein gewaltiger Druck aufgebaut.
Was geschieht mit den Frauen im “gebährfähigen Alter”, die das nicht mitmachen wollen? Die
eine Schwangerschaft erleben wollen und den
Zeitpunkt dafür selbst bestimmen möchten, unabhängig von den ökonomischen Interessen des
Unternehmens, in dem sie gerade tätig sind?
Denn natürlich ist klar, dass sich ein Betrieb
die Verfügungsgewalt über seine Beschäftigten
möglichst umfassend sichern möchte. Da stören
ältere oder kranke ArbeitnehmerInnen nur,
schließlich besteht doch die Gefahr, dass sie
nicht ganz so leistungsfähig sind, wie die Herren
(ja, es sind meistens Männer!) Vorstände sich
das so vorstellen. Und schwangere Frauen und
8
junge Mütter stören ganz besonders, erst brauchen sie Mutterschutz, dann womöglich Elternzeit, es gibt sicher Fehlzeiten, wenn Kinder mal
krank werden - und das alles in einem Alter, in
den sogenannten “besten Jahren”, wo sie doch
eigentlich ganz besonders leistungsfähig wären
und wie geschaffen für eine Karriere!
© Depositphotos.com/videodoctor
Damit ich nicht falsch verstanden werde: Es
geht mir nicht um die Frage, ob hier in einen
“natürlichen” Vorgang eingegriffen wird - jede
medizinische Behandlung ist (auch) ein Eingriff in natürliche Abläufe. Wenn Frauen - aus
welchen Gründen auch immer - sich ihre
Fruchtbarkeit für einen späteren Zeitpunkt sichern wollen, dann sollen sie das tun. Es ist ihre
Entscheidung.
Und das ist der springende Punkt: Es muss
auch ihre Entscheidung bleiben! Das “Angebot”
der Unternehmen, das Kinderkriegen verschieben zu können, ist nicht so uneigennützig, wie
diese gerne behaupten. Es ist und bleibt ein
Eingreifen in einen sehr privaten Bereich, wie es
Lebens- und Familienplanung nun einmal sind.
Werden sich Frauen künftig dafür rechtfertigen
müssen, weil sie das Kinderkriegen nicht auf
später verschoben haben?
Grausig die Vorstellung, der Arbeitgeber könnte genauestens Bescheid wissen über meinen
Zyklus, die Zahl meiner eingefrorenen Eizellen,
meine Lebensplanung. Wird das künftig eine
Rolle spielen bei Bewerbungsgesprächen, wird
mein mangelndes Interesse an social freezing
möglicherweise als Indiz dafür gewertet, dass
ich an einer Karriere nicht interessiert bin?
Richtig, es ist schwer, Kinder und Karriere zu
vereinbaren. Viele Frauen bringt es an die Grenzen dessen, was sie zu leisten imstande sind.
Das wissen wir Gewerkschafterinnen seit langem - und seit langem kämpfen wir für bessere Bedingungen in Betrieb und Gesellschaft für
Mütter und Väter und ihre Kinder. Und wir treten dafür ein, dass sich die Unternehmen, die
Arbeitsbedingungen an die Beschäftigten anzupassen haben und nicht umgekehrt.
Hier jedoch wird eine eindeutige Botschaft gesendet: Karriere geht nur ohne Kinder und wenn
frau jung ist. Wenn sie schon Kinder haben will,
sollte sie das auf später verschieben. Die Unternehmer wollen sich nicht ändern - die Frauen
sollen sich ändern. Und das wollen wir nicht!
Dagmar Fries
Mädchen in Rosa
und Jungs in Blau
Schreib doch mal was
zum Thema „Mädchen
in Rosa“. Das war mein
Auftrag. Schon lange
habe ich mich mit einem
Artikel nicht mehr so
schwer getan wie mit
diesem. Und warum?
Ganz einfach: Immer
wenn ich mich damit
befassen wollte, habe
ich bei dem Gedanken
an Rosa rot gesehen.
Mit Rosa verbinde ich
niedlich, süß und prinzessinen-like. Kennen Sie
Lillifee? Falls ja, dann wissen Sie was ich meine.
Um mich dem Thema anzunähern wollte ich wissen, ob das eigentlich schon immer so war. Blau
gleich Jungs und Rosa gleich Mädchen. Laut
Wikipedia war die Farbverteilung früher anders:
„Rosa wirkt sanft und weich, weshalb es seit
den 1920er Jahren allgemein mit Weiblichkeit
assoziiert wird. Vorher galt Rosa als männlicher
Babyfarbton. Rot hat die Assoziationen Leidenschaft, Blut, aktiver Eros und Kampf. Somit galt
es lange Zeit als „männliche“ Farbe und Rosa,
das „kleine Rot“, wurde Jungen zugeordnet.
Blau dagegen ist in der christlichen Tradition die
Farbe von Maria. Somit war Hellblau, das „kleine Blau“, den Mädchen vorbehalten.“
Der Farbpsychologe Professor Harald Braem
widerspricht dieser Einschätzung. Er meint:
„Jungen lieben Blau, metallische Farben und
Schwarz, als Versinnbildlichung des Protests.
Mädchen hingegen gehen auf Rosa und Pink.
Das ist ein weltweites Phänomen. Rosa entspannt, stimmt friedlich, vermittelt Geborgenheit
und Liebe und bietet quasi einen Schutzraum,
was alle Mädchen instinktiv erkennen. Viele
Forscher sehen die Ursache für die unterschiedlichen Farbwahrnehmungen der Geschlechter
dafür in der menschlichen Veranlagung: Während die Männer zur Jagd gingen und sich am
Himmel, am Wetter und am Wasser orientierten,
haben sich die Frauen um die unmittelbare Umgebung und das Sammeln von Beeren, Obst
und Gemüse gekümmert. Aus diesem Grund
haben sie eine erhöhte Aufmerksamkeit auf die
unterschiedlichen Rottöne von reifen Beeren
und Früchten gerichtet.“
Aber auch für diese Sicht gibt es berechtigte
Zweifel. Gingen wirklich nur Männer in der Steinzeit jagen? Hätten sie große Wildtiere überhaupt
in den kleinen Sippen ohne die Frauen erlegen
können? Wirklich weiter bringen mich diese
verschiedenen Blicke auf die Geschichte auch
nicht.
Lassen wir doch mal eine Frau zu Wort kommen
und zwar Imke Schmincke, Mitarbeiterin des
Lehrstuhls Genderstudies an der Ludwig-Maximilians-Universität in München: „Rosa verbindet
man mit Eigenschaften wie zart, zurückhaltend,
verspielt. Wenn Mädchen diese Eigenschaften
verinnerlichen, könnte das dazu führen, dass es
karriereschädigend für sie ist - eine Prinzessin
kann schließlich keine Karriere machen.“
Persönlichkeit zu entwickeln, wenn wir sie von
klein auf in diese Geschlechterklischees zwängen.
Viele Mütter von Mädchen berichten, dass sie
versucht hätten, sich dem Rosa-Wahn zu entziehen. Die meisten sind aber gescheitert. Die
Bekleidungs- und Spielzeugindustrie macht
ihnen hier einen dicken Strich durch die Rechnung.
Hier greift jetzt die Inititiative Pinkstinks ein.
Pinkstinks ist eine Kampagne gegen Produkte,
Werbeinhalte und Marketingstrategien, die Mädchen eine limitierende Geschlechterrolle zuweisen. Diese „Pinkifizierung“ trifft Mädchen und
Jungen gleichermaßen und Pinkstinks möchte
diesem Trend entgegenwirken. Sie werben für
ein kritisches Medienbewusstsein, Selbstachtung, ein positives Körperbild und alternative
weibliche Rollenbilder für Kinder.
Bettina Messinger
Abbildungen auf dieser Seite: © Depositphotos.com/
lunamaria (links) und /woodhouse (unten)
Eines ist also sicher: Mit den festgelegten Farben für Jungs und Mädchen verfestigen wir von
Anfang an klassische Rollenbilder. Wir nehmen
den Kindern die Möglichkeit, alle Facetten ihrer
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Sexualisierte Werbung
Was hat ein spärlich bekleideter Frauenkörper mit Elektroartikeln
zu tun?
Warum denkt eine Brauerei den Bierkonsum mit dem Bild von drei nackten Frauen zu erhöhen? Warum glaubt ein Autohersteller seine Autos verkaufen sich besser wenn sich im Kofferraum drei gefesselte, in Leder gekleidete Frauen mit üppigen Brüsten befinden? Und warum
wird überhaupt häufig mit Frauenkörpern geworben - ohne jeden Bezug zu dem beworbenen
Produkt?
Man könnte fast den Eindruck gewinnen, dass
sich mit produktbezogener Werbung kein Umsatz mehr erzielen ließe, so häufig setzen manche Werbemacher auf die einfache Weisheit
„sex sells“ (Sex verkauft (sich)). Allein in der
Alkoholwerbung in den Jahren 1983 bis 2003
zeigt sich ein Anstieg sexualisierter Darstellungen von Frauen (Darstellung von Nacktheit,
sexuellem Verhalten oder Anspielungen und
Doppeldeutigkeiten) von vier auf 33 Prozent.
Werbung findet heute überall statt, im Fernsehen, im Radio, im Internet, in den Printmedien
und im öffentlichen Raum. Es ist unmöglich, der
Werbung zu entgehen und somit wird man auch
mit sexistischer Werbung täglich konfrontiert.
Sie ist für die meisten von uns schon so „normal“ geworden, dass sie uns überhaupt nicht
mehr auffällt. Diese allgegenwärtigen Bilder von
nackten Frauen sind keineswegs harmlos, sie
verstärken den Sexismus in der Gesellschaft,
wie Forscherinnen aus Princeton herausgefunden haben. Wer Frauen nur noch als Lustobjekte
wahrnimmt sieht sie als käufliches Produkt.
Welchen Einfluss Werbung hat und wie sie sich
in unser Gedächtnis einprägt, zeigt ein kleiner
Test: Sicherlich kann jeder folgende Sätze ergänzen: Nichts ist unmöglich … oder have a
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break, have a … . Die ständige Wiederholung
von Werbesätzen prägt sich ebenso ein wie
die ständige Wiederholung von Bildern. Und so
verinnerlichen sich bei Mädchen und Frauen,
die diese Werbung täglich sehen, diese „Standards“ und sie definieren danach den eigenen
Wert. Nur wenn der eigene Körper dem in der
Werbung entspricht (jung, attraktiv, schlank), ist
man sexy, alles andere ist unattraktiv. Und Männer und Jungs bekommen das Bild der immer
verfügbaren Frau, deren ganzes Bestreben ist,
für den Mann zur Verfügung zu sein und seinen
Lustgewinn zu erhöhen.
In einer Studie von 1997 wurden Männern sexistische Werbespots gezeigt. Anschließend
mussten sie Frauen beurteilen, die sich um
einen Job bewarben. Im Vergleich zu Kontrollgruppen, die vorher keine sexistischen Werbespots sahen, beurteilten die Männer die selben
Frauen als weniger kompetent und erinnerten
sich mehr an die körperlichen Eigenschaften
dieser Frauen.
Die Werbung suggeriert uns wie die Welt und die
Menschen zu sein haben und bedient sich dabei
gängiger Klischees. Die Frau als putzende Hausfrau und Mutter, immer auf ihre Schönheit bedacht, immer sexy. Der Mann als Macher, stark
und voller Tatendrang. Hinzu kommt, dass auch
die Heterosexualität als die „Norm“ definiert, ja
geradezu zelebriert wird. So erklärte etwa der
Vorsitzende der „Barilla“ Gruppe, Guido Barilla,
in einem Interview mit dem italienischen Sender
Radio 24: „Die heilige Familie ist in unserer Firma ein fundamentaler Wert, einen Werbespot
mit Homosexuellen würden wir nie machen.
Sexistische Werbung hat klare Auswirkungen
auf die Gesellschaft, sie verfestigt tradierte Rollenbilder und behindert damit die Gleichstellung
zwischen den Geschlechtern.
Verstehen die Werbemacher tatsächlich nichts
von Kreativität jenseits sexueller Darstellungen?
Wo sind die Frauen in Führungspersonen in der
Werbeindustrie, die merken, wenn die Grenze
zur Geschlechterdiskriminierung überschritten
Foto: © Depositphotos.com/edfoto
wird? Oder bleibt wirklich als einzige Möglichkeit, sexualisierte Darstellungen in der Werbung mittels Gesetz zu regeln? Schließlich ergibt sich aus dem Grundgesetz die Pflicht des
Staates, die Gleichberechtigung zu fördern. Geschlechtsdiskriminierende Werbung hingegen
verfestigt bestehende Stereotypen. Das antisexistische Bündnis „Pinkstinks“ (www.pinkstinks.
de) hat einen Gesetzentwurf entwickelt, der
sexistische Werbung verbieten soll. Unterstützt
wird das Vorhaben u.a. vom Deutschen Frauenrat, Terre des Femmes und dem Deutschen
Juristinnenbund und damit den drei wichtigsten
Frauenrechts-NGOs in Deutschland.
Gertrud Fetzer-Wenngatz
In diesem Jahr
hat Pinkstinks
eine Kampagne
gestartet und
eine Gesetzesnorm gegen
Sexismus in der
Werbung online
gestellt.
Das Ziel der Kampagne ist das Verbot von sexistischer Werbung durch eine Erweiterung des
Gesetzes gegen den unlauteren Wettbewerb
(UWG) um folgende Norm:
§ 7a UWG Diskriminierende Werbung
(1) Eine geschäftliche Handlung, durch die
Marktteilnehmende in diskriminierender Weise
angesprochen werden, ist unzulässig, wenn
nicht verfassungsrechtlich geschützte Interessen ausnahmsweise überwiegen. Die Dis-
kriminierung kann sich aus der Aussage einer
Werbung, ihrem Gesamteindruck oder der Gesamtheit der einzelnen Teile einer Werbekampagne ergeben.
(2) Werbung ist geschlechtsdiskriminierend,
wenn sie Geschlechtsrollenstereotype in Form
von Bildern oder Texten wiedergibt oder sich
in sonstiger Weise ein geschlechtsbezogenes
Über-/Unterordnungsverhältnis zwischen den
Personen in der Werbung oder im Verhältnis zu
den von der Werbung adressierten Personen
ergibt. Werbung ist insbesondere geschlechtsdiskriminierend, wenn sie
1. Menschen aufgrund ihres Geschlechts Eigenschaften, Fähigkeiten und soziale Rollen in Familie und Beruf zuordnet oder
2. sexuelle Anziehung als ausschließlichen Wert
von Frauen darstellt oder
3. Frauen auf einen Gegenstand zum sexuellen
Gebrauch reduziert, insbesondere indem weibliche Körper oder Körperteile ohne Produktbezug als Blickfang eingesetzt werden oder der
Eindruck vermittelt wird, die abgebildete Frau
sei wie das Produkt käuflich.“
Ziel der Norm ist es, der Verfestigung von Geschlechtsrollenstereotypen durch Werbung entgegenzuwirken.
Geschlechtsrollenstereotype
wirken freiheitseinschränkend. Sie reduzieren
die Geschlechter „Mann“ und „Frau“ auf feste,
teilweise enge Eigenschafts-, Verhaltens- und
Interessenmuster und schränken damit die
Entfaltungsfreiheit von Menschen jeden Geschlechts ein.
Quelle: www.pinkstinks.de - dort kann frau auch unterschreiben!
Quantified Self
Self-tracking - am besten mit den richtigen Apps
und Vitalitätssensoren – vernetzt mit Waage,
Schrittzähler, Schlafsensoren. Integriert in Smartphone und Kleidung, und wenn dein Verhalten
vom erwünschten abweicht, kommt sofort ein
Feedback. Erinnern an das tägliche Sportprogramm, ein elektronischer Tritt in den Hintern,
wenn das Essverhalten mal wieder nicht stimmt
und natürlich das obligatorische Winken mit der
Terminliste …
Das Dumme ist, dass viele gar nicht merken, dass
sie nicht die einzigen sind, die sich beobachten.
Bewegungsprofile sind da nur das kleinste Problem. Wäre es nicht ganz spannend für die Krankenkassen, genau darüber Bescheid zu wissen,
wie gesund (oder eben gerade nicht) ihr Kunde
lebt? Und perspektivisch vielleicht die Zahlungen
vom Wohlverhalten abhängig zu machen. Andere
Interessenten an diesen Daten sind natürlich alle,
die Dir etwas verkaufen wollen. Und wir sollten
nicht die verschiedenen mehr oder weniger geheimen „Dienste“ vergessen – ist doch einfacher,
mitzulesen als mühsam zu beschatten und zu bespitzeln.
Dazu sind immer häufiger gar keine Intrusionen
in die mehr oder weniger ungesicherten privaten
Netzwerke notwendig, weil die Beobachtungsobjekte so freundlich sind, die Daten selbst zu veröffentlichen. Und warum Druck auf die Menschen
ausüben, wenn sie im Rahmen der Selbstoptimierung die gewünschten Verhaltensweisen selbst
trainieren? Community und gadgets geben schon
die erforderlichen Impulse. Big brother ist längst
von der big family assimiliert worden.
Corinna Poll
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Schlusspunkt!
Deutsche Sitzgelegenheit für Asylsuchende
© Alle Karikaturen auf dieser Seite: Klaus Stuttmann
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